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     4   Wege alter Menschen in den Tod    

 

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Meine Großmutter hatte sich keine ausgefallene Art ausgesucht, um »die Welt zu verlassen«, wie es Thomas Browne ausdrückt. Nach der Weltgesund­heits­organisation steht der Schlaganfall in den entwickelten Ländern als Todesursache an dritter Stelle. In den USA erliegen ihm jährlich über einhundert­fünfzig­tausend Personen, etwa ein Drittel aller Betroffenen. Ein weiteres Drittel ist anschließend dauerhaft invalide. Mehr Todesopfer als Schlaganfälle fordern nur Herzerkrankungen und Krebs. 

Nach einer Periode der Rückläufigkeit hat sich der Schlaganfall in den letzten Jahren bei einer statistischen Häufigkeit von 0,1 bis 1,0 Fälle auf 1000 Personen jährlich eingependelt. Diese Zahl bezieht sich freilich auf die Gesamtheit der Bevölkerung. Das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, wächst mit zunehmendem Alter. Wenn es auch noch keine genauen Schätzungen zum Risiko einzelner Bevölkerungs­gruppen gibt, so ist doch immerhin so viel bekannt, daß von 1000 über fünfundsiebzig Jahre alten Menschen in den USA und Westeuropa jährlich zwischen 20 und 30 einen Schlaganfall erleiden. Das Risiko dieser Altersgruppe ist damit ungefähr dreißigmal höher als beim Rest der Bevölkerung. 

Der unpräzise Begriff des Schlaganfalls hat für so manche Verwirrung gesorgt. Für den Arzt ist ein Schlaganfall ein neurologisches Defizit, das durch eine plötzliche Unterversorgung des Gehirns mit Blut über die arteriellen Gefäße verursacht wird. Ein Schlaganfall im medizinischen Sinn liegt dann vor, wenn die Unterversorgung länger als vierundzwanzig Stunden anhält. Alles andere gilt als transitorische ischämische Attacke (TIA). Die Symptome der TIA verschwinden gewöhnlich innerhalb einer Stunde, in einigen Fällen dauern sie jedoch auch länger. 

Wenn dem Leser die hier beschriebenen Vorgänge vertraut erscheinen, so kommt das nicht von ungefähr. Es handelt sich im Grunde um den gleichen Vorgang, wenn die Unterversorgung des Herzens mit arteriellem Blut eine Unterfunktion dieses lebenswichtigen Organs hervorruft. Der allgemeine Vorgang der Ischämie, der verringerten Blutzufuhr und somit mangelhaften Versorgung von Gewebe, läßt in den verschiedenen Regionen des Körpers nur allzuoft Zellen absterben. Einer Ischämie sind James McCarty und meine Babe zum Opfer gefallen, und die meisten heute lebenden Menschen werden an einer ihrer Spielarten sterben. 

Die Blutversorgung bricht beim Schlaganfall aus den gleichen Gründen zusammen wie beim Herzinfarkt. Die Ablagerungen an der Innenseite der Gefäßwände haben den kritischen Punkt erreicht und führen in einem Zweig der inneren Kopfschlagadern zum Verschluß. Dieser Verschluß kann auf zwei Arten zustande kommen. Entweder wird er durch Ablagerungen im Gefäß selbst verursacht oder durch ein abgelagertes Klümpchen, das sich in einem größeren Gefäß löst, zum Gehirn wandert und dort als Embolus ein bereits verengtes Gefäß vollends verstopft.

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Ein Schlaganfall und die begleitende Ischämie kann auch durch eine Hirnblutung ausgelöst werden, eine andere mögliche Folge der Hirnarteriosklerose, die ein breit gefächertes Krankheitsbild hat. Bei älteren Menschen wird die Hirnblutung fast immer durch dauernden Bluthochdruck verursacht, der die arteriosklerotisch verhärteten Gefäßwände überstrapaziert. Platzt ein Gefäß schließlich an einer bestimmten Stelle im Hirn, dringt das Blut in das umliegende Hirngewebe ein. Eine solche Hirnblutung endet doppelt so oft tödlich wie ein Schlaganfall durch Gefäßverschluß, dem nur 20 Prozent der Betroffenen erliegen. 25 Prozent aller Schlaganfälle werden durch eine Hirnblutung hervorgerufen, für den Rest ist Gefäßverschluß verantwortlich. 

Um die Hirntätigkeit aufrechtzuerhalten, ist eine große Menge Energie notwendig. Das Gehirn verdankt sie fast ausschließlich der Fähigkeit des Gewebes, Traubenzucker in seine Bestandteile Kohlendioxid und Wasser aufzuspalten, ein biochemischer Vorgang, für den viel Sauerstoff gebraucht wird. Da das Gehirn Traubenzucker nicht speichern kann, muß er über den arteriellen Blutkreislauf andauernd zugeführt werden. Das gleiche gilt für den Sauerstoff. Ein ischämisches Gehirn hat den noch vorhandenen Traubenzucker und Sauerstoff schon nach wenigen Minuten aufgebraucht und beginnt abzusterben. Nervenzellen reagieren auf die mangelnde Blutzufuhr besonders empfindlich. Bereits fünfzehn bis dreißig Minuten nach Aussetzen der regulären Versorgung treten irreversible Schäden auf. Eine Stunde nach Beginn einer Ischämie tritt zwangsläufig ein Infarkt an wichtigen Teilen der Hirnmasse ein. 

Je nach Lage der betroffenen Gefäße hat der Schlaganfall das Absterben bestimmter Hirnregionen und damit unterschiedliche Symptome zur Folge.

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Obwohl mindestens ein halbes Dutzend Äste der inneren Kopfschlagader besonders stark vom Verschluß bedroht sind, ist an einem ischämischen Insult meistens ein Ast der paarweise angelegten mittleren Hirnschlagader oder Arteria cerebri media (ACM), wie sie wissenschaftlich heißt, beteiligt. Dieses Gefäß versorgt den Großteil der seitlichen Hirnrinde und einige tiefer gelegene Zentren mit Blut — wichtige sensorische und motorische Bereiche, die zum Beispiel für die Bewegung der Hände und Augen oder für das Hören verantwortlich sind. 

Zudem versorgt es jene Hirnregionen, die für die sogenannten »höheren Funktionen« des Gehirns wie die Wahrnehmung, das geordnete Denken, die willentlichen Bewegungen und die Koordination dieser Fähigkeiten verantwortlich sind. In der dominanten Hirnhälfte (bei Linkshändern die rechte, bei den übrigen 85 Prozent der Menschen die linke) versorgt die ACM die sensorischen und motorischen Regionen, die für das Sprechen verantwortlich sind. Diese besondere Aufteilung der Versorgungswege erklärt, warum viele Opfer von Schlaganfällen nicht mehr sprechen und schreiben oder Geschriebenes und Gesprochenes nicht mehr verstehen können.

Häufig wird der Verschluß der ACM, der zum Schlaganfall führt, nicht allein durch die Verengung des Gefäßes an der Verschluß­stelle hervorgerufen, sondern auch durch abgelagerte Klümpchen, die sich aus der inneren Kopfschlagader gelöst haben, oder sogar durch ein kleines Blutgerinnsel beispielsweise aus dem Herzen. 

Solch ein Klümpchen bezeichnet man als Embolus, ein aus dem Griechischen stammender Begriff, der ebenfalls auf Rudolf Virchow zurückgeht und soviel wie »Keil« oder »Pfropfen« bedeutet. Ursprünglich wurde er aus zwei Wörtern mit der Bedeutung »hineinwerfen« gebildet.

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Bei dem Vorgang gerät also ein Pfropf in die Arterie, wird vom zirkulierenden Blut mitgerissen und bleibt schließlich in einem verengten Gefäß stecken, das er dann vollständig verschließt. Der Verschluß wird jedoch häufiger nicht durch einen Embolus, sondern nur durch die Ablagerungen an den Gefäßwänden verursacht. In beiden Fällen wird das von der Arterie versorgte Gewebe von der Zufuhr an Sauerstoff und Traubenzucker abgeschnitten, worauf sich wenige Minuten später die ersten Symptome einstellen. Wird die Verstopfung nicht binnen kurzem behoben, stirbt die betroffene Hirnregion ab. 

Ob es sich um Zellverbände oder um unseren ganzen Planeten handelt — allem Sterben liegt wohl letztlich der Entzug von Sauerstoff zugrunde. Dr. Milton Helpern, der über zwanzig Jahre lang öffentlich bestellter Chefpathologe der Stadt New York war, brachte dies auf die klare Formel: »Der Tod kann durch ein breites Spektrum an Krankheiten und Störungen hervorgerufen werden, aber die eigentliche physiologische Ursache ist in allen Fällen der Zusammen­bruch der Versorgung des Körpers mit Sauerstoff.« Auch wenn die Feststellung für einen gewissenhaften Biochemiker eine grobe Vereinfachung ist, ist sie doch allgemeingültig. 

Kleinere Schlaganfälle mit leichten oder nicht wahrgenommenen Symptomen werden zunächst oft gar nicht erkannt. Wenn sie sich mit der Zeit häufen, bemerkt selbst ein Außenstehender die Anzeichen des schritt­weisen Verfalls. Walter Alvarez aus Chicago, ein bedeutender Kliniker einer vergangenen Generation, zitierte einmal eine »geistreiche alte Dame« mit den Worten: »Der Tod holt mich stückchenweise.« Klinisch beschrieb er den Vorgang so:

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Sie sah, daß sie mit jedem Schwindelanfall, jeder Ohnmacht und jedem Zustand der Verwirrung etwas älter, schwächer und kraftloser wurde. Ihr Gang wurde langsamer, ihr Gedächtnis unzuverlässiger, ihre Handschrift schlechter lesbar und ihr Interesse am Leben geringer. Sie war sich bewußt, daß sie sich seit zehn oder mehr Jahren Schritt für Schritt dem Grab näherte.

William Osler sagte zum allmählichen geistigen Verfall von Patienten mit einer gestörten Durchblutung des Gehirns: »Diese Menschen brauchen zum Sterben genausoviel Zeit, wie sie zum Erwachsenwerden gebraucht haben.«

Fast 10 Prozent der alten Patienten, bei denen eine senile Demenz diagnostiziert wird, haben mehrere kleine Schlaganfälle hinter sich. Dieser Zusammenhang ist von Alvarez 1946 nach Beobachtungen am eigenen Vater vorgetragen worden. Charakteristisch für den Verfallsprozeß, der heute Multiinfarktdemenz heißt, ist eine unregelmäßige Folge plötzlicher Ereignisse, bei denen Schritt um Schritt geistige Fähigkeiten abgebaut werden. Erstmals beschrieben wurde diese Form der Gehirnarteriosklerose interessanterweise 1899 von Alois Alzheimer, der acht Jahre später die Entdeckung jener anderen Form der Demenz veröffentlichte, die heute seinen Namen trägt.

Der schleichende Prozeß, bei dem die Funktion eines vom Infarkt betroffenen Gehirns immer stärker beeinträchtigt wird, kann sich über mehr als ein Jahr­zehnt hinziehen, bevor dann ein größerer Schlaganfall oder ein anderes Krankheitsereignis schließlich das Ende bringt. 

Ein größerer Hirninfarkt, der durch Gefäßverschluß in der ACM ausgelöst wird, führt zu sensorischen Ausfällen und Lähmungen vor allem in der Gesichts­hälfte und den Gliedmaßen, die auf der anderen Seite der betroffenen Hirnhälfte liegen.

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Ein solcher Infarkt führt zudem zu Aphasie, dem Verlust sprachlicher Fähigkeiten, wobei das Sprachver­ständnis oft einigermaßen gut erhalten bleibt. Der Verschluß anderer Gefäße äußert sich, je nach versorgter Hirnregion, in einem ganzen Spektrum von Symptomen, wobei die Versorgung allerdings teilweise durch intakte Gefäße in der Nachbarregion aufrechterhalten wird. Sprach- und Sehstörungen, Lähmungen, sensorische Ausfälle und Gleich­gewichts­störungen sind die häufigsten Erscheinungen des Schlaganfalls.

Ist der Schlaganfall besonders heftig, fällt der Betroffene ins Koma. Sind ausgedehnte Hirnregionen unterversorgt oder kommen Komplikationen wie ein abrupt abfallender Blutdruck oder Herzrhythmus­störungen hinzu, bleibt die übliche Erholung nach dem Anfall aus. Die Ischämie dehnt sich dann sogar in benachbarte Hirnregionen aus. Ab einem gewissen Punkt schwillt die Hirnmasse an und wird gegen die Hirnschale gepreßt, was zu weiteren Schädigungen führen kann. Ein Teil wird möglicherweise in eine Falte der Membranen gequetscht, die das »obere« vom »unteren« Hirn oder Stammhirn trennen, also die denkenden Hirnregionen von den Regionen, die für die lebensnotwendigen mechanischen Funktionen wie Herztätigkeit, Atmung, Verdauung und Blasenfunktion zuständig sind. Wenn es dazu kommt, werden die Zentren des Stammhirns, die die Herztätigkeit und die Atmung steuern, so stark geschädigt, daß der Tod eintritt. Der Patient stirbt an Herzrhythmusstörung oder an Atemstillstand mit Herzversagen. 

Der Zusammenbruch von unmittelbar lebenswichtigen Funktionen ist nur eine von vielen möglichen Auswirkungen eines Schlaganfalls, an dem 20 Prozent oder — bei einer Hirnblutung als Ursache — noch mehr der Betroffenen sterben.

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Bei einer entsprechend starken Schädigung werden alle Steuerungsfunktionen des Gehirns beeinträchtigt. Ein vorhandener Diabetes gerät so sehr außer Kontrolle, daß der Säuregehalt des Blutes zum Zusammen­bruch der Lebens­funktionen führt. Eine Lähmung der Muskeln im Brustbereich kann zum Erstickungstod führen, oder der Blutdruck kann auf lebensgefährlich hohe Werte Ansteigen — all dies sind die häufigsten tödlichen Komplikationen schwerer Schlaganfälle.

Bei meiner Babe kam eine weitere Komplikation hinzu: eine Lungenentzündung. Bei alten Menschen reagiert kein anderes Organ außer der Haut auf Umwelteinflüsse so empfindlich wie die Lunge. Ob durch äußere Einwirkung oder durch den normalen Alterungsprozeß — die Lunge verliert mit der Zeit an Elastizität und büßt damit die Fähigkeit ein, sich vollständig auszudehnen und zusammenzuziehen.

Mit der Schwächung des Flimmerepithels, das den verschmutzten Schleim in den Rachen hinaufbefördert, verliert sie ihre Selbstreinigungskraft: Die verengten Luftwege reichern sich immer stärker mit Schmutzpartikeln an. Und in den feinen Verästelungen der Bronchien können Luftfeuchtigkeit und Temperatur nicht mehr konstant gehalten werden. Zu diesen rein physikalischen Veränderungen kommt als Teil der allgemein geschwächten Abwehrkräfte alter Menschen eine verringerte Produktion lokaler Antikörper hinzu. 

Die Erreger der Lungenentzündung sind bereit, wenn schädliche Einflüsse das vermindert aktionsfähige Abwehrsystem alter Menschen zusätzlich schwächen. Fällt ihr Opfer ins Koma, haben sie freie Hand. Der Körper hat jetzt keine bewußten Abwehrmechanismen mehr, um ihren räuberischen Übergriffen zu trotzen. Selbst das Husten als schützender Reflex unterbleibt.

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Schleim oder Fremdkörper, die unter gewöhnlichen Bedingungen bereits ganz oben in den Atemwegen wieder ausgeworfen würden, werden jetzt zum Vehikel, das die Keime bis tief in die Bronchien hinabträgt. Die Lungenbläschen oder Alveolen schwellen an und gehen durch Entzündung zugrunde. Der lebenswichtige Gasaustausch des Organismus kommt zum Erliegen, im Blut nimmt der Sauerstoff ab und das Kohlendioxid zu. Wenn die Menge des Sauerstoffs unter die kritische Marke fällt, sterben Hirnzellen ab; das Herz beginnt zu flimmern oder setzt ganz aus. Die Lungenentzündung hat gesiegt. 

Die Erreger verfolgen bei ihrem tödlichen Blitzkrieg eine weitere Strategie: Die Entzündungsherde in der Lunge dienen als Ausgangsbasis für ihren Vormarsch in den Kreislauf des Blutes, das sie in alle Körperorgane trägt. Die in der Medizin Sepsis oder Septikämie genannte Blutvergiftung hat eine ganze Reihe physiologischer Folgen, die zum Zusammenbruch der Funktion von Herz, Lungen, Blutgefäßen, Nieren und Leber, zu einem dramatischen Absinken des Blutdrucks und mithin zum Tod führen. Bei einer Blutvergiftung können auch die stärksten Antibiotika den gewaltigen Ansturm der Krankheitserreger oft nicht mehr eindämmen. 

Ob der Patient an Lungenentzündung, Herzversagen oder einer Übersäuerung des Blutes durch Diabetes stirbt, der Schlaganfall tritt auffallender­weise fast immer mit einem Heer typischer Komplikationen auf, denen die alten Menschen schließlich zum Opfer fallen. Er ist nur eine der vielen verheerenden Folgen der Gehirnarteriosklerose im Endstadium, die durch falsche Lebens­gewohn­heiten sehr wohl beschleunigt und die in ihrem tödlichen Verlauf nicht gestoppt werden kann.

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Henry Gardiner, der Herausgeber meiner Thomas-Browne-Ausgabe von 1845, zitiert im Anhang ausführlich Francis Quarles, einen Literaten des 17. Jahrhunderts: »Es liegt in der Macht des Menschen, sein natürliches Leben durch Unterlassung oder durch aktives Zutun zu verkürzen, aber er kann es niemals verlängern oder seine Grenzen ausdehnen.« Und scharfsinnig fügt Quarles hinzu: »Er besitzt lediglich (wenn überhaupt) die Kunst, den allmählichen Ausklang seines Lebens möglichst hinauszuzögern.« Kein Heilmittel kann den verheerenden Prozeß des Alterns aufhalten, aber die fehlende Quantität des Lebens kann durch Qualität wettgemacht werden.

Viele Ärzte, vor allem solche, die viel Zeit im Labor verbringen, zweifeln wie die Statistiker daran, daß das Alter notwendigerweise zum Tod führt. Im Hinblick auf das Sterben meiner Großmutter können sie mit Recht darauf verweisen, daß Lungenentzündungen oder andere Infektionen bei alten Menschen über fünfundachtzig nach der Arteriosklerose inzwischen die zweithäufigste Todesursache sind. Daß meine Großmutter an beiden Erkrankungen litt, scheint ihr Weltbild zu bestätigen und dafür zu sprechen, daß man solche Krankheiten behandeln muß, um das Leben alter Menschen zu verlängern. Aber für mich hat das wenig mit Wissenschaft zu tun.

Bei allem Respekt vor einer solchen Sicht gibt es doch zahlreiche Beweise dafür, daß das Leben natürliche, unverrückbare Grenzen hat. Wenn sie erreicht sind, erlischt das Lebenslicht, und zwar auch ohne eine erkennbare Krankheit oder einen Unfall.

Zum Glück begreifen das die meisten Fachärzte, die sich auf die Betreuung alter Menschen spezialisiert haben. Die Geriater haben sich bei der Aufklärung typischer Alterskrankheiten große Verdienste erworben, aber noch mehr Bewunderung verdienen sie für die menschliche Anteilnahme, mit der sie Hochbetagte bei ihrem langsamen Sterben begleiten.

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Ich habe kürzlich mit Dr. Leo Cooney, Professor für Geriatrie* an meiner Fakultät, über die Auswüchse bei der medizinischen Behandlung alter Menschen gesprochen. Er hat seine Position später prägnant in den beiden folgenden Absätzen eines Briefes zusammengefaßt:

Die meisten Geriater wenden sich entschieden gegen schwerwiegende medizinische Eingriffe, die nur der Verlängerung des Lebens dienen. Geriater kritisieren immer wieder Nephrologen [Fachärzte für Nierenerkrankungen], die alte Menschen ans Dialysegerät anschließen, Lungenspezialisten, die Menschen intubieren, für die das Leben nur noch eine Qual ist, und auch Chirurgen, die unbedingt Patienten unters Messer nehmen, für die eine Bauchfellentzündung ein gnädiger Tod wäre. Wir wollen die Lebensqualität, nicht die Lebensdauer der alten Menschen erhöhen. Deshalb setzen wir uns dafür ein, daß Senioren unabhängig bleiben und möglichst lange ein würdevolles Leben führen. Wir bemühen uns, mit Problemen wie Inkontinenz oder geistiger Verwirrung besser umzugehen und den Angehörigen dabei zu helfen, mit so schweren Erkrankungen wie Alzheimer fertig zu werden.

Die Geriater können als die wichtigsten Ärzte zur Betreuung älterer Menschen gelten, sie sind gewissermaßen die Antwort der heutigen Generation auf das Fehlen des früheren Land- oder Hausarztes, der seine Patienten und ihre Leiden noch gut kannte. Als Facharzt ist der Geriater auf die Gesamtheit der Erkrankungen alter Menschen spezialisiert. In den USA gab es Ende 1992 nur 4084 ausgebildete Geriater; ihnen standen - um nur ein Beispiel zu geben - 17.000 Herzspezialisten gegenüber.

wikipedia / Geriatrie    Alters- oder Altenmedizin bzw. -heilkunde, ist die Lehre von den Krankheiten des alternden Menschen. Dies betrifft vor allem Probleme aus den Bereichen der Inneren Medizin, der Orthopädie, Neurologie und Psychiatrie (Gerontopsychiatrie). -- Als Gerontologie oder Alter(n)sforschung wird andererseits die Wissenschaft bezeichnet, die sich mit Alterungsvorgängen in all ihren Aspekten befasst, darunter psychische, soziale, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche. --- Das Wort Geriatrie wurde erstmals von Ignatz Leo Nascher verwendet, einem in Wien geborenen Arzt, der später in den USA tätig war und bereits 1914 sein Lehrbuch Geriatrics: The diseases of old age and their treatment veröffentlichte. --- Geriatrie darf nicht mit der Palliativmedizin verwechselt werden, die nicht für Heilung, sondern für Beschwerdelinderung steht.

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Man kann einige Argumente für meine These, daß sich die natürlichen Grenzen des Lebens eines Menschen nur wenig verändern lassen, in Frage stellen. Andererseits gibt es zu besonders rüstigen alten Menschen fundierte Untersuchungen, die sich mit den altersspezifischen Veränderungen bestimmter Körper­funktionen ohne krankheitsbedingte Beeinträchtigungen befassen. Die Ergebnisse sind die von mir beschriebenen: Der Prozeß des Alterns läuft unabhängig von äußeren Einflüssen weiter ab. Zwar gibt es eine Wechselwirkung in dem Sinn, daß der Alternsprozeß Erkrankungen fördert und seinerseits durch Erkrankungen beschleunigt werden kann, aber ob mit oder ohne Krankheit, der Körper altert in jedem Fall.

Diese Einsicht unterscheidet sich vom Standpunkt vieler Laborforscher, die dem Altern mit bestimmten Therapien zu Leibe rücken wollen. Ist eine Krankheit erst identifiziert und mit einem Namen belegt, wird sie automatisch zum Gegenstand einer Behandlung mit dem Ziel, sie möglichst in den Griff zu bekommen. Darin liegt letztlich der Grund, warum sich Ärzte auf ein bestimmtes Gebiet innerhalb der Medizin spezialisieren. Dem Facharzt geht es in Forschung oder medizinischer Praxis natürlich auch darum, menschliches Leiden zu lindern, aber die erste Triebfeder seines Handelns ist der Ehrgeiz, ein bestimmtes Krankheitsbild zu entschlüsseln und das Leiden dadurch zu besiegen. Am Anfang und am Ende des Lebens werden die Patienten dagegen zum Glück von Ärzten betreut, die die Aufgaben des früheren Hausarztes der Familie übernommen haben: vom Pädiater und vom Geriater.

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Das Bestreben, eine Krankheit richtig zu diagnostizieren und zu behandeln, ist für jeden guten Facharzt eine faszinierende Herausforderung. Doch nur allzuoft verliert ein Arzt das Interesse an einer Krankheit, der er nicht beizukommen vermag. Ist ein Rätsel von Natur aus unlösbar, so bleibt es auf lange Sicht nur für einen kleinen Kreis von Fachärzten interessant. Der unaufhaltsame Alternsprozeß ist ein solches unlösbares Rätsel. Trotzdem versuchen viele Fachärzte, sich die Faszination an ihrem Gegenstand zu bewahren, indem sie das Alter als solches mit den Etiketten behandelbarer Krankheiten versehen. So wecken sie bei alten Menschen oft falsche Erwartungen. Es gilt heute geradezu als unschicklich zuzugeben, daß manche Menschen den Alterstod sterben.

Kann es einen Zweifel daran geben, daß die mit dem Älterwerden verbundenen physischen Veränderungen den Körper empfindlicher machen und ihn dem Tod näher bringen? Gibt es einen Zweifel daran, daß wir im Alter mit jedem Jahr weniger gegen die tödlichen Bedrohungen gefeit sind, die in unserer Umgebung ständig lauern? Ist die Unfähigkeit, mit diesen Bedrohungen fertig zu werden, nicht das Ergebnis einer schrittweisen Abnahme unserer Abwehrkräfte? Ist diese Schwächung nicht die Folge eines allgemeinen Verschleißes des Körpergewebes und der Organe? Muß ein solcher allgemeiner Verschleiß, ob an einer Maschine oder am menschlichen Organismus, nicht stets zum Zusammenbruch der Funktion führen? Thomas Jefferson wußte, wovon er sprach. 

Tatsächlich ist die von Jefferson formulierte Einsicht Jahrtausende alt. Das älteste erhaltene Medizin­buch der Welt, das chinesische Huang Ti Net Ching Su Wen, das »klassische Buch der inneren Medizin des Gelben Kaisers«, entstand vor ungefähr 3500 Jahren. In ihm wird der sagenhafte Kaiser von dem gelehrten Arzt Chi Po mit folgenden Worten über das Alter belehrt:

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Wenn ein Mensch alt wird, werden die Knochen trocken und spröde wie Stroh [Osteoporose], das Fleisch wird schlaff, in der Brust sammelt sich Luft [Emphysem], und er bekommt Schmerzen im Bauch [chronische Verdauungsstörungen]; ein unangenehmes Gefühl plagt das Herz [Angina pectoris oder Herzrhythmusstörungen], das Genick wird steif, und die Schultern hängen herab, der Leib glüht vor Fieber [häufige Entzündungen der Harnwege], die Knochen treten durch das Fleisch hervor [Schwund an Muskelmasse], und die Augäpfel quellen aus den Höhlen. Wenn dann der Puls der Leber zu sehen ist [Insuffizienz der rechten Herzkammer] und das Auge keine Naht mehr zu erkennen vermag [Star], dann schlägt der Tod zu. Wenn ein Mensch seiner Krankheiten nicht mehr Herr wird, ist das Ende des Lebens nahe; die Zeit des Todes ist gekommen.

Die Hauptfrage ist folglich nicht, ob das Alter zu Erschöpfung, zu einer stärkeren Anfälligkeit gegenüber Krankheiten und schließlich zum Tod führt, sondern warum das Individuum altert. Daß man sich in der abendländischen Tradition mit dieser Frage schon früh befaßt hat, belegt ein Zitat aus dem Prediger Salomo: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit.« Das Thema der Vergänglichkeit des Lebens taucht in der abendländischen Literatur immer wieder auf.

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Bereits vor der Entstehung der Bibel hatte Homer geschrieben: »Mit dem Menschengeschlecht ist es wie mit den Blättern. Wenn eine Generation heran­wächst, geht eine andere zugrunde.« Und daß eine Generation der nächsten Platz macht, hat seine guten Gründe, wie Jefferson an seinem Lebensabend dem verehrungs­würdigen John Adams in einem weiteren Brief erläuterte: »Es gibt eine Zeit, wenn man für den Tod reif ist, und das gilt für andere wie für einen selbst; dann sollten wir vernünftiger­weise abtreten und Platz machen für neues Wachstum. Wenn für unsere Generation das Ende gekommen ist, sollten wir nicht die Rechte der nächsten beanspruchen.«

Wenn es naturgegeben ist, daß wir nicht die Rechte der nächsten Generation beanspruchen sollen (und das bestätigen einfache Beobachtungen), dann muß die Natur notwendigerweise dafür sorgen, daß die Menschen wie Homers Blätter allmählich in den Herbst des Lebens gelangen und »abtreten und Platz machen für neues Wachstum«. Wissenschaftler aller Disziplinen haben versucht, den Mechanismus des Alterns zu entschlüsseln, und doch weiß man noch immer nichts Genaues darüber.

Für den Alternsprozeß gibt es grundsätzlich zwei Erklärungsansätze. Nach dem ersten beruht das Altern vor allem auf dem Verschleiß, dem die Körperorgane und ihre Zellen bei der alltäglichen Erfüllung ihrer Aufgaben unterliegen. Dieser Ansatz wird oft als »Theorie von Abnutzung und Untergang« bezeichnet. Dem anderen Erklärungsansatz zufolge folgt das Altern einem genetischen Programm, das die Lebenszeit der einzelnen Zellen, der Organe und des Gesamtorganismus bestimmt. Im Zusammenhang mit dieser zweiten Theorie ist oft vom »genetischen Lochstreifen« die Rede, der von der Empfängnis an abläuft und nicht nur die Stunde des Todes (im metaphorischen Sinn zumindest), sondern auch die Zeit festlegt, wann sich die ersten Vorboten des Todes zu Worte melden.

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Überspitzt formuliert bedeutet das beispielsweise, daß der Tag oder die Woche, an dem sich Krebszellen zum bösartigen Tumor auszuwachsen beginnen, bereits in der befruchteten Eizelle angelegt ist. 

Für die Verfechter der »Theorie von Abnutzung und Untergang« spielt die Umwelt eine große Rolle, wobei dieser Begriff sowohl auf die äußere Umwelt unseres Planeten als auch auf die Umgebung innerhalb und außerhalb der Zelle bezogen wird. Faktoren wie die solare und industrielle Hintergrundstrahlung, Umweltgifte, Mikroben und Giftstoffe in der Atmosphäre können in den Zellen beispielsweise die Erbinformation schädigen, die dann mit Fehlern auf Tochterzellen übertragen wird. Möglich sind auch zufällige Übertragungsfehler, die nicht auf äußerer Umwelteinwirkung beruhen. In beiden Fällen können gehäufte Veränderungen in der DNS zu Funktionsfehlern in den Zellen führen, die daraufhin absterben. Die Folge sind jene erkennbaren Veränderungen im Gesamtorganismus, die als Alternsprozeß wahrgenommen werden.

Andere umweltbedingte Risiken liegen im Körpergewebe und im Inneren der Zelle verborgen. Neben den bereits erwähnten Faktoren gibt es noch weitere Mechanismen, die die Erbinformation schädigen können. Um gesund zu bleiben, müssen Zellen die giftigen Abfallprodukte ihres Stoffwechsels wirksam abbauen. Funktioniert dieser Abbau nicht reibungslos, können sich in der Zelle Giftstoffe ansammeln, welche nicht nur die Zellfunktion stören, sondern die DNS selbst beschädigen. Ob nun schädliche Umwelteinflüsse, zufällige Übertragungsfehler oder giftige Abfallprodukte des Stoffwechsels die Ursache sind, Fehlinformationen auf der DNS gelten vielen als Hauptfaktor des Alternsprozesses.

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Auch wenn man die Schreckensvisionäre des New Age nicht zu ernst nehmen sollte, so gibt es doch keinen Zweifel daran, daß sich hinter einigen ihrer Schlagwörter wie Aldehyde und freie Radikale des Sauerstoffs ernsthafte Gefahren verbergen: Wenn solche Stoffe nicht rechtzeitig in ungefährlichere Substanzen zerlegt werden, können sie das Protoplasma der Zelle schädigen und so zu ihrer Alterung beitragen. 

Ein freies Radikal ist ein Molekül, dessen äußere Elektronenwolke eine ungerade Anzahl von Elektronen enthält. Solche Strukturen sind äußerst reaktionsfreudig, da sie nur über den Zugewinn oder Verlust eines Elektrons eine gerade Anzahl und damit einen chemisch stabilen Zustand erreichen können. Ihre besondere Reaktionsfähigkeit hat sie zu positiv oder negativ bewerteten Elementen zahlreicher biologischer Theorien gemacht, die ein ganzes Spektrum von Themen vom Anfang des Lebens auf unserem Planeten bis hin zu den Mechanismen des Alterns abdecken. Einige Verfechter der Theorie, wonach sich die menschliche Lebensspanne verlängern läßt, sind davon überzeugt, daß Extradosen Beta-Karotin oder Vitamin E oder C unser Zellgewebe vor einer Oxydation durch freie Radikale bewahren könnten. Einen Beweis für diese Theorie gibt es bislang freilich leider noch nicht.

Der anderen wichtigen Theorie zufolge ist der gesamte Prozeß des Alterns durch genetische Faktoren bedingt. Danach gibt es in jedem Lebewesen ein genetisches Programm, das die physiologischen Abläufe im Organismus im Lauf einer Lebensspanne immer stärker zurückfährt, bis sie schließlich völlig zum Erliegen kommen. Dieses Programm läuft von Mensch zu Mensch verschieden ab oder variiert zumindest in wichtigen Aspekten.

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Es ist der Grund etwa der Schwächung des Immunsystems, der Faltenbildung der Haut, des Wachstums bösartiger Geschwülste, der nachlassenden Elastizität der Wände von Blutgefäßen, des Abbaus geistiger Fähigkeiten und vieler anderer Alterserscheinungen.

Die genetische Theorie des Alterns erhielt gewaltigen Auftrieb, als Dr. Leonard Hayflick vor fast dreißig Jahren zeigen konnte, daß im Labor gezüchtete menschliche Zellen die Teilung nach einer bestimmten Zeit einzustellen beginnen. Schließlich entstehen überhaupt keine neuen Zellen mehr, während die vorhandenen absterben. In Hayflicks Experiment war die Anzahl der Teilungen konstant; sie lag bei ungefähr fünfzig. Die Untersuchungen wurden an Fibroblasten vorgenommen, einem Zelltyp, der im menschlichen Organismus überall vorkommt und Bindegewebe entstehen läßt. Die Erkenntnisse lassen sich auf andere Zellen übertragen. Nur die Fähigkeit von Krebszellen, sich potentiell endlos zu reproduzieren, durchbricht die endliche Lebensspanne gesunder Zellen.

Untersuchungen wie Hayflicks Studie helfen erklären, warum jede biologische Art eine bestimmte Lebens­spanne hat und warum sich die Lebensspanne eines Individuums in ungefähr mit der seiner Eltern deckt: Die beste Versicherung für ein langes Leben sind noch immer lange lebende Eltern.

Seither hat sich die Wissenschaft mit einer Flut von Faktoren beschäftigt, die vermutlich alle eine gewisse Rolle im Alternsprozeß spielen. Mit anderen Worten, wahrscheinlich hat das Altern ein ganzes Bündel von Ursachen, die bei verschiedenen Menschen verschiedenes Gewicht haben. Einige sind allen Lebewesen gemein, so zum Beispiel die Veränderungen in den Molekülen und Organellen der Zelle.

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Die Veränderungen in den Zellen, im Körpergewebe und den Organen dagegen sind möglicherweise artspezifisch wie die in einer Pflanze oder einem Tier. Nach Dr. Hayflick spricht sehr viel dafür, »daß die Wesensmerkmale der biologischen Instabilität, die gemeinhin als altersbedingte Veränderungen gelten, eine Vielfalt von Ursachen haben«. 

Einige dieser Ursachen sind, wie bereits erwähnt, das genetische Programm, die Entstehung freier Radikale, die Instabilität von Molekülen, die begrenzte Lebensdauer der Zelle und das gehäufte Auftreten von Fehlern bei der Reproduktion der Erbinformation und im Stoffwechsel der Zelle. Auch andere mögliche Komponenten haben in den Hallen der Wissenschaft ihre Verfechter gefunden. So ist Lipofuszin für manche Forscher mehr als nur ein harmloses Stoffwechselprodukt der Zelle, das für die Entfärbung alternder Organe sorgt. Sie halten das gehäufte Auftreten von Lipofuszin für tödlich. Andere Alternsforscher heben besonders auf hormonelle Veränderungen ab, die durch das alternde Nervensystem hervorgerufen werden. Für wieder andere ist eine der wichtigsten altersbedingten Veränderungen des Immunsystems die abnehmende Fähigkeit des Körpers, eigenes Gewebe zu erkennen: Die typischen Alterserkrankungen beruhen demnach auf der Abstoßung körpereigenen Gewebes.

Einer weiteren Theorie des Alterns zufolge verbinden sich die Moleküle der Kollagene, die vor allem im Bindegewebe vorkommen, miteinander. Die Ansammlung solcher Verbindungen verhindert den reibungslosen Transport von Nähr- und Abfallstoffen im Gewebe und beeinträchtigt zugleich die lebenswichtigen Abläufe innerhalb der Zelle. So kann es unter anderem zu Schädigungen der DNS kommen, was wiederum zu Mutationen oder zum Zelltod führen kann.

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Einer relativ neuen Hypothese zufolge nimmt im Alter die Komplexität der physiologischen Systeme ab. Zugleich schwindet ihre Anpassungsfähigkeit und Effektivität. Ihre verringerte Komplexität ist möglicher­weise das Ergebnis anderer, grundlegender Prozesse, die einige der beschriebenen mit einschließen.

Neuerdings hat man sich zunehmend für ein unter den Arten weitverbreitetes Phänomen interessiert, eine programmierte Form des Zelltodes, wie es scheint. Dieser Prozeß, dem die Forscher den Namen Apoptosis gegeben haben (nach dem griechischen Wort für »wegfallen«), beginnt mit der Aktivität eines Proteins namens Myk-Gen, das unter bestinfmten abnormen Bedingungen eine folgenreiche Kette biochemischer Reaktionen auslöst, die durch das Erbgut gesteuert werden. Entzieht man bestimmten Zellkulturen beispielsweise die Nährstoffe, setzt das Myk-Gen einen Prozeß in Gang, bei dem die Zelle innerhalb von fünfundzwanzig Minuten gleichsam in sich zusammenfällt. Die Zelle verschwindet gewissermaßen aus dem Gewebe, sie »fällt weg«. Ihr vorprogrammierter Tod ist für den heranreifenden Organismus von Bedeutung, weil so bestimmte, für den Entwicklungsprozeß nicht mehr benötigte Zellen ausgemerzt und durch Zellen der nächsten Entwicklungsstufe ersetzt werden können. Beispiele der Apoptosis hat man auch in Organismen im Reifestadium entdeckt. Die Apoptosis wurde dabei durch verschiedene Ereignisse in der Umwelt der betroffenen Zellen ausgelöst. 

Da die Apoptosis als Form des Zelltodes direkt durch Gene gesteuert wird, liegt der Gedanke nahe, daß das Myk- oder ein anderes Gen als eine Art »Todesgen« funktioniert. Mit der Annahme eines durch Gene gesteuerten Todes, der durch eine Vielzahl umweltbedingter und physiologischer Faktoren ausgelöst wird, scheinen sich einige der bereits erwähnten Hypothesen zum Altern in Einklang bringen zu lassen.

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 Noch vielversprechender wurde dieser Forschungsansatz, als man eine Verbindung zwischen dem Myk-Protein und einer anderen Struktur, dem sogenannten Max-Protein, nachweisen konnte. Kommt es zu einer solchen Verbindung, wird die Zelle auf noch ungeklärte Weise zu drei verschiedenen Reaktionen veranlaßt: zur Reifung, zur Teilung oder zur Selbstzerstörung durch Apoptosis. Je nach Erscheinungsform spielt das Myk-Gen offenbar eine wichtige Rolle bei der Entwicklung, dem Wachstum und dem vorprogrammierten Tod der Zelle. Diese Entdeckungen sind für die Erforschung normaler und krankhafter Abläufe im Organismus, insbesondere für die Erforschung von Krebs, von unabsehbarer Bedeutung.

Verfechter von Kompromißlösungen suchen nach wieder anderen Wegen, um scheinbar gegensätzliche Standpunkte unter einen Hut zu bringen. Hinter den altersbedingten Veränderungen im Immunsystem könnten zum Beispiel hormonelle Einflüsse stecken, die ihrerseits durch genetisch gesteuerte neurologische Faktoren bestimmt werden oder diese bestimmen. Es fehlt weder an Hypothesen noch an Vertretern dieser Hypothesen, noch an Gemeinsamkeiten der verschiedenen Ansatzpunkte. Die experimentellen Ergebnisse und die verschiedenen Erklärungsmodelle ergeben jedenfalls eines: Der Alternsprozeß geht zwangsläufig vor sich, und die Lebensspanne des Individuums ist begrenzt. 

Und die Liste der offiziell anerkannten Todesursachen, an denen alte Menschen sterben? Alle zum Tode führenden Krankheiten älterer Menschen haben ihre typischen Patienten. Von den Hunderten bekannter Alterskrankheiten mit ihren typischen Begleiterscheinungen führen sieben besonders häufig zum Tod; an ihren Komplikationen sterben rund 85 Prozent aller Senioren in den USA. 

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Die sieben Todesengel sind Arteriosklerose, Bluthochdruck, Altersdiabetes, Fettleibigkeit, Formen seniler Demenz wie die Alzheimersche Krankheit, Krebs und eine geschwächte Immunabwehr.

Zahlreiche todkranke alte Menschen leiden an mehreren dieser Erkrankungen, und das Pflegepersonal auf der Intensivstation eines größeren Krankenhauses kann aus der täglichen Erfahrung bestätigen, daß Schwerstkranke nicht selten an allen sieben gleichzeitig leiden. Die sieben apokalyptischen Reiter bringen den meisten alten Menschen den Tod. Und bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung meldet sich mindestens einer von ihnen bereits nach Überschreiten der Lebensmitte. 

Obduktionen sind gegenwärtig weniger häufig als noch vor einigen Jahrzehnten. Angesichts der hohen Zuverlässigkeit heutiger Diagnosen halten viele Ärzte sie für eine akademische Pflichtübung, auf die auch verzichtet werden kann. Falsche Diagnosen werden Patienten heute weitaus seltener zum Verhängnis als früher. Die überwiegende Mehrheit stirbt an einer Krankheit, die richtig erkannt wird, aber nicht erfolgreich behandelt werden kann. In meinem Krankenhaus ist der Prozentsatz an Obduktionen in den letzten zehn oder mehr Jahren von einem lange konstanten Anteil von ungefähr 40 Prozent auf weniger als die Hälfte davon zurückgegangen. In den USA beträgt er auf Bundesebene derzeit ganze 13 Prozent.

In der Blütezeit der Autopsie erhielt ich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, von allen Familien verstorbener Patienten die Einwilligung, die Leiche zu öffnen. Heute bitte ich weniger oft darum, aber in den wenigen Fällen überzeuge ich mich vom Befund des Pathologen möglichst mit eigenen Augen.

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So habe ich nach sechs Jahren Assistenzzeit und dreißig Jahren Berufspraxis an einer großen Zahl von Obduktionen persönlich teilgenommen. Arteriosklerose und Atrophien sind bei alten Menschen so verbreitet, daß Pathologe und Chirurg oft kein Wort darüber verlieren, wenn sie in den Organen nach Tochtergeschwülsten oder Infektionsherden suchen. Beide sind wie Autofahrer, die im Winter in einer Stadt nach einer Adresse suchen und sich nicht weiter um die entlaubten Bäume am Straßenrand kümmern. 

Und doch, wenn einige Wochen nach der Obduktion der Bericht des Pathologen in meinem Fach lag, war ich oft überrascht über die präzisen Aussagen zu Gewebeteilen, die wir bei unserer gemeinsamen Arbeit kaum beachtet hatten. Sämtliche Abweichungen vom Normalzustand des Gesunden waren lückenlos aufgeführt. Sie kamen mir beim Lesen wieder ins Gedächtnis und ergänzten die wichtigen Befunde, denen unser Hauptaugenmerk gegolten hatte. Erst anhand dieses vollständigen Berichts konnte ich mir ein umfassendes Bild von den Ursachen machen, die zum Tod meines Patienten geführt hatten.

Einige Befunde haben mit der Todesursache selbst nichts zu tun. Sie sind lediglich das Ergebnis derselben Alternsvorgänge, deren Folge auch die zum Tod des Patienten führenden ein oder zwei spezifischen Erkrankungen waren. Trotzdem sind solche Befunde als Hintergrundinformation wichtig.

Vor einiger Zeit habe ich einen Kollegen vom Yale New Haven Hospital um Hilfe gebeten. Dr. G. J. Walker Smith ist Leiter der Pathologie, und er beschäftigt sich zwischen den marmorverkleideten Wänden seines Arbeitsraumes immer wieder aufs neue mit der Frage, die der Begründer seiner Disziplin, der in Padua wirkende Giovanni Battista Morgagni, vor über zweihundert Jahren formuliert hat: Ubi est morbus? »Wo ist die Krankheit?«

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Der Pathologe arbeitet bei Obduktionen getreu der Devise, die auf Schildern an den Wänden Hunderter von Sektionssälen in aller Welt hängt: Hic est locus ubi mors gaudet suecurso vitae »Dies ist der Ort, wo der Tod freudig dem Leben zur Hilfe eilt.« 

Das Reich des Walker Smith ist der Sektionssaal. Als ich Smith zur Bestätigung einiger Eindrücke, die ich seit langem gewonnen hatte, um Einblick in Autopsieberichte hochbetagter Patienten bat, reagierte er überraschend positiv. Interessiert beteiligte er sich an meinem Projekt und war binnen kurzem ebenso fasziniert wie ich. Er machte dreiundzwanzig Berichte aus einer Zeit ausfindig, als Obduktionen noch an der Tagesordnung waren. Gemeinsam nahmen wir uns die Befunde an zwölf Männern und elf Frauen vor, die vierundachtzig Jahre und älter geworden und in den sechzehn Monaten von Dezember 1970 bis einschließlich April 1972 gestorben waren. Das Durchschnittsalter der Patienten betrug achtundachtzig, der älteste war fünfundneunzig.

Obwohl die Patienten unterschiedlich stark von Erkrankungen wie Arteriosklerose oder Verfalls­erschein­ungen des Zentralen Nervensystems im mikroskopischen Bereich betroffen waren, waren wir doch beide beeindruckt von den grundsätzlichen Gemeinsamkeiten. 

Die besondere Todesursache eines Individuums hängt offenbar von der Reihenfolge ab, in der die verschied­enen Arten seines Körpergewebes vom Verfallsprozeß betroffen sind. Alle dreiundzwanzig Patienten waren, wie aus den Obduktionsberichten mit ihren Wortungetümen deutlich wurde, in ihrer Lebensfähigkeit durch Unter­versorgung mit Nährstoffen und Sauerstoff bedroht gewesen. Je stärker sich Arterien verengen, desto näher rückt der Tod. Durch die Unterversorgung verliert der Organismus zudem seine Regenerations­fähigkeit nach Verletzungen.

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Der gesamte Körper verschleißt und rostet bis zum Tod. Ob ein Schlaganfall, ein Herzinfarkt oder eine Blutvergiftung das Aus bringt, hängt von den chemisch-physikalischen Eigenheiten des jeweiligen Körpers ab. Oberflächlich betrachtet erscheinen solche Alterskrankheiten als eine Tücke der Natur, durch die gesunde alte Menschen vorzeitig aus dem Leben gerissen werden. 

Aber wenn ein Achtzigjähriger einem Herzinfarkt erliegt, ist das Verhängnis nicht unerwartet über ihn hereingebrochen. Er ist letztlich an jener schleichenden Verschlechterung seines Gesamtzustandes gestorben, die wir als die Alternsvorgänge begreifen. Ein Herzinfarkt ist nur ein punktuelles Ereignis innerhalb der zahlreichen Erscheinungsformen dieses Zerstörungswerkes, das auch dann weiter abläuft, wenn es einem guten Arzt gelingt, das Leben des Betroffenen fürs erste noch einmal zu retten. Sieben alte Menschen aus Walker Smiths Obduktionsberichten starben offiziell an einem Herzinfarkt. Bei vier von ihnen war ein Schlaganfall an der Todesursache beteiligt. Acht starben an einer Infektion, drei davon an Lungenentzündung, die bei alten Menschen so häufig ist. In der Gruppe gab es ferner drei Fälle von Krebs im fortgeschrittenen Stadium, wobei die Todesursache in einem Fall aber eine Lungenentzündung, in einem anderen ein Schlaganfall war.

Die auffälligste Beobachtung war zugleich die am wenigsten überraschende: Alle dreiundzwanzig Verstorbenen wiesen starke arteriosklerotische Veränderungen an den Gefäßwänden des Herzens, des Gehirns oder meist beider Organe auf, also auch jene Patienten, bei denen bis zum Schluß keine entsprechenden behandlungsbedürftigen Krankheitssymptome aufgetreten waren. Bei allen Betroffenen hätte eines dieser beiden lebenswichtigen Organe in allernächster Zeit seinen Dienst versagt.

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Nicht überraschender war der Befund, daß bei allen Patienten auch andere Organe von benennbaren Erkrankungen befallen waren, die beim Tod keine Rolle gespielt hatten. Solche Erkrankungen werden in den Berichten der Pathologen als »inzidentiell« bezeichnet. So fanden sich neben den drei Patienten mit Krebs im fortgeschrittenen Stadium drei weitere mit einer »inzidentiellen« Krebserkrankung an Lunge, Prostata oder Brust. Bei zwei Frauen und einem Mann war eine krankhafte Erweiterung der Aorta oder eines anderen großen Blutgefäßes im Unterleib festgestellt worden, ein sogenanntes Aneurysma, das durch arteriosklerotische Veränderungen hervorgerufen wird. Bei zwanzig Toten war das Gehirn mikroskopisch untersucht worden: Bei elf zeigten sich alte Infarkte, obwohl nur in der Krankengeschichte eines Patienten ein Schlaganfall auftauchte. Vierzehn Patienten hatten größere arteriosklerotische Veränderungen an den Nierenarterien; mehrere hatten aktive Infektionen der Harnwege; ein Patient, der an Magenkrebs gestorben war, hatte ein Gangrän am Bein. 

 

Daß Hochbetagte Krankheiten erliegen, mit denen sie als jüngere Menschen noch mühelos fertig geworden wären, ist bekannt. Allerdings überrascht, in welchem Ausmaß dies bei bestimmten Komplikationen der Fall ist. Ein Patient unserer Studie starb an einem Blinddarmdurchbruch, zwei an Infektionen nach einer Operation analer Gallenblase beziehungsweise dem Gallengang, einer an einer Komplikation nach einem durchgebrochenen Magengeschwür, ein weiterer an einer Divertikelentzündung. In allen Fällen war die unmittelbare Todesursache eine Infektion. Bei Menschen im Alter von fünfundachtzig oder darüber sind nur die Auswirkungen der Arteriosklerose eine noch häufigere Todesursache. Zwei weitere Patienten starben an Blutungen: einer Blutung an einem Zwölffingerdarmgeschwür und einer Blutung als Folge eines Beckenbruchs.

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Ich habe in dem Zeitraum, als diese Autopsien vorgenommen worden waren, als Chirurg viel Erfahrung gesammelt und kann immerhin so viel sagen, daß diese sieben Patienten an meiner Universitätsklinik gute Überlebenschancen gehabt hätten, wenn sie Mitte Fünfzig gewesen wären.

Nur zwei von Walker Smiths dreiundzwanzig Patienten wiesen keine auffälligen Verfallserscheinungen des Hirngewebes auf. Einer davon schien gegen die Arteriosklerose bemerkenswert gut gefeit gewesen zu sein, zumindest was Herz und Gehirn anging. Die Verkalkung seiner Koronararterien war nur mäßig vorangeschritten, und der zerebrale Gewebsschwund war weniger stark ausgeprägt, »als es ein Hirn dieses Alters hätte erwarten lassen«, wie es im Obduktionsbericht heißt. Dafür hatte es ihn an den Nieren erwischt: Sie waren nicht nur von einer chronischen bakteriellen Entzündung (der sogenannten Pyelonephritis) befallen, die ständig auf die Harnwege ausstrahlte, sie wiesen auch Schädigungen an den feinen arteriellen Blutgefäßen und den Gefäßknäueln sowie ausgeprägte Vernarbungen am Gewebe auf. Dennoch starb dieser alte Mann nicht an seinem chronischen Nierenleiden: Er erlag einer Krebsgeschwulst, einem sogenannten multiplen Myelom, wobei als Komplikation eine Lungenentzündung aufgetreten war. Wie die übrigen zweiundzwanzig Hochbetagten meldeten sich bei ihm gleich mehrere der sieben apokalyptischen Reiter. 

Der andere Patient, der von Arteriosklerose im Hirnbereich verschont blieb, war ein siebenundachtzig­jähriger Lateinprofessor und ehemaliger Dekan der Universität Yale. Obwohl dieser Mann scheinbar kerngesund war und keine klinischen Anzeichen einer Herzerkrankung aufgewiesen hatte,

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ergab die Obduktion, daß ein Infarkt unmittelbar bevorgestanden hatte, und zwar in der interessanten Kombination eines »ernsthaften [arteriosklerotischen] Befalls der Koronararterien bei einem minimalen Befall der Zerebralgefäße«. Der Pathologe verglich die Koronargefäße des Patienten mit »Pfeifenstielen«, von denen einer vollkommen verschlossen war. Das Herz hatte sich ebenso wie die Nieren bräunlich verfärbt, eine typische Folge der Altersatrophie. Der Professor war in einer kalten Winternacht an akuten Magenschmerzen aufgewacht. Die Diagnose in der Notaufnahme lautete auf durchgebrochenes Magengeschwür. Dann stellte sich eine Bauchfellentzündung ein, mit der das geschwächte Immunsystem und das schlecht durchblutete Herz des Patienten nicht mehr fertig wurden. Bei einer Autopsie vier Tage nach der Einlieferung konnte die ursprüngliche Diagnose bestätigt werden. Sein überraschend junges Gehirn hatte dem Professor in der lebensbedrohlichen Situation nichts genützt. 

Die Lehre aus diesen dreiundzwanzig Fallstudien ist nur eine Bestätigung der alltäglichen klinischen Erfahrung. Ob als Folge von Störungen biochemischer Abläufe oder vom genauen Gegenteil, dem unaufhaltsamen, planmäßig verlaufenden Abbau, der Mensch stirbt im Alter an Entkräftung oder Verschleiß, und dieses Ende ist vorprogrammiert. Hochbetagte erliegen im Grunde nicht irgendwelchen Krankheiten, sondern dem altersbedingten Schwund von Körpersubstanz und Lebenskraft. So führen für greise Menschen nur wenige verschiedene Wege ins Grab, von denen am Ende immer mehr ineinander laufen. Man kann sich fragen, warum mit dem Auftreten einer der typischen Alterserkrankungen das Risiko größer wird, daß der Patient auch die anderen bekommt.

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Liegt es daran, daß diese pathologischen Veränderungen alle die gleiche Ursache haben, die sich mit zunehmendem Alter stärker auswirkt? Dieser Gedanke ist in die verschiedenen Theorien des Alterns natürlich mit eingeflossen. Eine Theorie hebt beispielsweise darauf ab, daß das Wachstum und die Entwicklung des Organismus als regulärer Teil des Stoffwechsels vom Hypothalamus, einem für den Hormonhaushalt bedeutsamen Teil des Zwischenhirns, gesteuert wird. Dieser Mechanismus, der mit Beginn des Lebens einsetzt, ermöglicht dem Körper eine Anpassung an seine äußere Umgebung. Die einzelnen Schritte der Entwicklung führen nach einem genau festgelegten Zeitplan zum Heranwachsen, zur Reifung und zur Alterung des Organismus. Altersbedingte Krankheiten wären dieser neuroendokrinen Theorie zufolge der Preis, den der Organismus für seine lebenslange Anpassungsfähigkeit an die Umwelt und die Veränderungen innerhalb seines Gewebes bezahlen muß. 

Der gesamte Prozeß läuft nach einer Art umfassendem Stufenplan ab, der die gesamte Entwicklung eines höheren Organismus vom frühen Embryonalstadium über den fortschreitenden Verfall des Alters bis hin zum Tod reguliert. In diesem Punkt sind sich die medizinischen Theoretiker mit den trostspendenden Philosophen einig, für die der Tod ein Teil des Lebens ist. 

Solche Überlegungen greifen, wenn auch in nüchternerem Ton, einige Überlegungen aus dem Anhang meiner Thomas-Browne-Ausgabe auf. Ebenso schreibt Sir A. Palgrave, ein Historiker des neunzehnten Jahrhunderts, in seinem Buch Merchant and Friar: »Mit dem ersten Pulsieren, wenn die Fasern zucken und die Organe zum Leben erwachen, geht auch der Keim des Todes auf. Noch bevor unsere Glieder gestaltet sind, ist schon ein Grab geschaufelt, in das sie hinabgelassen werden.« 

Der erste Akt im Schauspiel des Lebens ist der Beginn des Sterbens.

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Eine solche Sichtweise wirft wichtige Fragen im Hinblick auf existenzielle Entscheidungen auf. Soll sich ein krebskranker hochbetagter Mensch der Tortur einer Chemotherapie oder gar einer Totaloperation unterziehen? Sollte er die strapaziöse Behandlung über sich ergehen lassen, wenn das Risiko groß ist, daß er ein Jahr später an fortgeschrittener Gehirnarteriosklerose stirbt? Denn diese Gefäßerkrankung ist letztlich ein Ergebnis des gleichen Prozesses, der die Abwehrkräfte schwächt und zum Wachstum bösartiger Tumoren führt. Freilich läuft der Alternsprozeß in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen mit verschiedener Geschwindigkeit ab, so daß sich ein Schlaganfall auch erst lange nach dem Auftreten des Alterskrebses einstellen könnte. Um das Risiko einschätzen zu können, muß ein Arzt den übrigen Gesundheitszustand eines Krebspatienten, etwa dessen Bluthochdruck oder den Stand seiner Herzerkrankung, sehr genau kennen. Ein solches Abwägen sollte bei allen klinischen Entscheidungen, von denen Senioren betroffen sind, eine Rolle spielen. Verantwortungsbewußte Ärzte praktizieren es schon lange, und die Patienten sollten dies ebenfalls tun. 

Mögen die Alternsvorgänge auf Verschleiß, Erschöpfung und Auszehrung beruhen oder nach einem genetischen Programm ablaufen — sicher ist immerhin soviel: Alle Individuen haben eine endliche Lebensspanne, die je nach Art unterschiedlich lang sein kann und beim Menschen zwischen 100 und 110 Jahren zu liegen scheint. Das heißt, selbst wenn es gelänge, alle Krankheiten zu heilen, denen Menschen vor Ablauf ihres natürlichen Lebensalters zum Opfer fallen, würde niemand sehr viel älter als hundert Jahre. Das ist allemal mehr, als im Psalter verkündet wird: »Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre ...«

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Ein besserer Prophet oder Beobachter war Jesaja: »... als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt.« Im selben Vers wird einem neuen Jerusalem das Ende der Kindersterblichkeit und Krankheit verheißen: »Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen.« Wenn die Menschen eine Lebensweise wie die meines Patienten McCarty vermeiden, das Problem der Armut auf der Welt lösen und sich nur noch von Nächstenliebe leiten lassen, könnten Jesajas prophetische Worte vielleicht ein Stück weit Wirklichkeit werden. Schon jetzt ist die Lebenserwartung des Menschen durch den medizinischen Fortschritt und die verbesserten Lebensverhältnisse merklich angestiegen. Ein Neugeborenes in den westlichen Industrieländern hat heute eine doppelt so hohe Lebenserwartung wie noch vor knapp hundert Jahren. Der Mensch hat dem Tod ein neues Gesicht gegeben. Nach der Statistik erreicht die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung heute zumindest das siebte Lebensjahrzehnt und stirbt an einer typischen Alterskrankheit.

Trotz der beachtlich gesteigerten durchschnittlichen Lebenserwartung durch den Fortschritt der Medizin hat sich die maximale Lebensdauer des Menschen, soweit diese geschichtlich nachprüfbar ist, nicht verändert. In den hochentwickelten Ländern wird von zehntausend Menschen nur einer über hundert Jahre alt. Die Lebensdauer der meisten Rekordbrecher hielt einer kritischen Überprüfung nicht stand. Das höchste bewiesene Menschenalter liegt bislang bei 114 Jahren. Die Zahl kommt interessanterweise aus Japan, dem Land mit der höchsten Lebenserwartung der Welt: Bei Frauen liegt sie bei 82,5, bei Männern bei 72,2 Jahren. Weiße US-Amerikaner leben dagegen im Durchschnitt nur 78,6 beziehungsweise 71,6 Jahre. An solchen Tatsachen wird auch selbstgezüchteter Kefir, der als lebensverlängernd gilt, sicher nichts ändern.

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Es gibt eine Vielzahl anderer Indizien dafür, daß es eine artspezifische Obergrenze für die Lebensdauer von Organismen gibt. Als schlagendster Beweis können hier wohl die großen Unterschiede im Höchstalter von verschiedenen Tierarten gelten, während die Unterschiede bei Individuen der gleichen Art zumeist nur gering sind. Ein weiterer Anhaltspunkt ist die Beobachtung in der Biologie, daß sich die durchschnittliche Anzahl der Nachkommen einer Tierart umgekehrt proportional zu ihrer maximalen Lebensspanne verhält. Ein Mensch, dessen Nachwuchs besonders lange ausgetragen wird und der zudem Nesthocker ist, benötigt zur Arterhaltung folglich auch eine besonders lange Fortpflanzungszeit. So hat unsere Spezies unter den Säugetieren denn auch tatsächlich die längste Lebensspanne. 

Wenn der Alternsprozeß innerhalb eng gesteckter Grenzen nicht aufzuhalten ist — außer durch die genannten Veränderungen der Lebensweise —, warum versteifen sich dann noch immer so viele Menschen darauf, ihr Leben bis über die Grenzen des Möglichen hinaus ausdehnen zu wollen? Warum finden sie sich mit den Gesetzen der Natur nicht ab? Das Interesse am eigenen Körper und seiner Lebensspanne ist in den letzten Jahrzehnten so groß geworden wie nie zuvor, doch gibt es auch Zeugnisse früherer Generationen für das Streben, den eigenen Tod möglichst lange hinauszuzögern. Der altägyptische Papyrus Ebers etwa, der vor über 3500 Jahren entstand, gibt dem Leser ein Rezept für die Verjüngung eines alten Mannes.

Noch im siebzehnten Jahrhundert, als die Morgendämmerung einer neuen Medizin anbrach, empfahl der führende Arzt Hermann Boerhaave alten Patienten, sich zur Gesundung zwischen zwei jungfräuliche Mädchen zu legen, was im übrigen schon der biblische König David erfolglos versucht haben soll.

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 Nach dem Gesundbrunnen der Muttermilch und der Pseudowissenschaft von Affendrüsen, die angeblich neue Lebenskräfte bringen, erleben wir im Augenblick wohl eine Art Ära der Vitamine. Trotzdem ist es nach C. und E. Never bislang niemandem gelungen, sein Leben auf solche Art zu verlängern. In jüngerer Zeit haben einige Forscher von vielversprechenden Versuchen berichtet, mit Wachstumshormonen den Schwund an Körpersubstanz und die Entkalkung von Knochen rückgängig zu machen, was nach Ansicht einiger einen Verjüngungseffekt zur Folge haben könnte. Furore machen auch Spekulationen zu einer Gentherapie, mit der man die maximale Lebensspanne durch Implantation von Abschnitten der DNS um Jahrzehnte oder mehr verlängern können soll. Vergeblich warnen seriöse Wissenschaftler vor Hoffnungen auf die ewige Jugend. Es wird wohl immer Menschen geben, die nach einem Jungbrunnen oder zumindest einem Mittel suchen, mit dem sie den unaufhaltsamen Prozeß des Alterns hinauszögern können. 

Solche Versuche sind freilich eher lächerlich, und wer sich an ihnen beteiligt, erwirbt sich keine Verdienste. Alle Menschen sind ersetzbar, und früher oder später sollten auch alle Menschen ersetzt werden. Der Wunschtraum, dem Tod von der Schippe zu springen, ist weder im Interesse der Menschheit, noch dient er dem kontinuierlichen Fortschritt der Erkenntnis. Mehr noch: Er schadet den Interessen der kommenden Generationen. Tennyson sagt es deutlich: »Alte Menschen müssen sterben; sonst würde die Welt vergreisen und nur noch Überkommenes hervorbringen.« 

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Nur die Jugend sieht und entdeckt alles mit neuen Augen und hat außerdem den Vorteil zu wissen, was davor war. Nur die Jugend widersteht der bequemen Versuchung, auf die Herausforderungen der unvollkommenen Welt auf althergebrachte Weise zu reagieren. Jede neue Generation strebt danach, sich selbst zu beweisen und einen bedeutenden Beitrag zum allgemeinen Fortschritt zu leisten. Es liegt in der Natur, daß alles Lebendige stirbt und dem danach Kommenden Platz macht. Das Alter ist die Zeit der Vorbereitung auf den Tod, ein langsamer Rückzug, der den Betroffenen und ihren Nachkommen, denen sie die Welt zu treuen Händen überlassen, den Abschied leichter macht. 

Ich spreche nicht gegen ein aktives und erfülltes Leben im Alter. Ich rede keiner verfrühten Senilität das Wort. Körperliche und geistige Anstrengungen bereichern, soweit noch möglich, jeden Moment des Lebens und verhindern den rapiden Abbau, der so viele Menschen älter macht, als sie sind. 

Ich spreche nur von lächerlichen Versuchen, sich den Gewißheiten der Conditio humana zu verschließen. Wer Hochbetagte um jeden Preis am Leben halten will, bereitet ihnen und ihren Angehörigen nur Leiden; ganz zu schweigen von den Kosten, welche die Menschen bezahlen müssen, deren Zeit noch nicht gekommen ist.

Erst wenn man sich damit abgefunden hat, daß das Leben endlich ist, kommt der natürliche Rhythmus des Lebens zum Vorschein. Erst jetzt erscheinen Freuden und Leistungen — und auch Leiden — in ihrem zeitlichen Rahmen. Wer über seine natürliche Lebensspanne hinaus leben will, verliert diesen Rahmen aus den Augen und belastet sein Verhältnis zu den Jüngeren. Von der Jugend hat er nur Unwillen zu erwarten, denn er versperrt ihr den Weg und zehrt an ihren Ressourcen.

Erst dadurch, daß uns für die lohnenswerten Dinge des Lebens nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, werden wir zu ihrer Verwirklichung angespornt. Sonst würden wir alles endlos verschleppen. Erst die Tatsache, daß wir hinter unserem Rücken »den geflügelten Wagen der Zeit« ständig näherkommen hören, wie der englische Dichter Andrew Marvell die spröde Jungfer warnt, macht die Welt wertvoll und Zeit kostbar.

Der französische Schriftsteller Michel de Montaigne, der im 16. Jahrhundert die literarische Gattung des Essays begründete, betrachtete die Menschheit und ihre Einbildungen mit dem nüchternen Realitätssinn des Gesellschaftsphilosophen und Skeptikers. In den neunundfünfzig Jahren seines Lebens befaßte er sich oft mit dem Tod, und er schrieb, man müsse alle seine Formen als gleichermaßen natürlich annehmen: »Dein Tod gliedert sich in die Weltordnung ein; es ist ein Stück Leben dieser Welt ... Dies euer Leben, dessen ihr euch erfreut, ist in gleiche Teile geteilt, es gehört ebenso dem Tode wie dem Leben.« Im gleichen Essay mit dem Titel <Philosophieren heißt sterben lernen> schreibt er: »Mach den anderen Platz, wie andere dir Platz gemacht haben.« 

Nach Montaigne fällt in unsicheren und gewaltsamen Zeiten der Tod denen am leichtesten, die sich im Leben gut auf ihn vorbereitet haben. Nur so könne man sich mit ihm abfinden und mit der Welt ausgesöhnt, »gelassen und ruhig« sterben. Man erfahre das Leben intensiver, wenn man sich beständig vor Augen hält, daß es jeden Moment zu Ende sein kann. Daher seine Mahnung: 

»Man kann den Wert des Lebens nicht nach der Länge messen; er ist vom Inhalt abhängig. Manches lange Leben ist inhaltslos. Nutzt es, solange ihr es in den Händen habt: Von eurem Entschluß, nicht von der Lebensdauer hängt es ab, ob ihr euch mit dem Gedanken abfindet: wir haben genug gelebt.« 

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   Nuland 1993