Rolf  Hochhuth 

Wortkunstschaffender, Dramatiker

 

Audio 2008 dlf 
mp3, 23', Biografisches

 

Bismarckdenkmal in Berlin;
R.H. spricht im Interview davon =>

wikipedia.Autor  *1931 in Kassel bis 2020 (89)

rolf-hochhuth.de 

 

detopia:

H.htm   Sterbejahr

Geschichtsbuch

Georg.Elser   Heiner.Müller 

Stefan Heym   Walter Jens

 

Video 1999 Interview BRalpha (wmv)

Video 2008 Kulturzeit Akten zu NSDAP (mp4)

 

Stücke:

wikipedia  Der_Stellvertreter

wikipedia  Filbinger-Affäre

wikipedia  Ärztinnen

wikipedia  Judith

wikipedia  Wessis_in_Weimar

wikipedia  McKinsey_kommt

Schon mit seinem ersten Stück "Der Stellvertreter", in dem er die Mitschuld der katholischen Kirche an der Vernichtung der Juden im Dritten Reich thematisierte, landete der 1931 in Eschwege bei Kassel geborene Rolf Hochhuth einen Welterfolg.

Ein streitbarer Geist und kritischer Bürger ist der immer korrekt mit weißem Hemd und Schlips gekleid­ete "Recherchedramatiker" geblieben, wenngleich seine literarische Produktion allen lauteren Intentionen zum Trotz meist künstlerisch umstritten war.

Der gelernte Buchhändler, der die Geschichte wie die Geschichten liebt und ein leidenschaftlicher Erzähler ist, darf sich Eigentümer des Berliner Ensembles nennen, obwohl er Brechts Werk bis auf ein paar Gedichte und das Stück "Leben des Galilei" nicht schätzt.

Der rigide Aufklärer mischt sich gern und vernehmlich in öffentliche Belange ein, wenn er meint, dass die kleinen Leute ungerecht behandelt werden: egal, ob es dabei um Wieder­vereinigungs­kriminalität, um Arbeits­losigkeit und die Streichung der Pendlerpauschale geht, oder ob er um ein Denkmal für den verhinderten Hitler-Attentäter Johann Georg Elser kämpft. 

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Rolf Hochhuth 2008

mit Irene Bazinger am 7.6.2008

berlinonline  magazin/0002

 

Guten Tag, Herr Hochhuth. Ich habe uns ein wenig Kuchen mitgebracht.

Vielen Dank, gnädige Frau, aber waren wir nicht erst um zwölf Uhr verabredet?

Nein, nein, ich habe Sie extra gestern nochmals angerufen, wir wollten uns wirklich um 11 Uhr treffen.

Aha, na schön, kommen Sie rein. Dorthin bitte ins Wohnzimmer.

Sie haben ja einen tollen Blick auf das Holocaust-Mahnmal. Wie lange wohnen Sie schon hier?

Ich zog gleich nach der Wende in dieses Haus, da war es noch fast ein Rohbau. Am Anfang gab es hier keinen Laden, keine Kneipe, keine Bank. Die Behrenstraße war hier ein Feldweg, nicht einmal asphaltiert. Ich war entzückt, weil ich direkt gegenüber das Brandenburger Tor vor Augen hatte und der Reichstag ganz nahe ist. Geschichte ist nun einmal das Gewässer, in dem ich mich als Autor bewege. Das einzige, was mich fünf Minuten zögern ließ, die Wohnung zu nehmen, war die unglaubliche Tatsache, dass das Bad kein Fenster hat, was für mich der Gipfel architektonischer Barbarei ist, und dass sie über keinen Balkon verfügt. Ansonsten fühle ich mich hier ungeheuer wohl.

Aber diese schöne Aussicht ist inzwischen ziemlich verbaut worden.

Ja, durch das Hotel Adlon und die Commerzbank. Auf die amerikanische Botschaft kam inzwischen ein Aufsatz drauf, jetzt kann man nicht einmal mehr von Südberlin aus die Quadriga sehen. Die sind verrückt geworden! Sie haben bestimmt sieben bis acht Meter in den Boden zementiert, damit sich keiner von unten durchbuddeln kann. Aber sie kriegen natürlich von Berlin Hilfe in Hysterie. In der Wilhelmstraße sind sämtliche Briefkästen abgeschraubt worden, denn darin könnte eine Bombe gegen einen VIP im Adlon, in der englischen oder der amerikanischen Botschaft versteckt sein. Wir sind die Nation der Hysteriker!

Haben Sie noch Ihre Wohnung in Basel, wo Sie lange gelebt haben?

Nein, ich habe 2007 alles aufgegeben. Es ist einfach zu weit. Mit dem ICE dauert die Fahrt zwischen siebeneinhalb und achteinhalb Stunden. Danach bin ich mit meinen 77 Jahren total groggy. Nach dem Tod meiner Frau im Oktober 2004 habe ich immer das Flugzeug benutzt. Früher bin ich nicht gern geflogen, aber jetzt ist mir alles egal. Möchten Sie vielleicht ein Glas Mineralwasser? Oder ein Glas Weißwein?

Nein, vielen Dank.

Ich kann vormittags, muss ich Ihnen sagen, auch nicht gut Wein trinken. Abends schaffe ich eine ganze Flasche. Aber morgens schmeißt einen ein einziges Glas um.

Rotwein mögen Sie gar nicht?

Rotwein löscht keinen Durst. Deshalb trinke ich nur Weißwein und meistens verdünntes oder alkoholfreies Bier. Außerdem bin ich ein sehr großer Liebhaber von Wodka. Durch einen englischen Freund habe ich mir die sogenannte Drinktime angewöhnt. Wenn die Engländer nicht gegen 18.30 Uhr einen Whisky oder ähnliches bekommen, werden sie unruhig.

Welche Sorte Wodka bevorzugen Sie?

Am liebsten habe ich den Moskovskaya. Der <Gorbatschow> ist ja wie Kamillentee, den brauchen Sie nicht zu trinken. Mein Arzt meinte: Ach, Wodka trinken Sie. Das ist sehr, sehr gut; denn Wodka hat keinen Zucker.

Der englische Freund, der Ihnen die Freuden der Drinktime beibrachte, war aber nicht der als Holocaust-Leugner verurteilte Publizist David Irving?

Nein, das war der Theatermann Robert David MacDonald, der meinen "Stellvertreter" ins Englische übersetzt hat. Seitdem waren wir sehr enge Freunde. Irving war auch ein enger Freund, der mir vor allem viel Material zu meinem Churchill-Stück "Soldaten" (1967) geliefert hat. 1982 erschien im Heyne-Verlag sein Buch "Von Guernica bis Vietnam. Das Leiden der Zivilbevölkerung im modernen Krieg", das er auf mein Betreiben geschrieben hatte. In seinem Vorwort warnte er, die Welt gehe mit Gleichgültigkeit "über die Ermordung von sechs Millionen Juden einer Atomkatastrophe entgegen", in deren erster Stunde schon eine Million Menschen ermordet würde. 

Irving hat eine jüdische Mutter, geborene Dollmann, und es war nie die Rede davon, dass er je den Holocaust leugnen würde. Bei ihm ist eine Krankheit ausgebrochen, für die ich nicht das richtige Wort habe. Er sagte eines Tages, er habe bemerkt, der Führer - er sagte wirklich "der Führer" - habe erst ein halbes Jahr, nachdem Himmler mit der Vergasung der Juden begonnen hatte, überhaupt davon erfahren. Da habe ich ihm heftig widersprochen. Einmal wurden wir sogar aufgefordert, ein Lokal zu verlassen, weil wir uns dermaßen gezankt hatten. Irving hat viel über Hitler geschrieben, und ich habe gesagt, David, dir ist etwas passiert, was auch vielen anderen Biografen passiert ist - du hast dich von Hitler überwältigen lassen, du nimmst ihn in Schutz!

Ihre Dramen haben meist einen starken und brisanten gesellschaftspolitischen Bezug. Es heißt, Sie planen ein Stück über den 1989 ermordeten Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen?

Dafür sammle ich zwar Material, aber mit der Niederschrift kann ich erst im Herbst beginnen. Denn derzeit mache ich einen Gedichtband fertig, der Ende Oktober im Rowohlt Verlag erscheinen wird und den Titel "Vorbeugehaft" trägt, weil auch ein so böses wie leider sachliches Gedicht über Wolfgang Schäuble drin ist.

Sie verfassen Stücke, gehen oft ins Theater, Sie haben auch selbst als Kritiker gearbeitet. Wie ist denn die aktuelle Situation auf den Bühnen?

Häufig sehr traurig: Denn ein junger Autor hat heute keine Chance. Wenn ich an meinen Start denke - was hatte ich für Glück! Neulich traf ich den Chefdramaturgen des Berliner Ensembles, Hermann Beil. Du trittst sehr für ein Johann-Georg-Elser-Denkmal in Berlin ein, meinte er, weißt du überhaupt, dass wir - er arbeitet ja schon ewig mit Peymann zusammen - in Bochum ein Elser-Drama von Peter Paul Zahl gespielt haben? Das wusste ich nicht, auch nicht, ob Zahl überhaupt noch lebt. Ja, antwortete Beil, aber der ist so arm, dass er gar nicht in der Stadt wohnen kann, sondern irgendwo in der Ödnis der Provinz verschwunden ist. Da konnte ich nur fragen: Warum spielt ihr ihn dann nicht mehr? Warum lasst ihr es als reiche Leute dazu kommen, dass ein solcher Mann untergeht und man ihn bereits zu Lebzeiten für tot hält? Dabei sind die Theaterbonzen der Bundesrepublik mit Abstand die höchstsubventionierten der Welt.

Die künstlerische Risikobereitschaft ist auf Leitungsebene demnach allgemein zurückgegangen?

Ja, sogar ungeheuer! In der Generation von Piscator, Gründgens, Kortner, Hilpert war es dagegen so, dass es ein Intendant für ehrenrührig hielt, wenn er nicht in jeder Saison einen unbekannten Dichter vorgestellt oder einen vergessenen neu getestet hat. Das ist nun nicht mehr der Fall. Dabei müssten das gerade die großen, repräsentativen Häuser wie das BE tun.

Kann es sein, dass sich heutzutage kein Theater mehr ein Experiment oder einen möglichen Flop leisten kann, weil der Druck in Sachen Auslastung, Einnahmen und Medienerfolg so massiv geworden ist?

Ich glaube, das stimmt nicht. Es sei denn, Sie weisen mir nach, dass Herr Ostermeier an der Schaubühne ein leeres Haus hat, weil er so viel Neues spielt. Auch unbekannte Autoren machen Kasse.

Sind also die Intendanten einfach feige oder meinen Sie, dass auch der künstlerische Sachverstand, der bei der Auswahl eines neuen Autors, eines neuen Stücks nötig ist, inzwischen zu wünschen übrig lässt?

Nein, aber die Bequemlichkeit ist größer geworden! Oft hat die Herren ihr persönliches Einkommen total korrumpiert. Sie schauen nicht mehr zu denen hin, die da unbekannt an der Wand lang schleichen, weil niemand ihre Stücke aufführt. Siehe Peter Paul Zahl: Früher hätte ein Intendant gesagt, gerade weil es ihm jetzt dreckig geht und ihn keiner spielt, geben wir ihm einen Dramaturgenjob oder inszenieren eines seiner Stücke. Es ist einfach ein Unding zu behaupten, ein Stück über Johann Georg Elser, das vor 30 Jahren interessant war, sei für die aktuelle Generation weniger spannend. Er war immerhin der einzige Deutsche, der Hitler schon vor Beginn des 2. Weltkriegs töten wollte. Seine unerhörte moralische und faktische Leistung ist, dass er bereits 1938 zur Tatortbesichtigung nach München fuhr. Elser war ja nur ein Volksschüler, hatte nie studiert. Jedoch spielte er öffentlich vier Instrumente und war nach sieben Dorfschuljahren der prüfungsbeste Tischlerlehrling. Bei Kriegsbeginn war seine Bombe fertig, aber Hitler verließ den Bürgerbräukeller eben elf Minuten vor der Detonation. Er ist der bedeutendste Deutsche des vorigen Jahrhunderts, dieser Johann Georg Elser, jener eine von Wilhelm-Tell-Format.

Trotzdem tauchte er lange nicht einmal in den Lexika auf. Wie konnte ein solcher Mann dermaßen in Vergessenheit geraten?

Das hat mit der Selbstgerechtigkeit zu tun, die jede Generation überkommt. Die heutige bezeichne ich als glückverdummt. Das ist das Wort, das ich für unsere Spaßgesellschaft gefunden habe, die nie irgendeine Krise oder Katastrophe erlebt hat. Mal steigt die Arbeitslosigkeit ein bisschen, die Ernte ist womöglich ein bisschen schlechter als im vorigen Jahr, aber eigentlich haben wir keine Ahnung, wie verschont von Weltgeschichte wir seit 1945 sind. Ja, Glück auf Dauer verdummt.

Das Berliner Ensemble ist auf den Namen Ihrer Mutter, Ilse Holzapfel, im Berliner Grundbuch eingetragen, der gleichnamigen Stiftung gehört das Theatergebäude. Wie ist Ihr Verhältnis zum Intendanten Claus Peymann?

Wissen Sie, wie ich mit dem Peymann früher stand? Ich habe eines Tages gelesen, das Burgtheater werde hundert Jahre alt. Daraufhin schickte ich ihm eine Postkarte und schlug ein Auftragswerk vor. Er überwies mir 30.000 DM, das war damals sehr viel Geld, und ich schrieb "Sommer 1914". Dann wurde Robert David MacDonald beauftragt, das Stück am Wiener Akademietheater zu inszenieren, jedoch warf ihn Peymann bald hinaus und inszenierte es 1990 selbst, übrigens absolut mustergültig. Er hat 1970 in Stuttgart meine "Guerillas" durch Peter Palitzsch uraufführen lassen und am Burgtheater den "Stellvertreter" gezeigt, als der Papst Wien besuchte. 

Was ich schlimm finde, ist die Tatsache, dass er dem Theater von heute inzwischen überhaupt keine Chance mehr gibt. Er hat erst ein einziges Mal in den knapp zehn Jahren, die er am BE ist, die Uraufführung eines Unbekannten riskiert, "4 1/2 Männer und ich" von Arna Aley, einer Assistentin am Hause. Sonst macht er nur das Übliche. Und das ist ein kolossaler Hemmschuh für die Entwicklung der Gegenwartsdramatik. Im Hinblick darauf, dass er die weitaus größten Subventionen bekommt, die jemals ein so kleines Theater bekommen hat, finde ich das sehr verächtlich. Früher hatten wir überhaupt keine Differenzen. Und ich habe mich gefreut, als er 1999 das BE übernahm. Doch seitdem er hier ist, kriegt er schon einen roten Kopf, wenn ich vor einer Premiere bloß mein Fahrrad im Hof anschließe.

Sie fahren trotz Ihres stolzen Alters weiterhin mit dem Rad?

Ja, ja, bloß zu wenig! Es sind meist nur kleine Wege, zum Postamt in der Friedrichstraße oder so. Und abends fahre ich durch Ostberlin spazieren. Immer auf dem Bürgersteig! Die Polizisten grüßen trotzdem. Der Regen stört mich übrigens nicht. Ich habe meine Jacke und eine Kappe.

Sie haben kein Abitur und keinen Führerschein ...

Nein, auch meine drei Söhne fahren nicht Auto. Wir sind Radfahrer .

Aber einen Tanzkurs, die dritte Säule zum klassischen bürgerlichen Erwachsenwerden, haben Sie absolviert?

Selbstverständlich! Ich habe beim Tanzen das schöne Mädchen, das ich später geheiratet habe, zum ersten Mal im Arm gehalten. Wir hatten dann zwei Söhne, aber die Ehe wurde geschieden, daran war ich ganz alleine schuld, denn ich hatte sie betrogen. Sie hatte es mir zwar sofort verziehen, aber ich wurde rückfällig - mit meiner zweiten Frau, einer Serbin. Von ihr habe ich noch einen Sohn. Meine dritte Frau ist im Oktober 2004 an Krebs verstorben. Sie war Oberstudienrätin für Erdkunde und Biologie. Ich hätte nie geglaubt, dass ich alter Mann eine Frau überlebe, die elf Jahre jünger ist als ich, und die bis dahin ganz gesund war, nicht einmal einen Schnupfen hatte sie in den 18 Jahren, in denen wir sehr glücklich miteinander lebten.

Ihre jetzige Freundin ist ebenfalls etliche Jahre jünger und hat eine Buchhandlung. Wo haben Sie einander kennengelernt?

Bei einer meiner Lesungen, da hatte sie den Büchertisch organisiert. Wenn ich Johanna nicht hätte, würde ich nicht nur im Dreck, sondern auch seelisch verkommen. Und geistig! Denn sie liest außer Bücher auch Zeitungen, was ich ein Leben lang nicht getan habe. 

Leben Sie zusammen? 

Ja, obwohl sie eine eigene Wohnung in der Nachbarschaft hat. Aber sie ist jeden Abend bei mir.

Die Themen Ihrer Stücke sind absolut ernsthaft und wesentlich für die Menschen und die geschichtliche wie politische Entwicklung in diesem Land ...

... aber ich habe auch Komödien geschrieben, "Die Hebamme" zum Beispiel - obwohl, das war ja auch ein ernstes Thema.

Fühlen Sie sich heute noch anerkannt und für voll genommen - vom Feuilleton, den Kollegen, den Politikern?

Die Politiker merken nur auf, wenn eine überregionale Zeitung einem die Gelegenheit gibt, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Sonst nehmen sie Leute wie mich in keiner Weise ernst, denn Autoren sind ja kein Wählerpotenzial. Allein wenn wir die Presse für uns haben, wie es mir zum Beispiel zu Zeiten von Bundeskanzler Ludwig Erhard geschah, als ich 1965 im "Spiegel" den Aufsatz "Der Klassenkampf ist nicht zu Ende" veröffentlichen konnte, weshalb er mich einen "ganz kleinen Pinscher" nannte. Oder als der baden-württembergische Ministerpräsident und ehemalige Marinerichter Filbinger mich wegen meines Stücks "Juristen" anzeigte und mich Franz Josef Strauß 1978 beschimpfte. Er sagte wörtlich: "Man kann Filbinger aus dem, was er bei Kriegsende unter den damaligen Verhältnissen getan hat, keinen Vorwurf machen. Aber man führt mit Ratten und Schmeißfliegen keine Prozesse." Stimmt nicht, es war 1943 und gar nicht Endkriegszeit. 

Hier in diesem Plattenbau hat, als Sie seinerzeit einzogen, auch die jetzige Bundeskanzlerin gewohnt. Haben Sie Kontakt zu ihr?

Angela Merkel begrüßt mich immer noch freundlich mit Handschlag, wenn wir uns begegnen. Wir sehen uns aber fast nie. Sie nimmt am Kulturleben Berlins nicht sehr viel teil, glaube ich, wahrscheinlich hat sie wenig Zeit. Ich habe sie manchmal hier im Lift gesprochen, und damals war sie, verglichen mit heute, unscheinbar. Es trifft auf sie genau zu, was im Prolog zu Schillers "Wallenstein" steht: "Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken." 

Ich bin fest überzeugt, dass sie mindestens zwanzig Jahre Kanzlerin bleiben wird. Auch, weil sie die ganze asoziale Drecksarbeit, die leider mit ihrer Kanzlerschaft verbunden ist, sehr geschickt von ihren Hiwis in der SPD, vor allem von Bundesfinanzminister Steinbrück, erledigen lässt. Sie macht sich die Hände nicht schmutzig, sie wird sehr, sehr lange regieren. 

Ist sie denn eine gute Bundeskanzlerin? 

Ich denke ja, obwohl sie sozialer sein müsste. Das ist meine Kritik an ihr.

Gibt es nach Ihren bisherigen Erfahrungen noch einen Politiker, den Sie schätzen?

Ich glaube, dass der letzte ehrliche Sozialist Oskar Lafontaine ist. Dass er sich gezwungen hat, mit alten Scharfmachern der SED, also der Diktatur-Partei, ins gleiche Boot zu steigen, weil ihm die SPD keine Gelegenheit mehr bietet, soziale Gedanken zu realisieren, bewundere ich sehr. Doch nach wie vor ist für mich der bedeutendste Politiker, den ich stets gern lese, zumal er auch ein herrlicher, witziger Briefschreiber war, Bismarck.

Weil Sie beide am 1. April Geburtstag haben? 

Ich habe da hinten das einzige Bild hängen, auf dem Bismarck lacht, eine Meisterzeichnung von Anton von Werner, der auch die Kaiserproklamation in Versailles gemalt hat. Es gibt kein Foto, auf dem Bismarck lacht. 

Es gibt aber auch nur wenige Fotos, auf denen Sie lachen, oder? 

Ich muss vorsichtig sein, wenn ich lachen will! Mit 20 Jahren hatte ich nämlich ein Gesichtslähmung, und wenn ich lache, sehe ich deswegen immer noch so verzerrt aus wie Quasimodo, der Glöckner von Notre Dame. Diese Gesichtslähmung war anfangs katastrophal schlimm, aber sie ist zum Glück zurückgegangen. Wie ich sie bekam? Ich arbeitete damals in der berühmten Elwert'schen Universitätsbuchhandlung in Marburg als Bestellbuch­führer. Jede Bestellung wurde handschriftlich in ein Buch eingetragen. Über mir war ein Tag und Nacht geöffnetes Fenster zu einem Lichtschacht, was ich als sehr angenehm empfand. Da fragte mich auf einmal ein Kunde: Was machen Sie denn für ein Gesicht? Es war plötzlich vollkommen gelähmt. Ich musste vier Monate eine Augenklappe mit nassem Mull tragen, damit der Augapfel nicht austrocknete, das Lid bewegte sich nicht mehr. Wenigstens ist das alles in einer Universitätsstadt passiert, so konnte ich jeden Abend mit dem Rad zum elektrischen Massieren des Gesichts fahren. 

Sie sind ein geradezu detektivisch gründlich recherchierender Schriftsteller, den man als Erfinder des Doku-Dramas nicht nur gelobt hat. Die taz sprach 2004 gar von "Studienratstheater der penetranten Art". Hätten Sie auch ein furchtloser Enthüllungsjournalist werden können?

Ich habe schon mit 15 Jahren gewusst, dass ich nichts anderes werden will als Schriftsteller. Mein Vater hatte Mathematik studiert und litt sehr, weil ich in Chemie, Physik, Mathematik nicht einmal zuhören konnte! Ich habe mich nur für Deutsch, Geschichte und Erdkunde interessiert, weil ich eben schreiben wollte. Und ich habe auch sehr früh, in der Pubertät, damit angefangen. Natürlich ist die Recherche keineswegs ein Vorzug allein der Journalisten. Auch bei Gottfried Benn haben die Gedichte ihre wissenschaftliche Fundierung gehabt. Als er 1927 in die Berliner Akademie der Künste gewählt werden sollte, hat die sehr bedeutende Dichterin Ricarda Huch vehement dagegen angeschrieben, weil er das wissenschaftliche Vokabular, speziell natürlich der Medizin, in seine Gedichte integriere. Sie fand das unkünstlerisch und unmöglich. Dabei war das die eigentlich revolutionäre Leistung Benns.

Sind Ihre Regie-Anweisungen aufgrund Ihrer ausgiebigen Forschungen und zur Darstellung des dabei gesammelten Wissens stets so ausführlich?

Also, die Regie-Anweisungen schreibe ich immer mit größtem Vergnügen! Ich sage mir, wenn ich bestimmte Dinge eruiert habe, kann ich sie ruhig weitergeben. Wie schnell wird alles vergessen! Einem Regisseur oder einem Schauspieler, der seinen Job wirklich ernst nimmt, nutzt es allemal, wenn entsprechendes Hintergrundwissen mitgeliefert wird. Und dem Leser letztlich auch! Dass meine Stücke viel gelesen werden, zeigen die Auflagen von manchmal über 100.000 Exemplaren. Vom "Stellvertreter" sind allein in deutsch 1,6 Millionen verkauft worden. Das verdanke ich zum Teil auch der Tatsache, dass ich ein Bühnenbild episch einführe. Ich kann ja nicht zwei Leute miteinander reden lassen, ohne mir deren Umgebung vorzustellen. Na, dann möchte ich die auch präzise ausmalen. Sonst werden Dramen von Normalverbrauchern gar nicht gelesen - und nur die nackten Dialoge werden meist nicht einmal gedruckt. Ich kann sowieso nur schreibend denken. In meiner Heimat gibt es ein berühmtes Sprichwort: "Jeder ist anders albern." Ich bin es eben so.

Sie sind in Eschwege nahe Kassel geboren, haben lange in Basel gelebt und sind eigentlich überall daheim, wo Sie sich über die Zustände empören können und etwas aufzudecken haben. Wo wollen Sie als historisch kritischer, symbolbewusster Schriftsteller einmal begraben werden?

Ich erhielt 2001 als Erster den Jacob-Grimm-Preis der Stadt Kassel. Zur Vorbereitung der Dankesrede ging ich den Spuren der Brüder Grimm in Berlin nach und fand über die S-Bahn-Station Yorckstraße zum Alten Sankt-Matthäi-Friedhof in Schöneberg, wo sie liegen. Dort war noch Platz, deshalb habe ich vier Gräber gekauft, vielleicht lässt sich einer meiner Söhne hier begraben, und 2004 musste ich dort meine Frau beerdigen, vierzig Zentimeter von den Brüdern Grimm entfernt. Ich gehe natürlich öfter hin, es ist nur eine Kurzstrecke vom Brandenburger Tor entfernt, ich habe ein Gedicht darüber geschrieben.  

 

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