Sam Keen 

Es lohnt sich nur 
der Weg nach innen

Über das kreative 
Potential der Langeweile

Inward Bound 

 

1992 by bei Bantam Books 

1993 by Ernst Kabel Verlag 

1996 by Gustav Lübbe Verlag 

Sam Keen :  Es lohnt sich nur der Weg nach innen  (1992)   Über das kreative Potential der Langeweile   

1992

300 Seiten

DNB.Buch 

Bing.Buch

 

detopia:

Start Keen

1994-Leere 

 

Üb: Michael Benthack

Inhalt

Kein Regenbogen ohne dunkle Wolken  (7) Einleitung

Anmerkungen  (284)    

Namens- und Sachregister  (287)

Verlagstext:

Immer prickelnder, außergewöhnlicher und gefährlicher müssen die Anreize heute sein, damit sich der Mensch überhaupt noch spürt. Wer ist in einer Zeit, in der hektische Betriebsamkeit oberstes Gebot ist, überhaupt noch in der Lage, zur Ruhe zu kommen, mit sich allein zu sein, ja, sich zu langweilen?  

Denn gerade die Langeweile — so Sam Keens These — ist der Zustand, in dem sich der Mensch seiner wahren Gefühle, und besonders der negativen wie Depression, Trauer, Erschöpfung, am ehesten bewußt wird. 

Da man uns aber gelehrt hat, daß Langeweile etwas Schlechtes ist, greifen wir zu allen erdenklichen Mitteln, um ihr zu entfliehen und vertun damit die Chance, das vollständige Potential unserer Gefühle kreativ zu nutzen: zu positiver Veränderung, zu dem Weg nach innen, der letztlich zu mehr Lebens­qualität führt. 

Teil 1

Langeweile, Überdruß und Trübsinn: Die Geographie der Nacht-Landschaft

1. Die Epidemie der Langeweile  (16) 

2. Eine kurze Geschichte der Traurigkeit und des Dämons des Mittags  (32)  

3. Lebensstile: Flüchten, kämpfen oder sich verstecken  (57)  

4. Eine Landkarte für Psychonauten  (64)  

5. Müdigkeit: Die Energiekrise des Individuums  (71) 

6. Einfache Langeweile: Monotonie  (85) 

7. Chronische Langeweile  (111) 

8. Seelenfinsternis: Depression und Apathie  (139) 

Teil 2

Das gesunde, ganzheitliche Leben Die Aufwärts-Spirale: Eine Vorausschau (152) 

 9. Die fröhliche Kunst des Nichtstuns  (155)
10. Ausbrechen: Jenseits von Schuld und Scham  (167) 
11. Die Erneuerung der Phantasie und des Verlangens  (179) 
12. Sich-lebendig-fühlen: Das Eis der Gefühle auftauen  (188) 
13. Mut zum Risiko  (209) 
14. Vom Sex zur Intimität  (232) 
15. Depression und Hoffnung  (256) 

    

Einleitung  

Kein Regenbogen ohne dunkle Wolken 

7-14

Solange ich zurückdenken kann, habe ich mir ein Leben voll bunter Eindrücke und Erfahrungen gewünscht. Alle in Technicolor. Kein Grau, kein Braun, keine dunklen Schatten sollte es darin geben. Ich wollte alles schmecken, berühren und ausprobieren und das Kaleidoskop menschlicher Möglichkeiten sehen. Lieber brennen, als rosten. Selbst in meinem Namen: Keen* klingt an, daß es mir bestimmt war, ein intensives, gefahrvolles Leben zu führen.  * deutsch: scharf, schneidend; im übertragenen Sinn auch wißbegierig und stark interessiert an etwas sein.

Ein ewiger Forscher wollte ich sein und meine Grenzen immer weiter stecken. Mein Intellekt war scharf und ruhelos, und ich schliff meine Zweifel zu Fragen, die ich jedem ins Gesicht schleuderte, der sich mit vorschnellen Lösungen zufriedengab.

Fünfundzwanzig Jahre vor der Erfindung des Jogging begann ich mit dem Laufen, entschlossen, einen schlanken Körper zu erschaffen, der sich in der Bewegung heimisch fühlte. Ich hatte das Bedürfnis, mich am Abgrund der Gefahr zu bewegen. Ich rang, stieg auf Berge, tauchte, fuhr Motorrad.

Nachdem ich die akademische Karriereleiter (Doktorgrad und ordentliche Professur) erklommen hatte, gab ich die Sicherheit auf, die ich inzwischen erlangt hatte. Fortan arbeitete ich als freier Schriftsteller und hielt Vorträge. Ich zog nach Kalifornien und tauchte in die Happenings der ausgehenden sechziger Jahre ein — Revolution um jeden Preis, Encounter-Gruppen, psychedelische Bewußtseinserweiterung, neue Formen der übersinnlichen Wahrnehmung usw. Auf keinen Fall wollte ich mich in der Mitte meines Lebens langweilen und geistig träge werden. Damals sagte ich meiner Frau: »Wenn ich jemals behaupte: <ich bin zufrieden>, wisse sie, daß ich die Flamme erstickt habe, die mein Geist sei.« Schenke mir ein intensives Leben oder schenke mir den Tod.

Daß es mir damals nicht gut ging, brauche ich wohl kaum zu betonen. In Augenblicken der Aufrichtigkeit ließen Freunde durchblicken, das Zusammensein mit mir sei zwar anregend, aber auch anstrengend. Und Bekannte mit astrologischen Neigungen nickten wissend und meinten: »Genau das ist ja auch von einem Schützen zu erwarten, wenn sein Mond im ...« Ich dagegen führte alles auf mein schottisches Erbe zurück, meine unablässige Neugier und meine Lebenslust.

Als ich zerschellte, brannte und in die Dunkelheit stürzte, traf mich das völlig unvorbereitet. Nach meiner Scheidung nach siebzehn Ehejahren und einer wilden Zeit als sorgloser Junggeselle geriet ich unversehens in den Zustand, den die Mystiker des Mittelalters als »die dunkle Nacht der Seele« bezeichnet haben und die Psychologen von heute (mit weniger poetischer Ausdruckskraft und weniger Seele) lieber »Depression« oder »Midlife-crisis« nennen. Da ich schon über die Auseinandersetzung mit meinen inneren Dämonen und meine Anfänge in <The Passionate Life> sowie <Feuer im Bauch> geschrieben habe, möchte ich an dieser Stelle nicht darauf eingehen.

8


Ich will hier nur sagen, daß die dumpfe, schmerzliche Niedergeschlagenheit allmählich nachließ, als ich aufhörte, vor dem seelischen Leid davonzulaufen, und ich mich für die Nuancen unter den »negativen« Gefühlen zu interessieren begann, die die Geographie der nächtlichen Seelenlandschaft ausmachen. So stellte ich erste Untersuchungen über die Unterschiede zwischen Müdigkeit, Langeweile, Depressionen, Kummer und Verzweiflung usw. an.

Je weiter ich mich zum objektiven Zeugen der sich wandelnden Topographie meiner Gefühle machte, desto deutlicher wurde mir, daß mein ganzes Streben darauf abzielte, in meinem Leben ein hohes Maß an ereignisreicher Intensität aufrechtzuerhalten. So süchtig war ich nach dieser Gemütsverfassung, daß es offenbar keine Rolle spielte, ob ich himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt war, solange nur etwas Extremes passierte. Sich Herausforderungen zu stellen, Geist und Körper durch exzessives Arbeiten oder Spielen bis zur Erschöpfung zu treiben, erschien mir besser, als in bürgerlicher Ruhe zu verharren.

Eines Tages sah ich von meinem Wohnzimmer hinaus aufs Meer und verspürte eine leichte Langeweile. Mir fiel nichts ein, was ich wirklich aufregend gefunden oder was ich gern getan hätte. Ich litt nicht unter Depressionen, sondern war nur gefangen in meiner Reglosigkeit. Mein unmittelbarer, natürlicher Impuls war, etwas zu »machen« - koste es, was es wolle. Etwas zu tun — essen, ins Kino gehen, einen Freund anrufen, ein neues Projekt beginnen, mit meiner Frau einen Streit vom Zaun brechen. Alles, wodurch ich der Leere entflohen wäre. Dann aber tat ich etwas Ungewöhnliches — ich blieb ganz still sitzen und studierte die Umrisse der Langeweile.

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Und siehe da: Das Ungeheuer der Langeweile, dem ich zeitlebens ausweichen wollte, entpuppte sich eher als interessant denn als furchterregend. Es war gutmütig, ja freundlich, eine Erholung von der hektischen Geschäftigkeit. Während ich meinem Stoff­wechsel gestattete, sich zu verlangsamen, lernte ich die Gefühle der seelischen »Ebbe« zu genießen. Da lag ich brach und ließ mein Leben Revue passieren. Ich machte eine Art Bestandsaufnahme seiner befriedigenden und seiner unbefriedigenden Aspekte und begann mich zu fragen, was ich von der Zukunft erwarte. Schon bald wurde ich zum Kenner jener zahlreichen »melancholischen« Gefühle, die ich zuvor unter dem Begriff »Langeweile« subsumiert hatte. 

Während ich das Tempo meines Lebens verringerte, erblühte meine Vorstellungskraft, und neue Begierden entsprossen dem verbrauchten Boden. Wo zuvor nur Willenskraft und Gehetztsein geherrscht hatten, entsprangen nun die verschiedensten Gefühle. Schrittweise erlebte ich das Versprechen, das in den Mythen und den Gebräuchen alter Völker immer wieder thematisiert wird — wir entdecken die Schönheit nur dann, wenn wir die Bestie »umarmen«. Wo wir straucheln und fallen, finden wir das Gold. Unter dem Versagen liegt die Tugend. Der Stein, den die Bauhandwerker ablehnen, bildet den Eckstein. Der Schatz verbirgt sich im Müll. Wirkliches Glück stellt sich nur ein, wenn wir es zulassen, die ganze Palette unserer Emotionen zu erleben — einschließlich der Gefühle von Langeweile, Angst, Kummer, Zorn und Verzweiflung.

Immer mehr Menschen in den Gesellschaften, die wir ein wenig selbstgefällig als die »entwickelten« bezeichnen, sind heute süchtig nach einer verschwenderischen Lebensweise, die von der unablässigen Stimulation des menschlichen Nervensystems und der Volkswirtschaft abhängt.

10


Wir sind beschäftigt, beschäftigt, beschäftigt. Die »erfolgreichsten« Männer und Frauen in unserer Gesellschaft arbeiten heute fünfzig bis sechzig Stunden in der Woche. So ist es eine Ironie, wenn man sich erinnert, daß noch in den sechziger Jahren Soziologen einen radikalen Wandel im Freizeitverhalten prognost­izierten. Das Problem der neunziger Jahre dürfte darin bestehen, daß wir uns nur schwer an eine 20-Stunden-Arbeits­woche gewöhnen werden können. Statt dessen sind wir eine Nation von Geschwindigkeits­fanatikern, von Typus-A-Persönlichkeiten geworden, gefangen in der Vorstellung, Veränderungen und »Fortschritte« seien an sich schon wertvoll. Kaum erleben wir einen Rückgang, fürchten wir eine Depression und versuchen Wege zu finden, die das »Wachstum« anregen. Offenbar ist völlig die Weisheit abhanden gekommen, die die biblischen Propheten zu dem Gebot veranlaßte, einen Tag in der Woche zu ruhen und zu feiern und dem Land zu gestatten, alle sieben Jahre brachzuliegen. (Nebenbei bemerkt: Das Wörterbuch in meinem Computer hat keinen Eintrag »brachliegen«).

Als ich die Langeweile kennenlernte und das ganze Spektrum melancholischer Gefühle erkundete, gelangte ich zu der Überzeugung, die Herausbildung einer emotionalen und spirituellen Ganzheit erfordere einen psychologischen »Sabbath«: eine Zeit und einen Ort des Freiseins und der Muße. In der Zeitung von heute steht, Dr. Franz Halberg, Forscher an den Chronobiological Laboratories der Universität von Minnesota, sei aufgrund empirischer Beweise überzeugt, daß der Mensch genetisch auf einen siebentägigen Rhythmus programmiert sei. (New York Times vom 8. September 1991).

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Es hat lange gedauert, bis ich das Offensichtliche erkannte: Unablässiges Tätigsein und das Streben nach einem erregenden Leben kann eben die Energien erschöpfen, die nötig sind, um ein erfülltes Leben zu führen.

Es gibt mehrere Gründe, warum ich die Langeweile als Ariadne-Faden gewählt habe, der uns am besten auf der Reise ins Innere unserer Psyche leiten kann. Jedes unterdrückte Gefühl eitert, infiziert sich und trägt zu einer Krankheit bei, die nur geheilt werden kann, wenn man das verbotene Gefühl zuläßt. Wir können keine Emotion neu erleben, deren Existenz wir leugnen. Mehr noch: Das Reich der Gefühle »kann nicht lange halb versklavt und halb frei existieren«. (Auch eine Nation kann das nicht). Wenn wir eine ganze Klasse von Gefühlen in Ketten legen, leiden auch alle anderen Emotionen darunter. Doch in unserer extro­vertierten und aktivitätssüchtigen Kultur ist Langeweile ein Tabu.

Als ich die Bibliothek aufsuchte, um mir Literatur zu meinem Thema zu besorgen, mußte ich feststellen: es gab keine. Depressivität und Identitätskrisen sind verbreitete psychische Krankheiten, doch »Langeweile« findet in den Werken heutiger Psychologen kaum Erwähnung. Hat denn niemand nach Pascal unter Langeweile gelitten, der den Lebensüberdruß als das Hauptproblem der Menschheit bezeichnete? Eine Zeitlang fragte ich mich, ob ich unter einer der Lepra vergleichbaren Krankheit litt, die der Vergangenheit angehört. Schließlich wurde mir klar: Ich war auf ein vernachlässigtes und unerforschtes Phänomen gestoßen, das sich als Schlüssel zur Erlangung emotionaler Fülle erwies.

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Als ich entdeckte, daß die »angesagten« Emotionen unserer Zeit — Zorn und Kummer, Schuld und Scham — bereits gut erforscht waren, kam ich mir ein wenig wie eine Debütantin vor, die sich erst spät in die gesellschaftliche Saison stürzt und kein Thema mehr findet, das sie interessiert, weil »alle guten Krankheiten schon vergeben« sind. Zum Glück wollte also keiner die Langeweile haben. Da ich gerne auf Flohmärkte gehe und in Trödelläden stöbere, entgehen mir allerdings kaum günstige Gelegenheiten. Deshalb habe ich einen Weg eingeschlagen, an dessen Anfang die Langeweile steht. Denn sie ist die wichtigste nicht diagnostizierte Krankheit, an der »normale« Menschen leiden und die sich zudem leicht heilen läßt.

So haben wir Menschen also Glück. Der Weg zur Hölle ist schmal, die Straße zum Himmel hingegen breit. Ein Weg führt in die Krankheit, tausend Wege zur Gesundheit. Soll sich der eigene Zustand verschlimmern, muß man nur den eigenen Horizont, die Gefäße, den Geist, die Begeisterungsfähigkeit, das Gemeinschaftsgefühl immer weiter verengen. Doch will man gesunden, muß man sich den zahllosen Wundem und Heilkräften zuwenden, die sich in uns, außerhalb von uns und um uns herum finden. Beginnt man, die verhedderten Fäden der Krankheit aufzulösen, so lösen sich auch die Knoten und Verneinungen im Geist.

Wenn sie eines Tages aufwachen und erkennen, daß sie gefühlsmäßig verarmt sind, machen sich nicht alle Menschen sogleich auf den Weg ins eigene Innere. Statt dessen fordern sie, im Handumdrehen emotionalen Reichtum zu gewinnen. Hat man seine Krankheit erkannt, möchte man natürlich sofort geheilt werden. Doch so funktioniert die Psyche nicht. War man lange nach Alkohol, Drogen, Arbeit, schädigenden Beziehungen usw. süchtig, kann man nicht auf Anhieb sein seelisch verkümmertes Leben hinter sich lassen.

Im Reich des Geistes gibt es keine echten Aus-der-Gosse-zu-den-Sternen-Geschichten. Es erfordert viel Zeit, das ganze Spektrum der Gefühle zu erforschen und das zurückzuerlangen, was man jahrelang geleugnet und ignoriert hat. Bei der Erziehung zum emotionalen Alphabetentum müssen wir mit dem ABC beginnen ehe wir bei XYZ ankommen.

Beginnen Sie also dort, wo Sie stehen, nicht da, wo Sie gerne wären. Jede wahre spirituelle Reise beginnt im Schlamm, in der Wüste, im Sumpf, in der Einöde, nicht im siebten Himmel. Fangen Sie an mit der Erforschung der Gefühllosigkeit, der Langeweile, der Verwirrung, der Ambivalenz und der Deprimiertheit — den grauen, gescheckten und trübsinnigen Emotionen. Sie werden Ihnen den Weg weisen durch rot glühenden Zorn und quälenden Schmerz, mitten hinein ins Leben, und dort werden Sie aufbrechende, goldene Blüten frisches Grün und königliches Violett finden. Die beste Möglichkeit, ein abwechslungsreiches, farbiges Leben zu führen, besteht in der Bereitschaft, das ganze Spektrum unserer Gefühle zu erleben. Doch am Ausgangspunkt der Reise braucht man nur das Wissen, daß es keinen Regenbogen ohne dunkle Farbtöne gibt.

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