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    5   Die Alzheimersche Krankheit  

   

Nuland 1993

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Praktisch jede Krankheit läßt sich als eine Folge von Ursache und Wirkung beschreiben. Das Krankheits­bild, das der Arzt bei der Untersuchung des Patienten feststellt, ist das Ergebnis bestimmter pathologischer Veränderungen in den Zellen, dem Körpergewebe und den Organen oder von Störungen der biochemischen Abläufe innerhalb des Organismus. Sind solche Veränderungen erst einmal identifiziert, kann nachgewiesen werden, daß sie zu den beobachteten klinischen Erscheinungen geführt haben. 

Die Diagnostik zielt darauf ab, anhand von Symptomen die Ursachen einer Krankheit zu ermitteln.

So rufen arteriosklerotische Verschlüsse arterieller Gefäße des Herzmuskels zwangsläufig eine Angina pectoris oder einen Infarkt mit den entsprechenden äußeren Anzeichen hervor. Ein Tumor, der die Produktion von Insulin in die Höhe schnellen läßt, sorgt für eine drastische Senkung des Blutzucker­spiegels; wird das Gehirn aber nicht ausreichend mit Traubenzucker versorgt, ist ein Koma die Folge. Ein Virus, der die motorischen Nervenzellen des Rückenmarks befällt, verursacht eine Lähmung der durch die befallenen Nervenzellen gesteuerten Muskeln.

Narbenzüge nach einer Operation können zu Darm­verschlingung führen; die Folge sind Blähungen, Erbrechen, Flüssig­keits­verlust und Veränderungen der Blut­zusammensetzung, was wiederum Herzrhythmus­störungen nach sich ziehen kann. Bei einem Durchbruch des Wurmfortsatzes füllt sich die Bauchhöhle mit Eiter; es kommt zu einer Bauchfell­entzündung, und das Blut wird von Bakterien überschwemmt. Dies hat wiederum hohes Fieber, eine Sepsis und einen Schock zur Folge. Die Liste solcher Kausalketten, die den Stoff medizinischer Lehrbücher bilden, ließe sich beliebig fortsetzen.

Ein Arzt, der einen Patienten mit einem oder mehreren Symptomen untersucht, arbeitet wie ein Detektiv, der anhand sichtbarer Spuren ein Verbrechen aufzuklären versucht. Er versucht die Folge von Ereignissen zu rekonstruieren, die zu entsprechenden Symptomen wie einem Gefühl der Enge im Brustraum, einem Koma, einer Lähmung der Beine, ständigem Erbrechen, einem aufgetriebenen Bauch, Fieber oder Schmerzen geführt haben. Die Lehre von den Funktions­störungen der Organe und Organ­systeme heißt in der Medizin <Patho-Physiologie>. 

Die Pathophysiologie ist der Schlüssel zum Verständnis der Krankheit. Der Begriff hat für den Arzt einen philosophischen und einen dichterisch-ästhetischen Beigeschmack, der in der Wortbildung angelegt ist: Das griechische <physiologia> bedeutet soviel wie <Wesensschau der Dinge>. Stellt man dem Begriff das Wörtchen <pathos> für <Leiden> oder <Krankheit> voran, ist damit die Quintessenz dessen ausgedrückt, mit dem sich der Arzt befaßt.  

Was ist das Wesen der Krankheit? 

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Aufgabe des Arztes ist es, den Grund einer Krankheit zu ermitteln. Dabei verfolgt er die Kausalkette bis zur eigentlichen Ursache zurück, die mikrobieller oder hormoneller, chemischer oder mechanischer Natur sein kann, genetisch oder umweltbedingt, bösartig oder gutartig, angeboren oder später erworben. Bei der Untersuchung fahndet er nach Hinweisen auf körperliche Störungen, die durch eine bestimmte Ursache hervorgerufen werden.

In gewissem Sinn ist jeder Arzt Pathophysiologe, wenn er zur Feststellung einer Krankheit nach den Ursachen hinter den Symptomen seines Patienten fragt.

Ist eine Ursache ermittelt, muß ein geeigneter Behandlungsplan erstellt werden, mit dem man dem Übel zu Leibe rückt. Die Krankheit oder Störung kann mit Medikamenten, Röntgenstrahlen oder Gegengiften behandelt, durch die Stärkung von Organen oder das Abtöten von Keimen bekämpft werden. Sie kann auch einfach so lange in Schach gehalten werden, bis die körpereigene Abwehr selbst mit ihr fertig wird. Bei der Wahl einer bestimmten Strategie gegen die Krankheit stützt der Arzt sich vor allem auf sein Wissen von Ursache und Wirkung und wählt danach seine Waffen.

Dank des medizinischen Fortschritts in unserem Jahrhundert sind die allermeisten Krankheiten bestens erforscht oder können zumindest wirksam bekämpft werden. Bei einigen sind die ursächlichen Zusammen­hänge allerdings noch weniger bekannt, und eine kleine Gruppe von Erkrankungen ist noch immer rätselhaft. Zu diesen Geißeln unserer Tage gehört die sogenannte »senile Demenz vom Typ Alzheimer«. Seitdem die medizinische Fachwelt 1906 auf diese Krankheit erstmals aufmerksam gemacht worden ist, sind die Forscher ihrer Ursache noch immer nicht auf die Spur gekommen.

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Der pathologische Befund der Alzheimerschen Krankheit besteht in einem schrittweisen Abbau einer großen Anzahl von Nervenzellen in den Bereichen der Hirnrinde, die für die sogenannten höheren Funktionen wie Gedächtnis, Lernen und Urteilsvermögen verantwortlich sind. Der jeweilige Grad der Zerstörung und die Lage der betroffenen Hirnregionen bestimmen den Grad und das Erscheinungsbild der Demenz beim Patienten. Obwohl schon die verringerte Anzahl an funktionstüchtigen Nervenzellen den Gedächtnisschwund und die allgemeine Hirnleistungsstörung hinreichend zu erklären vermag, scheint bei den Verfalls­erscheinungen ein weiterer Faktor eine Rolle zu spielen: Im Gehirn vermindert sich die Ausschüttung von Azetylcholin, einem chemischen Botenstoff der Nervenzellen. 

Diese beiden Faktoren bestimmen unser heutiges Bild von der Alzheimerschen Krankheit. 

Der augenblick­liche Kenntnisstand ist allerdings viel zu gering, um für einen beliebigen Zeitpunkt im Krankheitsverlauf zwischen den strukturellen und chemischen Befunden einerseits und den besonderen Symptomen des Patienten andererseits eine direkte Beziehung herzustellen. Trotz intensiver Bemühungen der medizinischen Forschung liegen zahlreiche Einzelheiten der Pathophysiologie von Alzheimer nach wie vor im dunkeln. Eine lückenlose Kausalkette, wie sie für die eingangs erwähnten Krankheiten aufgelistet wurden, wird wohl noch ebensolange auf sich warten lassen wie der Ansatz für eine wirksame Behandlung. 

Trotz des dürftigen Wissens über die rätselhafte Krankheit und ihre Ursachen lassen sich immerhin die pathologischen Veränderungen beschreiben, die im Gehirn von Alzheimerpatienten vor sich gehen. Dargestellt werden sollen auch einige Forschungsbereiche, in denen die Wissenschaft der Krankheit auf die Spur zu kommen hofft, ferner die historische Entwicklung unseres gegenwärtigen Wissens über die Krankheit sowie einige Aspekte gestörter Hirnfunktionen. Nicht zuletzt geht es auch um das Leiden und Sterben der Betroffenen und um die gewaltige physische und psychische Belastung, mit der die Angehörigen konfrontiert werden.

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   Ein Fall von Alzheimer  

 

»Genau zehn Tage vor unserer goldenen Hochzeit ging es richtig los«, erinnerte sich Janet Whiting. Ihr Mann Phil war sechs leidvolle Jahre langsam an den Folgen der Alzheimerschen Krankheit gestorben. Ich hatte ihn und Janet seit meiner Kindheit gekannt. Als ich die beiden mit meiner Familie in den späten dreißiger Jahren zum erstenmal in ihrer Wohnung besuchte, hatten sie gerade geheiratet und waren ein sehr sympathisches junges Paar. Phil war damals zweiundzwanzig, Janet zwanzig. Verglichen mit meinen nicht in Amerika geborenen Eltern, gesetzten Vierzigern, erschienen mir die Whitings wie ein Traumpaar aus dem Film. Sie waren so jung, daß ich mir nicht vorstellen konnte, daß sie etwas anderes taten als in ihrer neu eingerichteten Wohnung Mann und Frau zu spielen.

Ich zweifelte keineswegs daran, daß Janet und Phil sich heiß und innig liebten, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß ein Paar, das so herzlich miteinander umging, ein richtiges Eheleben führte. Ich war sicher, daß ich es mit einer Ehe auf Probe zu tun hatte. Ich wußte aus eigener Anschauung, daß sich Eheleute anders verhielten. Wenn die Whitings herausbekommen wollten, ob sie wirklich füreinander geschaffen waren, dachte ich, dann mußten sie aufhören, so zu tun, als seien sie verrückt nach­einander. Aber das geschah nie. Auch später herrschte in ihrer Ehe immer noch der gleiche rücksichtsvolle und liebens­würdige Umgang, den ich erst richtig schätzen lernte, als ich in ein Alter kam, in dem man eigene Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht macht.

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Die beiden blieben so offen und unbefangen zärtlich zueinander wie am ersten Tag. Phil machte eine glänzende Karriere als Makler, und bald konnten die Whitings das Apartment in der Bronx gegen ein stattliches Haus in Westport in Connecticut eintauschen. Sie zogen drei Kinder groß. Als die Kinder erwachsen waren, kauften Janet und Phil eine luxuriöse Eigentumswohnung in Stratford. Mit vierundsechzig Jahren zog sich Phil teilweise von der Arbeit zurück. Die Kinder standen auf eigenen Beinen. Die Whitings waren versorgt, und ihre Zukunft schien gesichert. 

Ich war Anfang Zwanzig gewesen, als ich die Whitings das letzte Mal gesehen hatte. Nach über zwanzig Jahren, 1978, kreuzten sich unsere Wege wieder. Ihre Eigentums­wohnung lag nicht weit von meinem Haus in New Haven entfernt. Wer den Abend bei diesen liebenswerten Leuten verbrachte, beneidete sie um ihre harmonische Beziehung, die bis in die kleinste Geste innig und respektvoll war. Ihre Ehe hatte die Erwartungen der ersten Monate mehr als erfüllt.

Als Phil seine Arbeit schließlich ganz aufgab und mit Janet für immer nach Delray Beach in Florida übersiedelte, waren meine Frau und ich um zwei wertvolle Freunde ärmer. Wir wußten allerdings nicht, daß es bei ihnen schon zu diesem Zeitpunkt einige merkwürdige kleine Vorkommnisse gegeben hatte.

Janets Mann, der in jeder freien Minute ein Sachbuch zur Hand genommen hatte, interessierte sich schon vor der Übersiedlung nach Florida nicht mehr für das Lesen. Janet war diese Veränderung nicht sofort aufgefallen.  

Erst Jahre später verstand sie auch, warum Phil plötzlich nicht mehr wollte, daß sie ihn allein ließ. Wenn sie aus dem Haus ging und einen Nachmittag in der Stadt verbrachte, sagte er verärgert: »Ich bin nicht in Rente gegangen, damit du mich allein läßt.«

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Er, der nie reizbar gewesen war, wurde jetzt immer öfter zornig und hatte richtige Wutausbrüche. Wenn seine Tochter Nancy die Eltern in ihrer Wohnung besuchte, hatte er immer etwas an ihr auszusetzen. Gewöhnlich flossen Tränen, bevor sie den Zug zurück nach New York nahm. Nach der Übersiedlung nach Florida hatte er immer öfter rätselhafte Zustände geistiger Verwirrung, und wenn er Fehler machte, reagierte er später ungläubig und empört und gab anderen die Schuld. So kam es mehrmals vor, daß er sich beim Friseur einen Termin geben ließ und dann ins falsche Geschäft ging und dem Inhaber verärgert vorwarf, er halte sich nicht an Abmachungen. Einem Autofahrer an einer Tankstelle drohte er einmal Schläge an, nur weil dieser nach der Zapfpistole an der nächsten Zapfsäule gegriffen hatte. Dabei war Phil in seinem Leben noch nie handgreiflich geworden. 

Schließlich wurde zum erstenmal offensichtlich, daß Phils Entgleisungen mehr waren als die Launen eines unausgefüllten Rentners. 

Janet lud eines Abends das Ehepaar Ruth und Henry Warner, das sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, zum Abendessen ein. Phil war stets ein aufmerk­samer Gastgeber gewesen, der auf seine Frau als Köchin und sich selbst als Weinkenner stolz war. Er war schon seit jungen Jahren korpulent, aber der Leibesumfang wirkte bei ihm nicht störend. Sein Wohlstandsbauch und das Lächeln in seinem vollen Gesicht gaben ihm vielmehr etwas Großzügiges, das in seinem tiefsten Innern verwurzelt schien. Er nahm andere Menschen rasch für sich ein und verstand es, als Gastgeber für eine entspannte und gemütliche Atmosphäre zu sorgen. Ob bei sich oder anderen, Phil erinnerte immer an einen Wirt, der nur das Wohlbefinden der Gäste im Sinn hat. 

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An jenem Abend mit den Warners war dies nicht anders. Janets Essen war köstlich, Phil hatte den richtigen Wein gewählt, und die Unterhaltung bei Tisch war ebenso anregend wie amüsant. Der ganze Abend verlief so behaglich, wie es für die Whitings typisch war. Und schließlich wurden die Warners ebenso herzlich verabschiedet, wie sie es von früheren Jahren gewohnt waren. 

Am nächsten Morgen war bei Phil alles wie ausgelöscht. Er wußte nicht einmal mehr, daß sie Besuch gehabt hatten. Und er ließ sich nicht davon überzeugen, daß er Erinnerungslücken hatte. 

»Das machte mir angst«, erinnerte sich Janet. Sie hatte bisher stets nach plausiblen Erklärungen für die unleugbaren Veränderungen in Phils Verhalten gesucht. Noch an diesem Morgen, der einen Wendepunkt bedeutete, versuchte sie eine banale Erklärung zu finden: »Ich dachte, ich vergesse doch manchmal auch etwas, und vielleicht würde er sich ja später erinnern.« Sie wollte nicht wahrhaben, daß sich an ihrem Mann erste Anzeichen geistigen Verfalls bemerkbar machten, und versuchte einmal mehr, die Gedächtnislücken als unwichtig abzutun. 

Einige Wochen später wurde Janets strapazierter Selbstschutz einer weiteren Zerreißprobe unterzogen, und diesmal hielt er nicht mehr stand. Phil lieferte den unwiderlegbaren Beweis seiner geistigen Verwirrung.

Janet war eines Nachmittags nach einigen Stunden Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt, und Phil warf ihr wütend vor, sie habe sich mit einem Liebhaber getroffen. Weniger entsetzt als über den Vorwurf selbst war Janet über die Tatsache, daß Phil seinen Cousin Walter als Liebhaber verdächtigte. Walter war seit Jahren tot. 

»Zu dieser Zeit wußte ich nicht einmal, was Alzheimer war, ich wußte nur, daß ich Angst hatte. Etwas Schreckliches ging mit Phil vor, und jetzt konnte ich es nicht mehr ignorieren oder wegerklären.«

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Aus Angst vor einer endgültigen Bestätigung ihres schrecklichen Verdachts zögerte Janet noch immer, Phil auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. Im tiefsten Inneren hoffte sie weiter, er stecke in einer vorüber­gehenden seelischen Krise, die nicht schlimmer werden und sich mit der Zeit wieder bessern würde. Phil erinnerte sich an seine kurzen, seltsamen Anwandlungen ja nicht mehr. Wenn sie vorbei waren, war alles wie nie geschehen. 

Janet blickt heute auf eine Unzahl kleiner Lügen zurück, mit denen sie sich verzweifelt vorzumachen versucht hatte, daß mit ihrem Mann alles in Ordnung sei. Nur keine ärztliche Untersuchung, die alle Hoffnung zunichte machen konnte. Doch schließlich mußte sie den Tatsachen ins Auge sehen. 

Phil wachte nachts öfter auf, schrie sie an, eine Schwester habe im Bett ihres Bruders nichts zu suchen, und jagte sie hinaus. Geduldig verließ sie jedesmal das Schlafzimmer und richtete sich im Wohnzimmer auf dem Sofa ein, während sich Phil im Ehebett erregt hin- und herwälzte. Die ganze Nacht tat sie kein Auge zu. Phil dagegen schlief bald wieder friedlich ein und erwachte am nächsten Morgen ohne jede Erinnerung an seinen nächtlichen Wutausbruch. 

Phils Zustand verschlimmerte sich schließlich so sehr, daß ein Besuch beim Arzt nicht mehr aufgeschoben werden konnte. Etwa zwei Jahre nach dem Vorfall mit den Warners faßte sich Janet ein Herz und überredete Phil unter einem Vorwand, ihren Hausarzt aufzusuchen. Der Hausarzt ließ sich die Kranken­geschichte schildern und unterzog Phil einer gründlichen Untersuchung. Schließlich kam er aus dem Sprechzimmer und nannte die Krankheit beim Namen. 

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Janet war mit den Symptomen der Alzheimer­schen Krankheit bis dahin bestens vertraut. Trotzdem war es für sie ein Schock, als sie die Diagnose hörte. Sie und der Arzt beschlossen, Phil nichts von der Krankheit zu sagen. Es hätte auch gar keinen Sinn gehabt. Phil hätte die Erläuterungen damals vielleicht noch flüchtig verstanden, sie aber schon Minuten später wieder so vollkommen vergessen, als hätte er sie nie gehört.

Einige Monate später rutschte es Janet dann doch heraus. Phils irrationale Anwandlungen häuften sich, und die Gedächtnis­ausfälle hielten länger an, so daß sie manchmal die Beherrschung verlor. Dann schrie sie Phil an oder sagte ein böses Wort. Anschließend schämte sie sich jedesmal. 

Nach einem besonders heftigen Wortwechsel fuhr sie ihn an: »Merkst du eigentlich nicht, was mit dir los ist? Weißt du nicht, daß du Alzheimer hast?« Als sie mir die Szene schilderte, sagte sie: »In dem Augenblick, als mir das Wort über die Lippen gekommen war, fühlte ich mich sterbenselend.«  

Die Reue war völlig überflüssig. Sie hätte ebensogut vom Wetter sprechen können. Phil wußte von seinem Elend nicht mehr als zuvor. Für ihn war alles beim alten. Nicht einmal an seine Vergeßlichkeit erinnerte er sich. Alle entfernten Bekannten, denen Phil Whiting auf der Straße begegnete, hielten ihn für völlig gesund, und er selbst glaubte das auch.

Janet verhielt sich so, wie es fast jeder in ihrer Zwangslage getan hätte. Sie beschloß, Phil solange wie möglich zu Hause zu betreuen. Sie suchte nach Büchern, die ihr dabei helfen sollten, das Verhalten und die Krankheit ihres Mannes besser zu verstehen. 

Zum Thema Alzheimer gibt es in den USA derzeit mehrere gute Veröffentlichungen. Das wohl beste Buch von Mace und Rabins wurde bereits ins Deutsche übersetzt: Es trägt den vielsagenden Titel <Der 36-Stunden-Tag>.

Einfügung von detopia: Der 36-Stunden-Tag

      

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Janet fand darin bestätigt, was der Arzt ihr gesagt hatte: Die Alzheimersche Krankheit schreitet langsam, aber unaufhaltsam voran und führt gewöhnlich in einem Zeitraum von sieben bis zehn Jahren zum Tod. In seltenen Fällen kann sie das Ende auch rascher (in drei bis vier Jahren) oder langsamer (in fünfzehn Jahren) herbeiführen. Janet erfuhr aus dem Buch auch, daß Hirnleistungsstörungen vom Typ Alzheimer zwar oft bei älteren Menschen auftreten, aber keine natürliche Alterserscheinung sind.

Janet wußte sehr bald, woran sie war: Ihr Mann litt an einer unheilbaren Krankheit, die zum totalen geistigen Verfall und schließlich zum Tod führt. Aus Büchern wie <Der 36-Stunden-Tag> wußte sie, auf welche körperlichen und seelischen Veränderungen sie sich bei Phil gefaßt machen mußte. Sie erhielt wertvolle Hinweise zur Betreuung und Pflege ihres Mannes und Ratschläge, wie sie die körperlichen und seelischen Strapazen der kommenden Jahre besser durchstehen würde. Am Schluß hieß es in dem Buch: »Aber dies sind nur Worte, mehr nicht. Aus Ihrem Innersten schöpfen Sie die Kraft, mit all dem fertig zu werden.«

Janet wußte, daß manche Patienten mit Alzheimer zu Tobsuchtsanfällen neigen, mit Gegenständen werfen oder wild um sich schlagen. Sie machte sich auf schwere Zeiten gefaßt. Trotzdem hätte sie sich nicht vorstellen können, was an einem Abend im März 1987, nach einem Jahr aufopfernder Pflege, auf sie zukam. Es war zehn Tage vor Janets und Phils goldener Hochzeit. Janet beschrieb den Abend fünf Jahre später so:

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Er wußte nicht mehr, wer ich war. Er hielt mich für eine Einbrecherin, die Kleider seiner Frau stehlen wollte. Er stieß mich durch das Zimmer und warf mit Gegenständen nach mir. Er zertrümmerte einige meiner Antiquitäten, weil er nicht mehr wußte, wie wertvoll sie waren. Er sagte, er werde seine Tochter anrufen und ihr sagen, was hier los sei. Dann rief er bei ihr an. Nancy wußte natürlich sofort Bescheid. Sie sagte: »Laß mich mit der Frau reden«, und er reichte mir den Hörer mit den Worten: »Meine Tochter will mit Ihnen reden, sie wird Ihnen sagen, daß sie verschwinden sollen!« 

Als ich den Hörer nahm, bat Nancy mich, sofort das Haus zu verlassen. Sie sagte, sie werde die Polizei rufen. Als ich auflegte, griff Phil nach dem Telefon und rief ebenfalls auf dem örtlichen Polizeirevier an. Es war töricht, aber ich blieb im Haus. Da ich nicht ging, fing er wieder an, mich durch das Zimmer zu stoßen. Dann rief auch ich noch die Polizei an. Das muß man sich einmal vorstellen: Irgendwann standen drei Streifenwagen vor unserer Tür, und mir war das alles so peinlich. 

Die Polizisten kamen herein, und ich versuchte ihnen zu erklären, was passiert war. Phil unterbrach mich und sagte, ich sei nicht seine Frau. Er forderte einen Polizisten auf, mit ihm ins Schlafzimmer zu gehen. Dort zeigte er ihm ein Hochzeitsfoto. Der Beamte sah sich das Bild an und stellte fest, daß ich die Braut auf dem Foto war. Phil widersprach trotzig: »Das ist nicht meine Frau!« 

Dann kam unsere Nachbarin. Phil erkannte sie sofort. Als sie begriff, was los war, redete sie ihm freundlich zu: »Phil, du weißt doch, ich mag dich und würde dich nicht anlügen. Diese Frau ist doch Janet, dreh dich um, und sieh sie dir an.« Er gehorchte, drehte sich um, sah mich an und erkannte mich plötzlich. »Janet«, rief er, »Gott sei Dank, du bist da. Jemand war hier und hat versucht, deine Kleider zu stehlen.«

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Ein Polizist nötigte Phil freundlich in den Streifenwagen. Phil gab zu bedenken, die Leute könnten glauben, er werde verhaftet. Der Polizist beschwichtigte ihn, man werde meinen, sie seien Freunde und er komme auf einen Ausflug mit. Mit dieser simplen Erklärung gab Phil sich zufrieden. Sie fuhren in eine nahegelegene Klinik, und Phil blieb dort, bis ein Pflegeplatz gefunden war.

Nancy kam mit dem Flugzeug aus New York. Sie und Janet besuchten Phil täglich in der Klinik. Zunächst waren sie überrascht, wie leicht er sich in den Alltag im Krankenhaus einfügte. Doch dann bemerkten sie, daß er gar nicht begriff, wo er war. »Er stellte uns die Krankenschwestern im Stationszimmer immer als seine Sekretärinnen vor. Für ihn war die Klinik ein Hotel. Sich selbst hielt er für den Direktor.« Janet erkannte er gewöhnlich auf Anhieb, aber Nancy mußte ihm immer erst als seine Tochter vorgestellt werden. Später hielt er Janet für seine Freundin, und dann konnte er sie überhaupt nicht mehr einordnen.

Binnen einer Woche hatte Janet ein geeignetes Pflegeheim gefunden. Phil wurde verlegt. Einige Tage später feierte Janet goldene Hochzeit mit einem Mann, der nur ab und zu wußte, was es zu feiern gab. Von seiner furchtbaren Krankheit und der Tragödie in seiner Familie wußte er nichts.

In den folgenden zweieinhalb Jahren verbrachte Janet fast jeden Tag bei Phil. Ihre Kinder mußten sie fast zwingen, sich ab und zu eine Ruhepause zu gönnen. Sie entwickelten ein Gespür dafür, wann ihre Mutter am Ende war und abschalten mußte. Sie bemerkten auch, wann ihre Mutter zornig und verzweifelt war, und wenn Janet sich hinterher Vorwürfe machte, versuchten sie sie zu beruhigen.

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Janet opferte sich für ihren Mann und besten Freund auf, der in Wahrheit längst nicht mehr bei ihr weilte. Er war für immer ins Dunkel der Umnachtung entschwunden.

Janet machte sich ehrenamtlich in der Abteilung für Physiotherapie nützlich und nahm kurzzeitig an den Aktivitäten einer Betreuergruppe für Angehörige von Alzheimer-Patienten teil. Solche Gruppen können den betroffenen Familien viel Rückhalt und Unterstützung geben. Janet machte bald die Erfahrung, daß Patienten mit einer Demenz Angehörige und Freunde auf eine ganz eigene Art seelisch belastet. Deshalb muß man die Angehörigen dazu ermutigen, die schwierige familiäre Situation auf individuelle Weise zu lösen.

Janets drei Kinder ertrugen es nicht, den geistigen Verfall ihres geliebten Vaters aus nächster Nähe mit anzusehen, aber das war gut so. Denn nur so konnten sie ihrer Mutter die Unterstützung und Kraft geben, daß sie tun konnte, was sie tun mußte. Joey, der Jüngste, rang sich zweimal zu einem Besuch bei seinem Vater im Heim durch. Phil erkannte ihn nicht. Beide Besuche waren für den Sohn deprimierend und brachten dem Vater überhaupt nichts. Viel nützlicher machten sich Joey und andere, indem sie Janet die Gewißheit gaben, daß sie sich auf ihre Familie und ihre Freunde verlassen konnte, ein Rückhalt, der noch wichtiger war als die Betreuergruppen oder die Bücher über Alzheimer.

»Aus Ihrem Innersten schöpfen Sie die Kraft, mit all dem fertig zu werden.« Janet wurde mit allem fertig. Sie leistete für Phil, was keine Pflegekraft, kein Arzt und kein Sozialarbeiter hätte leisten können. 

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Ob er sie erkannte oder nicht, und letzteres war bald der Fall, stets hatte er zumindest eine dumpfe Ahnung, daß diese Frau inmitten einer unüberschaubaren und bedeutungslosen Welt Sicherheit, Gewißheit und Geborgenheit bedeutete. »Wenn er mich kommen sah, winkte er mir zu, obwohl er mich nicht erkannte. Er wußte nur, daß ich jemand war, der ihn besuchte und der sich zu ihm setzte.« 

Am Anfang war Janet jeden Tag aufs neue schockiert, wie rapide Phils geistige Kräfte verfielen. Nicht immer gelang es ihr, gelassen zu bleiben: »Im ersten Jahr brach ich im Heim manchmal weinend zusammen. Dann brachten sie mich in ein anderes Zimmer und redeten mir so lange zu, bis ich wieder etwas Mut schöpfte. Aber wenn ich dann abends nach Hause ging, wurde ich jedesmal wieder hysterisch.«  

Langsam gewöhnte sie sich jedoch etwas daran, daß es mit Phil stetig bergab ging. Aber sie wußte, wie nahe Phils Schicksal allen anderen Freunden gehen mußte. Sie versuchte ein Bild von Phil aus früheren Jahren aufrecht­zuerhalten. Man sollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er immer gewesen war, als einen Mann von überschwenglicher Herzlichkeit, mit Charakter und mit einem ganz eigenen Stil. »Ich ließ nicht zu, daß unsere Freunde ihn im Heim besuchten. Sie sollten ihn nicht so sehen.«

Phils Krankheit verlief genau so, wie die Bücher es prognostiziert hatten: als schleichender, aber unaufhalt­samer Verfall. Anfangs behielt der Kranke noch etwas von seinem freundlichen geselligen Wesen. Er fühlte sich offenbar für das Wohlergehen der Pflegebedürftigen in seiner Umgebung verantwortlich. Vollständig angezogen ging er von Patient zu Patient und erkundigte sich mit der wohlwollenden Miene des Heimleiters: »Und wie geht es uns heute? Gut, hoffe ich?« 

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Wenn Janet oder die Krankenschwester ihn einen Augenblick aus den Augen ließen, konnte es vorkommen, daß er einen ahnungslosen Rollstuhlfahrer aus dem Haupteingang des Gebäudes ins Gewühl der Fußgänger und des Autoverkehrs hinausschob und ihn so lange spazierenfuhr bis er gefunden wurde.

Im mittleren Stadium der Krankheit fand Phil nicht mehr die richtigen Worte für die Gedanken, die er offensichtlich ausdrücken wollte. Ähnliche sprachliche Probleme haben bisweilen auch Patienten mit Schlaganfall, aber anders als Kranke mit Alzheimer sind sie sich dieser Probleme stets bewußt. Bei Phil war das anders. Einmal, erinnerte sich Janet, fuhr er sie bei einem Spaziergang plötzlich an: »Die Züge haben Verspätung, tu doch was!« Als sie ratlos antwortete, sie verstehe ihn nicht, zeigte er wütend auf seine Schuhe: »Was ist mit deinen Augen? Siehst du nicht?« Seine Schnürsenkel waren offen. Janet begriff, daß er ihr nur hatte sagen wollen, sie solle ihm die Schuhe zubinden. Phil wußte genau, was er wollte, konnte es aber nicht mehr richtig ausdrücken und bemerkte seine Schwierigkeiten nicht einmal.

Nach einiger Zeit im Pflegeheim begann er zuzunehmen. Insgesamt waren es fünfundvierzig Pfund, die zu seinem ohnehin schon stattlichen Körpergewicht hinzukamen. Dann hörte er ganz zu essen auf und verlernte regelrecht das Kauen. Janet mußte ihm nach dem Füttern die Speisereste mit dem Finger aus dem Mund holen, damit er nicht erstickte. Zu dieser Zeit wußte er schon nicht mehr, wie er hieß. Er konnte zwar bald wieder kauen, aber seinen Namen hatte er endgültig vergessen.

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Bevor er auch das Sprechen ganz verlernte, sah er Janet von Zeit zu Zeit einen kurzen Augenblick so liebevoll an wie früher und sagte mit der Janet so vertrauten Innigkeit den Satz, den er im Verlauf ihrer fünfzigjährigen Ehe unzählige Male gesagt hatte: »Ich liebe dich. Du bist schön, und ich liebe dich.« Dann tauchte er wieder ins Dunkel des Vergessene ein.

Schließlich riß der Kontakt zu seiner Umwelt ganz ab. Zur gleichen Zeit verlor er auch alle Körperbeherrschung und wurde, ohne es zu merken, völlig inkontinent. Es störte ihn nicht, wenn seine Kleider von Urin durchnäßt und mit Kot verschmiert waren. Er wurde wie ein Säugling trocken­gelegt und gewickelt. 

»Er war jemand, der auf sein Äußeres stolz war«, sagte Janet wehmütig. »Und er war heikel, fast prüde. Wenn man ihn jetzt nackt dastehen sah, wie er von den Pflegekräften gewaschen wurde und keine Ahnung hatte, was vor sich ging ...« Mit einem feuchten Glanz in den Augen fügte sie hinzu: »Diese Krankheit ist so erniedrigend! Wenn er irgend etwas von dem mitbekommen hätte, was mit ihm vor sich ging, hätte er nicht mehr leben wollen. Er wäre zu stolz gewesen, und ich bin froh, daß er es nie begriffen hat. Das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann.« 

Sie selbst ertrug es immer und fragte nicht, ob sie sich nicht zu viel zumutete. Sie war oft mit ihren Kindern zusammen und pflegte Kontakt zu den Ehepartnern anderer Alzheimer-Patienten. »Wir saßen beisammen und weinten. Als ich etwas stärker wurde, versuchte ich, den anderen zu helfen. Irgendwann blendet man bestimmte Dinge einfach aus, das habe ich gelernt.«

Daß die Alzheimersche Krankheit, die gewöhnlich im höheren Alter auftritt, auch junge Menschen treffen kann, lernte sie aus eigener Erfahrung: Ein Patient im Heim, der erst Mitte Vierzig war, bewegte nur noch die Augen. 

Im Endstadium der Krankheit verlor Phil rasch an Gewicht. In seinem letzten Lebensjahr war sein Gesicht völlig eingefallen. Janet mußte neue Schuhe kaufen, weil seine Füße zwei Nummern kleiner geworden waren. Sein ganzer Körper erschlaffte, fiel in sich zusammen und wirkte um Jahre gealtert. Der einst kerngesunde Mann wog keine siebzig Kilogramm mehr. 

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Trotzdem konnte er noch bis zum Ende auf seinen eigenen Beinen gehen. Wann immer das Pflegepersonal ihn ließ, wanderte er wie besessen durch die Gänge des Heims. Janet versuchte Schritt zu halten, solange sie konnte, und wenn sie dann völlig erschöpft war, ließ sie ihn allein weiter­marschieren. Auch wenn er so schwach war, daß er kaum stehen konnte, fand er immer noch die Kraft, von einem Ende der Station zur anderen und wieder zurück zu gehen. Irgendwann begann er dann atemlos und völlig verausgabt zu schwanken, bis Janet und eine Krankenschwester ihn an den Schultern faßten und behutsam zu einem Stuhl lenkten. 

Kaum saß Phil, sank er schlaff zur Seite. Die Krankenschwester mußte ihn mit einer Schärpe um die Hüften am Stuhl festbinden, damit er nicht auf den Boden fiel. So saß er atemlos da und bewegte, ohne seine Umwelt wahrzunehmen, rastlos die Beine weiter wie beim Gehen. Es war, als laufe er einer für immer verlorenen Vergangenheit hinterher oder als versuche er, dem ihm bevorstehenden Schicksal zu entfliehen. In seinem letzten Lebensmonat mußte Phil nachts im Bett angeschnallt werden, damit er nicht aufstand und seine rastlose Wanderung fortsetzte. 

Am Abend des 29. Januar 1990, im sechsten Jahr seiner Krankheit, taumelte er nach einem weiteren Gewaltmarsch atemlos auf einen Stuhl zu und brach leblos zusammen. Als kurz darauf die Sanitäter eintrafen, war es für Wieder­belebungsversuche schon zu spät. Man brachte ihn ins benachbarte Kranken­haus. Der Arzt in der Notaufnahme stellte als Todesursache Kammerflimmern mit anschließendem Herzstillstand fest. Er rief Janet an. Sie war keine zehn Minuten, bevor Phil zu seinem letzten, tödlichen Marsch aufbrach, nach Hause gegangen.

"Ich war froh, daß er tot war. Ich weiß, das klingt schrecklich, aber ich war glücklich über seine Erlösung von dieser entwürdigenden Krankheit. Ich wußte, daß er nie litt und keine Ahnung hatte, was mit ihm los war, und dafür war ich dankbar. Dieses Glück war das einzige, was mich all die Monate und Jahre aufrechthielt. Trotzdem war es furchtbar, so etwas bei einem Menschen, den man so sehr liebt, mitansehen zu müssen. Als ich nach Phils Tod ins Krankenhaus kam, fragte man mich, ob ich ihn noch einmal sehen wolle. Ich wollte nicht. Meine Freundin, eine gläubige Katholikin, die mich begleitete, konnte das nicht verstehen. Aber ich wollte sein Gesicht nicht als das eines Toten in Erinnerung behalten. Man muß das verstehen — es war nicht meinetwegen, sondern seinetwegen."

Das war das Ende von Phil Whiting. Da er in einem relativ frühen Stadium der Krankheit gestorben war, blieb seiner Familie immerhin der grausame Anblick des Siechtums erspart, das Alzheimer-Patienten am Ende gewöhnlich erwartet. Auf den Verlust des Sprachvermögens folgen nicht selten Lähmungs­erscheinungen. Die Gelenke versteifen sich, und der vom Tod gezeichnete Körper erstarrt zuweilen in einer grotesken Haltung. 

Die Pflegebedürftigkeit von Alzheimer-Patienten überfordert viele Familien schon im Frühstadium der Krankheit. Die Unberechenbarkeit, die Verwirrungs­zustände und die zerstörerischen Impulse des Kranken machen eine Betreuung rund um die Uhr notwendig, bei der trotz aller Wachsamkeit Schäden nicht immer verhindert werden können.

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Maces und Rabins' Buch <Der 36-Stunden-Tag> trägt seinen Titel zurecht. Schon bei einer kleinen Unaufmerksamkeit der Betreuer kann ein Alzheimer-Patient sich oder anderen gefährliche Verletzungen zufügen. Ein Konflikt mit den Nachbarn kann Angehörige plötzlich dazu zwingen, den Kranken in ein Pflegeheim zu geben. Die Betreuung eines Patienten mit Alzheimer ist zermürbend und unterzieht die Geduld des Ehepartners einer harten Zerreißprobe. Selbst geschulten Pflegekräften kann der Umgang mit diesen Kranken als Sisyphusarbeit erscheinen, bei der trotz aller Aufopferung keine Erfolge sichtbar sind. 

Es ist ein schwerer Schritt, einen Menschen, der einem im Leben viel bedeutet hat, einem Pflegeheim anzuvertrauen. Und eine geeignete Einrichtung zu finden ist nicht leicht. Einer der vielen Gründe, warum es in zahlreichen Ländern noch immer an Pflegeplätzen mangelt, ist der wachsende Bedarf: In den USA leiden über 11 Prozent der Menschen über 65 Jahre an der Alzheimer-schen Krankheit. Nach Schätzungen wird es im Jahre 2030 mehr als 60 Millionen US-Amerikaner geben, die über 65 Jahre alt sind. 

Schon jetzt verursacht die Betreuung von Menschen mit Demenzen aller Art jährlich direkte und indirekte Kosten von geschätzten 40 Milliarden Dollar, von denen der Löwenanteil auf die Pflege von Alzheimer-Patienten entfällt. Mit der Veränderung in der Alterspyramide wird sich das Problem dramatisch verschärfen. Schon heute ist eine Familie, die für ihren kranken Angehörigen den bestmöglichen Pflegeplatz sucht, rasch überfordert und hilfsbedürftig. Zum Glück gibt es in den USA für Patienten mit Alzheimer bereits geeignete Langzeitpflege­einrichtungen, wenn auch in unzureichender Anzahl.

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Einige nehmen die Kranken auch vorübergehend auf, um überforderten Familienangehörigen die Möglichkeit zu einigen Tagen oder Wochen Erholung zu geben. Ähnliche Programme werden von verschiedenen Hospiz­diensten angeboten. Obwohl die Trennung oft schwerfällt, ist die Aufnahme des Kranken in einer Pflegeeinrichtung oft die einzige Möglichkeit, um wieder ein einigermaßen normales Familienleben zu führen.

Die Patienten verlieren schrittweise die Selbständigkeit und sind schließlich völlig auf äußere Hilfe angewiesen. Fällt der Patient nicht schon vor dem Endstadium einem Schlaganfall, Herzinfarkt oder einer anderen Komplikation zum Opfer, steht ihm, wie erwähnt, sehr wahrscheinlich ein menschen­unwürdiges Siechtum bevor. 

Zuletzt gehen alle höheren Hirnfunktionen verloren. Schon vorher verlernen manche Patienten das Kauen, Gehen oder Schlucken. Krampfartige Hustenanfälle beim Füttern sind für einen Betreuenden eine starke seelische Belastung, vor allem, wenn die betreffende Person glaubt, sie hätte den Anfall durch ihre Ungeschicklichkeit hervorgerufen. 

In diesem Stadium der Krankheit stehen der Familie schwere Gewissenskonflikte bevor: Sie muß entscheiden, ob der Patient mit einer Sonde künstlich ernährt werden soll und welche medizinischen Mittel angewandt werden sollen, um ihn künstlich am Leben zu halten.

Für Patienten, die das Bewußtsein verloren haben oder von der Umwelt nichts mehr wahrnehmen, bedeutet die Entscheidung gegen eine künstliche Ernährung möglicherweise die Erlösung. Viele Zeugen des siechen Daseins von Alzheimer-Patienten halten es für weitaus humaner, dem Kranken diesen Tod zu gönnen, als ihm die Lähmungen und die Fehlernährung zuzumuten, die sich bei der künstlichen Ernährung von Schwerst­kranken in der Terminalphase kaum vermeiden lassen.

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Aufgrund von Inkontinenz, dem ständigen Druck durch die Bettlägerigkeit und einem Mangel an Bluteiweiß ist ein Aufliegen des Patienten fast unvermeidlich. Es entstehen schwärende Wunden, in denen schließlich das Muskelgewebe, die Sehnen oder sogar Knochen zum Vorschein kommen.

Ein solcher Anblick ist für Familienangehörige nur schwer zu ertragen. Daran ändert auch das Wissen nichts, daß der Patient selbst von all dem nichts mehr mitbekommt.

Inkontinenz, Bewegungsmangel und eingeschobene Katheter führen zu Infektionen der Harnwege. Da der Schluckreflex verlorengeht, zieht der Patient beim Atmen Speichel und Nasenschleim in die Bronchien, was das Risiko einer Lungenentzündung erhöht. Auch hier müssen für die weitere Behandlung schwer­wiegende Entscheidungen getroffen werden, die neben dem persönlichen Gewissen der Angehörigen gesellschaftliche, religiöse und sittliche Normen und die medizinische Ethik berühren. Mitunter ist es vielleicht das Beste, die Natur ihr Zerstörungswerk ungehindert vollenden zu lassen. 

Im Endstadium der Krankheit geht es oft schnell bergab. Die große Mehrheit der Kranken stirbt an einer Infektion, die ihren Ausgangspunkt in den Harnwegen, den Lungen oder in einer bakterien­verseuchten eitrigen Wunde hat. Bei einer solchen Septikämie wird das Blut mit Bakterien überschwemmt; die Folge sind hohes Fieber, Schweißausbrüche, Herzrhythmus­störungen, eine starke Veränderung des weißen Blutbildes sowie Nieren- und Leberversagen und schließlich der Tod. 

Angehörige von Alzheimer-Patienten haben während des Krankheitsverlaufs oft ein schlechtes Gewissen, weil sie dem Betroffenen zwiespältige Gefühle entgegen­bringen, und es belastet sie seelisch, daß sie dem mensch­lichen Elend hilflos zusehen müssen.

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Sie fürchten, was sie sehen und womöglich noch zu sehen bekommen. Trotz der Aufklärung durch die Ärzte glauben viele an ein bewußtes Leiden des betroffenen Angehörigen. Andererseits ist die Entscheidung, dem Patienten durch Einstellung der medizinischen Hilfe ein humanes Sterben zu ermöglichen, in ethischer und juristischer Hinsicht sehr problematisch. Nur in den seltensten Fällen liegt eine entsprechende rechtsgültige Urkunde vor, die als erklärter Wille des Kranken angesehen werden kann. Eine Entscheidung gegen die künstliche Verlängerung des Lebens bringt Ehepartner und Kinder leicht in Gewissensnot. Für Kinder, die bereits andere familiäre Probleme haben, bedeuten solche Entscheidungen eine zusätzliche seelische Belastung. 

Und zur Schwierigkeit der Entscheidung kommt die Schwierigkeit, mit den Konsequenzen bereits gefällter Entscheidungen zu leben. 

Die Alzheimersche Krankheit gehört zu den familiären Katastrophen, die die Opferbereitschaft der Angehörigen auf eine besonders harte Probe stellen. Ein Opfermut und eine Treue, wie sie Janet Whiting bewiesen hat, ist unter diesen Umständen durchaus nicht selten oder einzigartig. Das Pflegepersonal in den Heimen erwartet von den Angehörigen offenbar sogar eine gewisse Mitwirkung bei der Betreuung des Kranken, und diese ist natürlich mit großen persönlichen Opfern verbunden. Zu der gewaltigen psychischen Belastung, dem Zurückstecken eigener Bedürfnisse und einem gewissen Verzicht auf menschliche Kontakte kommen hohe Kosten. Nur wenige Tragödien sind für die Angehörigen mit größeren finanziellen Opfern verbunden.

Die Familien von Alzheimer-Patienten müssen sich oft damit abfinden, daß sie kein Leben mit den üblichen Annehmlichkeiten und Vergnügungen führen können. Ihre Situation gleicht über Jahre hinweg einer Zwangslage, aus der sie erst der Tod des Kranken wieder befreit.

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Zurück bleiben bittere Erinnerungen an eine leidvolle Zeit. Ein harmonisches, glückliches und erfolgreiches Zusammenleben wird so im Rückblick stets überschattet von den Entbehrungen und Leiden der letzten Jahre. Die Erinnerung an das gemeinsame Leben hat für immer den Glanz und die Frische verloren. 

In allen Kulturen scheint es das universelle Bestreben zu geben, einem Dämon oder Übel einen Teil seines Schreckens zu nehmen, indem man ihm einen Namen gibt. Das Bemühen der medizinischen Forschung, bestimmte Krankheiten zu identifizieren und zu klassifizieren, ist selbst schon ein kleiner Versuch, ihr zu Leibe zu rücken. Wenn sie erst einmal mit einem Etikett versehen oder auf einen Begriff festgenagelt ist, erscheint sie um so leichter zu bekämpfen. Der Name bringt Ordnung ins Chaos, er schafft die erste Voraussetzung dafür, daß wir die Krankheit bändigen und ihr unsere Spielregeln aufzwingen können.

Einer Krankheit einen Namen geben heißt einen ersten Schritt tun, um sie organisiert zu bekämpfen. In diesem Kampf engagieren sich neben den medizinischen Forschern auch Betroffene, Angehörige und Laienpfleger. Seit den dreißiger Jahren erhalten Patienten und ihre Angehörigen in den USA seelischen Beistand und finanzielle Hilfe von Gesellschaften wie der <National Foundation for Infantile Paralysis> (Kinderlähmung), der <American Cancer Society> (Krebs) oder der <American Diabetes Association> (Diabetes). 

Dank dieser Organisationen sind Betroffene und Angehörige in ihrem Kampf gegen die Krankheit und das Leid nicht alleinAlzheimer-Patienten sehen freilich selten die Notwendigkeit ein, sich den Leidensweg durch die Hilfe einer solchen Gruppe erleichtern zu lassen.

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Dennoch gibt es in unserer Zeit wohl kein anderes Gebrechen, bei dem eine Hilfsorganisation so entscheidend dazu beitragen kann, daß betreuende Angehörige an der seelischen Belastung nicht zerbrechen. In den USA gibt es unter der Schirmherrschaft der <Alzheimer's Disease and Related Disorder Association> (ADRDA) inzwischen fast zweihundert Niederlassungen und über eintausend betreuende Gruppen. Ähnliche Organisationen bestehen inzwischen auch in anderen Ländern. Neben der Aufgabe, Angehörigen und Betroffenen seelischen Beistand zu leisten, ist es ihr Ziel, Forschungsgelder und Mittel zur Verbesserung der medizinischen Betreuung der Kranken zu beschaffen. Außerdem bieten diese Gruppen den Angehörigen von Alzheimer-Kranken die ständige Gelegenheit, Ansprechpartner und verständnisvolle Zuhörer zu finden. 

Viele Aspekte des seelischen Leidens sind nur im Gespräch mit einem geschulten einfühlsamen Zuhörer zu bewältigen. Muß die Belastung durch Alzheimer bei den Mitbetroffenen nicht zwangsläufig zu Aggression und Abscheu gegenüber dem Kranken führen? Wer bringt so große persönliche Opfer, ohne im stillen in Wut und Verzweiflung zu geraten? Wer kann gelassen mit ansehen, wie die Persönlichkeit des Menschen, der einem am meisten bedeutet, Schritt für Schritt zerfällt? 

Betroffene Angehörige brauchen Unterstützung, damit sie ihr Schicksal besser ertragen. Nicht, daß man ihnen die Bürde abnehmen könnte, aber man kann ihnen helfen, mit ihr fertig zu werden, und sie vorüber­gehend entlasten, wenn sie am Ende ihrer Kräfte sind. Schon das Wissen, daß Aggression und Verbitterung in Familien von Alzheimer-Patienten normal und unvermeidlich sind, ist für die von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen gepeinigten Angehörigen eine große Erleichterung. Und die Gewißheit, ein offenes Ohr und Anteilnahme zu finden, kann ihnen den Ausweg aus ihrer Einsamkeit und Verzweiflung aufzeigen.

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Der Weg aus der Isolation beginnt damit, daß man die alarmierenden Symptome beim Namen nennt. Erst danach können die Angehörigen von den Erfahrungen und dem Rückhalt von Millionen anderen profitieren, die mit dem gleichen Schicksal fertig werden müssen. Die Alzheimersche Krankheit trägt ihren Namen noch keine hundert Jahre, obwohl einige typische Symptome schon lange zuvor als Teil des breiten Spektrums der sogenannten senilen Demenz beobachtet und beschrieben wurden. 

<Senile Demenz vom Typ Alzheimer> lautet die offizielle Bezeichnung dieser Krankheit in den USA, wo sie gegenwärtig jedes Jahr bei mehreren hundert­tausend Menschen neu diagnostiziert wird. Alzheimer macht in der Altersgruppe der über Fünfundsechzig­jährigen mit seniler Demenz 50 bis 60 Prozent aus und befällt auch viele Menschen mittleren Alters. Die <American Psychiatrie Association> beschreibt den Beginn der Krankheit als schleichend, »mit einem allgemein fortschreitenden, verheerenden Verlauf«. Für eine Diagnose müssen »sämtliche anderen möglichen Ursachen anhand der Kranken­geschichte, körperlicher Untersuchungen und Labortests ausgeschlossen worden sein. Die Demenz oder Verblödung umfaßt den Verlust eines ganzen Spektrums an geistigen Fähigkeiten wie Gedächtnis, Urteilsfähigkeit, Abstraktionsvermögen und anderen höheren Hirnfunktionen sowie Veränderungen in der Persönlichkeit und im Verhalten.«

Demenz wird definiert als ein »Verlust an geistigen Fähigkeiten, der mindestens so stark ist, daß er den sozialen Umgang und die Erfüllung beruflicher Pflichten beeinträchtigt«. Jahrhunderte mußten vergehen, ehe diese überraschend einfache Definition gefunden wurde.

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Die senile Demenz wurde schon in der Antike von Autoren beschrieben, und im Laufe der Zeit haben Ärzte entdeckt, daß Anzeichen für beeinträchtigtes Urteils­vermögen, nachlassendes Gedächtnis und allgemein fortschreitenden geistigen Verfall nicht nur bei alten, sondern auch bei einigen jüngeren Menschen vorkommen. Das Wort dementia als medizinischer Fachbegriff wurde allerdings erst 1801 von Philippe Pinel eingeführt, dem leitenden Irrenarzt der Salpetriere, einer Pariser Klinik, in der Tausende von unheilbar oder chronisch kranken Frauen und Hunderte von Geisteskranken untergebracht waren.

Vor allem wegen seiner exakten Beschreibungen und Klassifizierungen der verschiedenen Krankheitsbilder gilt Pinel als Vater der modernen Psychiatrie. Bekannt wurde er aber auch wegen seiner humanen Behandlung psychisch Kranker, die bis dahin oft unter unmenschlichen Bedingungen in psychiatrischen Verwahranstalten eingesperrt worden waren. Pinel bekannte sich zum Prinzip eines »moralischen Umgangs mit der Geisteskrankheit«.

Seine Überlegungen zur geistigen Erkrankung legte Pinel systematisch in seinem 1801 erschienenen <Traité medico-philosophique sur l'Aliénation mental> nieder, der später zu einem Klassiker der Psychiatrie wurde. Er beschreibt darin ein psychiatrisches Syndrom, das er als eine Art »Inkohärenz« der geistigen Fähigkeiten definierte und mit dem Begriff <demence>, Demenz oder Verblödung, bezeichnete. In einem kurzen Abschnitt zum besonderen Charakter der Demenz beschreibt er mehrere Symptome, die jeder, der einen Alzheimer-Patienten gepflegt hat, sofort als die typischen Hirnleistungs­störungen von <Morbus Alzheimer> erkennt:

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Eine rasche Abfolge ... zusammenhangloser Gedanken sowie unbeständiger und unmotivierter Gefühlsregungen ... Zwangshandlungen; völlige Vergeßlichkeit im Hinblick auf vorherige Gemütszustände; verminderte Empfänglichkeit gegenüber äußeren Eindrücken; Verlust der Urteils­fähigkeit; rastlose Aktivität.

 

Pinel hätte Phil Whiting beschreiben können. Besonders treffend an seiner Charakterisierung der Krankheit ist der Begriff »zusammenhanglos« oder — an anderer Stelle — »inkohärent« für den geistigen Verfall, der durch das Absterben miteinander vernetzter Hirnzellen und einen Mangel an chemischen Botenstoffen hervorgerufen wird: Beides gehört inzwischen zum typischen Befund bei der Obduktion des Gehirns von Alzheimer-Patienten. Pinel hat diese Art der Verblödung zum erstenmal beschrieben und die Krankheit bereits von den sonst beobachteten Formen des altersbedingten Schwachsinns unterschieden.

Für viele Irrenärzte waren inkohärentes Denken und unmotivierte Gefühle charakteristische Hinweise auf eine Demenz. 1835 wies James Prichard, ein leitender Irrenarzt im englischen Bristol, in seiner Abhandlung <A Treatise on Insanity> darauf hin, daß Patienten mit diesem Krankheitsbild Stadien durchmachen, die er die »verschiedenen Grade der Inkohärenz« nannte. Er benannte vier solcher Grade: nachlassendes Gedächtnis, unlogisches Denken mit Verlust der Urteilskraft, Verlust des Begriffsvermögens und schließlich ein Verlust der Fähigkeit zu willentlichem und instinktivem Handeln. 

Diese Beobachtungen sind noch heute nützlich, wenn man den schrittweisen Verfall des einzelnen Patienten dokumentieren will. Heutige Autoren sprechen von verschiedenen Krankheitsstadien, die Prichards »Graden« freilich stark ähneln.

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Philippe Pinel hatte einen Schüler und geistigen Erben: Jean Etienne Dominique Esquirol war Abgänger der altehrwürdigen Medizinischen Fakultät von Montpellier, die eine tausendjährige Tradition hatte. Die Beobachtungen zur dentence, die Esquirol in seinem Werk <Des Maladies Mentales> von 1838 niederlegte, sind heute noch gültig. In seiner Abhandlung schildert er Symptome, die im großen ganzen dem Krankheitsverlauf der Verblödung, wie sie heute gesehen wird, voll entsprechen. Esquirol charakterisierte seine Patienten so:

[Sie] haben weder Wünsche noch Abneigungen; sie empfinden weder Haß noch Zärtlichkeit. Sie stehen Gegenständen, an denen sie einst besonders hingen, mit völliger Gleichgültigkeit gegenüber. Sie reagieren auf ihre Angehörigen und Freunde ohne Freude und scheiden von ihnen ohne Trauer. Sie reagieren unwillig auf Entbehrungen und freuen sich über Annehmlichkeiten nur wenig. Die Vorgänge um sie herum vermögen bei ihnen kein Interesse mehr zu wecken; die Ereignisse des Lebens sind von geringer Bedeutung, da sie weder mit Erinnerungen noch mit einer Hoffnung verknüpft werden können. Diese Kranken stehen allem gleichgültig gegenüber, und nichts berührt sie ... Trotzdem sind sie jähzornig wie alle stumpfen Geschöpfe oder Menschen mit geringen oder beschränkten geistigen Fähigkeiten. Doch ist ihr Zorn von kurzer Dauer ...

Fast alle, die der Demenz verfallen sind, haben eine lächerliche Gewohnheit oder Leidenschaft [Hervorhebung durch Esquirol]. Manche wandern ständig umher, als ob sie vergeblich nach etwas suchten. Andere legen ein langsames Tempo an den Tag und haben beim Gehen Mühe. Wiederum andere harren reglos Tage, Monate und Jahre am gleichen Ort aus, sei es im Sitzen, im Bett aufgerichtet oder am Boden liegend. Einer schreibt ständig, aber ohne Zusammenhang oder Zusammenhalt der Gedanken. Ein Wort folgt aufs andere ...
Zu diesen Störungen des Verstandes kommen folgende Symptome: Die Haut ist blaß, die Augen sind teilnahmslos und tränenfeucht, die Pupillen sind erweitert, der Blick ist leer, die Physiognomie ausdruckslos. Der Körper ist bald mager und ausgezehrt, bald sehr beleibt... Kommt zur Demenz eine Lähmung, so zeigen sich deren Symptome erst nach und nach. Zunächst ist die Artikulation beeinträchtigt, kurz darauf bereitet die Fortbewegung Schwierigkeiten, dann sind die Arme nur noch mit Mühe zu bewegen ... 
Wer im Zustand der Verblödung ist, hat kein Vorstellungsvermögen und schwelgt nicht in Gedanken. Er hat wenig oder keine Ideen. Da Willen und Entschlußkraft fehlen, gibt er rasch nach; das Hirn ist in einem geschwächten Zustand.

Wie alle bedeutenden Medizinprofessoren seiner Zeit obduzierte Esquirol seine Patienten nach ihrem Tod persönlich. Da es damals noch keine hochauf­lösenden Mikroskope gab, mußte er sich beim Sezieren der Gehirne an Grobstrukturen orientieren. Der Befund bei Patienten mit einer Demenz war überraschend:

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Die Hirnwindungen sind atrophiert, haben sich voneinander gelöst, sind abgeflacht und platt, zusammengedrängt und klein, insbesondere im Stirnbereich. Es ist nicht ungewöhnlich, daß ein oder zwei Windungen in der Hirnwölbung eingedrückt, atrophiert und fast völlig zerstört sind. Der Zwischenraum ist mit Serum gefüllt.

Esquirol hatte den Hirnschwund entdeckt, der den Verlust an geistigen Fähigkeiten bei seinen Patienten erklärte. Spätere Forscher bestätigten seine Beobachtungen immer wieder. Den Zerstörungen im Mikrobereich der Hirnstruktur kam allerdings erst der Deutsche Alois Alzheimer auf die Spur.

In den siebzig Jahren zwischen Esquirol und Alzheimer war die medizinische Forschung in mehrfacher Hinsicht revolutioniert worden. Die wichtigste Neuerung war die Entwicklung des hochauflösenden Mikroskops. Vor allem deutsche Ärzte forschten mit dem neuen optischen System und machten in der zweiten Hälfte des neunzehnten und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zahlreiche bedeutende Entdeckungen. So versuchte der deutsche Gehirnpathologe Alois Alzheimer der Demenz mit dem Mikroskop auf die Spur zu kommen. 

Alzheimer hatte seine Laufbahn hauptsächlich als Klinikarzt begonnen und sich dabei besonders für Nerven- und Geisteskrankheiten interessiert. Trotzdem war er gut mit den Labormethoden vertraut. Er galt bereits als Autorität der klinischen Aspekte der senilen Demenz und hatte auch als Pathologe bei deren mikroskopischer Erforschung schon einen Namen, als ihn Emil Kraepelin, ein Wegbereiter der experimentellen Psychiatrie, 1902 an die Universität Heidelberg holte.

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Als Kraepelin im folgenden Jahr zum Leiter des neuen Klinik- und Forschungszentrums der Universität München berufen wurde, nahm er den neunund­dreißig­jährigen Alzheimer mit. Alzheimer identifizierte mit Hilfe neu entwickelter Färbetechniken an Gewebsschnitten die Veränderungen im Zellaufbau, die durch Syphilis, die Huntingtonsche Chorea (Veitstanz), Arteriosklerose und senile Demenz hervorgerufen werden. Er glänzte vor allem durch seine Fähigkeit, die mikroskopischen Befunde des obduzierten Gewebes mit den zuvor beobachteten degenerativen Symptomen seiner Patienten in Beziehung zu bringen. Damit deckte er die kausalen Zusammenhänge auf, die für die Pathophysiologie der Krankheiten von grundlegender Bedeutung waren.

Im Jahr 1906 veröffentlichte Alzheimer den Artikel <Über einen eigenartigen schweren Erkrankungs­prozeß der Hirnrinde>. Er behandelte darin den Fall einer Frau, die im November 1901 ins psychiatrische Krankenhaus aufgenommen worden war. Der Artikel war die erste Fallstudie, in der die nach Alzheimer benannte Krankheit als eigenständige Form der Demenz erkannt wurde. Abgesehen vom sachlicheren Ton beschreibt der Verfasser in etwa das gleiche wie Esquirol oder Prichard, auch wenn ein Hinweis auf die »vier Grade der Inkohärenz« fehlt. 

Die Frau, die Alzheimer in seinem Artikel vorstellt, war einundfünfzig Jahre alt und zeigte nacheinander folgende Symptome: krankhafte Eifersucht, Gedächtnisausfälle, Paranoia, Verlust der Urteilsfähigkeit, Verlust des Begriffsvermögens und Stupor. Nach viereinhalb Jahren Krankheit, so berichtet Alzheimer, sei die Frau gestorben. Im Endstadium war sie völlig stumpfsinnig. Sie lag nur noch mit angezogenen Beinen im Bett, und sie lag sich trotz aller Vorkehrungen wund. 

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Alzheimer ging es in seinem Artikel freilich nicht um den Krankheitsverlauf der Patientin. Fälle wie dieser waren den Ärzten schon lange vor Pinel und Esquirol bekannt gewesen, auch wenn die beiden Franzosen sie erstmals als Form der Demenz klassifiziert hatten. Und schon im Jahr 1868, also lange vor Alzheimer, war zur Unterscheidung dieser Form der Demenz vom sonst bekannten Altersschwachsinn der Begriff der »präsenilen Demenz« eingeführt worden. Alzheimer begnügte sich auch nicht damit, einmal mehr eine atrophierte Hirnrinde zu beschreiben, wie man sie mit bloßem Auge sehen konnte. In seinem Artikel von 1906 ging es ihm vielmehr um das, was er gesehen hatte, als er das Gehirn der Patientin in feine Schnitte zerlegt und die eingefärbten Gewebsproben unter das Objektiv seines Mikroskops geschoben hatte.

Alzheimer entdeckte, daß zahlreiche Zellen in der Hirnrinde seiner Patientin ein oder mehrere hauchdünne Fäserchen enthielten. In anderen Zellen bildeten diese Fäserchen sogar dichte Bündel, und an wieder anderen Stellen waren überhaupt nur noch diese sogenannten neurofibrillären Bündel (oder Alzheimer-Fibrillen) zu sehen. Offenbar waren der Kern und die gesamte Nervenzelle degeneriert und schließlich ganz abgestorben. Alzheimer sah in der Tatsache, daß diese Fäserchen sich beim Färben anders verhielten als normale Zellen, den Beleg dafür, daß der Zelltod durch krankhafte Stoffwechsel­produkte verursacht worden war. Zwischen ein und drei Viertel der Zellen der Großhirnrinde seiner Patientin enthielten entweder nur noch neurofibrilläre Bündel, oder sie waren völlig verschwunden. 

Neben den zerstörten Nervenzellen entdeckte Alzheimer zahlreiche mikroskopisch kleine Klumpen, sogenannte Plaques oder Drüsen, die über die Hirnrinde verteilt waren und das Färbemittel nicht angenommen hatten. 

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In späteren Jahren konnte gezeigt werden, daß es sich bei diesen Plaques um Axone, also um die reizleitenden Fortsätze der Nervenzellen handelt, die einen Kern aus dem Protein Beta-Amyloid umspinnen. Das gehäufte Auftreten seniler Plaques und neurofibrillärer Bündel ist heute das wichtigste Kriterium bei der mikroskopischen Diagnose der Alzheimerschen Krankheit. 

Wie man später allerdings gleichfalls entdeckte, tauchen weder Amyloid-Plaques noch neurofibrilläre Bündel ausschließlich in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten auf. Eine oder gleich beide Erscheinungen ließen sich auch bei einer Vielzahl anderer chronischer Erkrankungen des menschlichen Gehirns nachweisen. Plaques und neurofibrilläre Bündel entstehen im Gehirn sogar beim gewöhnlichen Alternsprozeß, wenn auch längst nicht mit der für die Alzheimersche Krankheit typischen Häufigkeit. 

Man wird über das Altern des Gehirns sehr viel mehr wissen, wenn die Entstehung dieser Plaques und Fibrillen aufgeklärt ist.

Alzheimer erkannte immerhin eines: daß es sich bei der ihm vorliegenden Form der Demenz um einen eigenständigen, »schweren Erkrankungsprozeß der Hirnrinde« handelte. Sein wissenschaftlicher Lehrer Kraepelin ging einen Schritt weiter: In der achten Auflage seiner Klinischen Psychiatrie von 1910 gab er dem neu entdeckten Leiden den Namen »Alzheimersche Krankheit«. Kraepelin war unsicher, was das vergleichsweise junge Alter der Alzheimer-Patientin zu bedeuten hatte: Ihre Krankengeschichte ähnelte sehr stark der Krankengeschichte anderer Patienten, die früher unter die Kategorie des senilen Irreseins gefallen waren. So schreibt er:

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»Die klinische Deutung dieser Alzheimerschen Krankheit ist zur Zeit noch unklar. Während der anatomische Befund die Annahme nahelegen würde, daß wir es mit einer besonders schweren Form des Altersblödsinns zu tun haben, spricht dagegen einigermaßen der Umstand, daß die Erkrankung bisweilen schon am Ende der 40er Jahre beginnt. Man würde in solchen Fällen also mindestens ein <Senium praecox> anzunehmen haben, wenn es sich nicht doch vielleicht um einen vom Alter mehr oder weniger unabhängigen, eigenartigen Krankheitsvorgang handelt.« 

Wohl wegen dieser Unsicherheit Kraepelins, der für viele die wichtigste Autorität auf dem Gebiet der klinischen Psychiatrie war, haben spätere Autoren seinen Ausdruck Senium praecox übernommen, ohne den Hinweis zu beachten, wonach es sich auch um eine vom Alter unabhängige Krankheit handeln könnte. Wohl als Folge dieser Fehlinterpretation etablierte sich in der medizinischen Nomenklatur für über ein halbes Jahrhundert der Begriff der <präsenilen Demenz>. 

In den Jahren unmittelbar nach dem Erscheinen von Alzheimers Artikel berichteten weitere Forscher über Patienten mit dieser Krankheit. Ihr Verlauf ähnelte in allen Fällen dem Krankheitsverlauf von Alzheimers Patientin, und immer ergab die Obduktion einen allgemeinen Schwund der Hirnmasse, von dem vor allem die Großhirnrinde betroffen war. Die mikroskopische Untersuchung erbrachte eine große Anzahl seniler Plaques und neurofibrillärer Bündel. Bis 1911 lagen zwölf weitere Fallstudien vor.

Das relativ junge Alter von einigen dieser Patienten nahm die Befunde späterer Obduktionsberichte vorweg, wonach senile Plaques und neurofibrilläre Bündel bei Menschen aller Altersstufen und anscheinend bei einer großen Vielfalt von Krankheitsbildern auftreten. Ende der zwanziger Jahre gab es bereits vier Kranken­berichte zu Alzheimer-Patienten unter vierzig; bei einem hatten sich erste Symptome im Alter von sieben Jahren bemerkbar gemacht.

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Man muß allerdings darauf hinweisen, daß die Krankheit in ihrer Altersstatistik verzerrt dargestellt wurde. Wenn Ärzte Neues zu einer Krankheit veröffentlichen, neigen sie dazu, die gewöhnlichen Fälle zu vernachlässigen und sich auf die spektakulären zu konzentrieren. Und auch Obduktionen werden in den Ländern, in denen sie nicht zwingend vorgeschrieben sind, also den meisten, am häufigsten an »interessanten« Patienten vorgenommen. Und was wäre aus medizinischer Sicht interessanter als ein junger Mensch mit einer Alterserkrankung? So waren in den späten zwanziger Jahren die große Mehrheit der zahlreichen Alzheimer-Fälle, die weltweit in der medizinischen Fachliteratur behandelt wurden, Patienten aus der relativ jungen Altersgruppe zwischen fünfzig und sechzig. 

Obwohl scharfsichtige Ärzte erkannten, daß das Alter der Patienten kein echtes Kriterium für die Krankheit war, wurde das Syndrom in den USA noch Jahrzehnte als »Alzheimersche präsenile Demenz« bezeichnet. Unter diesem Namen begegnete sie mir denn auch erstmals in den Lehrbüchern während meines Medizin­studiums in den fünfziger Jahren.

Daß die Bezeichnung »Alzheimersche präsenile Demenz« durch die exaktere der »senilen Demenz vom Typ Alzheimer« ersetzt wurde, ist kennzeichnend für die Entwicklung der medizinischen Forschung im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit dieser Entwicklung meine ich ein Zusammenwirken von Forschung, staatlichem Engagement und persönlicher Initiative von Betroffenen. Ungefähr sechzig Jahre nach Alzheimers bahnbrechender Entdeckung setzte sich langsam die Erkenntnis durch, daß die Unterscheidung zwischen der senilen und präsenilen Form einer Krankheit kaum oder keine Gültigkeit hat, wenn in beiden Fällen der gleiche mikroskopische Befund vorliegt.

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Als das Problem auf einem Kongreß zu Morbus Alzheimer und ähnlichen Hirnleistungsstörungen 1970 endlich diskutiert wurde, kristallisierte sich langsam ein wissenschaftlicher Konsens darüber heraus, daß eine solche Unterscheidung überflüssig und sogar irreführend ist. 

Eine offenkundige Folge dieser veränderten Haltung bestand darin, daß jetzt die Gruppe der älteren Alzheimer-Patienten und ihre Familien und damit eine viel breitere Schicht von Betroffenen ins Blickfeld rückte. Mit dem gestiegenen Interesse konnten Mediziner von der Regierung mehr Forschungsgelder verlangen. In den USA wurden zugleich die National Institutes of Health (NIH) und alle einflußreichen Kräfte, die sich um die Belange von Senioren kümmern, aktiv. Die Bewegung führte zur Gründung des gerontologischen Forschungsinstituts National Institute on Aging (NIA). Auf eine gemeinsame Initiative von medizinischen Forschern, NIA und Angehörigen der Kranken hin wurde schließlich die Alzheimer's Disease and Related Disorder Association (ADRDA) ins Leben gerufen. 

Eine Krankheit, die zu meiner Studienzeit als so selten galt, daß sie kaum beachtet wurde, war laut der Statistik der Weltgesund­heits­organisation eine der großen Geißeln der Menschheit. Die gemeinsame Anstrengung der genannten Organisationen und Bevölkerungsgruppen führte dazu, daß 1989 das Budget zur Erforschung von Alzheimer in den USA achthundertmal höher war als noch zehn Jahre zuvor.

Wahrend in den letzten fünfzehn Jahren bei der Pflege der Betroffenen und der Unterstützung der betreuenden Angehörigen große Fortschritte erzielt worden sind, ist auf medizinischem Gebiet der Durchbruch bislang ausgeblieben. Man ist weder den eigentlichen Ursachen der Krankheit auf die Spur gekommen, noch hat man Präventivmaßnahmen oder gar eine Heilmethode gefunden. 

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Zwar gibt es Indizien, die für eine genetische Veranlagung sprechen, doch sind erbliche Einflüsse bei älteren Alzheimer-Patienten und auch bei jüngeren nicht überzeugend nachzuweisen, auch wenn bestimmte Defekte im Erbgut bei einigen Menschen mit der Krankheit identifiziert werden konnten. Untersuchungen darüber, ob Aluminium oder andere Stoffe, Viren, Kopfverletzungen oder ein herabgesetztes Maß an äußeren Sinnesreizen die Entstehung der Krankheit fördern, haben nur in manchen Fällen zu aufschlußreichen Ergebnissen geführt. Wie im Fall anderer Erkrankungen mit rätselhaften Ursachen hat man sich auch mit den Veränderungen des Immunsystems befaßt, bislang allerdings ohne Ergebnis. Selbst das Rauchen von Zigaretten, das für eine Vielzahl anderer Krankheiten verantwortlich ist, ist als Krankheitsursache ins Gespräch gebracht worden. Möglicherweise gibt es für den Degenerationsprozeß bei Alzheimer gleich mehrere verschiedene Auslöser. 

Mit der Alzheimerschen Krankheit gehen einige bislang noch ungeklärte physiologische und biochemische Veränderungen Hand in Hand. Gewebsproben, die der Großhirnrinde des lebenden Organismus entnommen werden, zeigen beispielsweise ein um 60 bis 70 Prozent verringertes Vorkommen von Azetylcholin, einem chemischen Botenstoff, dem bei der Übertragung von Nervenimpulsen eine Schlüsselstellung zukommt. Die Suche nach einer wirkungsvollen Behandlungs­methode konzentrierte sich folglich auf Wirkstoffe, die Defekte bei der Übertragung von Reizen wenigstens teilweise beheben können.

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Seit neuestem gibt es Hinweise darauf, daß Azetylcholin bei der Regelung der Produktion von körpereigenem Amyloid eine Rolle spielt. Offenbar nimmt die Menge an Amyloid bei einer Abnahme von Azetylcholin zu. Damit könnte man auf einen direkten Zusammenhang zwischen den chemischen Begleit­erscheinungen der Krankheit und den krankhaften Veränderungen im mikroskopischen Bereich gestoßen sein und einen ersten Ansatz zur Entwicklung einer neuen Therapie gefunden haben. Als besonders fruchtbar könnte sich die Hypothese erweisen, daß Beta-Amyloid auf Nervenzellen toxisch wirkt. Die Hypothese ist in der Fachwelt allerdings heftig umstritten, und Neurobiologen sind sich nicht einmal darüber einig, ob Amyloid das Absterben von Nervenzellen verursacht oder ob Amyloid erst durch den Zelltod entsteht.

Den neurofibrillären Bündeln und den senilen Plaques hat sich inzwischen eine dritte mikroskopische Komponente der Alzheimerschen Krankheit angeschlossen: In bestimmten Zellen des Hippokampus treten Hohlräume auf, sogenannte Vakuolen, in denen stark gefärbte Körnchen von ungeklärter Entstehung eingeschlossen sind. Mit »Hippokampus«, griechisch für »Seepferdchen«, haben Ärzte der Antike den anmutig geschwungenen Fortsatz im Schläfenlappen des Gehirns bezeichnet. Dieser Fortsatz spielt eine Rolle bei der Speicherung neuer Informationen, beim sogenannten rezenten Gedächtnis. Weitere Funktionen konnten bis heute nicht geklärt werden. Auch über die Vakuolen und die Körnchen ist bislang nichts Sicheres bekannt. 

So tappen die Laborärzte bei der Suche nach der Entstehung und den Ursachen von Morbus Alzheimer nach wie vor fast völlig im dunkeln. Die gegen­wärtigen Forschungen und ihre vorläufigen Ergebnisse berechtigen allerdings zu der Hoffnung, daß zahlreiche kleine Entdeckungen unser Bild von der Krankheit langsam vervollständigen werden. Der Erkenntnisfortschritt im letzten Drittel unseres Jahrhunderts hat sich ja auch eher kontinuierlich als in großen Sprüngen entwickelt. 

Immerhin sind die Ärzte schon so weit, daß sie Alzheimer in 85 Prozent der Fälle richtig diagnostizieren. Und dabei muß nicht mehr auf extreme Mittel wie eine Biopsie, also eine Gewebsentnahme aus dem Gehirn des lebenden Patienten, zurückgegriffen werden. Eine frühzeitige Diagnose ist schon deshalb wichtig, weil es mehrere andere, behandelbare Krankheiten gibt, deren Symptome denen der Demenz ähneln. Dazu gehören Depressionen, Nebenwirkungen von Medikamenten, Anämie, gutartige Hirntumoren, eine Unterfunktion der Schilddrüse oder reversible Folgen eines Hirntraumas mit intrakranieller Blutung.

Lautet die Diagnose auf Alzheimersche Krankheit, gibt es allerdings nur wenig Trost. Das menschliche Leid des Betroffenen kann durch eine gute pflegerische Betreuung und den Beistand von Familie und Freunden gelindert, den Angehörigen kann durch Betreuergruppen und anderen Rückhalt geholfen werden. Dennoch haben Kranke und vor allem die Angehörigen einen langen Leidensweg vor sich. 

Bei dieser Krankheit gibt es kein Sterben in Würde. Sie ist ein Willkürakt der Natur und trifft den Kranken in seinem ganzen Menschsein. Wenn man ihr überhaupt etwas verdankt, dann die Erkenntnis, daß Menschen zu so viel Liebe und Opferbereitschaft fähig sind, daß sie die körperlichen und sogar die seelischen Strapazen dieser leidvollen Jahre durchstehen.

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Deutsche Alzheimer Gesellschaft stellt neue Zahlen zur Demenz vor: Deutlich mehr Erkrankte unter 65 Jahren als bisher angenommen
16.08.2022
Berlin, 16. August 2022. Nach neuesten Berechnungen leben in Deutschland derzeit rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung. Die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen.

Im Laufe des Jahres 2021 sind etwa 440.000 Menschen neu an einer Demenz erkrankt.

Infolge der demografischen Veränderungen kommt es zu weitaus mehr Neuerkrankungen als zu Sterbefällen unter den bereits Erkrankten. Aus diesem Grund nimmt die Zahl der Demenzerkrankten kontinuierlich zu. Je nachdem, wie sich die Altersstruktur der Bevölkerung insgesamt entwickelt, wird sich die Zahl der Menschen mit Demenz über 65 Jahren bis zum Jahr 2050 auf 2,4 bis 2,8 Millionen erhöhen.



 

Alle zwei Jahre aktualisiert die Deutsche Alzheimer Gesellschaft (DAlzG) ihr Informationsblatt zur Häufigkeit von Demenzerkrankungen in Deutschland. In diesem Jahr haben Prof. Dr. René Thyrian und Dr. Iris Blotenberg vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) auf der Basis aktueller Bevölkerungsdaten die wichtigsten Zahlen zu Demenzerkrankungen berechnet. Das Informationsblatt steht auf der Internetseite der DAlzG zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Demenz betrifft auch viele Menschen unter 65 Jahren
2021 hat die Weltgesundheitsorganisation neue Studien zum Auftreten von Demenzerkrankungen in unterschiedlichen Altersgruppen veröffentlicht. Nun liegen erstmals genauere Schätzungen zu den Erkrankten im Alter von unter 65 Jahren vor. Demnach müssen wir davon ausgehen, dass in Deutschland derzeit mehr als 100.000 Menschen unter 65 Jahren leben, die an einer Demenz erkrankt sind. „Die Ursache dafür, dass diese Zahl deutlich höher ist, als in früheren Veröffentlichungen, liegt vor allem darin, dass sich die Diagnostik in den letzten Jahren deutlich verbessert hat“, sagt Prof. Dr. Thyrian, Vorstandsmitglied der DAlzG. „Erst jetzt werden Demenzen auch bei jüngeren Menschen regelmäßig auch als solche erkannt, während früher sehr häufig andere Erkrankungen wie Depressionen diagnostiziert wurden. Von einem tatsächlichen Anstieg der Erkrankungshäufigkeit in diesem Alter ist aber nicht auszugehen“, so Thyrian weiter.

Angebote für junge Erkrankte werden dringend benötigt
Monika Kaus, 1. Vorsitzende der DAlzG, betont: „Diese neuen Zahlen machen den Bedarf an Unterstützung für jüngere Menschen mit Demenz und ihre Familien noch einmal drängender. Wenn Menschen unter 65 an einer Demenz erkranken, stehen sie meist noch im Beruf und haben oftmals noch Kinder in Schule oder Ausbildung. Konzepte, wie Berufstätigkeit ggf. auch mit der beginnenden Demenz fortgeführt werden kann, fehlen ebenso wie für diese Altersgruppe passende Betreuungsangebote oder Pflegeeinrichtungen. Aus der Beratung kennen wir diese Problematik schon lange, nun wird es Zeit, dass auch von politischer Seite darauf reagiert wird.“

Informationsblatt zum Download
Das Informationsblatt 1 „Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen“ steht auf der Internetseite der DAlzG kostenlos zum Download zur Verfügung.

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft engagiert sich für ein besseres Leben mit Demenz. Sie unterstützt und berät Menschen mit Demenz und ihre Familien. Sie informiert die Öffentlichkeit über die Erkrankung und ist ein unabhängiger Ansprechpartner für Medien, Fachverbände und Forschung. In ihren Veröffentlichungen und in der Beratung bündelt sie das Erfahrungswissen der Angehörigen und das Expertenwissen aus Forschung und Praxis. Als Bundesverband von mehr als 130 Alzheimer-Gesellschaften unterstützt sie die Selbsthilfe vor Ort. Gegenüber der Politik vertritt sie die Interessen der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Die DAlzG setzt sich ein für bessere Diagnose und Behandlung, mehr kompetente Beratung vor Ort, eine gute Betreuung und Pflege sowie eine demenzfreundliche Gesellschaft.

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https://stiftung-gesundheitswissen.de/mediathek/videos/demenz/was-ist-alzheimer-demenz

 

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Nuland 1993