John Reed

Zehn Tage,
die die Welt
erschütterten

Reportage
aus der Mitte der
russischen Oktoberrevolution

 Ten Days that Shook the World -1919-

wikipe Autor *1887 in Oregeon
bis 1920 in Moskau (32, Typhus)

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aus wikipedia-2023

... ist ein Roman des US-amerikanischen Journalisten und überzeugten Sozialisten John Reed über die Oktoberrevolution von 1917.

Reed beschreibt die Schicksale vieler Revolutionäre wie Grigori Sinowjew und Karl Radek, die er persönlich kannte und damals begleitete.

Reed betont in seinem Vorwort (Januar 1919), dass er es den Lesenden durch gewissenhafte journalistische Arbeit ermöglichen will, den Einzelheiten nachzuspüren, „was sich im November 1917 in Petrograd zutrug, welcher Geist die Menschen beseelte, wie ihre Führer aussahen, wie sie sprachen und wie sie handelten.“ Reeds Vorwort bietet eine kurze Einführung zur russischen Revolution in ihrem weltgeschichtlichen Zusammenhang.

Das Buch, zu dem Lenin ein positives knappes Vorwort schrieb, erschien 1919 und wurde in der russischen Ausgabe von Stalin später wegen der angeblichen Sympathien für Leo Trotzki zensiert. Mit dem Buch wurde Reed weltbekannt.

Internationale Rezeption
Eine deutsche Übersetzung des Buchs erschien 1922 im Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg, und erweitert 1927 im „Verlag für Literatur und Politik“, Wien und Berlin, mit einem Vorwort von dem bekannten Journalisten Egon Erwin Kisch. Das Buch gehörte zu den Werken, die im Rahmen der NS-Bücherverbrennungen Aktion wider den undeutschen Geist 1933 ebenfalls verbrannt wurden.

In der DDR erschien eine erste Auflage im Dietz Verlag, Berlin, 1957 vier Jahre nach Stalins Tod.

George Orwell schreibt im vorgesehenen Vorwort "The Freedom of the Press" zur englischen Ausgabe von Animal Farm (Farm der Tiere) von 1945, dass Reed der Communist Party of Great Britain seine Rechte an dem Buch vermachte. Die Partei vernichtete die Reed-Ausgabe des Buches gründlich ("as completely as they could") und brachte eine Ausgabe des Buches heraus, wo Reeds Erwähnungen von Trotzki wie auch Lenins Vorwort völlig zensiert wurden.[1][2]

Die New York Times wählte das Buch 1999 auf Platz 7 der hundert bedeutendsten journalistischen Werke.[3]

Filmvorlage
Grigori Alexandrow und Sergei Eisenstein erstellten nach der Buchvorlage das Drehbuch zum 1928 erschienenen, schwarzweißen Stummfilm Oktober. Zehn Tage, die die Welt erschütterten (russisch: Октябрь / Десять дней, которые потрясли мир). Der Film verschwand wegen der Erwähnungen von Trotzki und anderen dann als Unperson betrachteten Revolutionären in der jungen Sowjetunion in der Versenkung. Dem Drehbuch ist mit seiner suggestiven Wirkung seiner Bilder eine durchaus eigenständige Wiedergabe des Buchs gelungen.

Warren Beatty u. a. verwendeten ihrerseits Alexandrows und Eisensteins Film für ihre 1981 zunächst in den USA erschienene Produktion Reds – Ein Mann kämpft für Gerechtigkeit. als streckenweise Vorlage.

Sergei Bondartschuk führte Regie in einem zweiteiligen Werk Rote Glocken (1981–1983) über Revolutionen in Mexiko und Russland. Der erste Teil heißt Mexiko in Flammen und der zweite Teil Ich sah die Geburt einer neuen Welt. Letzterer ist nach dem Buch Reeds gestaltet. Beide sind von Massenszenen geprägt.


aus wikipedia-2023

John Silas Reed (* 22. Oktober 1887 in Portland, Oregon; † 19. Oktober 1920 in Moskau) war ein US-amerikanischer Journalist und 1919 Begründer und Vorsitzender der ersten kommunistischen Partei der USA, der Communist Labor Party of America, aus der – zusammen mit anderen revolutionär-sozialistischen Gruppierungen – nur wenig später die CPUSA hervorging.

Leben
Nach dem Abschluss seines Studiums in den Fächern Soziologie und Wirtschaftswissenschaften in Harvard (1910) arbeitete Reed ab 1913 bei Max Eastmans Zeitschrift The Masses. Er berichtete vom Streik der Seidenweber in Paterson (New Jersey) und wurde inhaftiert, als er versuchte, eine Rede für die Streikenden zu halten. Im Herbst 1913 schickte ihn das Metropolitan Journal nach Mexiko. Seine Berichte von der mexikanischen Revolution bedeuteten seinen Durchbruch als Journalist.

1914 war Reed als Kriegsberichterstatter im Ersten Weltkrieg für The Masses und das Metropolitan Journal in Frankreich, Deutschland, Serbien, Rumänien und Bulgarien. Er lernte Louise Bryant 1915 in Portland, Oregon kennen und heiratete sie im November 1916. Bryant hatte zuvor noch eine Affäre mit Eugene O’Neill. Lincoln Steffens ermutigte Reed und Bryant, als Korrespondenten nach Russland zu gehen. Sie reisten im August 1917 ab und kehrten Ende April 1918 zurück; dabei erlebten sie die Oktoberrevolution aus der Nähe mit. Reeds Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten (erschienen 1919, deutsch 1922), wurde berühmt, Bryants Six Red Months in Russia nicht.

Reed gab von April bis Juni 1919 die 10 Nummern der Wochenschrift New York Communist des Linken Flügels (Left Wing Section) der Sozialistischen Partei Amerikas in New York City heraus.

Reed gehörte zu den am 30. August 1919 aus der Sozialistischen Partei Amerikas ausgeschlossenen Radikalen. Diese gründeten in der Folge zwei eigene Parteien. Reeds Partei war die Communist Labor Party of America (CLP) am folgenden Tag wurde die Kommunistische Partei der USA (CPUSA) gegründet. Reed war der erste Vorsitzende der CLP und der Herausgeber ihrer Zeitschrift The Voice of Labor.


Begräbnis in Moskau 1920

Nekropole an der Kremlmauer, Gemeinschaftsgrab Nr. 5 von Inessa Armand, John Reed, Iwan Russakow und Semjon Pekalow
Als Reed wegen Aufruhr angeklagt wurde, flüchtete er im Oktober 1919 mit einem gefälschten Pass über Norwegen, Schweden und Finnland nach Sowjetrussland, um dort bei der Komintern Unterstützung für seine CLP zu suchen.

1920 erneut in Russland, erkrankte er im September 1920 an Typhus und starb wenige Tage vor seinem 33. Geburtstag. Er wurde in der Nekropole an der Kremlmauer (Gemeinschaftsgrab Nr. 5) bestattet. Er gehört neben Charles Ruthenberg und William Dudley Haywood zu den wenigen US-Amerikanern, die ein Ehrengrab an der Kremlmauer zwischen anderen prominenten Kommunisten erhielten.

Zur amerikanischen Neuauflage von John Reeds 10 Tage, die die Welt erschütterten schrieb Lenin das Vorwort. Unter Stalin wurde das Buch in der Sowjetunion zensiert. Die New York Times wählte es 1999 auf Platz 7 der hundert bedeutendsten journalistischen Werke.[1]


 

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe

Mit größtem Interesse und nicht erlahmender Aufmerksamkeit las ich John Reeds Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten, und ich möchte es den Arbeitern in aller Welt von ganzem Herzen empfehlen. Dies ist ein Buch, das ich in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle Sprachen übersetzt wissen möchte. Es gibt eine wahrheitsgetreue und äußerst lebendige Darstellung der Ereignisse, die für das Verständnis der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats von größter Bedeutung sind. Diese Probleme werden gegenwärtig weit und breit diskutiert, aber bevor man diese Ideen annimmt oder verwirft, muß man die ganze Bedeutung einer solchen Entscheidung begriffen haben. Ohne Zweifel wird John Reeds Buch zur Klärung dieser Frage beitragen, die das Grundproblem der internationalen Arbeiterbewegung ist.

Geschrieben 1919.
N. Lenin


Vorwort zur russischen Ausgabe

Zehn Tage, die die Welt erschütterten hat John Reed sein ausgezeichnetes Buch benannt. Hier sind die ersten Tage der Oktoberrevolution ungewöhnlich eindrucksvoll und stark beschrieben. Es ist keine einfache Aufzählung von Tatsachen, keine Sammlung von Dokumenten, es ist eine Reihe lebendiger, derart typischer Szenen, daß jedem Teilnehmer der Revolution die analogen Szenen, deren Zeuge er war, in Erinnerung kommen müssen. All diese aus dem Leben gegriffenen Bilder können die Stimmung der Massen gar nicht besser wiedergeben – eine Stimmung ,auf deren Hintergrund jeder Akt der großen Revolution besonders klar verständlich wird.

Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, wie ein Ausländer, ein Amerikaner, der die Sprache und den Alltag des Volkes nicht kannte, dieses Buch schreiben konnte. Ausländer schreiben über Sowjetrußland anders. Sie verstehen die sich vollziehenden Ereignisse entweder überhaupt nicht oder greifen einzelne Tatsachen heraus, die nicht immer typisch sind und verallgemeinern diese.

Es hat freilich sehr wenige Augenzeugen der Revolution gegeben.

John Reed war kein gleichgültiger Beobachter, er war ein leidenschaftlicher Revolutionär, ein Kommunist, der den Sinn der Ereignisse, den Sinn des großen Kampfes erfaßt hat.

Dieses Verstehen gab ihm jenen scharfen Blick, ohne den er ein solches Buch niemals hätte schreiben können. Die Russen schreiben auch anders über die Oktoberrevolution: sie geben entweder eine Einschätzung der Revolution oder schildern jene Episoden, die sie selbst miterlebt haben. Das Buch John Reeds vermittelt das allgemeine Bild einer echten Volksrevolution, und daher wird es eine besonders große Bedeutung für die Jugend haben, für die künftigen Generationen, für diejenigen, für die die Oktoberrevolution bereits Geschichte sein wird. Das Buch John Reeds ist ein Epos eigener Art. John Reed hat sich mit der russischen Revolution ganz verbunden. Sowjetrußland wurde ihm vertraut und nahe. Er starb hier am Typhus und wurde unter der Roten Mauer bestattet. Derjenige, der die Bestattung der Opfer der Revolution so geschildert hat wie John Reed, ist dieser Ehre würdig.

N. Krupskaja


Vorwort des Autors

Dieses Buch ist ein Stück geballte Geschichte – Geschichte wie ich sie selbst erlebt habe. Es will nichts anderes sein als ein eingehender Tatsachenbericht der Novemberrevolution [1], in der die Bolschewiki an der Spitze der Arbeiter und Soldaten die Staatsmacht in Rußland ergriffen und in die Hände der Sowjets legten.

Natürlich beschäftigt es sich zum größten Teil mit dem „Roten Petrograd“,der Hauptstadt und dem Herzen des Aufstandes. Aber der Leser muß verstehen, daß alles, was in Petrograd geschah, früher oder später, mehr oder weniger machtvoll, überall in Rußland seine Wiederholung fand.

In diesem Buch, dem ersten einer Serie, an der ich arbeite, muß ich mich auf eine Chronik jener Ereignisse beschränken, die ich selbst gesehen und erlebt habe oder von denen ich zuverlässige Berichte erhielt. An den Anfang stelle ich zwei Kapitel, die in großen Zügen den Hintergrund und die Ursachen der Novemberrevolution umreißen. Ich bin mir darüber klar, daß diese beiden Kapitel schwer zu lesen sind, aber sie sind notwendig, um die späteren Ereignisse zu verstehen.

Beim Leser werden eine ganze Reihe Fragen auftauchen. Was ist Bolschewismus? Wie sah die von den Bolschewiki aufgestellte Regierung aus? Wenn die Bolschewiki vor der Novemberevolution die Konstituierende Versammlung forderten, warum lösten sie sie nachher mit Waffengewalt auf? Und wenn die Bourgeoisie gegen die Konstituierende Versammlung war, bevor die Gefahr des Bolschewismus für sie offensichtlich wurde, warum setzte sie sich nachher so energisch dafür ein?

Diese und viele andere Fragen können in diesem Buch nicht beantwortet werden. In einem weiteren Band, Von Kornilow bis Brest-Litowsk [2], verfolge ich den Lauf der Revolution bis zum Friedensschluß mit Deutschland. Dort erkläre ich auch den Ursprung und die Tätigkeit der revolutionären Organisationen, die Entwicklung im Denken und Fühlen der Massen, die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, die Struktur des Sowjetstaates, den Verlauf und das Ergebnis der Verhandlungen von Brest-Litowsk ...

Wenn wir den Aufstieg der Bolschewiki betrachten, müssen wir verstehen, daß das Wirtschaftsleben Rußlands und die russische Armee nicht am 7. November 1917 desorganisiert wurden, sondern schon Monate früher, als logisches Ergebnis eines Prozesses der schon 1915 einsetzte. Die korrupten Reaktionäre, die am Zarenhof das Regiment führten, untergruben Rußland ganz systematisch, um einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland herbeizuführen. Der Waffenmangel an der Front, der im Sommer1915 zum großen Rückzug führte, der Lebensmittelmangel an der Front und in den Großstädten, der Zusammenbruch der Industrie und des Verkehrswesens 1916 – all das waren, wie wir heute wissen, einzelne Phasen einer gewaltigen Sabotageaktion. Allein die Märzrevolution [3] schob ihr in letzter Minute einen Riegel vor. Bei einer großen Revolution, in der hundertsechzig Millionen der am schwersten unterdrückten Menschen in der Welt plötzlich ihre Freiheit errangen, konnte es begreiflicherweise nicht ohne Verwirrung abgehen. Und dennoch besserte sich in den ersten Monaten des neuen Regimes die innere Lage und erhöhte sich auch die Kampfkraft der Truppen.

Aber die „Flitterwochen“ waren kurz. Die besitzenden Klassen wollten eine ausschließlich politische Revolution, die dem Zaren die Macht nähme und sie ihnen gäbe. Sie wollten aus Rußland eine konstitutionelle Republik machen wie Frankreich oder die Vereinigten Staaten; oder eine konstitutionelle Monarchie wie England. Die Massen des Volkes dagegen wollten eine wirkliche Revolution in Industrie und Landwirtschaft. William English Walling beschreibt in seinem Buch Rußlands Botschaft [4] die Stimmung der russischen Arbeiter, die später fast ausnahmslos den Bolschewismus unterstützten.

„Sie (die Arbeiter) sahen, daß sie selbst unter einer freien Regierung, wenn sie in die Hand anderer Gesellschaftsklassen fiel, unter Umständen weiter Hunger leiden würden ...

Der russische Arbeiter ist revolutionär, aber er ist weder gewalttätig noch dogmatisch, noch unintelligent.

Er ist bereit, auf die Barrikaden zu gehen, aber er hat die Barrikaden auch studiert, und er als einziger unter den Arbeitern der ganzen Welt hat sie aus eigener Erfahrung kennengelernt. Er ist bereit und gewillt, seinen Unterdrücker, die Kapitalistenklasse, bis zum Ende zu bekämpfen. Aber er übersieht nicht das Bestehen anderer Klassen ,nur verlangt er, daß die anderen Klassen sich in dem herannahenden erbitterten Kampf klar auf die eine oder andere Seite stellen. Sie (die Arbeiter) waren sich darüber einig, daß unsere (die amerikanischen) politischen Institutionen besser sind als ihre eigenen, aber sie hatten keine Lust, einen Despoten gegen einen anderen (d.h. die Kapitalistenklasse)auszutauschen ...

Die Arbeiter Rußlands ließen sich nicht dafür zu Hunderten erschießen und hinrichten, in Moskau, in Riga, in Odessa, ließen sich nicht zu Tausenden in jedes russische Gefängnis sperren, in die schlimmsten Einöden und arktischen Gebiete verbannen, um dafür das zweifelhafte Glück eines Arbeiters in Goldfields oder Cripple Creek [5] einzutauschen ...“

Und so entwickelte sich in Rußland, inmitten eines Weltkrieges, aus der politischen Revolution heraus die soziale Revolution, die mit dem Sieg der Bolschewiki ihren Höhepunkt erreichte.

Mr. A.J. Sack, der Direktor des russischen Informationsbüros in den Vereinigten Staaten und ein Gegner der Sowjetregierung, hat in seinem Buch Die Geburt der russischen Demokratie folgendes zu sagen:

„Die Bolschewiki bildeten ihr eigenes Kabinett mit Nikolaj Lenin als Premier und Leo Trotzki als Außenminister: Schon bald nach der Märzrevolution war es klar, daß es so kommen mußte. Die Geschichte der Bolschewiki nach der Revolution ist eine Geschichte ihres ständigen Wachstums ...“

Ausländer, ganz besonders die Amerikaner, sprechen gern von der „Unwissenheit“ der russischen Arbeiter. Es ist wahr, sie hatten nicht die politischen Erfahrungen der Völker des Westens, aber sie waren Meister im freiwilligen Zusammenschluß.1917 gab es mehr als zwölf Millionen Mitglieder der russischen Konsumgenossenschaften; und die Sowjets selbst sind ein hervorragender Beweis für ihr Organisationstalent. Außerdem gibt es wahrscheinlich in der ganzen Welt kein anderes Volk, das so gut in der sozialistischen Theorie und ihrer praktischen Anwendung geschult ist. William English Walling charakterisierte es folgendermaßen:

„Die russischen Werktätigen können meist lesen und schreiben. Seit langem herrscht im Land eine so große Unzufriedenheit, daß die Arbeiter ihre Führer nicht nur unter den intelligentesten aus ihrer eigenen Mitte suchen müssen ,sondern auch auf einen großen Teil der nicht minder revolutionären gebildeten Klasse rechnen können, die sich mit ihren Gedanken über die politische und soziale Umgestaltung Rußlands den Arbeitern zugewandt hat ...“

Viele Schriftsteller und Journalisten behaupten, um ihre Gegnerschaft zur Sowjetregierung zu begründen ,die letzte Phase der Revolution sei nichts anderes gewesen als ein Kampf der „anständigen“ Elemente gegen die brutalen Angriffe der Bolschewiki. Tatsächlich war es aber so, daß die besitzenden Klassen, als sie die ständig steigende Macht der revolutionären Organisationen des Volkes erkannten, alles versuchten, um sie zu vernichten und der Revolution Einhalt zu gebieten. Dazu war ihnen jedes, auch das verzweifeltste Mittel recht.

Um die Kerenskiregierung und die Sowjets zugrunde zu richten, wurde das Verkehrswesen desorganisiert, wurden innere Unruhen heraufbeschworen. Um die Fabrikkomitees zu vernichten, wurden Fabriken geschlossen, Brennstoff und Rohmaterial beiseite geschafft. Um die Armeekomitees an der Front zu sprengen, wurde die Todesstrafe wieder eingeführt und alles getan, um eine militärische Niederlage heraufzubeschwören.

Das alles war ein guter Nährboden für die Bolschewiki. Sie riefen zum Klassenkampf auf und verkündeten die Überlegenheit der Sowjets. Zwischen diesen beiden Extremen standen die sogenannten gemäßigten Sozialisten, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, und einige kleinere Parteien und Splittergruppen, die sie aus ganzem oder halbem Herzen unterstützten. Auch diese Gruppen wurden von den besitzenden Klassen angegriffen, aber durch ihre Theorien hatten sie selbst ihre Widerstandskraft gelähmt.

Allgemein kann man sagen, daß die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Meinung vertraten, Rußland sei für eine soziale Revolution wirtschaftlich noch nicht reif – nur eine politische Revolution sei möglich. Ihrer Meinung nach waren die russischen Massen noch zu ungebildet , um die Macht zu übernehmen; jeder Versuch in diese Richtung müsse unvermeidlich eine Reaktion hervorrufen, die von skrupellosen Opportunisten dazu ausgenutzt werden könnte, das alte Regime wieder herzustellen. Als nun die „gemäßigten“ Sozialisten zwangsläufig die Macht übernehmen mußten, konnte es unter diesen Umständen nicht ausbleiben, daß sie sich fürchteten, sie auszuüben.

Sie glaubte, Rußland müsse alle Phasen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung durchlaufen, die auch Westeuropa durchgemacht hatte, um schließlich zusammen mit der ganzen Welt in den fertigen Sozialismus einzutreten. So stimmten sie natürlich mit den besitzenden Klassen darin überein, daß Rußland zunächst einmal ein parlamentarischer Staat werden müsse – allerdings mit gewissen Fortschritten gegenüber den westlichen Demokratien. Deshalb bestanden sie auch auf Teilnahme der besitzenden Klassen an der Regierung. Von einer solchen Position zur eindeutigen Unterstützung der Besitzenden war nur noch ein Schritt. Die „gemäßigten“ Sozialisten brauchten die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie dagegen brauchte die „gemäßigten“ Sozialisten nicht. So mußten also die sozialistischen Minister nach und nach ihr gesamtes Programm preisgeben, während die besitzenden Klassen immer mehr verlangten. Und schließlich, als die Bolschewiki diesem ganzen faulen Kompromiß den Todesstoß versetzten, standen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre im Kampf auf der Seite der besitzenden Klassen...In fast jedem Land der Welt erleben wir heute das gleiche. Statt, wie so oft behauptet wird, eine zerstörende Kraft zu sein, waren die Bolschewiki meines Erachtens die einzigen in Rußland, die ein konstruktives Programm aufzuweisen hatten und auch über die Macht verfügten, um es durchzusetzen. Hätten sie nicht in dem Augenblick die Regierungsgewalt ergriffen, zweifle ich nicht im mindesten daran, daß die Truppen des deutschen Kaiserreiches noch im Dezember in Petrograd und Moskau einmarschiert wären und Rußland wieder den Zaren auf dem Nacken gehabt hätte ...

Noch heute, ein Jahr nach der Konstituierung der Sowjetregierung, gehört es zum sogenannten guten Ton, den bolschewistischen Aufstand ein „Abenteuer“ zu nennen. Ein Abenteuer war es, und eines der herrlichsten, das die Menschheit aufzuweisen hat. Die arbeitenden Massen haben die Geschichte in die Hand genommen und alles ihren gewaltigen und doch leichtverständlichen Wünschen untergeordnet. Der Apparat war vorhanden, mit dessen Hilfe der Großgrundbesitz unter die Bauern aufgeteilt werden konnte. Es gab die Fabrikkomitees und Gewerkschaften, um die Kontrolle der Arbeiter über die Industrie in Gang zu bringen. In jedem Dorf, in jeder Stadt, in jedem Bezirk, in jedem Gouvernement gab es Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, bereit, die örtliche Verwaltung in die Hand zu nehmen. Was man auch vom Bolschewismus denken mag, unbestreitbar ist, daß die russische Revolution eine der größten Taten in der Geschichte der Menschheit ist und der Aufstieg der Bolschewiki ein Ereignis von weltweiter Bedeutung. Ebenso wie die Historiker jeder Einzelheit aus der Pariser Kommune nachspüren, werden sie auch wissen wollen, was sich im November 1917 in Petrograd zutrug, welcher Geist die Menschen beseelte, wie ihre Führer aussahen, wie sie sprachen und wie sie handelten. Das hat mich bewogen, dieses Buch zu schreiben.

Im Kampf waren meine Sympathien nicht neutral. Aber in meiner Schilderung der Geschichte dieser großen Tage habe ich versucht, die Ereignisse mit den Augen eines gewissenhaften Reporters zu sehen, der nichts anderes will als die Wahrheit schreiben.

New York, 1. Januar 1919
J.R.

Redaktionelle Fußnoten

1. Sämtliche Daten, die von John Reed geführt werden, entsprechen dem neuen Kalenderstil. Die Daten in Klammern entsprechen dem alten Kalenderstil.

2. Dieses Buch ist nicht erschienen. John Reed hat es nicht beenden können.

3. Februarrevolution (alten Stils).

4. William English Walling (1877-1936), amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe, Verfasser mehrere Arbeiten über die Arbeiterbewegung und über den Sozialismus. For von John Reed zitierte Arbeit Wallings Rußlands Botschaft ist 1908 in den USA veröffentlicht worden.

5. Grubenstädte im Westen der USA, in denen die streiks der Bergarbeiter blutig niedergeschlagen wurden.

 

 

 

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John Reed - Zehn Tage, die die Welt erschütterten - Reportage aus der Mitte der russischen Oktoberrevolution