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Vorwort 1990

 

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Am 15. März 1949 hätte ich in der SED-Parteihochschule "Karl Marx" in Kleinmachnow eine Vorlesung halten müssen. Im großen Lektionssaal saßen die Kursanten der Parteihochschule mit Notizblöcken vor sich und warteten auf den Dozenten. Sie warteten vergebens. Wo ist Genosse Leonhard?

Man suchte mich in meiner Wohnung in der Parteihochschule. Ich war nicht dort. Die Vorlesung wurde abgesagt. Schon tauchte bei einigen der Verdacht auf, der flüsternd geäußert wurde: "Vielleicht ist Wolfgang abgehauen?" Die Sekretärin der Partei­hoch­schule wurde beauftragt, in meiner Wohnung in Berlin-Pankow nachzusehen. Aber auch das blieb erfolglos. Bald war kein Zweifel mehr möglich: Wolfgang Leonhard ist geflohen. Die Nachricht von meiner Flucht sprach sich sofort herum. Auf der Parteihochschule herrschte große Erregung. Bis zu diesem Zeitpunkt waren nur wenige höhere SED-Funktionäre aus der Sowjetzone Deutschlands geflohen. Sie hatten meist früher der Sozialdemokratie angehört. Jetzt aber war ein verantwortlicher SED-Funktionär geflohen, der aus der KPD gekommen war — und noch dazu in der Sowjetunion geschult und ausgebildet.

Noch etwas kam hinzu: Bisher waren alle SED-Funktionäre in den Westen gegangen, und die Westberliner Presse hatte jedesmal sofort darüber berichtet. Nach meiner Flucht aber brachten die westlichen Zeitungen nichts. In Westberlin wußte man genauso wenig wie in Ostberlin. Wo ist denn Leonhard geblieben? Sollte er vielleicht gar in Jugoslawien sein? Nur heimlich wurde diese Vermutung ausgesprochen – denn über Jugoslawien zu sprechen war damals nicht ungefährlich.

Eine Woche nach der anderen verging. Vom SED-Dozenten Leonhard war nichts zu hören. Das Rätselraten dauerte an. Während dieser Aufregung saß ich in Belgrad und schrieb eine Rundfunk-Erklärung und eine Broschüre über die politischen Gründe meiner Flucht aus der Sowjetzone.

Am 12. März 1949 hatte ich Ostberlin verlassen, am 25. März war ich, nach einer schwierigen Flucht, in Belgrad eingetroffen. Vier Wochen nach meiner Ankunft verlas ich im Studio des Belgrader Rundfunks meine Erklärung gegen die Kominform-Resolution und für die Jugoslawen, die sich im Sommer 1948 von Stalin losgesagt hatten, um ihren eigenen unabhängigen Weg zum Sozialismus zu gehen. Nach meiner Stellungnahme, die am 22. April abends in zwölf Sprachen über den Belgrader Rundfunk verbreitet und am nächsten Tag in allen jugoslawischen Zeitungen veröffentlicht wurde, konnte die SED-Führung nicht mehr schweigen.

Vier Tage später, am 26. April 1949, wurde im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" mein Ausschluß aus der Partei bekanntgegeben. Unmittelbar darauf begann eine fieberhafte Tätigkeit in der Parteihochschule. Eine Versammlung löste die andere ab. Alle Kursanten wurden in Einzelgesprächen noch einmal auf Herz und Nieren überprüft. Aber auch das wurde als ungenügend erachtet. Es folgte die Direktive: Die von Leonhard geführte Klasse der Parteihochschule wird aufgelöst, alle Kursanten werden auf andere Fakultäten verteilt.

Alle Vorschläge, die ich als Dozent für die zukünftige Tätigkeit der Kursanten gemacht hatte, wurden nun ins Gegenteil verkehrt. Hatte ich zum Beispiel empfohlen, einem Kursanten nach dem Studium auf der Parteihochschule die Möglichkeit zu geben, an einem wissenschaftlichen Institut zu arbeiten, konnte dieser nun mit Sicherheit damit rechnen, zur "praktischen Parteiarbeit" in die Provinz geschickt zu werden. Der in der Sowjetunion ausgebildete Dozent Heinz Abraham – der sich selbst als "harten Bolschewisten" bezeichnete – hielt Vortrage über die "Lehren", die sich für die Parteihochschule aus dem "Fall Leonhard" ergäben.

Immer wieder wurden Versammlungen einberufen, in denen jeder, der in irgendeiner Beziehung zu mir gestanden hatte, Selbstkritik üben mußte. In stunden­langen Diskussionen wurden "Hinweise einer parteifeindlichen Einstellung" bei mir gesucht und ausgewalzt. Von jedem Redner wurde bis zur Ermüdung betont, daß "mangelnde Wachsamkeit" meine rechtzeitige "Entlarvung" verhindert hätte.

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All dies geschah, weil ich einigen Dozenten und Kursanten der Parteihochschule Materialien der jugoslawischen Kommunisten zu lesen gegeben hatte. Wie sehr mußte die SED-Führung diese Materialien fürchten, wenn sie sich zu so außerordentlichen Maßnahmen gezwungen fühlte! Die Erregung der SED-Führung war verständlich. Zum erstenmal war ein Funktionär geflohen, der zehn Jahre in der Sowjetunion verbracht hatte und dort aufgewachsen, erzogen und politisch geschult worden war. 

Dieses Buch berichtet von meinen Erlebnissen während meines zehnjährigen Aufenthalts in der Sowjetunion (1935-1945) und meiner vierjährigen Tätigkeit als Funktionär im zentralen Apparat der SED-Führung (1945-1949). 

In diesem Buch wird die große Säuberung von 1936 bis 1938 geschildert, mein Leben in sowjetischen Schulen und Hochschulen, die Tage in Moskau um den Kriegsausbruch am 22. Juni 1941, meine Deportierung in das Karaganda-Gebiet von Nordkasachstan, die Ausbildung ausländischer Funktionäre auf der Kominternschule (1942-1943) und meine Tätigkeit als Rundfunksprecher des Senders des Nationalkomitees "Freies Deutschland" (1944-1945). 

In den letzten drei Kapiteln schildere ich die Rückkehr aus Moskau nach Deutschland mit der "Gruppe Ulbricht" im Mai 1945 (später "Initiativgruppe des Zentralkomitees der KPD" genannt), die erste politische Tätigkeit im Mai und Juni 1945 in Berlin, die Neugründung der Kommunistischen Partei Deutschlands am 11. Juni 1945, meine Tätigkeit in der Abteilung Agitation und Propaganda des Zentralkomitees der KPD und die Gründung der SED, die ich am 22. April 1946 im Admiralspalast miterlebte. 

Gerne gebe ich zu, daß ich anfangs enthusiastisch an die Möglichkeit eines unabhängigen demokratischen Weges zum Sozialismus glaubte, die Hoffnung einer antifaschistischen demokratischen parlamentarischen Republik mit allen Rechten und Freiheiten für das Volk und einen allmählichen Übergang zu einem demokratischen Sozialismus. Aber schon seit Anfang 1947, mit der zunehmenden Sowjetisierung und Stalinisierung, wurde es für mich deutlich, daß dies eine Illusion gewesen war. Immer mehr verdichteten sich die Zweifel, immer nachhaltiger wurde meine Kritik an der sich deutlich abzeichnenden bürokratisch-diktatorischen Entwicklung der damaligen Sowjetzone Deutschlands.

In diesem Buch versuche ich bewußt, die Begegnungen und Diskussionen, Ereignisse und Erlebnisse so zu schildern, wie ich sie damals gesehen und empfunden, damals gefühlt und gedacht habe. Nur dadurch, so scheint mir, wird dem heutigen oft jüngeren Leser verständlich, warum nicht wenige von uns damals an diese Ideologie glaubten und sich diesem System verpflichtet fühlten, wann und wie die ersten kritischen Gedanken auftauchten und was der Bruch mit dem Stalinismus für einen Menschen bedeutet hat, der in dieser Lehre aufgewachsen war. Die Entscheidung ist das Ergebnis eines jahrelangen qualvollen Prozesses des Zweifelns und der Rechtfertigung, der Gewissensqualen und der konstruierten Theorien zu ihrer Beruhigung. Ist dieses Stadium einmal erreicht, dann gibt es kein Zurück mehr.

Seit meiner Flucht im März 1949 habe ich auf Reformen, auf eine Liberalisierung und Demokratisierung in den Ländern Mittel- und Osteuropas und der Sowjetunion gehofft. So bekannt mein Buch in allen westlichen Ländern geworden ist - auf eine Veröffentlichung in der Sowjetunion und der DDR mußte ich sehr lange warten.

Mit der Ernennung Gorbatschows zum sowjetischen Generalsekretär am 11. März 1985 und mit der allmählichen Entwicklung von Glasnost und Perestroika konnte ich im Juni 1987 erstmals erneut die Sowjetunion besuchen. 42 Jahre waren seit jenem 30. April 1945 vergangen, als ich mit Ulbricht aus Moskau abgeflogen war. Jetzt kam ich aus der Bundesrepublik als Pressevertreter anläßlich der Reise des Bundespräsidenten von Weizsäcker wieder nach Moskau – in jene Stadt, in der ich zehn Jahre meiner Jugend verbracht hatte. Nach einigen Vorgesprächen wurde dann kapitelweise mein Buch "Die Revolution entläßt ihre Kinder" in der sowjetischen Wochenzeitung "Sa Rubeshom" veröffentlicht; die Herausgabe des gesamten Buches auf russisch für die sowjetischen Leser dürfte bevorstehen.

So blieb für mich nur noch die einzige Hoffnung, daß mein Buch endlich auch in der DDR erscheinen wird. Dieser Augenblick ist jetzt – endlich – gekommen. Ich freue mich darauf, dieses Buch in möglichst vielen Städten der DDR vorstellen und – vor allem – mit DDR-Bürgern darüber diskutieren zu können.

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 Manderscheid / Eifel,
Januar 1990 

 

 

 

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