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Nachwort 

für meine heutigen Leser in der DDR

(1990)

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Seit Erscheinen meines Buches "Die Revolution entläßt ihre Kinder" im Herbst 1955 und seit der gleichnamigen dreiteiligen Fernsehserie im Jahre 1960 erhielt ich Hunderte von Briefen von mir unbekannten Lesern, die mein Buch gelesen hatten und mir nun Fragen stellten. Drei Fragen kamen dabei besonders häufig vor:

Meine fragenden Leser haben das Recht auf eine - zumindest kurze - Antwort.

*

Das Buch endet mit meiner gefahrvollen Flucht aus Ostberlin nach Jugoslawien im März 1949. Schon wenige Tage später begann in Belgrad meine Arbeit — als Leiter der deutschsprachigen Sendungen des Belgrader Rundfunks. Es war keine leichte Zeit: Jugoslawien wurde damals von allen Ostblockstaaten boykottiert, die Wirtschaftsverträge waren gekündigt, die Versorgungs­schwierigkeiten ernst. Hinzu kamen die pausenlosen Angriffe aus der gesamten kommunistischen Weltbewegung und die östlichen Truppen­konzentrationen an den jugoslawischen Grenzen.

Unmittelbar nach meiner Ankunft in Jugoslawien war ich bereits bei der Arbeit. Ich schrieb eine Erklärung über meine Flucht und verfaßte meine Broschüre über "Kominform und Jugoslawien". Am 22. April 1949 verlas ich im Studio des Belgrader Rundfunks meine Erklärung gegen die Kominforn-Resolution und für die jugoslawischen Kommunisten — das vergilbte Manuskript liegt vor mir. Meine Erklärung wurde vom Belgrader Rundfunk in zwölf Sprachen verbreitet — auf deutsch, englisch und russisch verlas ich sie selbst — und am nächsten Tag erschien sie in allen jugoslawischen Zeitungen. Nun erst war meine erfolgreiche Flucht der Öffentlichkeit bekanntgeworden.

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Am 26. April 1949 veröffentlichte das SED-Zentralsekretariat eine Erklärung über meinen Ausschluß. Ich hätte, so hieß es, eine "parteifeindliche Aktivität" entfaltet und sei ein "Agent der jugoslawischen Militärmission". Die Erklärung, warum ich aus der Sowjetzone nach Jugoslawien geflohen war, wurde vom SED-Zentralsekretariat recht einfach beantwortet: "Der Agent" (also ich!) sei "für seine Tätigkeit mit Zigaretten und Lebensmitteln belohnt worden".

Als ich diese Erklärung im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" in Belgrad las, konnte ich mich darüber weder ärgern noch konnte ich lachen. Es berührte mich nicht mehr. Ich befand mich nun unter den Jugoslawen, die als erste den großen Versuch einer Liberalisierung und Demokratisierung ihres Systems machten. Unter dem Druck von außen und inneren Schwierigkeiten erlebte ich, wie sich das jugoslawische System zu lockern begann, elastischer und freier wurde. Die zunehmende Unabhängigkeit von Moskau war von einem Umdenken und Neudenken größten Ausmaßes begleitet.

Anstelle des Stalinschen Zentralismus trat die Dezentralisierung in Wirtschaft und Verwaltung; der "sozialistische Realismus" in Kunst und Literatur wurde durch Herausbildung unterschiedlicher Stile, Formen, Themen und Konzeptionen ersetzt. Zunehmend wurden Fragen des Stalinismus offen und frei erörtert. Die Kollektivierung wurde rückgängig gemacht, in den Betrieben die frühere Alleinherrschaft des Direktors durch weitreichendes Mitspracherecht der Betriebskollektive ersetzt.

Anfang Mai 1950 – damals war ich schon länger als ein Jahr in Jugoslawien – wurde ich zu Tito nach Dedinje eingeladen. Es war ein schöner Sommertag, und Tito schlug vor, das Gespräch im Garten zu führen. Ich begann, mit ihm russisch zu sprechen, aber er winkte nur lächelnd ab: "Sprechen Sie doch lieber deutsch", sagte er mit leicht österreichischem Akzent. Im Verlaufe dieses Gesprächs machte mich Tito darauf aufmerksam, daß die bisherigen Reformen in Jugoslawien noch längst nicht ausreichend seien. Es sei an der Zeit, anstelle der Staatswirtschaft zur ursprünglichen Marxschen Konzeption der "Assoziation der freien Produzenten" überzugehen.

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Die Wirtschaft eines sozialistischen Landes sollte, wie Tito schon damals im Mai 1950 in diesem Gespräch meinte, nicht durch eine Staatliche Plankommission und durch eingesetzte Betriebsdirektoren von oben erfolgen, sondern durch frei gewählte Arbeiterräte in Fabriken, Betrieben und Unternehmungen. "Wir bereiten wichtige Veränderungen in dieser Richtung vor", fügte er hinzu. Als ich einige ideologisch-theoretische Detailfragen dazu stellte, meinte er lächelnd mit einer Bescheidenheit, die ich bis dahin bei kommunistischen Funktionären noch nicht erlebt hatte: "Darüber unterhalten Sie sich lieber einmal mit dem Genossen Kardelj, der in diesen Fragen besonders sachkundig ist."

Kurz darauf, während meines Urlaubs im Rahmen meiner Tätigkeit im Belgrader Rundfunk, besuchte ich die südlichen Republiken Montenegro und Mazedonien. Hier erlebte ich am 26. Juni 1950 die Einführung der Arbeiterräte. Überall wurde über dieses Thema heftig diskutiert; schon wenige Wochen später besuchte ich Betriebe und Unternehmungen, in denen die Arbeiterräte in geheimen Wahlen gewählt wurden. Aus den Wahlzetteln entnahm ich, daß jeweils mindestens doppelt so viele Kandidaten aufgestellt worden waren, wie gewählt werden sollten. Hier, im Juni 1950, erlebte ich das erste Mal in meinem Leben, daß Wahlen nicht nach einer vorgeschriebenen Einheitsliste erfolgten.

In den deutschsprachigen Sendungen des Belgrader Rundfunks versuchte ich, diese Entwicklung darzustellen - und erhielt manche zustimmenden Briefe der Hörer. Vor allem. meldeten sich enttäuschte Mitglieder und Funktionäre der westdeutschen KP, die sich, ähnlich wie ich zuvor, gegen den Stalinismus wandten und in Jugoslawien ein neues positives Modell des Sozialismus erblickten. Schon bald sickerte durch, daß einige der Ausgeschlossenen die Gründung einer unabhängigen marxistischen Partei in der Bundesrepublik planten — für mich ein deutliches Zeichen, daß die neuen Zielsetzungen weit über Jugoslawien hinausgingen.

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Die eineinhalb Jahre - von März 1949 bis November 1950 - die ich in Jugoslawien verbrachte, haben mich zutiefst beeindruckt. Nach wie vor bin ich der Überzeugung, daß sich die jugoslawischen Kommunisten ein historisches Verdienst erworben haben. Sie befreiten nicht nur ihr eigenes Land zunächst von der faschistischen Okkupation und anschließend von der damaligen Vorherrschaft der Stalinschen Sowjetunion, sondern beschritten neue Wege und vollzogen eine echte Alternative zum Stalinschen Kommunismus. Sie gaben damit den Anstoß für andere kommunistische Parteien und Länder, die später ihrem Beispiel folgten - wenn auch jeweils auf eigene Art - und legten damit den Grundstein für jene große Reformströmung, die sich, leider erst Jahrzehnte später, allmählich in den mittel- und osteuropäischen Ländern durchsetzen sollte.

In der weiteren jugoslawischen Entwicklung hat es nicht nur, wie zu erwarten, eine Vielzahl von Fehlern gegeben, sondern weit darüber hinaus ernste Rückschläge, ja seit 1970 sogar Rückfälle ins bürokratische Denken und Handeln. All dies kann meiner Meinung nach jedoch nicht die Bedeutung der jugoslawischen Verselbständigung und Wandlung in den ersten Jahren nach 1948 verdunkeln.

Als ich Anfang November 1950 aus Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelte, war dies - auch eine häufig an mich gestellte Frage - keine "Abkehr", sondern folgte aus der Erkenntnis, daß mein Platz als deutschsprachiger Publizist im deutschsprachigen Raum liegt.

Das Leben in der Bundesrepublik war zunächst nicht leicht. Vieles war und mußte mir äußerst fremd sein — nicht nur, wie häufig geschildert, das große Warenangebot, sondern die völlig anderen Vorstellungen und Denkformen und, für mich anfangs recht erschreckend, die damals weit verbreitete Unkenntnis über die Vorgänge in der Sowjetunion, der DDR und Osteuropas. Das Einleben war nicht immer einfach. Häufig war ich isoliert. Über das Alleinsein und die Isolierung der Flüchtlinge aus dem anderen Teil Deutschlands ist viel geschrieben worden; zweifellos war dies Anfang der 50er Jahre noch viel schwieriger als heute.

Schon bald nach meinem Eintreffen in der Bundesrepublik kam ich zur Schlußfolgerung, daß ich mich nun, vom Westen aus, mit den Vorgängen in der kommunistischen Welt beschäftigen werde. Diese Aufgabe erschien mir um so dringlicher, als zur damaligen Zeit - Anfang der 50er Jahre - die Sachkenntnis in diesem Bereich, auch in den Massenmedien, oft recht beschränkt und einseitig waren.

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Begierig las ich zunächst die Bücher ehemaliger kommunistischer Funktionäre, die vor mir mit dem Stalinismus gebrochen hatten. Viele Schriften haben mich zutiefst beeindruckt, aber bei manchen mußte ich mit Bedauern feststellen, daß sie schon bald nach ihrem Bruch zu Wortführern eines extremen Antikommunismus geworden waren. Eine einseitige, von Haß erfüllte Auseinandersetzung lag und liegt mir jedoch völlig fern. Schon damals befürwortete ich eine objektive Kommunismus-Forschung mit der Zielsetzung, die realen Entwicklungen in der kommunistischen Welt zu analysieren — gleichermaßen entfernt von primitivem Antikommunismus und den Haßgefühlen (wie sie in den 50er Jahren noch recht verbreitet waren), aber auch von Schönfärbereien und Illusionen (wie sie in den 70er Jahren vorherrschten).

Mit dieser Grundeinstellung schrieb ich 1953 bis 1955 mein Buch "Die Revolution entläßt ihre Kinder". Es war mein Wunsch, die Probleme, Widersprüche und Wandlungen in kommunistischen Staaten anhand eines menschlichen Schicksals darzustellen und dabei meine eigenen Erfahrungen, Erlebnisse, Hoffnungen und Zweifel so zu schildern, wie ich sie zum Zeitpunkt des Geschehens erlebt hatte – und nicht etwa von einem späteren Standpunkt aus.

Mein im September 1955 erschienenes Buch "Die Revolution entläßt ihre Kinder" sollte zu einem tiefen Einschnitt in meinem weiteren Leben führen. Schon wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Buches meldete sich in meiner Kölner Wohnung ein Besucher an: Carew-Hunt, ein bekannter britischer Professor, der sich an der Universität Oxford mit der Geschichte des Kommunismus befaßte. Im Verlaufe des ausführlichen Gesprächs erwähnte er, fast nebenbei, ob ich vielleicht eine Einladung nach Oxford annehmen würde – "wenn ich nichts Besseres zu tun habe".

Kurz darauf wurde ich gebeten, in Oxford einige Vorlesungen zu halten; darauf ergab sich — ohne Fragebögen oder Kommissionen — die Einladung zu einer zweijährigen Forschungstätigkeit am St. Antony's College der Universität Oxford. Gerade in dieser Zeit — es waren die Jahre 1956 bis 1958 — befand sich die Sowjetunion in der Periode ihrer Entstalinisierung.

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Die Möglichkeiten und Grenzen dieser Entstalinisierung zu analysieren, stand damals im Zentrum meines Interesses. So konnte ich unter den günstigen Bedingungen der Oxford-Universität mein Buch "Kreml ohne Stalin" schreiben.

Die zwei Jahre am St. Antony's College Oxford haben mich tief beeindruckt. Manchmal dachte ich plötzlich wieder an die Kominternschule von 1942/43 zurück. Der Kontrast könnte kaum größer sein. Damals, in der Kominternschule, die einseitige doktrinäre überhebliche Siegesgewißheit, der Anspruch, die Gesetze der Geschichte zu kennen und alle Probleme lösen zu können, wenn man sie nur "richtig" vorbereitet und organisiert ... Und jetzt die ruhige, sachliche, objektiv kritische Atmosphäre in Oxford, das sorgfältige bedächtige Abwägen unterschiedlicher Faktoren, der leicht spöttische, manchmal skeptische Ton, das liebenswürdige Aufeinander-Eingehen in Gesprächen und Diskussionen, die genaue Sachkenntnis. Meine zwei Jahre in Oxford trugen beträchtlich dazu bei, weitere ideologische Scheuklappen abzustoßen und verbliebene Vorurteile zu überwinden - ohne deshalb die Erfahrungen meines zehnjährigen Lebens in der Sowjetunion und der vierjährigen Tätigkeit in der Sowjetzone Deutschlands zu negieren oder zu vergessen.

Nach wie vor war und bin ich der Meinung, daß jene, die früher als Funktionär im System und der Bewegung tätig waren, mitunter einen entscheidenden Vorteil bei der Analyse kommunistischer Länder haben: die Kenntnis des inneren Mechanismus des Systems; die Möglichkeit, sich Wandlungen im Osten plastisch vorzustellen und sich in die Menschen der kommunistischen Welt hineinzudenken — auch in Parteimitglieder, Funktionäre und Führer; die Fähigkeit, die für viele im Westen so rätselhafte ideologische Wortklauberei, nicht nur zu entziffern, sondern leicht, fast automatisch lesen zu können; die Kenntnisse der politischen Ziele östlicher Führungen, vor allem die praktische Anwendung der politischen Strategie und Taktik. Vieles, was den im Westen aufgewachsenen und von westlichen Systemen geprägten Menschen oft so unwahrscheinlich anmutet, erscheint den früheren Funktionären von drüben wie ein offenes Buch.

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Nach meinem ersten Buch "Die Revolution entläßt ihre Kinder" beschäftigten sich auch alle meine weiteren Bücher mit den Entwicklungen und möglichen Wandlungen im Osten. "Kreml ohne Stalin" (1959) und "Chruschtschow - Aufstieg und Fall eines Sowjetführers" (1965) behandelten die widerspruchsvolle Entstalinisierung in der Sowjetunion. In meiner "Sowjetideologie heute — Politische Lehren" (1962) war ich bestrebt, für westliche Leser die entscheidenden Konzeptionen der Sowjetideologie darzustellen und kritisch zu betrachten, sowie vor allem auch auf den tiefen Widerspruch zwischen den ursprünglichen Vorstellungen von Marx und Engels und den späteren Verfälschungen hinzuweisen. Von Mitte der 50er bis Anfang der 70er Jahre schrieb ich darüber hinaus regelmäßig Kommentare für die "Zeit" über die Sowjetunion und den internationalen Kommunismus.

Seit Anfang der 60er Jahre war ich auch im akademischen Bereich in der Kommunismus-Forschung tätig; von 1963 bis 1964 als Senior Research Pellow am Russian Institut der Columbia Universität in New York. Ein damaliger Besuch bei der Yale Universität führte dann zu einer über 20jährigen Verbindung. Von Anfang 1966 bis Sommer 1987, 21 Jahre lang, hielt ich im Rahmen der historischen Fakultät der Yale Universität Vorlesungen und Seminare über die Geschichte der Sowjetunion sowie - darauf aufbauend - auch über die Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung. Meine Seminare beschäftigten sich mit einer Vielzahl von Problemen: von "ungelösten Fragen in der Sowjetgeschichte" über die Geschichte der sowjetischen Außenpolitik bis zu den Methoden der Sowjetforschung. Da ich stets lediglich im Frühjahrssemester (Januar bis Anfang Juni) an der Yale Universität lehrte, konnte ich in der zweiten Jahreshälfte in der Bundesrepublik in der Analyse östlicher Vorgänge publizistisch tätig sein.

Wenn ich heute die Hunderte meiner damaligen Artikel und Analysen durchblättere, so fällt mir ein roter Faden auf: meine Konzentration auf mögliche zukünftige Wandlungen in den kommunistisch regierten Ländern, mein Bestreben, Ereignisse nicht nur statisch zu sehen, sondern auf die Widersprüche und Gegensätze in den kommunistischen Staaten aufmerksam zu machen, auf die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit zukünftiger weitreichender Reformen hinzuweisen.

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Immer wieder unterstrich ich den tiefen Konflikt in den Ostblockstaaten zwischen den neuen gesellschaft­lichen Kräften der entstehenden Industriegesellschaft auf der einen und dem veralteten überlebten bürokratisch-diktatorischen System auf der anderen Seite. Das zunehmende Zurückbleiben der Oststaaten in der wissenschaftlich-technischen Revolution, die Nicht-Erfüllung der eigenen ökonomischen Planziele, die zunehmenden Autonomiebestrebungen gegenüber dem Moskauer Zentralismus, die Herausbildung einer Reform-Opposition in vielen Oststaaten mit klaren Alternativprogrammen — all dies waren für mich Zeichen der Hoffnung, daß es eines Tages gelingen werde, das bürokratisch-diktatorische System zu überwinden und den Weg zu einem pluralistischen freiheitlichen Sozialismus zu beschreiten.

Mit fieberndem Interesse und innerster Anteilnahme verfolgte ich den Prager Frühling von 1968. Manche westliche Kommentatoren sahen in diesen Ereignissen einen "Ausnahmefall"; für mich waren die neun Monate dieser gewaltigen Emanzipation ein Hinweis auf zukünftige Reformen, die auch in anderen osteuropäischen Ländern und schließlich in der Sowjetunion einmal zum Durchbruch kommen würden.

Als am Morgen des 21. August 1968 die sowjetischen Truppen die Tschechoslowakei okkupierten, schien für viele im Westen das Urteil gesprochen: alle Hoffnungen auf zukünftige Reformen im kommunistischen Machtbereich galten nun als Illusion, die Unmöglichkeit eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" schien für viele bewiesen zu sein. Diesem Verdikt konnte ich mich weder im August 1968 anschließen, noch in den folgenden Jahren. Die Okkupation der Tschechoslowakei war für mich ein grauenvoller Rückschlag, der jedoch auf die Dauer die dringend notwendigen Reformen nicht verhindern könne — weder in den osteuropäischen Ländern noch in der Sowjetunion selbst.

Aber zunächst, nach der Okkupation der Tschechoslowakei, verschärfte sich die Unterdrückung in der damaligen Sowjetunion Breshnews, den osteuropäischen Ländern und in der DDR. Unter Druck und oft ständiger Gefahr von Verhaftungen bildeten sich die ersten Zirkel der Bürgerrechtler, im Westen häufig "Dissidenten" genannt.

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Aber in der Öffentlichkeit westlicher Länder wurde dies, wie mir scheint, nicht genügend wahrgenommen, denn die 70er Jahre standen im Zeichen der Entspannung. So begrüßenswert mir die Versuche erschienen, mit den Führungen im Osten die Beziehungen zu normalisieren und im Bereich der Abrüstung voranzukommen, so sehr bedauerte ich es, daß diese Entspannungs­bemühungen nicht selten zu einer Beschönigung der Situation in den Ostblock­staaten führten, zu einer Überschätzung der damals häufig beschworenen "Stabilität", einer Unterschätzung der Widersprüche, der Gegensätze, der im Verborgenen unter äußersten Schwierigkeiten wirkenden Reformkräfte. Ich bedauerte, daß wie mir schien nicht selten im Interesse diplomatischer Übereinkommen das wichtige Eintreten für Menschenrechte in den Hintergrund geriet.

Nachdrücklich wies ich darauf hin — damals nicht gerade populär —, daß eine Ost-West-Entspannung untrennbar mit einer Liberalisierung verbunden sein müsse. Nur eine Reformentwicklung in den östlichen Ländern, größere Freiheitsräume für die Menschen, die Überwindung von Willkür und Unterdrückung sehe ich als Voraussetzung einer wirklichen Entspannung zwischen Ost und West. Immer wieder wies ich in Aufsätzen und Artikeln auf das Wirken von Andrej Sacharow und die Bürgerrechts­bewegung in der Sowjetunion hin, auf Robert Havemann und seine Anhänger in der DDR, auf die Solidarnosc-Bewegung in Polen, auf die Bürgerrechtsbewegung in der Tschechoslowakei.

In meinem 1975 erschienenen Buch "Am Vorabend einer neuen Revolution? — Die Zukunft des Sowjetkommunismus" stellte ich, ausgehend von den tiefen Widersprüchen und Gegensätze des Systems, mögliche zukünftige Wandlungen dar. In meiner damaligen – 1975 veröffentlichten! – Prognose über eine mögliche zukünftige Demokratisierung in der Sowjetunion erwähnte ich die Diskussionsfreiheit in der Partei, die ungehinderte Möglichkeit, Gruppierungen zu bilden, echte geheime Wahlen mit mehreren Kandidaten, die Haftentlassung unschuldig Verhafteter aus Lagern und Gefängnissen, die Abschaffung von Zensur und Vorzensur, die Verwirklichung der Presse-, Organisations- und Meinungsfreiheit, die öffentlich-kritische Überprüfung aller

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politischen Prozesse der Vergangenheit, die Bildung eines Verfassungsgerichts, die Wandlung des Obersten Sowjets von einem Scheinparlament von Ja-Sagern zu einer echten Volksvertretung, freie kritische Diskussionen auf den Tagungen des Sowjets über alle politisch relevanten Probleme, die Abkehr vom Messianismus in der Weltpolitik, die Herausbildung neuer Beziehungen Moskaus zu den osteuropäischen Ländern auf der Grundlage der Gleichberechtigung sowie den schrittweisen Abzug sowjetischer Truppen aus den Ländern Mittel- und Osteuropas.

Damals, im Jahre 1975, klang dies wie utopische Zukunftsmusik. Aber nur ein Jahrzehnt später, nach der Ernennung Gorbatschows am 11. März 1985, begann in der Sowjetunion – leider viel zu spät! – die Periode von Glasnost und Perestroika. Endlich, endlich war es soweit! Mit innerster Anteilnahme verfolgte ich jeden neuen Schritt in diesem gewaltigen Aufbruch — ohne die Schwierigkeiten und Gegenkräfte aus den Augen zu verlieren. Auch auf mein persönliches Leben wirkte sich die Perestroika aus: im Juli 1987, als Pressevertreter anläßlich des Besuches des Bundespräsidenten von Weizsäcker in der Sowjetunion, fuhr ich erstmals wieder in die Sowjetunion. Gern gebe ich zu: nach dem schrecklichen Trauma der Stalin-Ära spürte ich zunächst bei der Ankunft am Moskauer Flughafen wieder die Angst der Vergangenheit. Als ich vom Flughafen Wnukowo II nach Moskau hinein fuhr, kam ich mir zunächst vor wie in einer völlig fremden Stadt — riesige Neubauviertel im Stil der 60er Jahre. Je näher ich dem Zentrum kam, desto mehr erkannte ich jenes Moskau wieder, in dem ich von 1935 bis 1945 gelebt hatte. Es erschien mir so vertraut, als hätte ich die Stadt erst vor wenigen Tagen verlassen: Gorkistraße, Kusnezkij-Most, Petrowka. Ich fühlte mich zu Hause.

Es gab frappierende Unterschiede zur Stalin-Zeit: Weniger Losungen, kaum Führerbilder in den Straßen. Ich fotografierte die weit selteneren Losungen — Form und Schrift waren wie früher, die Inhalte aber neu. Vor allem die Menschen wirkten auf mich anders: Die Moskauer in der Stalin-Ära waren militanter, überzeugter, härter, während ich sie jetzt legerer, entspannter empfand, auch auf dem Roten Platz. Unwillkürlich dachte ich an früher.

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Stets hatte ich einen großen Bogen um die Ausländer-Hotels "Metropol" und "National" gemacht, aus Furcht, ein "bourgeoiser Ausländer" könnte mich nach dem Weg fragen und dies könnte dann für mich nicht ungefährlich sein. All das war vorbei — man konnte sich beliebig mit Sowjetbürgern treffen und über alles unterhalten. Hier in Moskau und später in Nowosibirsk erlebte ich noch direkter und unmittelbarer die unterschiedlichen Auffassungen in unterschiedlichen sowjetischen Zeitungen, die Offenheit, mit der die Massenmedien über Mängel, Schwierigkeiten und Mißstände berichteten, die Überwindung der Tabus, die Auseinandersetzungen über Richtung und Tempo der geplanten Reformen. 

Bei drei weiteren Reisen in die Sowjetunion - im Juli und Oktober 1988 und im Dezember 1989 - verstärkte sich der Eindruck eines Aufbruchs, aber auch die zunehmenden Schwierigkeiten und das Auftreten von Gegenkräften. Im März 1989 hatte ich schließlich die Freude, daß die sowjetische Wochenzeitung "Sa Rubeshom" ("Jenseits der Grenzen") kapitelweise mein Buch "Die Revolution entläßt ihre Kinder" veröffentlichte. "Allerdings", sagte mir einer der Redakteure, "wir können aus Ihrem Buch alles über die Sowjetunion veröffentlichen, jedoch nicht Ihre letzten drei Kapitel, die sich mit der Sowjetzone Deutschlands, der heutigen DDR, beschäftigen."

Bei aller Freude über die Reformentwicklungen der Sowjetunion, Ungarns und Polens blieb die Traurigkeit und Enttäuschung darüber, daß in der DDR unter Erich Honecker alles noch unverändert schien.

Im September 1987 besuchte Erich Honecker – damals noch SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender – die Bundesrepublik. Der Besuch hatte für mich auch eine persönliche Note. Erstmals war ich Erich Honecker am 10. Mai 1945 begegnet, im damaligen Büro der "Gruppe Ulbricht" in der Prinzenallee 80 in Berlin-Friedrichsfelde (heute Einbeckerstraße 41). Am 10. Mai traf eine Gruppe von "Brandenburgern" ein – den früheren Häftlingen des Zuchthauses Brandenburg. Zu ihnen gehörte auch der damals 33jährige Erich Honecker. Zwischen den aus Moskau zurückgekehrten Emigranten und den "Brandenburgern" gab es ein herzliches, aber leider nur kurzes Wiedersehen. Man ging schnell zur Arbeit über. Ulbricht entschied: Honecker soll für die bald wieder zu gründende KPD die Jugendarbeit übernehmen.

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Nun, 42 Jahre später, im September 1987, kam er als Staatsratsvorsitzender in die Bundesrepublik Deutschland. Ich hatte wiederholt Gelegenheit, ihn zu sehen und zu beobachten: seine Ankunft in Bonn, der große Empfang, das Abspielen der DDR-Hymne und das Aufziehen der DDR-Fahne, seine Reise durch die Bundesrepublik — in Düsseldorf, Wuppertal, Essen, in Trier und im Saarland — und, vor allem, die unterschiedlichen Stimmungen der bundesdeutschen Bevölkerung. Von Zustimmungs­äußerungen auf der einen, immer wiederkehrenden Forderungen "Menschenrechte in der DDR" und dem Ruf "die Mauer muß weg" auf der anderen Seite. 

In der öffentlichen Meinung gab es, ähnlich wie in der Entspannungszeit der 70er Jahre, optimistische Hoffnungen. Man sprach von einem Durchbruch in den deutsch-deutschen Beziehungen und hoffte auf eine "Koalition der Vernunft" – mit Honecker. Ich war skeptisch und schrieb zum Abschluß seines Besuches am 13. September 1987:

"Zu einem wirklichen Durchbruch in den deutsch-deutschen Beziehungen kann es erst dann kommen, wenn die Absichts­erklärungen zur Realität werden, Ausreisen und Besuchsreisen nicht mehr vom Wohlwollen der Behörden und dem Wohlverhalten der DDR-Bürger abhängen, sondern als Recht verankert sind, wenn es zu einem geregelten Zeitungsaustausch kommt, wenn die Städtepartnerschaften sich nicht nur auf Beamte und Funktionäre beschränken, sondern im weiten Umfang ungehinderte Begegnungen von Menschen der beiden deutschen Staaten ermöglicht.

All dies würde aber auch innere Reformen in der DDR selbst voraussetzen: mehr Diskussionsfreiheit, offene kritische Betrachtungen über die Vergangenheit und über die gegenwärtigen Probleme, die Bereitschaft zu Reformen, die Verselbständigung der .Blockparteien' gegenüber der SED, die Unabhängigkeit der Justiz, ein starkes Eigengewicht einer künftig demokratisch zu wählenden Volkskammer, die Befreiung der Medien, der Kultur und Wissenschaft von der Bevormundung durch die herrschende Staatspartei und damit, vor allem, größere Freiräume für die Bürger der DDR.

Erst wenn sich in der DDR Reformen vollziehen, dann würden sich die deutsch-deutschen Beziehungen schnell verbessern, dann würde der 'Durchbruch' erfolgen und die 'Koalition der Vernunft' zur Realität werden."

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Noch zwei Jahre mußte ich warten, bis sich endlich mein größter Wunsch in meinem Leben erfüllte: die friedliche Revolution in der DDR, der Sturz des Honecker-Regimes, die Hunderttausende von Menschen mit ihren Rufen "Wir sind das Volk", die Aufgabe des Monopolanspruchs der SED in der Verfassung, die Herausbildung neuer eigenständiger und unabhängiger Reformbewegungen, die beginnende Loslösung der Blockparteien von der SED, die offenen und freien Diskussionen ... Gern gebe ich zu, daß mir bei den Fernsehübertragungen nicht selten die Tränen kamen. 

Es gibt für mich keine größere Hoffnung als die Fortsetzung der Demokratisierung der DDR, die Erringung einer Rechtssicherheit, freie und geheime Wahlen bei Chancen­gleichheit, eine frei gewählte Volkskammer, eine gesicherte Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs-, Presse- und Medienfreiheit, die Befreiung der Wirtschaft von den Fesseln einer bürokratisch-zentralistischen Planwirtschaft und die Befreiung der Schulen und Hochschulen von einseitiger politischer und weltanschaulicher Ausrichtung. Vor allem aber liegt mir an einer wahrheitsgetreuen Aufarbeitung der DDR-Geschichte, eine Überwindung der vielen "weißen Flecken" und der bisherigen historischen Fälschungen, da die Wahrheit über die Vergangenheit die moralisch-ethische Voraussetzung für die Reform­entwicklung in Gegenwart und Zukunft ist.

Die Demokratisierung in der DDR wird, so hoffe ich, sich in eigenständiger Form verwirklichen. Nichts würde mir ferner liegen, als in Kategorien eines Anschlusses der DDR zu denken oder bundes­republik­anische Institutionen einfach auf die DDR übertragen zu wollen. Im Gegenteil. Es wäre für mich eine besondere Freude, wenn es einer demokratisierten DDR gelingen würde, Pluralismus, demokratische Freiheiten und Menschenrechte in eigenständiger Form und auf selbständige Art zu verwirklichen. 

Ich hoffe, die Reformer in der DDR werden aus den Erfahrungen der Sowjetunion, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, aber auch aus der Entwicklung der Bundesrepublik manches lernen können; ich hoffe aber auch gleichzeitig, daß sie nur das übernehmen werden, was ihnen, ausgehend von den eigenen Traditionen und Bedingungen der DDR, am meisten entspricht.

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Manderscheid/Eifel, Januar 1990,
Wolfgang Leonhard

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