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    Teil 1  Langeweile, Überdruß und Trübsinn - Die Geographie der Nacht-Landschaft  

Keen-1992

1. Die Epidemie der Langeweile

 

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»Langeweile« steht in den westlichen Gesellschaften in der Rangfolge sozial bedingter Krankheiten auf dem ersten Platz. Dieser Gemütszustand hat epidemieartige Ausmaße angenommen. Und je weiter man sich der künstlichen Welt der Einkaufspassagen nähert, desto undurchdringlicher wird der psychologische Nebel.

Doch leider springt die Langeweile nicht so stark ins Auge wie eine Krebserkrankung. Sie ist ein Dämon von minderer Klasse, grau und anonym. Es gibt keine Anti-Langeweile-Wochen, keinen Feldzug gegen Lebensüberdruß, keine Anonymen Gelangweilten, keine Stiftung zur Abschaffung der Monotonie. Dennoch kriecht der amorphe Klecks über unser Land wie ein Riesenpilz in einem Science-fiction-Film der billigeren Machart. Langeweile verschlingt unsere unschuldige Begeisterungsfähigkeit und zerstört unsere Träume.

Sie schleicht sich in den kleinsten Winkel unseres Lebens, das unsere Ermüdbarkeit innerlich darauf vorbereitet hat. Meist bleibt diese Seuche aber unsichtbar. Sie lahmt unsere Wahrnehmungskraft nämlich auch dann noch, wenn sie sich bereits in unserer Seele ausgebreitet hat. So viele von uns leiden unter dieser Krankheit, daß wir sie als normalen, unausweichlichen Bestandteil der Lebensweise im 20. Jahr­hundert betrachten.

Der Fisch weiß nicht, daß er im Wasser schwimmt. Wir haben gelernt, uns mit langweiligen Jobs, depri­mier­enden Städten, lebensfeindlichen Bürokratien, der Fernseh-Wüste und einer fehlgeleiteten Politik abzufinden — frei nach dem Motto: so ist nun mal das Leben. Lebendige Menschen, voller Saft und Kraft, die sich mit wenigen einfachen Dingen zufriedengeben, sind rar geworden. Weisheit gilt als obsolete Tugend, nach der man in den Lebenszeugnissen bedeutender Männer und Frauen der Vergangenheit sucht. Und das Erstaunen, das die antiken Philosophen als Ziel und Lohn eines guten Lebens priesen, gibt auch keine Titelgeschichte im Rolling Stone [amerikanische Musikzeitschrift] oder in Newsweek [amerikanisches Nachrichtenmagazin] her.

Eine allgemeine Unzufriedenheit bestimmt uns: die Sisyphus-Krankheit, die aus unserem Inneren kommt. Unauffällig saugt uns irgendein Vampir das Lebensblut unseres Enthusiasmus (aus dem Griechischen entheos, »von Gott inspiriert«) und unserer Hoffnung aus den Adern — jenen Geist, den man in alten Zeiten »Seele« nannte. Besonders beängstigend ist aber: Ohne Wider­spruch zu erheben, lassen wir zu, daß unsere Vitalität langsam dahinschwindet. Vielleicht hat sich die Langeweile zu einem derart normalen Bestandteil der modernen, von Technik und Technologie bestimmten Gesellschaft entwickelt, daß wir unser Krank-Sein nicht einmal bemerken — es jedenfalls ohne Gegenwehr akzeptieren. Und so werden wir nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern sterben.
     Und wie fühlen Sie sich?

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Vielleicht wachen Sie eines Morgens auf, und in Ihrer Seele herrscht ohne erkennbaren Grund Februar­stimmung. Grauer Alltags-Montag. Es ist Ebbe, bis auf Sandbänke nichts zu sehen. Doch spüren Sie keinen besonderen Schmerz, lediglich eine große, schmerzende Leere und große Unrast. Alles Aufregende ist aus Ihrem Leben entwichen. Nur eine schmale Reihe verstreuter Erinnerungen ist am Strand zurückgeblieben und markiert die zurückgehende Flut Ihrer Leidenschaften. Sie denken an Ihre Arbeit, Ihre Ehe, den Urlaub, den Sie im August antreten wollen aber alles kommt Ihnen schal und fad vor. Kaum etwas ist Ihnen wirklich wichtig. Sie haben keine glühenden Träume, keine lebendigen Hoffnungen mehr, nicht einmal für Empörung bleibt Raum. So leben Sie ganz mechanisch, ohne Gefühl, von Tag zu Tag. Und ein jeder Tag trägt das gleiche, fade Gesicht.

Und wie lange geht das schon so? Sie können sich kaum daran erinnern.

Vielleicht setzte die Langeweile in der Woche nach Ihrer Pensionierung ein, oder als die Kinder die Schule verließen, und Sie auf einmal nicht mehr gebraucht wurden. Zwar versuchten Sie die Tage durch Hobbys zu füllen, aber die Zeit verging quälend langsam. Sie erledigten kleinere Arbeiten im Haushalt, traten einem Verein bei oder spielten dreimal in der Woche Golf. Doch wenn Sie nichts zu tun hatten, überkam Sie eine namenlose Traurigkeit, und die Zukunft lag vor Ihnen wie eine unfruchtbare Wüste.

Vielleicht arbeiten Sie auch in einer Fabrik der Electric Hose and Rubber Company, in der Schicht von drei bis elf Uhr. Zwar arbeiten Sie bereits sieben Jahre dort und sind in der Betriebshierarchie auch ein wenig aufgestiegen: Aber Sie sind noch jung. In letzter Zeit sind Sie, weil die Tätigkeit so monoton ist, zunehmend niedergeschlagen.

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Nachdem Sie 12.000 Heizschläuche zugeschnitten und zu Strängen gebunden haben, oder überwacht haben, wie eine Strangpresse das endlose Band eines Polyvinylchlorid-Rohres herauspreßt, fühlt sich Ihr Geist wie tot an. Vielleicht sind Sie nur dieser besonderen Tätigkeit überdrüssig. Aber warum sind Sie dann so deprimiert, so tief in diese Sackgasse geraten?

Vielleicht stecken Sie auch in der Zwickmühle, die so viele Jugendliche erleben: Nie passiert etwas Neues in der Schule, es ist wie im Gefängnis, sechs Schulstunden à 45 Minuten — dazu noch Mittagessen und Hausaufgaben. Der Lehrplan und die Lehrer schreiben einem vor, was man angeblich zum eigenen Nutzen lernen muß. Und nach Schulschluß ist auch noch eine Menge zu tun. Also treiben sie sich herum und rauchen mit den Freunden einen Joint.

Oder Sie sind arbeitslos. Dafür können Sie zwar nichts, aber Sie fühlen sich trotzdem miserabel und verlieren allmählich Ihr Selbstbewußtsein. Schier endlos dehnen sich die Tage vor Ihnen.

Wie kann man sich gegen diesen Zustand zur Wehr setzen? Die Zeitung lesen — möglicherweise findet sich in den Kleinanzeigen ja irgend etwas Brauchbares; dann bis Mittag auf den Anruf der Firma warten, die Ihnen vielleicht einen Arbeitsplatz anbietet. Nachmittags gehen Sie in die Stadt, wobei Sie sich eines geschäftigen Gebarens befleißigen. Sie widersetzen sich dem Impuls, etwas zu trinken oder bis spät in die Nacht vorm Fernseher zu hocken. So tief wollen Sie nun auch wieder nicht sinken.

Sind Sie so wie die meisten Menschen, dann werden Sie der Langeweile vermutlich keine Beachtung schenken und statt dessen hoffen, das werde schon wieder vorübergehen.

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Oder Sie werden sich ein Hobby zulegen. Oder eine Affäre anfangen. Oder sich scheiden lassen. Oder ein neues Geschäft eröffnen. Oder ständig zu tun haben. Oder essen, um die Leere zu füllen. Wenn nichts davon funktioniert, versinken Sie in Depressionen und fragen sich, was eigentlich mit Ihnen los ist. (Stellen Sie sich die Langeweile als eine ganz normale Erkältung vor, und Depressivität als eine Lungenentzündung).

Wenn Sie es sich leisten können und keine Angst vor dem Blick ins eigene Innere haben, beginnen Sie eine Therapie. Geht das nicht, bringen Sie Ihren Hausarzt dazu, Ihnen Tranquilizer oder Medikamente zur Stimmungs-»aufhellung« zu verschreiben. Oder Sie fangen an zu trinken. Oder versuchen, die schwierige Situation durchzustehen.

Dennoch fühlen Sie sich einsam — aber das sind Sie nicht. Zwar gibt es nur wenige genaue Statistiken, doch aus dem drastischen Anstieg der Selbstmordversuche und den Verkaufszahlen für Antidepressiva läßt sich ablesen, daß die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung zu irgendeinem Zeitpunkt im Leben an Langeweile und Depressionen leidet. Psychiater berichten, daß die meisten Patienten heute nicht in die Sprechstunde kommen, um ihnen ihr Leid zu klagen, sondern weil sie unter einem Gefühl der Leere leiden. »Doktor, ich fühle einfach nichts mehr. Mir fehlt irgend etwas, aber ich weiß nicht, was. Es muß doch noch mehr im Leben geben.«

Die Werke der literarischen Moderne warnten uns vor dieser spirituellen Malaise — längst bevor die psychiatrischen Kliniken mit Patienten überschwemmt wurden, die an Depressionen erkrankt waren.

Schon 1936 schrieb George Bernanos in seinem <Tagebuch eines Landpfarrers>:

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Ich sagte mir also, die Welt wird vom Stumpfsinn aufgefressen. Natürlich muß man ein wenig nachdenken, um sich das klar zu machen, man erfaßt es nicht sogleich. Es ist wie Staub. Solange man mit Gehen und Kommen beschäftigt ist, sieht man ihn nicht, man atmet ihn ein, man ißt und trinkt ihn, und er ist so fein und dünn, daß er einem nicht einmal zwischen den Zähnen knirscht.

Sowie man aber einen Augenblick stehenbleibt, hat man Gesicht und Hände über und über bedeckt von ihm. Man muß ständig in Bewegung sein, um diesen Aschenregen von sich abzuschütteln ... Ich frage mich aber, ob die Menschen diese ansteckende Krankheit, diesen Aussatz je erkannt haben. Eine Frühgeburt von Verzweiflung, eine scheußliche Form der Verzweiflung, entsprechend dem Gärungsergebnis eines zersetzten Christentums ... Denn wenn unser Geschlecht untergehen soll, dann wird es an Überdruß und Stumpfsinnigkeit untergehen ... 

[Zum Beispiel diese Massenkriege, die von einer wunderbaren Tatkraft des Menschen zu zeugen scheinen und tatsächlich nur dessen stets wachsende Gefühllosigkeit ankündigen ... Sie werden schließlich zu jeweils festgesetzten Zeiten ungeheuere, in ihr Schicksal ergebene Herden zur Schlachtbank führen.]

 

T. S. Eliot skizziert die Konturen der modernen Wüste und zeigt uns in J. Alfred Prufrock einen Mann, dem jede Leidenschaft verlorengegangen ist:

Denn alle hab ich schon gekannt, sie all gekannt
Der Nächte, Morgen, Nachmittage Kreis, 
Ich vertat mein Leben kaffeelöffelweis;  
      (Dt. von Klaus Günther Just)

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Hemingway stimmt eine ähnliche Litanei an, über eine Welt, in der die Erfahrungen der Leere an die Stelle der Hoffnung und der Aussicht auf ein befriedigendes Leben getreten sind. In der Story »Ein sauberes gutbeleuchtetes Cafe« erzählt er die Geschichte eines alten Mannes, dem alles im Leben mißglückt ist — sogar der Selbstmord.

Der alte Mann sitzt eine Weile in einem gutbeleuchteten Cafe, ehe er wieder in die Nacht hinausgeht. In einer Parodie des Vaterunser zieht der Erzähler schließlich die Summe des Lebens des alten Mannes: »Nada [Spanisch für »nichts«] unser, der du bist im nada, nada sei dein Name ...«

Samuel Beckett zeigt uns das Absurde in Warten auf Godot. Da fragt der eine Landstreicher den anderen: »Glaubst du an ein Leben nach dem Tode?« Und der antwortet: »Mein Leben ist immer so gewesen.« In Paddy Chayevskys Marty findet sich eine unvergeßliche kleine Szene, in der sich zwei junge Männer, die am Samstagabend »herumlungern«, weil sie nichts mit sich anzufangen wissen, immer wieder gegenseitig fragen:

Was möchtest du jetzt machen, Marty? 
Ich weiß nicht. 
Und du, Angie? 
Ich weiß nicht, Marty. Und du?

Langeweile läßt sich besonders schwer diagnostizieren und behandeln, weil es sich um eine Krankheit handelt, die im Verborgenen bleibt. Wir schämen uns ihrer. Wie Schuld oder Scham, so verstecken wir auch die Langeweile hinter einem Vorhang aus Schweigen und Leugnen. 

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Während der Vorgespräche zu diesem Buch stellte ich fest, daß die meisten Menschen allzu lebhaft protestieren und behaupten: »Ich langweile mich nie!« Als ich eine hübsche junge Mutter fragte, ob sie sich je langweile, erwiderte sie: »Niemals. Ich mache immer irgend etwas. Dafür habe ich keine Zeit.« Eine Woche darauf rief sie mich an und bat mich um ein weiteres Gespräch. »Als Sie mich fragten, ob ich mich langweile, habe ich das bestritten«, sagte sie. 

»Aber als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, daß ich mich ständig langweile, nur habe ich mich geniert, es zuzugeben. Ich habe ein schlechtes Gewissen deswegen. Was für ein Recht habe ich, mich zu langweilen? Ich habe doch alles: ein schönes Zuhause, ein Kind, das ich liebe. Ich mache Urlaub in exotischen Ländern. Wenn ich wollte, könnte ich eine Arbeit annehmen, sogar eine Affäre beginnen. Ich habe keine Ausrede für mein Gefühl der Langeweile, niemand hindert mich daran, etwas dagegen zu tun. Trotzdem habe ich nicht wirklich Spaß am Leben. Ich schäme mich dafür. Das Leben bietet mir soviel Schönes und Wertvolles und dennoch kann ich mich nicht daran freuen. Ich komme mir leblos vor, ich kann mich einfach für nichts begeistern.«

Amerikaner sind ganz besonders ängstlich und scheuen das Eingeständnis, daß sie sich langweilen. Sie sehen sich als Erfolgsmenschen. Das Recht auf das Streben nach Glück ist ja auch in der Verfassung ihres Heimatlandes verankert. Durch Fleiß und Phantasie haben wir ein Gemeinwesen erschaffen, das mehr materiellen Reichtum angehäuft hat als irgendeine Gesellschaft zuvor. Die meisten Menschen leben in einem materiellen Luxus, um den die Könige des Mittelalters sie beneidet hätten. In Wirklichkeit aber haben wir die Krankheit der Könige demokratisiert. Heute kann sich jeder ein Leben im Überdruß leisten.

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Um uns ein richtiges Bild darüber zu machen, in welchem Ausmaß unser Leben von der Langeweile geprägt ist, müssen wir die Nebenwirkungen betrachten — die Mittel, durch die wir unsere Substanz vergeuden, wenn wir diesem Ungeheuer zu entfliehen suchen, das uns gar nicht verfolgt. Unsere rasende Flucht (wie auch die Strategien, um die Leere zu vermeiden) zeigt uns treffend, wie sehr wir das fürchten, was die Mönche im frühen Christentum den »Dämon des Mittags« nannten. Welchen Preis zahlen wir nun, um das falsche Selbstbild aufrechterhalten zu können, das uns einredet, wir seien widerstandsfähige, keinen-Tag-in-der-Woche-gelangweilte Extrovertierte, die alles im Griff haben? Was sind die versteckten Kosten, die auftreten, wenn wir bestreiten, daß wir uns langweilen? 

Im folgenden seien einige Ersatzhandlungen genannt, mit denen wir besonders gern der Langeweile ausweichen.

*

Immer beschäftigt sein. (Müßiggang ist aller Laster Anfang). Immer dran bleiben. Wer rastet, der rostet. Arbeite und schaffe. Wir sind, was wir tun. Bist du in Rente oder hast du viel Freizeit, lege dir ein »Hobby« zu.

Geschwindigkeit. Wir sind ständig in Bewegung. Unsere Lieblingsdrogen sind Koffein und Zucker. Lasse niemals zu, daß dein Körper, deine Seele oder die Volkswirtschaft zur Ruhe kommt. Stimuliere dich und andere. Wir sind süchtig nach dem eigenen Adrenalin. Geschwindigkeitsfanatiker.

Konsumiere. Iß. Füll die Leere. Entsteht ein Bedürfnis, dann befriedige es durch sofortiges Essen, schnellen Sex oder den Kauf des neuesten Gerätes der Unterhaltungselektronik. Geh einkaufen.

Unterhalte dich. Fülle die Zeit. Stöpsel dein Nervensystem in ein Radio oder einen Fernsehapparat.

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Worin bestehen nun die Auswirkungen unserer Flucht vor der Langeweile? 
Was ist der Preis, wenn wir unsere Krankheit leugnen?

Müdigkeit. Immer sind wir abgespannt. Unsere Nerven ebenso wie unsere Volkswirtschaften werden durch die Zufuhr künstlicher Stimulanzien stark strapaziert. Geschwindigkeitsfanatiker altern schnell. Wir leiden unter einer massiven Energiekrise. Auf der psychologischen Ebene bezeichnet man sie als Depression, in wirtschaftlich-politischer Hinsicht als Rezession oder Stagnation. Doch wie man das Phänomen auch nennt, es bleibt eine Depression. Das suchtartige Verlangen nach ständigen Reizen kettet uns an Drogen und macht uns blind für die Freuden eines langsameren, »stetigen« Lebens. Alle unsere Ängste richten sich darauf, unsere »Energie«-Quellen auszubeuten. Der manischdepressive Kreislauf, das ist der way of life. Psychische, spirituelle und wirtschaftliche Erschöpfung bilden die Kehrseite des Drangs nach unablässigem, intensivem Erleben, Fortschritt und »Wachstum«. So folgen wir also Satchel Paiges Rat: »Schaue nie zurück - es könnte sein, daß dir jemand im Nacken sitzt.«

Gewalt. Unsere Liebe zur Gewalt entspringt dem verzweifelten Bedürfnis, unsere erschöpften Körper etwas empfinden zu lassen. Lieber üben wir Gewalt gegen Sachen und Menschen, als uns mutig der inneren Leere stellen.

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Die Gewalttätigkeit hat viele Gesichter:

 

1. Ehescheidung. Wir reißen Familien auseinander. Fast die Hälfte von uns haben sich vom Partner getrennt und sind geflüchtet, statt den Boden einer brachliegenden Ehe zu düngen. Uns ist der Glaube verlorengegangen, daß man den unfruchtbaren Winter überstehen muß, ehe wieder neues Leben wachsen kann. Wir fordern, unsere Beziehungen müßten immer »interessant« und »aufregend« sein und »wachsen«.

 

2. Drogen stimulieren die abgestorbene Psyche und die steril gewordene Phantasie. Es ist das »Gras«, das die Felder der Einbildungskraft wieder grün werden lassen soll, die »Erziehung« und Arbeit versengt haben. Amphetamine und »Depressionslöser« sollen die Stimmung all jener aufhellen, die keine tiefen Gefühle ertragen können. Alkohol betäubt den Schmerz über den Verlust der Leidenschaft und bringt unser Gewissen - wenn auch nicht ganz - zum Schweigen.

 

3. Über jugendliche Straftäter erregen wir uns deshalb, weil sie praktizieren, was die Medien predigen - nämlich, daß sich Gewalt auszahlt. Warum wundert es uns eigentlich, daß unsere Jugend von der Gewalt nicht loskommt, nachdem 25000 Morde und die gleiche Anzahl der unterschiedlichsten Verbrechen über den Bildschirm geflimmert sind?

Hierzu schreibt der Dramatiker Arthur Miller in seinem Artikel: »Die Gelangweilten und die Gewalttätigen«:

Niemand weiß, was Straffälligkeit »verursacht«. Doch nachdem ich einige Monate mit den Mitgliedern einer Jugendbande auf der Straße verbracht habe, kam ich zur ... folgenden Überzeugung: daß nämlich das zugrundeliegende Problem die Langeweile ist ... Die Menschen scheinen nicht mehr zu wissen, warum sie leben. Die Existenz ist zu einer Folge von Beinahe-Erfahrungen geworden, unterbrochen nur von Phasen betäubender spiritueller und psychologischer Stagnation, und ein gutes Leben ist im Grunde eine Frage des Amüsements ...

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Der Straffällige ist von seiner Langeweile gefangen, er sitzt in ihr fest, ist an sie gekettet, bis er zwei, drei Minuten lang »lebt«; er begeht einen Überfall in der unmittelbaren Nachbarschaft und findet es aufregend, wenn er eine mit Benzin gefüllte Flasche einem anderen Jungen auf den Schädel knallt. In gewisser Weise ersetzt das seinen Trip nach Miami. So hat er was vom Tag. Das ist seine Einkaufs-Tour. So hat er etwas, dessen er sich eine Woche lang brüsten kann. Es ist das Leben. Herumzulungern und nicht zu wissen, was man tun soll - näher kann man dem Tod im Leben kaum kommen. Nur wenn man die Kraft der Langeweile begreift, die Bedrohung, die davon für das eigene Dasein ausgeht, kann man den jugendlichen Straftäter in die menschliche Gemeinschaft zurückführen, ihn »resozialisieren«.

Gleichwohl verbirgt sich in Straftaten wie Einbrüchen oder Ladendiebstählen eine eher geringfügige Gewalt. Die wahrhaft großen Gewalttaten sind Selbstmord und Krieg.

 

4. Der Selbstmord ist die Gewalttat des Introvertierten - Krieg die Gewalttat für Extrovertierte. Die Selbstmordrate unter Jugendlichen, Arbeitslosen und Rentnern steigt derzeit dramatisch. Weil wir unser un-gelebtes Leben verabscheuen, töten wir unser Selbst. Wenn unsere Fähigkeit zu hoffen erschöpft ist, ziehen es einige vor, ein für allemal zu sterben, statt Schritt für Schritt. Ohne Arbeit oder Werte ist das Leben leer. Lieber den einzigen »Ausweg« wählen, als sich dieser Leere stellen. Immer wieder tauchen in Briefen von Selbstmördern Sätze auf wie: »Ich bin müde.« / »Ich kann nicht mehr.« / »Mir fehlt aller Lebensmut.« / »Es gibt nichts mehr, wofür sich zu leben lohnte.« / »Mehr kann ich jetzt nicht mehr tun.« / »Ich möchte meine Ruhe haben.« / »Meine Seele ist tot.« / »Ich spüre, wie mir alles entgleitet.«

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5. Der Krieg ist die größte vorstellbare Ablenkung. In regelmäßigen Abständen opfern Nationen das Blut ihrer Soldaten, um eines Abenteuers willen, das sich als Ehre ausgibt. Durch Gewalttätigkeiten meinen wir lebendig zu werden. Kriege ermöglichen es, heroisch zu handeln und intensive »Erlebnisse« zu haben. Wenn uns das Leben allzu komfortabel erscheint, schleicht sich die Langeweile ein; dann sehnen wir uns nach der Erregung, die der Krieg uns bietet. (In Kriegszeiten sind die Selbstmordzahlen rückläufig.) Der Krieg entlastet uns vom Lebensüberdruß. Anläßlich des Jubels der Wiener Volksmassen im August 1914 schrieb Leo Trotzki: »Es gibt viele Menschen, deren Leben tagaus, tagein in monotoner Hoffnungslosigkeit verläuft; diese Menschen sind die Stützen der heutigen Gesellschaft. Die Erregung der mobilisierten Massen bricht in ihr Leben ein wie ein Versprechen; das Vertraute und seit langem Verhaßte wird gestürzt, und an ihrer Stelle herrscht nun das Neue und Ungewöhnliche.

Die Zukunft hält noch unglaublichere Veränderungen für sie bereit. Zum Besseren oder zum Schlechteren? Zum Besseren natürlich, denn was ist schlimmer - als der Normalzustand.«2)

 

6. Krankheit. Wie oft wollen wir vor etwas flüchten, wenn wir krank werden? Jeder Hypochonder weiß, es ist besser zu leiden, als der inneren Leere standzuhalten. Eine Figur bei Faulkner sagt: »Habe ich die Wahl zwischen dem Nichts und dem Kummer, dann wähle ich den Kummer.« Jede Erkrankung durchbricht unseren Alltag.

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Manche Fachleute auf dem Gebiet der psychosomatischen Medizin verweisen darauf, daß Krebs und andere lebensbedrohliche Krankheiten mitunter den Versuch darstellen, in ein erstarrtes Leben ein Moment des Neuen zu bringen. Die Krankheit löst dann eine krisenhafte Entwicklung aus: Verändere dich oder stirb!

Sicher erkennen wir alle, in welch großem Umfang wir uns täglich Gewalt antun. Wir sorgen uns und leben in ständiger Angst. Man muß schon ein ungewöhnlicher Mensch sein, um länger als drei Tage hintereinander Glück ertragen zu können.

Warum aber unterhalten wir diese Liebesbeziehung mit dem Leiden? Was ist denn schlimmer als seelischer Schmerz? Vielleicht das Nichts. Eher machen wir dem Streß und der Krankheit den Hof, als daß wir innere Zufriedenheit anstreben. Warum aber empfinden wir die psychologische, spirituelle und körperliche Gesundheit als so bedrohlich?

Registrieren wir langsam die Kosten unserer »normalen« Bemühungen, das Sinn-Vakuum in unserem Leben zu füllen, wird es Zeit, unsere Krankheit aus dem Geheimen hervorzulocken. Hierzu bemerkt Bertrand Russell: »Die Langeweile ist für den Moralisten ein hochwichtiges Problem, da mindestens die Hälfte aller Sünden der Menschheit der Furcht vor ihr entspringt.«3)

Wenn wir es wagen, diesem Dämon ins Gesicht zu blicken, sind wir vielleicht in der Lage ihn zu zähmen, statt uns mit aussichtslosen Fluchtversuchen zugrunde zu richten. Aber wenn wir ruhig dasitzen und über die Leere meditieren, auf der unser manisches Streben und unsere Zerstreuungen beruhen, läßt sich das Ungeheuer, das wir zeitlebens gefürchtet haben, als verkleideter Engel durchschauen. Indem wir den Weg durch das Labyrinth unserer Krankheit suchen, stoßen wir möglicherweise auf den Pfad der Gesundheit.

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Im vorigen Jahrhundert kursierte unter Ärzten folgendes Sprichwort: »Wer die Syphilis kennt, kennt sich aus in der gesamten Medizin.« (Weil die Syphilis sich in einer Vielzahl von Symptomen zeigte). Dasselbe ließe sich über die Langeweile sagen: Sie ist Bestandteil aller Krankheiten. Eine neurotische Störung langweilt uns, und eine psychotische Erkrankung jagt uns enorme Angst ein. Erkenne deine Langeweile, dann erkennst du dich selbst.

Auf unserem Weg ins Nacht-Land, das heißt, ins Herz der Langeweile werden uns alle wesentlichen Themen der Psychologie begegnen: Schuld und Scham, Freiheit und Zwang, Wille, Phantasie, Gefühl, Empfindung. Wenn Sie untersuchen, was Sie langweilt, verstehen Sie vielleicht, was Sie antreibt, was für Werte Sie haben und welche Risiken Sie eingehen müssen, damit Sie bis ans Ende Ihrer Tage wahrhaft lebendig bleiben.

Die grundlegende Strategie, die ich zum erfolgreichen Umgang mit der Langeweile und der »Traurigkeit« vorschlage, heißt: 

Nehmen Sie sie an. Versuchen Sie es nicht mit positivem Denken. Denn eine Grundregel der menschlichen Psyche besagt: Was man abwehrt, bleibt bestehen. Wer vor Langeweile­erfahrungen und Depressionen flüchtet, wird sein Leben lang davonlaufen. Geben Sie sich diesen Gefühlen hin. Versenken Sie sich in ihnen. Studieren Sie Ihre Krankheit, und Sie werden gesunden. Rufen Sie sich Ihre neurotischen Zyklen in Erinnerung, dann können Sie sie in Minuten statt in Wochen durchlaufen. 

Der Umgang mit einem »negativen« Gefühl gleicht einer Wildwasserfahrt im Grand Canyon: Die größte Gefahr, die von den schäumenden Stromschnellen des Colorado Rivers ausgeht, besteht darin, aus dem Boot geschleudert zu werden und in einen Strudel oder eine Rollwelle zu geraten, die uns in die Tiefe reißt. Wenn man sich zu früh bemüht, wieder aufzutauchen, ist die Wahrscheinlichkeit, daß man ertrinkt, am größten. Doch wenn man tief hinabtaucht, wird einen die Strömung sieben Meter weiter stromab an die Oberfläche spülen. 

Die philosophische und psychologische Sicht, auf der die hier vorgestellten Diagnosen und Anregungen beruhen, besagt: Langeweile und Depression sind Krankheiten, mit denen sich die Psyche selbst zu heilen sucht. Es sind Einladungen, sich auf eine Abenteuerfahrt ins eigene Innere zu begeben, in die eigenen Tiefen hinabzusteigen und neu geboren zu werden. Das Bewußtsein der Langeweile ist das Tor zur Helden-Fahrt. 

Wenn Sie dies im Sinn behalten, tauchen Sie am Ende womöglich gestärkt und voller Staunen wieder auf. Grau ist der Grundton der Melancholie und der Ewigkeit. Steigen Sie tief hinab und begeben Sie sich auf die Suche danach.

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