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Einleitung

Mythos Mutterliebe

 

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Die hier veröffentlichten Briefe von Söhnen an ihre Mütter sind kein Grund zur Freude. Sie werden bei vielen Leserinnen und Lesern Empörung, Wut und Ablehnung provozieren, vielleicht auch Verständnis und Identifikation wecken oder kritische Fragen hervorrufen. 

Die meisten Briefe sind Dokumente gescheiterter »Liebesbeziehungen«. Sie erzählen von schmerzenden Mangelerlebnissen und Enttäuschung über ungelebte Möglichkeiten, sie verkünden Zorn und Wut über Gewalt und mütterlichen Machtmissbrauch. 

Die Absender demontieren den Mythos Mutterliebe und berichten unzensiert von den tief-ambivalenten Haltungen, die ganz »normale« Mütter ihren Söhnen gegenüber einnehmen. Die Briefe bezeugen die erschreckenden Defizite vieler Frauen in ihrem Selbstwertgefühl und in ihren Partnerschaften.

Die Briefe entstanden im Rahmen meiner therapeutischen Arbeit in Männergruppen zwischen 1993 und 1996. Als ich vor 15 Jahren begann, mich mit Erkenntnissen der feministischen Forschung zu befassen und dabei lernte, patriarchalische Gefühls-, Denk- und Verhaltensmuster kritisch in Frage zu stellen, wurden mir zunehmend nicht nur die männlichen und väterlichen Defizite bewusst, sondern auch die Macht und Gewalt von Frauen. Als Mütter — häufig ohne sich dessen bewusst zu sein — ver-gewalt-igen sie ihre Söhne.

Im Sohn sehen Mütter meist einen Vertreter des »privilegierten« Geschlechts, auf den sie als heterosexuelle Frauen viele ihrer Sehnsüchte richten. Gleichzeitig gehört der Sohn zu dem Geschlecht, von dem sie sich häufig alleingelassen, nicht verstanden, enttäuscht oder gedemütigt, misshandelt oder verachtet fühlen. Sie versuchen, zum Sohn eine Bindung herzustellen, in der sie endlich diese Frustrationen loswerden und eigene Bedürfnisse befriedigen können.

Dieser narzisstische Missbrauch von Söhnen, der bei etwa 50 Prozent aller Söhne auch sexuelle Varianten einschließt, geschieht offen autoritär oder subtil verdeckt. Er hat dann zwangsläufig Auswirkungen auf die Entwicklung zum Mann. Das Frauenbild des Sohnes und seine Einstellungen zu Erotik und Sexualität werden tiefgreifend geprägt.

In meinem Buch »Männer lassen lieben« habe ich — auf der Basis eigener Symbiose-Erfahrungen mit meiner Mutter — darauf hingewiesen, wie es vielen Söhnen fast unmöglich ist, sich aus der Abhängigkeit einer Beziehung zu lösen, die einerseits die Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse garantiert, andererseits übermächtig, unberechenbar und bedrängend sein kann. Hinter der vereinnahmenden und verzärtelnden Liebe meiner Mutter verbargen sich riesige, unerfüllte Liebesansprüche und die Hoffnung, dass ich meine Mutter aus der schwierigen und entwürdigenden Beziehung zu meinem Vater retten würde.

 

  »Wir-beide«-Idylle  

 

Hinter fast jeder Mutter-Sohn-Symbiose versteckt sich eine trügerische »Wir-beide«-Idylle, die die übrige Welt aus- und den Sohn in die Zweisamkeit­gefängnis­haft einschließt. Das Interesse der Mütter, von ihren Söhnen geliebt zu werden, wird allerdings verschleiert. Die Abhängigkeit verbietet dem Sohn, die Mutter in Frage zu stellen oder zu kritisieren. 

Viele Briefe berichten von dieser Unfähigkeit, die trügerische »Wir-beide«-Idylle zu entlarven und sich daraus zu befreien. Einige Männer werden noch heute von ihren Müttern als »kleine Jungen« erlebt und festgehalten. 

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Viele ringen mühevoll darum, den mitleidig-schonenden Blick auf ihre Mütter-Bilder durch eine kritische Auseinandersetzung mit der realen Mutter zu ersetzen und die Beziehung erwachsen und differenziert neu zu gestalten. Viele Mütter wehren sich erheblich gegen die Befreiungs­versuche ihrer Söhne. Sie verschanzen sich gekränkt, verbittert und wütend hinter dem uralten Schutzschild <Mutterliebe>.

 

Unser Anliegen ist nicht, Mütter anzuklagen und zu verurteilen. Wir wollen die Söhne schützen und deshalb mit ehrlichen, mutigen Müttern ins Gespräch kommen. Wir fordern die Mütter zum Dialog mit ihren Söhnen auf und dazu, Männer besser verstehen zu lernen, Männerkenntnis zu erwerben. Frauen und Mütter sollten nicht aufhören, Männergewalt zu untersuchen und darüber aufzuklären. Aber Mütter, die kaum ihre eigenen Bedürfnisse kennen und befriedigen, brauchen Aussagen von großen Söhnen, eine Art Schulung, um ihre kleinen Söhne besser zu verstehen — sie zu verstehen, bevor sie zu patriarchatstypischen Gewalttätern werden. Sie zu verstehen, solange sie noch zarte, hilflose und schutzbedürftige Kinder sind. 

Die meisten Frauen sind körperlich weniger gewalttätig als Männer. Sie wenden subtile und versteckte Gewalt an — das müssen wir großen Söhne aufzeigen, damit wir verstehen, warum Jungen ihre Aggressionen gegen die Mütter verbergen und verdrängen und sich später an ihren Partnerinnen dafür rächen. Frei nach Goethe: »Vom Vater habe ich die Gewalt, vom Mütterchen Moralgehalt.«

Alle 22 Söhne, die in diesem Buch zu Wort kommen, haben jahrelange intensive Erinnerungsarbeit geleistet, allein für sich, in Gesprächen mit mir und in unseren Gruppen. Wir haben keine Interviews gewählt, weil darin viel gesagt wird, was dem oberflächigen Bewusstsein entspricht und nicht dem gewichtigeren Unterbewusstsein. Wir haben Briefe geschrieben, um die Mutter-Sohn-Beziehung im psychoanalytischen Sinn gründlich durchzuarbeiten. (Vgl. dazu das Vorwort zu »Absender: dein Sohn. Briefe an den Vater«, herausgegeben von Wilfried Wieck, 1995) 

Das Schreiben der Briefe war Durcharbeitung: Es dauerte teilweise jahrelang, war erschütternd und anstrengend, aber auch entlastend und befreiend.

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Mancher Leser, auch Leserinnen, werden vielleicht behaupten, dass ich, Wilfried Wieck, die Briefschreiber beeinflusst habe. So grausig die Zumutung der Söhne an ihre Mütter erscheinen mag: Was diese 22 Männer aufgeschrieben haben, liegt in fast allen Männern des Patriarchats begraben, ein Leben lang. Es ist zu einfach zu behaupten, unsere Erkenntnisse seien nicht verallgemeinerbar. 

Jeder Mann, der sich ernsthaft auf eine mehrjährige Psychotherapie und Erinnerungsarbeit einlässt, wird Ähnliches zu Tage fördern. Aber die meisten Männer dieser Gesellschaft wollen weder die Erziehung verändern noch an sich arbeiten. Für sie ist die Erziehung der Eltern langweilig und zu teuer, für sie ist Humanität Luxus. Deshalb sollten sich Leserinnen und Leser nicht der Illusion hingeben, die Schreiber wären beeinflusst worden. Erst wenn die Schrecken und Schmerzen der Söhne zur Kenntnis genommen werden, bietet sich eine echte Chance, Gewaltfreiheit zwischen Männern und Frauen anzubahnen.

Der Mythos Mutterliebe hat sich in unserer patriarchalischen Gesellschaft über Jahrhunderte entwickelt. Angeblich ist jede Frau, die biologisch Mutter wird, automatisch, »natürlich« und selbstverständlich fähig, ihre Kinder zu nähren, zu pflegen und für ihr geistiges, seelisches und soziales Wohlergehen zu sorgen. Mütter, die dazu nicht in der Lage sind, werden als Ausnahme deklariert, sind angeblich unnormal. Die liebende Mutter-Frau ist »mit Freude« bereit, eigene Wünsche und Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen, sich selbstlos für ihre Kinder einzusetzen, notfalls für deren Wohl zu leiden. Nur Mütter können sich »wirklich« in die kindlichen Bedürfnisse einfühlen, wird behauptet.

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Ihre Bemühungen werden mit gesellschaftlicher Idealisierung belohnt. Die Glorifizierung der Mutterschaft bietet Frauen die »verlockende« Möglichkeit, den angeblich wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit als »richtige Frau« zu leben. Die Verheißung lautet: Eine Frau braucht nur Mutter zu werden, dann wird sie auch glücklich. 

Frauen, die dieser Ideologie zum Opfer fallen, merken meist zu spät, dass die Realität anders aussieht: Mütter leisten harte Arbeit, die meist nicht anerkannt und praktisch nie angemessen bezahlt wird. Eine breite Öffentlichkeit toleriert immer noch stillschweigend, dass Väter sich nicht verantwortungsvoll an der Pflege und Erziehung der Kinder beteiligen.

Alle diese Missstände sind bereits untersucht und belegt worden, ohne dass dies bisher zu Konsequenzen geführt hätte. Unsere Briefe sind subjektive Zeugnisse und Erlebnisberichte individueller Mutter-Sohn-Beziehungen. Sie enthalten »nur« die »Wahrheit der Söhne«. Es ist nicht unser Anliegen, die Schwierigkeiten und Nöte von Müttern zu beschreiben, die sich alleingelassen, überfordert und unzufrieden fühlen und deshalb ihre Jungen zur Kompensation und Selbstbestätigung missbrauchen.

Viele Männer beschäftigten sich beim Schreiben der Briefe zum ersten Mal mit vergessen geglaubten oder verdrängten Gefühlen und Erlebnissen. Zunächst mussten sie sich, Schuldgefühle, Scham und mitunter Angst überwinden, um sich diesem kleinen Jungen zu nähern, der sie in der Nähe ihrer Mutter waren. Kaum einer der Männer hatte mit solch heftigen Gefühlen gerechnet, wie sie dann beim Schreiben der Briefe hochkamen. Viele erschraken zutiefst vor der Wucht von Enttäuschung, Wut, Hass — und Sehnsucht.

Was sie weiterarbeiten ließ, teilweise weitertrieb, war der Wunsch, mit diesem Lernprozess ihre Probleme als Mann tiefer zu verstehen und die Beteiligung der Mütter an ihrer Entwicklung zu erkennen — nicht um darin zu verharren, sondern um die Symbiose und ihre Folgen aufzulösen und sie nicht in andere Frauen-Beziehungen hinein­zutragen. Die Briefe drücken bei verschiedenen Männern unterschiedliche Stadien dieses Lernprozesse aus.

Die Männer wissen natürlich, dass sie ihre Vergangenheit nicht ändern können. Sie haben diese Briefe geschrieben, um ihr gegenwärtiges und zukünftiges Leben anders gestalten zu können. Sie wollen sich selbst besser verstehen und begreifen, was sie in ihren aktuellen Frauenbeziehungen ändern müssen. 

Die Briefe sind das ernsthafte Bemühen, mit der Mutter in wirklichen Kontakt zu kommen, das Gespräch darüber aufzunehmen, was in dieser lebenswichtigen Beziehung geschehen ist. Sie sind Beziehungsangebote, Einladungen zur Kommunikation. 

Ob die Mütter, die diese Briefe erhalten, sie empört als Zumutung zurückweisen, ob sie als menschliche Gegenüber abdanken, ob sie die Verantwortung für Geschehenes leugnen oder ob sie imstande sind, aufrichtig zu werden, ihren Beitrag zur Wahrheitsfindung des Sohnes mutig und selbstkritisch zu leisten, wird zeigen, wie es wirklich um ihre Liebe zum Sohn, um ihr Interesse an seiner Person bestellt ist. 

Ein Sohn schreibt am Ende seines Briefes: Wir beide haben nicht mehr viel Zeit, an unserer Beziehung etwas zu verändern. Ich habe keine hohen Erfolgserwartungen, aber vielleicht können wir doch noch etwas verändern, zumindest unseren Umgang miteinander verbessern, damit wir uns beide wohler fühlen. Ich werde dir erzählen, wie es mir geht und was ich mache, und bitte dich, mir eine Weile zuzuhören.

Und deshalb sollen nun die Männer selbst zu Wort kommen. 

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Berlin, im Herbst 1999, 
Wilfried Wieck 

 

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