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17.   Gedanken über den Untergang 

Rieseberg-1992

 

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Immer wieder stellt man fest, daß unsere heutigen Probleme mit der Umwelt ihre Ursachen hauptsächlich in der abend­ländischen Zivilisation haben. Selbst die Vernichtung der tropischen Regenwälder in Süd­amerika oder in Afrika ist ein Ableger abend­ländischen Denkens, abendländischen Handelns und abendländischer Erfindungen. 

Der tropische Regenwald wird mit der Kettensäge des Produzenten Stihl niedergemacht und würde mit den handwerklichen Methoden der Indianer niemals abgeholzt werden können. Auch die Brand­rodungsmethode der Aborigines in Australien, die inzwischen nachgewiesen werden kann, hat nicht zu einer Zerstörung der Vegetation in Australien geführt. 

Die Intensiv­land­wirtschaft in China führte nicht zu einer Luft­verschmutzung, sondern erst die Übernahme abendländischer Industrie und Produktions­metho­den. Die globale Anwendung dieser Methoden und dieses Denkens haben die Welt am Ende des 20. Jahr­hunderts - gerade 2000 Jahre nach dem Höhepunkt des römischen Reiches - an den Rand, eventuell sogar über den Rand des Abgrunds hinaus geführt. 

Dies zwingt zu der Erkenntnis, daß das abend­ländische Denken und Handeln - hier handelt es sich vor allem um das Handeln - unmittelbar in den Untergang führt. Dieser Untergang vollzieht sich bereits seit mehreren tausend Jahren in immer neuen und größeren krisen­haften Steigerungen.

Die Propheten des Untergangs sind in der abendländischen Kulturgeschichte allerorten anzutreffen. Die Überlebens­strategie der dem Untergang jeweils Entronnenen besteht darin, die Propheten entweder zu ihren Lebzeiten oder posthum zu verunglimpfen, sich über sie lustig zu machen oder Theorien zu entwickeln, daß die Propheten selbst den Untergang herbeigeredet hätten. Insofern ist es wichtig, auch Schriften, die sich mit neueren Untergangstheorien beschäftigt haben, zu untersuchen und sie auf ihren Aktualitäts­charakter hin abzuklopfen.

Zu diesen gehören zweifellos Oswald Spengler und Arthur Schopenhauer

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Schopenhauer ist derjenige, der dem material­istischen Denken der abendländischen Zivilisation die Idee des Nichts und der Bedeutungslosigkeit gegenübergestellt hat, während Spengler konkret den Untergang dieser Zivilisation vorausgesagt hat. Der prophetischere von beiden war nach meiner Einschätzung Schopenhauer, weil er viel mehr an die ursprüng­lichen Lebensformen des Menschen angeknüpft hat.

Der materiell Konkretere in der Schilderung des Untergangsablaufs war Oswald Spengler, und zwar in seinem letzten Kapitel über das Geld und die Maschinen sowie in seinen Vorstellungen, wie die Verstädterung der Zivilisation gleichzeitig zu ihrem Ende und ihrer Auflösung führt.

Schopenhauer setzt dem sinnsuchenden abendländischen Menschen, der sich seinem Frühmenschentum durch seine Zivilisation entfremdet hat, das Nichts entgegen. Das Nichts in dem Sinne, daß die Suche nach der Bedeutung des Lebens sinnlos ist, weil es gar keine gibt.

Dies ist eine Vorstellung, die für den abendländisch denkenden Menschen unvorstellbar ist. In all seinen Handlungen, in all seinen Philosophien und vor allem in all seinen Taten will der abendländische Mensch letztlich dem Sinn des Lebens nachspüren, den Sinn des Lebens sichtbar und ihn durch materielle und technische Erfindungen erlebbar machen. Das Grausame an dieser Entwicklung besteht darin, daß er durch sein Tun, sein Denken und seine materielle Kultur das Leben selbst vernichtet, also genau das vernichtet, wonach er eigentlich sucht, nämlich den Sinn des Lebens.

Schopenhauer wollte wahrscheinlich etwas anderes und wurde dabei in die Ecke des Pessimisten und Fatalisten gestellt. Er suchte den Sinn des Lebens im Leben selbst, in der Vergänglichkeit und nicht in der Unendlichkeit, er suchte ihn in der Wiederholung. Und er mußte zwangsläufig darauf kommen, daß nach dem Ende des Lebens nichts ist, schlicht ein Nichts, ein unvorstellbarer Gedanke für einen abendländischen Philosophen, Wissenschaftler oder Techniker. Sie alle sind auf der Suche nach dem Ewigen, nach dem Unendlichen, verlieren auf dieser Suche das Endliche und sehen nicht die Aneinander­reihung des Endlichen zu einem Dauernden oder eventuell sogar Unendlichen. 

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Die Problematik, die in dieser Philosophie, in dieser Wissenschaft und technischen Zivilisation liegt, besteht in der ihr innewohnenden Untergangs­philosophie. Dies ist das zutiefst Männliche der gesamten abend­ländischen Zivilisation. Es ist das pessimistische, das wahnhafte Element, das Element der Vorrats­haltung, die Mangel­vorstellung, das Gefühl des Angegriffen­seins, das Gefühl, schwach zu sein, langsam zu sein, schlecht zu sein, kurz, eigentlich nichts zu sein.

Der Ausgangspunkt dieses rastlosen Tuns, dieser sinnlosen Suche, dieses selbstzerstörerischen Kampfes war der Versuch des Acker­bauers, sich an die Stelle der Natur zu setzen, selbst zu schöpfen und zu schaffen. Der Ackerbauer mißverstand die Gabe seines Gehirns und glaubte, das Gehirn sei ihm nicht gegeben, um sich selbst damit zu beglücken, um für sich selbst Gedanken, Phantasien, Träumereien und Kultur zu entwickeln, sondern er richtete das Hauptaugenmerk auf das Außen. Er wollte nun endlich alles sein, was die Natur nur in der Vielfalt ist. Er wollte schnell, stark, groß, mächtig, reich, schön und ewig sein. Und alles zur gleichen Zeit. Er vergaß alles, was er im Laufe der menschlichen Entwicklung gelernt hatte und was mehr weibliche Eigen­schaften sind. Er vergaß zu fliehen, er vergaß auszuweichen, er vergaß, sich hinzugeben, er vergaß zu lieben, er vergaß zu vergessen, zu vergeben, und er versuchte unsterblich zu werden. Mit diesen Handlungen, Handlungs­weisen, Methoden und Erkenntnis­prozessen produzierte er eine Eskalation menschlicher und gesell­schaftlicher Krisen.

Dabei handelte es sich nicht um eine Aneinanderreihung vergleichbarer Krisen, vielmehr übertrifft jede Krise die vorherige, und in jeder Krise versucht der Mensch, die Fehler der vorigen Krise zu berück­sichtigen, größere Sicherheits­momente einzubauen, stärker zu werden und den Heraus­forderungen noch entschiedener, noch aggressiver zu begegnen.

Obwohl eine sehr große Zahl von Intellektuellen und Wissenschaftlern vor dem Ersten Weltkrieg gewarnt haben, wurde er fast zwangsläufig von den großen Männern angezettelt. In der Vorahnung und im Angesicht des Ersten Weltkriegs formulierte Oswald Spengler die These vom Untergang des Abendlandes. Trotz dieser Kampfschrift gegen die Zivilisation triumphierten die männlichen Aggressions­fanatiker und trieben die Menschheit in den Zweiten Weltkrieg hinein.

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Nach dem Ende der Krise, dem scheinbaren Neuaufbau der abendländischen Gesellschaft, gab es kein Anhalten, kein Nachdenken, kein Besinnen, sondern wieder nur ein Vorwärts auf besser gesicherten Strukturpfaden. Obwohl ein großer Teil der Männer die Krise nicht überlebte, mußten sich die Frauen nach dem Krieg innerhalb kürzester Zeit den Handlungs­vorstellungen der Männer wieder unterwerfen. Es fehlte auch weiterhin eine Grundanalyse der abendländisch-zivilisierten Gesellschaft. Der Kampf ums Dasein konnte weitergehen.

Die Reste der natürlichen Umwelt waren noch groß genug, um als Schlachtfeld für den endgültigen Sieg über die Natur herzuhalten. Diesmal aber nicht mehr mit der Kriegstechnik, sondern mit der Technik des zivilen Konsums.

Der männlich-dominante Teil dieser Zivilisation auf der ununterbrochenen Suche nach dem Sinn des Lebens formierte sich zum letzten Gefecht. Er verstellte sich alle Einsichten über seine wahre menschliche Natur, über seine Abhängigkeit von seiner Umgebung und glaubte, die Wissenschaft, die er gerade im Zweiten Weltkrieg entscheidend intensiviert hatte, in den Dienst seiner globalen Allmachtsvorstellungen stellen zu können.

In diese Zeit, die ich die Zwischenkatastrophe nennen will, fallen die entscheidenden Entwicklungen für den zivilen Untergang der Menschheit im globalen Maßstab: der Computer, die Genforschung und die Organisations­modelle für eine menschenlose Produktion. Diese drei Elemente können nach den Vorstellungen dieser Wissenschaft den Descartesschen Maschinenmenschen ersetzen. Dieser Mensch, der nach ihren Vorstellungen aus Gehirn, Zeugung und Arbeit besteht, läßt sich durch den Denkapparat Computer, durch die künstliche Zeugung und Erzeugung im Rahmen der Genforschung und durch das Robotersystem ersetzen.

Der Mensch hat sich am Ende dieses Jahrhunderts nach seinem eigenen männlichen Verständnis theoretisch überflüssig gemacht. Damit beantwortet er aber auch in diesem Verständnis endgültig die Frage nach seinem eigenen Sinn. Es wird die Antwort sein, die zahlreiche Philosophen schon viel früher gefunden und gegeben haben: Es ist das Nichts. 

Dieser Erkenntnisprozeß, der im Allmachtgefühl oder im Allmachtstreben des Mannes seit 10.000 Jahren angelegt ist, führt dann fast zwanghaft zum Selbstmord. Wie ich bereits erläutert habe, kann eigentlich nur der männlich denkende Mensch konsequent Selbstmord begehen, weil er eben konsequent aggressiv, also letztlich auch aggressiv gegen sich selbst ist. Die Frauen sind konstruktiv, aber verzweifelt. Sie sind ängstlich, aber mutig, sie sind vorsichtig, aber bestimmt. Deshalb ist ein vollendeter weiblicher Selbstmord eher Zufall als Absicht.

Übers Ganze gesehen ist Spenglers These vom Untergang des Abendlandes trotz der Gleichartigkeit des Ergebnisses aus der Analyse des männlichen Menschen entwickelt. Ich kann dies unmöglich bei dem Umfang des Materials, das Spengler anführt, im Detail widerlegen und muß mich daher auf einige - wie ich meine - entscheidende Unterschiede beschränken: 1. Spengler analysiert den Zustand der abendländischen Zivilisation aus männlicher Sicht. 2. Als Grundausgang des Menschen gilt ihm der Bauer. Der Jäger und der Sammler kommen bei ihm nicht vor. 3. Die Grundelemente der abendländischen Zivilisation sind die Tat und das geschichtliche Naturgesetz als Schicksalsidee des Werdens und Vergehens.

Die Untergangsprognose Spenglers basiert auf einer Ausweglosigkeit und Zwanghaftigkeit des Handelns. Man könnte sie geradezu eine männliche Psychose der Selbstprophezeiung nennen. Der Beobachter analysiert die Krisenhaftigkeit des Geschehens und versucht nicht, seine Phantasie für die Abwendung des Geschehens einzusetzen, sondern setzt sich selbst an die Stelle des Handelnden und vollendet das Geschehen. Es ist im Grunde das perfekte Szenario des menschlichen Untergangs­gedankens: Der Mann bringt sich durch sein Handeln in eine ausweglose Situation, hat es verlernt zu fliehen und vollendet mit eigener Hand das sogenannte Schicksal für sich und andere. 

Genau an dieser Stelle grenze ich meine Prognosen über das, was dieser Welt droht, gegen derartige Unter­gangs­prognosen ab. 

Ziel meiner Warnungen ist nicht, wenn der Untergang denn schon kommen sollte, mannhaft und heldenhaft diese Welt und ihre Menschen auf den Untergang vorzubereiten, sondern den einzelnen in die Lage zu versetzen, die Gefahr zu erkennen und rechtzeitig zu entfliehen. 

Nicht der Kampf oder das Aggressive rettet diese Welt, sondern die Flucht, das Weiche, das Ausweichen, das Entziehen, das Verweigern, das Boykottieren, das Lachen, das Spiel, die Muße. 

In einer weiblich orientierten Philosophie ist das Nichts das, was es ist, belanglos. In einer männlich orientierten Philosophie ist das Nichts das Alles, das Vernichtende — ist das, welches alles, was man gemacht hat, zunichte macht.

Deshalb kann diese Zivilisation untergehen, wenn die Grundeinstellung vieler Konsumenten zur Philosophie unseres Überlebens wird: Wenn ich alles das, was ich in dieser heutigen Zivilisation habe, aufgeben muß, dann will ich nicht überleben.

Insoweit ist auch die Deutung von Hochhuth, daß Zivilisationen Alterungsprozessen unterliegen, Unsinn. Zivilisationen unterliegen männlichen Menschen­gesetzen, sie altern nicht, sondern sie gehen schlicht unter. Die Spenglersche Untergangsphilosophie verstellt den Blick für die Möglichkeit der Rettung — für die Flucht.

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Hans Joachim Rieseberg 1992