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8  Biologisch-dynamische Landwirtschaft: Dottenfelderhof 

 

 

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"... Und die wenigsten Menschen wissen ja, daß im Laufe der letzten Jahrzehnte sich innerhalb der Landwirtschaft das ergeben hat, daß alle Produkte, von denen der Mensch eigentlich lebt, degenerieren, und zwar in einem außerordentlich raschen Maßstab degenerieren."

Diese Diagnose stammt nicht aus einem Bericht des "Club of Rome" von 1974, sondern ist 50 Jahre älter. Die frühe Warnung, daß die Erzeugnisse der Landwirtschaft möglicherweise "noch im Laufe dieses Jahrhunderts nicht mehr zur Nahrung der Menschen dienen können", hat Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, 1924 formuliert. In einer Zeit, als die Krise nach dem Ersten Weltkrieg alle Fundamente des wirtschaftlichen und sozialen Lebens zerrüttet hatte, empfahl er ein neues Denken über die Grundlagen von Ökonomie und Ökologie: 

"Wir müssen wiederum neue Kenntnisse erwerben, um in den ganzen Naturzusammenhang solcher Dinge hineinzukommen. Die Menschheit hat keine andere Wahl, als entweder auf den verschiedensten Gebieten aus dem ganzen Naturzusammenhang, aus dem Weltenzusammenhang heraus wieder etwas zu lernen oder die Natur ebenso wie das Menschenleben absterben, degenerieren zu lassen."* 

Steiners Ausweg: die bewußte Schaffung eines organischen Zusammenhanges von Boden, Pflanzen und Tieren. Abschriften seiner Vorträge über die Landwirtschaft, die er vor Großagrariern auf dem schlesischen Rittergut Koberwitz gehalten hatte, kursierten lange Zeit nur unter seinen Anhängern. Erst viel später wurde der "Landwirtschaftliche Kurs" unter dem Titel "Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft" veröffentlicht. In mehrere Sprachen übersetzt, bilden diese Vorträge aus dem Jahre 1924 heute die geistige Grundlage des biologisch-dynamischen Landbaus.

* Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Grundlagen ...

Auch zur Lösung der sozialen Frage hat Rudolf Steiner in seiner Zeit, der Revolutionszeit von 1918/19, in Denkschriften an die Politiker der gerade gegründeten Weimarer Republik und in Vorträgen - meist vor Arbeitern des Industriegebietes rund um Stuttgart - neue Ideen entwickelt. Das Rechtsleben müsse sich an dem Gedanken der Gleichheit orientieren, das Geistesleben am Gedanken der Freiheit. Die Sphäre der Ökonomie aber müsse vom Gedanken der Assoziation und vom Geist der Brüderlichkeit geleitet sein. Im Rahmen seines Konzepts der sozialen Dreigliederung empfahl Steiner die Entkoppelung von Lohn und Leistung: 

"Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Arbeit für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von seinen eigenen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden."

 

Soviel wußte ich von der Geschichte, als ich mich auf den Weg nach Bad Vilbel machte. Seit 1968 leben und arbeiten dort Anthroposophen in einem kleinen sozialen Organismus zusammen und zeigen in einem hocheffizienten Modell, was organische Landwirtschaft zu leisten vermag.

Zwölf Kilometer Luftlinie von den Hochhaustürmen des Frankfurter Bankenviertels entfernt, in eine Flußschleife der Nidda geschmiegt, liegt der 150 Hektar große Dottenfelderhof. Das flache, von Hecken umfriedete Grünland der Flußaue geht in ebenes Ackerland über, das ein Stück weiter östlich ziemlich steil ansteigt und sich dann in sanften Bodenwellen bis jenseits einer Straße ausdehnt. Zwischen Fluß und Hang erstreckt sich, umgeben von Bäumen und Gartenland, die Gebäudeanlage des Hofgevierts. An dem vorgelagerten modernen Scheunen- und Werkstattkomplex entlang führt ein Weg hinauf zum Kirschberg, wo auf dem höchsten Punkt des Geländes ein Eichenhain steht. Die Holunderbüsche und Heckenrosen am Weg hängen an diesem warmen Frühherbsttag voll mit überreifen Früchten. Es riecht nach Heu. Durch den leichten Dunst, der in der Luft hängt, kann man den Hof und sein Umland gut überblicken.

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Es ist ein zusammenhängendes Terrain. In verschieden große Schläge eingeteilt, durch Streuobstwiesen, Gärten, Hecken und Baumgruppen vielfältig gegliedert, wirkt es wie eine Oase in einer verstädterten, von hektischen Verkehrsströmen geprägten Landschaft. Eine Reihe hochgewachsener Pappeln, die am jenseitigen Ufer den Flußlauf der Nidda säumen, schirmt dieses Fleckchen von der Umgebung ab. Dahinter beginnen die Gewerbegebiete und Stadtrandsiedlungen von Bad Vilbel. In dieser Randzone des Rhein-Main-Ballungsraumes ist das Land zersiedelt, von Autobahnen, Schnellstraßen und Bahntrassen durchschnitten und von Einflugschneisen des Frankfurter Flughafens überzogen. Erst weit in der Ferne zeichnet sich die ruhige Kammlinie des Taunus mit dem Feldberg ab.

 

Die Wetterau, an deren südlichem Rand der Dottenfelderhof liegt, ist uraltes Bauernland. Es gibt wohl nicht viele Plätze in Mitteleuropa, die schon so lange ununterbrochen Ackerbaustandort sind. Funde in unmittelbarer Nachbarschaft des Hofes lassen vermuten, daß schon die Kelten auf diesem Boden Landbau betrieben. Später war die Wetterau den römischen Legionären so wertvoll, daß sie über den Main gingen, um diese Kornkammer mit dem Limes militärisch zu sichern. In der Umgebung sind mehrere römische Gutshöfe nachgewiesen. Auch der Brunnen am Haupthaus des Dottenfelderhofes, der immer noch funktionsfähig ist, soll aus der Römerzeit stammen. Eine fast 900 Jahre lange Geschichte ist historisch gesichert. Als der Hof zur Zeit der Kreuzzüge, anno 1122, zum erstenmal urkundlich erwähnt wurde, gehörte er dem Kloster Ilbenstadt. Jahrhundertelang blieb das Anwesen im Besitz der Mönche. Auch wenn im 30jährigen Krieg von den ursprünglichen Gebäuden kaum ein Stein auf dem anderen blieb, so sind an manchen Stellen noch Spuren dieser Vergangenheit bewahrt: die Anlage des geschlossenen Hofgevierts, die Pforte mit dem Rundbogen, die Gemäuer aus gelbem Sandstein, die alten Kellergewölbe, vielleicht die Sonnenuhr auf der Südseite und vor allem das romanische Tonnengewölbe des Haupthauses. 

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1806 machten sich die Landgrafen von Hessen zu Eigentümern des Hofes und verpachteten ihn. Die heutige Gemeinschaft übernahm den Hof 1968, stellte den Betrieb auf biologisch-dynamische Bewirtschaftung um und konnte später einen Teilbereich um die Hofgebäude vom Land Hessen kaufen.

 

Die Erde hier oben auf den Äckern am Kirschberg ist hellbraun, fast gelblich und fühlt sich nach der langen Trockenperiode dieses Sommers spröde und krustig an. Im oberen Bereich sind die Böden vom Löß bestimmt. Ihre Fruchtbarkeit und ihr Wasserhaltevermögen haben sie also aus diesem letzten großen geologischen Ereignis der Lößanwehung bekommen. Das untere Land, auf das man vom Kirschberg herunterschaut, besteht dagegen aus sehr tonigen Schwemmlandböden, feinem Schluff, der im Laufe der Zeit von den früher häufigen Überschwemmungen der Nidda angetragen wurde. Die Böden sind also sehr unterschiedlich. Insgesamt überwiegt ein sandiger Lehmboden. Mit 68 bis 70 Bodenpunkten ist die Qualität recht gut, aber nicht außergewöhnlich. Die typischen Wetterau-Böden, die es schon in der Nachbarschaft gibt, können 90 und mehr Bodenpunkte erreichen. Anfang der 60er Jahre ist das Flußbett reguliert, tief ausgebaggert und befestigt worden. Gerade diese Maßnahmen haben die Grundwasserstände absinken lassen, so daß die Böden an der tiefsten Stelle des gesamten Geländes am anfälligsten für Trockenheit sind. "Wir müssen zumeist da beregnen, wo wir direkt am Fluß sind", sagt Martin von Mackensen, der mir die Zusammenhänge erklärt.

 

In der Aue hat die 80köpfige schwarzbunte Milchkuhherde des Hofes ihre Weide. Als ich in der Mittagszeit herunterkomme, stehen die Tiere im Stall. Der Kuhstall ist ein moderner, weiträumiger und luftiger, im rechten Winkel angelegter Bau. Das Tor führt hinaus zu einem Auslauf, von dem aus ein Zugang zur Weide offen ist. Jetzt aber stehen die Kühe in einer langen Reihe an ihren Plätzen. Zwei junge Helferinnen schleppen in schweren, grünen Bündeln Luzerne herbei. Auf dem Futterplan stehen außerdem Molke, Schrot und Kleie. Am Nachmittag ist Weidegang. Gemolken werden die Kühe an ihren Plätzen im Stall. Die Nacht verbringen sie dann wieder draußen auf der Weide am Fluß.

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Die Kühe bilden seit mehreren Generationen eine echte, bodenständige Herde. Nur Vatertiere werden zugekauft. Alle Kälbchen, die hier auf die Welt kommen, leben zunächst zwei Wochen mit der Mutter in einer Ammenbox und erhalten deren Milch. Anschließend kommen sie zu zweit oder dritt für ein Vierteljahr zu einer Ammenkuh. Zur artgerechten Tierhaltung, sagt man hier, gehört nicht nur, daß die Tiere sich bewegen können und artgerechtes Futter erhalten, sondern auch die naturnahe Aufzucht der jungen Tiere. Alles Futter ist selbsterzeugt. Die Herde lebt von diesem Land, und das Land von der Herde.

Eine durchdachtes System der Fruchtfolge auf den Äckern gehört zum Kern der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. In diesem System hat der Hof ein Viertel seiner Ackerfläche unter Klee und Luzerne. Diese Leguminosen sind das wertvolle, eiweißreiche Hauptfutter der Herde. Gleichzeitig wächst dem Acker durch die Wurzeln dieser Pflanzen Eiweiß zu. Wenn er abgeerntet ist, ist der Boden fruchtbarer als vorher. Der zweite Hebel der Fruchtbarkeit ist der Mist aus dem Kuhstall, der in großen Mengen anfällt. Dieser Naturdünger ist der einzige Dünger, von Regulierungen mit Kalk abgesehen, der hier verwendet wird.

Die Milchleistung liegt bei 5000 bis 5500 Litern pro Kuh und Jahr. Das ist im Vergleich zu den konventionell gezüchteten Hochleistungskühen nicht sehr viel. Nimmt man aber die Lebensleistung - und das ist hier der entscheidende Gesichtspunkt -, sieht der Vergleich wesentlich besser aus.

"Wir verarbeiten die gesamte Milch selbst", sagt Siegfried Baßner, den ich im Lärm der auf Hochtouren arbeitenden Käserei antreffe. Es dampft aus der Heißdesinfektion der Gläserreinigung. Nebenan stehen die diversen Milchtanks und Verarbeitungsgefäße: Kupferkessel für die Schnittkäseherstellung, Edelstahlkessel für die Weichkäse, Wannen für besondere Spezialitäten, ein Salzbad. Dahinter befindet sich ein Butterraum mit dem Butterfaß und einer Kulturenzüchtung. Der Frischmilchverkauf im Hofladen hat Vorrang. Was übrigbleibt, wird zu Milcherzeugnissen, also Quark, Joghurt etc., und vor allem zu Käse verarbeitet. "Wir machen allen unseren Käse aus Rohmilch." Das gilt für die verschiedenen Sorten Weichkäse wie Camembert, Brie, Münsterkäse, Knob-

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lauch-Weichkäse und natürlich auch für die Schnitt- und Hartkäse. Diese kommen dann zum Ausreifen in die alten Kellergewölbe unter dem Haupthaus.

Der Käse vom Dottenfelderhof ist ein begehrtes Produkt. Die alte Käserei neben dem Kuhstall ist längst zu klein für die große Nachfrage. Ein großzügig angelegter Neubau neben dem Haupthaus ist fast fertig. Er ist mit einem Blockheizkraftwerk ausgestattet. Die Produktionsräume sind durch einen Aufzug mit den unterirdischen Gewölbekellern und mit den Verkaufsräumen verbunden.

Siegfried Baßner, der diesen Arbeitsbereich leitet, ist Anfang 40 und kam erst nach längeren Lehr- und Wanderjahren auf den Hof. Nach dem Abitur hatte er zunächst eine Ausbildung als Krankenpfleger absolviert und als OP-Pfleger gearbeitet. Dann bekam er Lust auf Landwirtschaft und hat mit ein paar Leuten eine Landkommune im Westerwald gegründet, die nicht nur Landbau betrieb, sondern auch Kleider nähte und damit über die Flohmärkte zog. Auf den Dottenfelderhof kam er zunächst nur, um in einem Kurs bei Ebba Bauer die Käserei zu lernen. Zwei Sommer lang ist er anschließend in der Schweiz auf die Alp gegangen.

Seit 13 Jahren arbeitet er jetzt hier, hat irgendwann in dieser Zeit seinen Abschluß zum Molkereifachmann gemacht und ist mit seiner Familie auf dem Hof fest verwurzelt. Für ihn sei immer die Sache das Motiv gewesen, sich nach Kräften einzusetzen. Nie das Geld. Er könne nicht unter dem Aspekt arbeiten: Ich bekomme jetzt dafür Geld, und wenn ich mehr arbeite, kriege ich auch mehr Geld. "Ich bin", sagt Siegfried Baßner, "in keiner Weise käuflich."

Das Ackerland des Dottenfelderhofes ist in zwölf Schläge eingeteilt. Die negativen Auswirkungen der Monokultur - jeder Acker ist eine Monokultur - überwindet die biologisch-dynamische Bewirtschaftung, wie der traditionelle Landbau auch, mit Hilfe der Fruchtfolge: Sie beginnt mit Rotklee. In den nächsten Jahren folgen Weizen und Roggen. Nach einer Düngung wird der Acker mit Hackfrucht, also Rüben, Kartoffeln, Feldgemüse, Mohren, Kohl, Rote Bete bestellt. Es folgen Weizen, dann Hafer mit einer Luzerne-Untersaat, dann wieder

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Weizen, Hackfrucht, Wintergerste, Klee. Das sind die zwölf Jahre. Dann beginnt eine neue Rotation.

Jetzt im September sind die Getreidefelder abgeerntet. Die Ernte lagert im Getreidespeicher an der Nordseite des Hofgevierts. Die staubige Luft riecht nach Korn. Ein Teil der Ernte wird verbacken, ein Teil an die Kühe und die Hühner verfüttert, ein Teil als Demeter-Getreide vermarktet. Der Ertrag? 50 Doppelzentner pro Hekar, auch schon mal 60 Doppelzentner, so in diesem Bereich, sagt Martin von Mackensen, ein 32jähriger gelernter Maschinenschlosser, Landwirt aus Leidenschaft und eine Lehrernatur. Die Lehrlinge und Praktikanten auf dem Hof nennen ihn "Professor". Es gebe konventionell arbeitende Kollegen, die auf den besten Böden in der Wetterau 90 oder 100 Doppelzentner hätten, so fährt er fort. "Wenn wir hier fünf Tonnen Weizen auf dem Hektar ernten, dann reicht das vollkommen." Viel entscheidender seien andere Fragen: Sind die Pflanzen gesund? Haben wir auch genug Stroh für unsere Tiere zum Einstreuen, um Dünger zu bereiten? Gibt es eine tiefe Durchwurzelung, die dazu beiträgt, daß nachher diese Wurzelmasse wieder eingehen kann in das Bodenleben, in die Fruchtbarkeitserhaltung?

Das Getreide wächst ohne Mineraldünger schulterhoch. Ohne Pestizide und Herbizide, die Unkrautvertilgungsmittel. Ohne das Spritzmittel, das die Halme verkürzt, damit sie unter der Last der überschweren Ähren nicht einknicken.
Jedes Weizenkorn ist nicht nur Brotfrucht, sondern auch lebendiges Produktionsmittel. Die Arbeit an einem harmonischen Wachstum des Getreides fängt beim Saatgut an. Während der konventionelle Landwirt das Saatgut in der Regel in jedem Jahr neu zukauft, wird hier - im großen und ganzen - seit 1968 hauptsächlich mit hofeigenem Saatgut "nachgebaut".
Martin von Mackensen hat mir das Grundprinzip so erläutert: "Wir gehen mit den Pflanzen im Jahreslauf mit, und dabei selektieren wir."
Schon zeitig im Frühjahr, im Dreiblattstadium der Pflanze, geht man hinaus und betrachtet das Pflanzenwachstum auf dem Feld. Wie gut wird das Unkraut unterdrückt? Wie starkwüchsig ist die Pflanze ohne mineralische Düngung? Entwickeln sich alle Pflanzen gleichmäßig, denn sie müssen ja zur

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selben Zeit geerntet werden? Wie hoch wird das Getreide? Es wird viel Stroh gebraucht, aber zu hoch darf es auch nicht sein, dann knicken die Halme. Mitunter kommt es zu einer Pilzinfektion. Welche Pflanzen, welche Parzellen, welche Stämme bleiben lange unbefallen? Geht der Mehltau bis oben hin auf die abreifende Pflanze? Oder geht er nicht mehr als 20 Zentimeter über den Ansatz hinaus?
Ein wichtiges Kriterium für die Selektion ist die Resistenz, und dann der Ertrag sowohl des Strohs als auch des Korns. Und natürlich auch die Qualität: Was für ein Brot kann man damit backen? Wie geht dieses Brot auf? Wie schmeckt es? Wie läßt sich das Korn verarbeiten? Ein Samen ist wie das Konzentrat dieses ganzen Wachstumsvorgangs. Die innere Qualität, die Nahrungsqualität dieser Pflanze, dieses Korns hängt damit zusammen, wie das Wachstum verlaufen ist, das dieses Korn jetzt hervorgebracht hat. Ist ein harmonisches Wachstum vorhanden, das zu einer bestimmten Fruchtausbildung und Reife führt, dann ist das schon eine Komponente der inneren Qualität dieser Pflanze. Und dann wird Jahr für Jahr selektiert. Dabei kann es möglich werden, daß man immer mehr zu einem ganz eigenen Stamm, einer eigenen Sorte hinkommt. Dann stellt sich eben heraus: Die wird stabil, nimmt geringfügig zu in den Erträgen, und man hat den Eindruck: Diese Sorte an diesem Standort - das ist das Richtige.
Das Backhaus liegt etwas abseits vom Haupthaus im Gartenbereich. Hier verarbeitet Ebba Bauer zusammen mit ihrem Gesellen und zwei Lehrlingen etwa eine Tonne Getreide pro Woche zu 16 Sorten Brot, Brötchen, Baguettes, Kuchen. Hauptsächlich verwendet sie Vollkornmehl, einiges ist aber auch aus Feinmehl gebacken. Zur Ausstattung gehören eine Tiroler Steinmühle, zwei Backöfen, die mit Holz gefeuert werden. Das Holz wird eingeschichtet. Die Flamme brennt im Backraum des Ofens ab, und in die feine Asche, die nach dem Auskratzen übrigbleibt, wird das Brot eingeschoben.
"Die Wärme ist sehr ursprünglich", sagt die Bäckerin. Alles, was sich erneuere, müsse durch einen innerlichen Verbrennungsprozeß. Wie in der alten Geschichte vom Phoenix aus der Asche.

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Ebba Bauer ist eine kleine, stämmige Frau in den 50ern mit viel Energie und Humor und einem ansteckenden Lachen. Um Viertel nach vier ist sie heute früh aufgestanden, war um halb fünf im Backhaus, hat die ersten Teige gemacht und die Öfen angeheizt. Um fünf kam der Geselle dazu.
Geknetet wird mit Maschinen. Abgewogen wird jedes Brot mit der Hand. Gegen halb sieben hat sie die Brote eingeschossen. 330 waren es heute, dazu noch 400 Brötchen, Rosinenstuten, Laugenbretzeln, Käsestangen. 160 Kilo Getreide wurden dabei verarbeitet. Gegen zehn Uhr wurden die Brote hinüber zum Laden gebracht, anschließend noch sechs große Zwetschgenkuchen für das Cafe gebacken.
Jetzt ist es zwei Uhr, und Ebba Bauer sitzt für einen Moment auf der Bank vor ihrem Backhaus in der Sonne und raucht eine Zigarette. "Jeder innerhalb der Gemeinschaft arbeitet soviel, wie er für richtig hält", sagt sie. "Wir arbeiten soviel, wie wir wollen, können, Lust haben, Kraft haben, und das ist bei jedem unterschiedlich und nicht vergleichbar. Jeder muß respektieren, wieviel der andere tut und welchen Einsatz er für die Gemeinschaft und das Ganze bringt." Gleich wird sie sich eine Stunde hinlegen und am Nachmittag dann noch vier große Quiche Lorraine für ein Fest backen. Dann ist der Haushalt dran. Und um 20 Uhr geht sie "zum Lesen", also zu dem Arbeitskreis, in dem die Gruppe sich mit den Grundlagen der Anthroposophie beschäftigt. "Das machen wir immer donnerstags abends. Das möchte ich nicht versäumen."
Ebba Bauer, die eigentlich Gartenbau studiert hat, ist in der Hofgemeinschaft von Anfang an dabei. Zuerst "nur" als Ehefrau von einem der Gründer. Dann aber hat sie zusammen mit den anderen Frauen den Dottenfelderhof gegen den erklärten Willen der Männer revolutioniert. Während diese nichts als Landbau betreiben wollten, haben die Frauen - anknüpfend an ihre Fähigkeiten beim selbstversorgenden Backen und Kochen - Schritt für Schritt die Weiterverarbeitung und Vermarktung der Produkte aufgebaut. Die Käserei ist von ihr initiiert worden. Den Hühnerstall hat sie geplant, das Backhaus und den Ab-Hof-Verkauf auch. Mit dem Laden ist nicht nur der heute entscheidende wirtschaftliche Eckpfeiler entstanden, sondern darüber hinaus etwas, was inzwischen alle sehr

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positiv sehen: eine Verbindung zu den Menschen, die das, was auf dem Hof erzeugt wird, essen wollen.
Von der esoterischen Seite der biologisch-dynamischen Bewirtschaftung war an diesem Tag nur wenig zu sehen, aber "Präparate" spielen hier eine große Rolle. Man füllt Kuhhörner mit Mist oder mit Gesteinsmehl und vergräbt sie im Boden. Dann rührt man mit der wiederausgegrabenen Substanz eine Jauche an und sprüht diese in homöopathischen Dosen über den Ackerboden. Wenn das Gespräch darauf kommt, dann redet man gern von den eindeutig nachweisbaren Langzeitwirkungen dieser Stoffe bei der Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit, die mit den normalen ökologischen Methoden der Bewirtschaftung allein nicht zu erzielen seien.
Es ist keineswegs so, daß auf dem Dottenfelderhof alles ganz anders wäre als in einem konventionellen landwirtschaftlichen Betrieb. Investitionen werden nach kühlen Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten langfristig geplant. Technik wird überall eingesetzt. Die 120-PS-Fendt-Schlepper, die über die Feldwege rumpeln, sind brandneue und mit hochwertiger Elektronik ausgerüstete Fabrikate. Das Kartoffellager verfügt über einen automatischen Enterder und wird über ein kompliziertes Gebläse nachtluftgekühlt. Die Scheune hat eine Solartrocknung, und hydraulische Greifer heben die Strohballen unter das Dach. Computer und elektronische Meßgeräte stehen im Labor für die chemische Analyse von Bodenproben und Pflanzen bereit. Die Anbaufläche für das Viehfutter ist genau kalkuliert und bemessen.
"Das Futter muß reichen. Das ist erst mal das Wichtigste", sagt Martin von Mackensen, der auch für den Kuhstall verantwortlich ist. "Diese Ebene des Physisch-Materiellen muß genau in den Blick genommen werden, die ist ganz entscheidend." Aber dann, so fährt er fort, gebe es hier "Gesichtspunkte", die über die materielle Ebene hinausführen.
Martin von Mackensen ist im Elternhaus mit der Anthroposophie groß geworden. Als Schüler schloß er sich in Kassel, wo er lebte, Joseph Beuys an und arbeitete bei dessen documenta-

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Aktionen, unter anderem dem legendären 7000-Eichen-Projekt, mit. Von Beuys habe er den Rat bekommen, in die Landwirtschaft zu gehen: Künstler gebe es schon genug. Unser abendliches Gespräch am Küchentisch tastet sich langsam zu der immer wieder angesprochenen "anderen Ebene" des Denkens vor. Wir müssen neue Kenntnisse erwerben, hatte Steiner 1924 gefordert, die wirklich hineingehen in den Naturzusammenhang, in das Gefüge der Natur.
"Das ist nicht irgendwie ein vages, blasses, nebulöses Interesse an Geistigem, Übersinnlichem oder Ätherischem oder wie man das auch nennt. An bestimmten Stellen, aus den Fragen des Lebens, aus dem genauen Hingucken auf die ganz einfachen Lebensvorgänge entsteht ein konkreter geistiger Bezug. Und diesen Fragen gehen wir gemeinsam und regelmäßig als Betriebsgemeinschaft nach. Damit hängt zusammen, daß es uns noch gibt und daß wir nach wie vor Ideen in die Welt setzen wollen und werden, die wir natürlich immer nur ein Stück weit verwirklichen können. Aber wir meinen, er könnte auch ein Rüstzeug sein für die kommende Zeit oder für die gesamte Gesellschaft oder für einen großen Teil davon."
Selbstverständlich wird bei der biologisch-dynamischen Bewirtschaftung auch analysiert, was zum Beispiel an Kohlenhydraten, Eiweiß, Globolin, Algomin und so weiter im Weizen enthalten ist. Aber diese Substanzen im Korn sind zuallererst Ausdruck eines bestimmten Wachstumsprozesses. "Die Sache im Zusammenhang mit dem Boden, dem Himmel, dem Kosmos, mit der Sonne zu sehen ist wesentlich produktiver und sinnvoller, denn bei der Pflanze handelt es sich um ein belebtes Wesen. Es reicht nicht, nur zu sagen: Wir rechnen uns heute mal aus, was der Mensch optimal an Kohlenhydraten und Eiweiß braucht, und dann bauen wir Pflanzen an, die diese Stoffe in ausreichendem Maße produzieren."
Man greift durchaus auf die naturwissenschaftliche Forschung und deren Erkenntnisse zurück, zum Beispiel über die Herstellung von Eiweiß in der Pflanze. Was nachher als Eiweiß im Getreidekorn erscheint, wird gar nicht mehr aus dem Boden aufgenommen, sondern ist umgewandelte Stickstoffsubstanz der Pflanzenmasse, der Blätter, des Halmes. Jetzt werde richtig mit Händen greifbar, warum es vielleicht eine

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Bedeutung haben könne, in welcher Art diese Pflanze ihre Blätter gebildet hat, wie sie stehen, wie sie gewachsen sind, in welcher Auseinandersetzung mit dem Boden, in welcher Durchwurzelung des Bodens sie in der Lage war, in dieser Zeit, an diesem Standort solche Blätter ausbilden zu können.
"Ich gucke also auch auf Kohlenhydrate und Eiweiße, aber ich sehe mir ihren Bildungsprozeß an. Mich interessiert die Frage immer ausgehend von dem Gesamtorganismus, dem ich zubillige, daß er mehr ist als etwas Mechanisches."
Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Kollege befaßt sich seit 20 Jahren mit der Möhrenzüchtung. Jahr für Jahr hat er aus dem Möhrenfeld mit Tausenden von Pflanzen einzelne Exemplare herausgenommen, die bei ihrem Wachstum wegen ihrer Blattstellung oder wegen der Feingliedrigkeit der Blätter oder anderer Kriterien seinem Bild von der Möhrenpflanze am meisten entsprachen, und davon hat er Samen gezogen. Und jetzt stellt man plötzlich fest: Über die Jahre ist das Aroma dieser Mohren feiner, der Geschmack wesentlich besser geworden. Es ist so etwas wie ein Hofsorte entstanden.

Das sei so ein beglückender Moment, bei dem die schöpferische Seite der landwirtschaftlichen Arbeit bewußt werde und man merke: "Mensch, hoppla, du kannst auch anders einsteigen in das Leben der Pflanzen. Du hast eine innere Zugangsmöglichkeit, weil da etwas Verwandtes in deinem Inneren lebt. Etwas von dem, was da außen in der Natur wirksam ist, was die Pflanzen bildet, was mit in die Erscheinung tritt, das wirkt auch in dir."

Martin Hollerbach ist zuständig für die Bauten auf dem Gelände. Er zeigt mir den hochmodernen Komplex von Lagerhallen, Kühlhaus, Reparaturwerkstatt und Maschinenpark.

Grundsätzlich ist es auch in der Landwirtschaft so, sagt er, daß die Maschine einen von dem Objekt, mit dem man umgeht, trennt. Es ist etwas anderes, ob man mit der Hand melkt und seinen dem Tier verbundenen Bewegungsablauf hat oder mit der Maschine arbeitet. Oder ob man hinter einem Pferd läuft und den Pflug in die Furche hält oder ob man auf einem 120-PS-Schlepper sitzt. Martin Hollerbach ist überzeugt, daß durch die Technisierung letztlich zerstörerische Elemente in den landwirtschaftlichen Zusammenhang hineingekommen sind. 

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Die Technik, das wache, wissenschaftliche Bewußtsein, die exakte Vorgehensweise der Physik, Chemie, Mathematik seien beizubehalten. Andererseits müsse bewußtseinsmäßig etwas nachgeholt werden, was früher durch den unmittelbaren Kontakt über die Hand, über die Bewegung vermittelt worden sei. Insofern sei es jetzt notwendig, sich erneut mit dem Naturzusammenhang auseinanderzusetzen. Durch ein Studium der Pflanzen, ihrer Bildungsformen, ihrer Ausgestaltungsvorgänge werde ein Einleben möglich, ein inneres Gespür für die Lebensvorgänge.

"Wir meinen, daß unsere biologisch-dynamische Arbeit ein ganzes Stück weit darauf beruht, an den verschiedensten Punkten ein subtileres Verhältnis zur Natur zu entwickeln. Wir wollen die Landwirtschaft nicht mehr nur im Technischen gestalten, sondern in Naturzusammenhängen bleiben, etwa durch Gestaltung von verschiedenen Fruchtfolgen, und durch einen bestimmten Tierbesatz die Naturelemente so zusammenzufügen, daß sich die Natur wechselweise steigert."

Was hat diese neue, subtile, eine große Hingabe erfordernde Arbeit am landwirtschaftlichen Organismus Dottenfelderhof in den 30 Jahren seines Bestehens bewirkt? Die Antworten, die ich auf meine Frage bekomme, weisen alle in dieselbe Richtung: Die Werte bei den Bodenuntersuchungen, zum Beispiel bei Phosphor und Magnesium, vor allem aber was die Humusqualität anbelangt, haben sich positiv entwickelt. Der Regenwurmbesatz ist um ein Mehrfaches höher als auf Böden in der Nachbarschaft. Der Boden ist heute einfach besser als vor 30 Jahren. Seine Fruchtbarkeit ist stetiger, seine Erträge sind sicherer und gleichmäßiger geworden. Sie sind nicht mehr so stark den klimatischen Schwankungen unterworfen. Es tritt eine Verläßlichkeit ein, eine Stabilität.

Es ist mit einem Wort der Balancezustand der Nachhaltigkeit, den die Leute vom Dottenfelderhof beschreiben, wenn sie von ihren Erfolgen berichten.

Ein nachhaltiger Umgang mit dem Boden ist eine der drängendsten Aufgaben auf diesem Planeten. In den letzen 40 Jahren ging weltweit ein Drittel der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen durch Erosion verloren.

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 Was Jahrtausende gebraucht hat, um zu entstehen, wird innerhalb von ein, zwei oder drei Generationen zerstört. Das Beispiel Dottenfelderhof zeigt: Ein nachhaltiger Umgang mit dem Boden ist möglich und mit einer erfolgreichen landwirtschaftlichen Nutzung vereinbar. Aber mit welch einem immensen Aufwand an Arbeit, schöpferischer Kraft und Durchhaltevermögen schon auf solch einem winzigen Fleckchen Erde!

Freitagmittag schwillt der Besucherstrom an. Der Parkplatz vor dem Hofladen füllt sich. Mütter heben ihre kleinen Kinder aus den riesigen Volvos und beginnen ihren Bummel über den Hof. Alte Damen fahren im Mercedes vor, gehen hinüber zum Marktstand für Fleisch und Wurst oder verschwinden mit ihren Einkaufskörben im Laden. Die Autokennzeichen von Frankfurt, Hanau und Bad Homburg dominieren neben dem einheimischen FB für Friedberg.

Der Ab-Hof-Verkauf lebt nicht von der Nachbarschaft, sondern von dem reichen Speckgürtel rings um Frankfurt. Einiges von dem Geld, das hier ausgegeben wird, mag in den Derivatenabteilungen der Frankfurter Großbanken verdient worden sein. Wer die Preise bezahlen kann, für den sind hier fast alle Grundnahrungsmittel und einiges darüber hinaus zu haben. Der Laden ist gut sortiert: Die ganze Palette aus Ebba Bauers Backhaus und Siegfried Baßners Käserei liegt auf der Theke und in den Regalen. Gemüse, Eier, Obst, Honig. Alles ist frisch. Alles kommt vom Hof oder von Demeter-Betrieben aus der Region, mit denen man bei der Vermarktung kooperiert. Auch Wochenmärkte in der Region werden beschickt.

Der Dottenfelderhof betreibt keine Werbung. Statt dessen hat er seinen Kundenstamm in einer Art Freundeskreis organisiert. Die "Landwirtschaftsgemeinschaft" (LGW), die im Moment etwa 160 Mitglieder zählt, verkörpert seit ihrer Gründung 1981 ein aktives und mitbestimmendes Element im gesamten sozialen Organismus, der sich um den Hof herum gebildet hat. "Wer regelmäßig auf dem Hof einkauft und seine Produkte verzehrt", heißt es in einer Broschüre der LGW, "für den ist der Dottenfelderhof schon ein wichtiger Teil seines persönlichen Lebenszusammenhanges. 

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Dies wird verstärkt erlebt, wenn man LGW-Mitglied ist und damit auch Einblick in den Lebenszusammenhang des Hofes hat: im näheren Miterleben einer tier- und pflanzengemäßen Landwirtschaft, in der Mitarbeit an der Urproduktion als einer wirklich sinnvollen Tätigkeit."

Jedes Mitglied zeichnet bei Eintritt eine Kapitaleinlage von 3.000 DM und zahlt einen jährlichen Pachtanteil von 72 DM, erhält dafür jährlich 100 Kilo Weizen oder den Gegenwert in anderen Hofprodukten. Alle acht Wochen finden Treffen statt, die mit einer Begehung der Felder und Ställe beginnen und mit Berichten und Debatten über den aktuellen Stand der Arbeit weitergehen. Arbeitseinsätze, zum Beispiel zum Unkrautjäten oder Heckenschneiden, zur Apfelernte oder zum Anrühren der Spritzpräparate, stehen ebenso auf dem Programm der LGW wie gemeinsame Jahreskreisfeste.
Landwirtschaft ist eine Sache, die jeden etwas angeht, auch den Anwalt, den Zahnarzt oder die Krankenschwester. Das ist das Prinzip, das dahintersteht: Die Landwirtschaft sorgt für die Allgemeinheit. Und die Allgemeinheit sorgt für die Landwirtschaft. Ebba Bauer beschreibt das Konzept so: Nicht werben, nicht manipulieren, sondern wach sein, sich engagieren, darauf achten, daß Menschen zu uns, in unsere Art der Bewirtschaftung Vertrauen haben können. Was das Geld anbelangt, heißt das Prinzip: soviel Geld wie nötig, sowenig wie möglich. Und, so Ebba Bauer: "Wenn man nach dem Gelde rennt, haut es ab. Weil einem die Sympathie verlorengeht. Es kommt einem die Großzügigkeit abhanden - nach außen und auch innerhalb der Gemeinschaft."

Der neue Treffpunkt der Leute, die zum Einkaufen kommen, ist das Hofcafe. Nach einem langen und zähen Konsensfindungsprozeß ist es erst kürzlich eingeweiht worden. Im Winkel des Hofgevierts liegt es. Ein wunderbarer Raum, der älteste des Klosterhofes. Das Kreuzgewölbe hat den 30jährigen Krieg unversehrt überstanden. Zu essen gibt es an diesem Freitag nur ein paar Kleinigkeiten, aber die sind köstlich: eine Gemüsesuppe, Pizza, Ebba Bauers Zwetschenkuchen, ein paar andere Dinge, die von Frauen der LGW zubereitet worden sind und serviert werden. Die Kinder haben rund um eine Säule ihr Spielzeug. Die Atmosphäre ist freundlich entspannt.

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Im Lagerraum des Hofladens ist ein japanischer Praktikant dabei, Gemüse zu sortieren und abzupacken. Masaya Koriyama ist für ein halbes Jahr nach Deutschland gekommen, um die hiesige Öko-Szene und speziell die Vermarktung von Produkten aus ökologischem Anbau gründlich kennenzulernen. In Tokio arbeitet er für NEM (Nippon Ecology Movement), eine Organisation mit 800 Mitarbeitern, die an einem "Sozialdesign zur Schaffung einer dauerhaften (sustainable) Gesellschaft" arbeitet. Ein Info-Blatt, das mir der junge Japaner in die Hand drückt, listet die Aktivitäten von NEM auf: Garagenverkauf und Flohmärkte mit Second-hand-Kleidung gehören dazu, aber ebenso die Umweltbildung und die Unterstützung von Bürgerinitiativen bei deren juristischem Vorgehen gegen Umweltverschmutzung. Das zentrale Projekt heißt "Radix-Boya" (Radieschen). Dabei handelt es sich um ein Abo-Kisten-Zustellsystem für organische Lebensmittel, also eine Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft. 55.000 Haushalte nehmen schon teil. Der Kreis erweitere sich ständig, und, so lese ich in dem Heft: "Diese Bewegung gilt als chic mit ›young feeling‹."

Ein Hof von 150 Hektar wird in der heutigen industrialisierten Landwirtschaft von ein bis zwei Familien bewirtschaftet. Wenn er kein Vieh hält, kann das mit den entsprechenden Maschinen ein Bauer alleine machen.

Der Dottenfelderhof dagegen arbeitet als ein sozialer Organismus, dem eine Vielzahl von Menschen auf unterschiedliche Weise angehören.

Fünf Landwirte haben sich 1968 vertraglich verbunden, um diese 150 Hektar in einer Hofgemeinschaft zu bewirtschaften. Alle waren hochqualifizierte, akademisch ausgebildete Fachleute. Alle hatten sich intensiv mit Anthroposophie und biologisch-dynamischem Landbau beschäftigt. Einige hatten vorher im "Forschungsring für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise" in Darmstadt gearbeitet. Jeder war fest entschlossen, "nicht nur über die Dinge zu reden, sondern sie ins Leben zu setzen". Erst viel später wurden die Frauen des Hofes, die angefangen hatten, die Weiterverarbeitung aufzubauen, gleichberechtigt in diesen Kreis aufgenommen. Jüngere Leute von außen, meist Absolventen des Landbaujahres, kamen dazu.

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Heute besteht die Bewirtschaftergemeinschaft des Dottenfelderhofes aus 20 Personen, die auf dem Hof gemeinsam leben und arbeiten. Die Beschlüsse werden im Konsens gefaßt. Alle persönlichen materiellen Bedürfnisse werden aus einem gemeinsamen Topf gedeckt. Besitz hat niemand von ihnen. "Wir sind der Überzeugung", sagt Martin Hollerbach, "daß die Produktionsmittel nicht in die persönliche Verwertbarkeit gehören."

Eigentümerin des Hofes und Pächterin des Bodens ist die Landbauschule, die als gemeinnütziger Verein organisiert ist. Hinter dem Fachwerk im südlichen Trakt des Hofgevierts sind die Räume der Schule, die Unterrichtsräume, Gemeinschaftsräume, Labors und Klausen der Kursteilnehmer untergebracht. Die Schule hält vierwöchige Einführungs- und Fortbildungskurse und das landwirtschaftliche Studienjahr ab. Schule und Hofgemeinschaft sind eng verzahnt. Der praktische Unterricht findet auf dem Hof statt. Mitglieder der Betreibergemeinschaft sind zusammen mit Wissenschaftlern von der Universität Gießen und anderen Hochschulen die Lehrer. Der Vorstandsvorsitzende des Vereins, Dieter Bauer, ist gleichzeitig Mitglied der Hofgemeinschaft.

Die Landwirtschaftsgemeinschaft, die ebenfalls zu diesem System gehört, bestimmt einen Bevollmächtigtenkreis, der gegenüber der Hofgemeinschaft unterstützend tätig wird, aber auch Funktionen eines Aufsichtsrates wahrnimmt.

Das System funktioniert nur, wenn alle Gremien eng zusammenarbeiten und bereit sind, den Gesamtzusammenhang im Auge zu behalten. Das Steuerungszentrum ist die Hofgemeinschaft.

Damit es funktioniert, müsse man - auch im Wirtschaftsleben - brüderlich miteinander umgehen, sagt Ebba Bauer. Also grundsätzlich sei jeder, wenn er nicht krank oder ein Greis oder ein Kind ist, für sein eigenes Fortkommen, für seine eigene Lebenserhaltung erst mal selbst verantwortlich. "Wo sich das durch die Arbeitsteilung verändert, tritt die Assoziation in Kraft", fährt sie fort und referiert das soziale Hauptgesetz von Rudolf Steiner, daß überall, wo jeder die Früchte seines eigenen Tuns ernte, auf die Dauer Not und Mangel erzeugt werde. Das gehe nicht gut, wenn jemand egoistisch für sich alleine wirtschafte. 

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Denn, so Ebba Bauer: "Alles, was ich selbst habe, entziehe ich jemand anderem." Und deswegen müsse eben die Brüderlichkeit herrschen. "Das ist etwas ganz Neues. Das ist eigentlich etwas, was aus der Zukunft hereinleuchtet und noch sehr der Verwirklichung harrt. Aber bei uns, können wir sagen, ist ein kleiner Ansatz gemacht."

Ein zweiter wichtiger Punkt: Der Mensch braucht zu seiner Arbeit eine Mission.

"Er muß einen Auftrag haben. Er muß für andere arbeiten wollen." Das sollte eigentlich das Motiv im Wirtschaftsleben sein: die absolute Selbstlosigkeit, die aber selbstverständlich ist. "Ich arbeite für alle anderen. Wir können ja das Brot, was wir im Backhaus backen, nicht selber essen. Und die anderen sorgen in ihrem Bereich dafür, daß wir leben können und unsere Bedürfnisse befriedigen können."

Diese Prinzipien scheinen auf dem Dottenfelderhof zu funktionieren. Ohne die hocheffiziente und -motivierte Arbeit aller wären die sichtbaren Erfolge gewiß nicht möglich. Und Streitigkeiten wegen Ausgaben aus der gemeinsame Kasse sind so gut wie unbekannt.

Schwieriger ist sicherlich der Prozeß der Entscheidungsfindung. Es gibt keine Abstimmungen und Mehrheitsentscheidungen. Die Beratungen dauern so lange, bis ein Konsens gefunden ist.

In den gemeinschaftlichen Entschlüssen sei jedoch, meint Ebba Bauer, ein kumulativer Effekt enthalten. "Die Voraussetzung ist, daß man Spezialist für sein Gebiet ist und Generalist für das Ganze. Das ist wichtig."

Der Spezialist trägt etwas vor, begründet etwas, steuert geradlinig auf eine Enscheidung zu. Die anderen stellen Fragen, die das Umfeld eines Entschlusses berücksichtigen, und schauen: Was bedeutet das für die ganze Sache? Insofern seien die gemeinsamen Entschlüsse in der Regel gut durchdacht und sicher.

"Wie machst du das", habe sie einmal Siegfried Baßner, den Käser, gefragt, "daß du mit deinen Vorschlägen immer durchkommst?" Seine Antwort: "Ich sorge dafür, daß die anderen ein so klares Bild haben, wie es irgend geht. Und dann trete ich zurück, überlasse es ihnen, über meinen Vorschlag zu befinden, und bin mit allem einverstanden, was da kommt. Ich mache meine Selbstverwirklichung nicht von diesem einen Projekt abhängig."

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Das Interesse an den Kursen der Landbauschule ist in den 90er Jahren deutlich abgeflaut. Aussteiger wie in den späten 70er Jahren und Anfang der 80er, in denen die Schule sich vor Anfragen und Anmeldungen kaum retten konnte, gibt es kaum noch. In den vergangenen Jahren kamen viel weniger junge Leute auf den Hof. Aber diese, so erzählt Dieter Bauer, der die Landbauschule leitet, seien oft zielstrebiger und stärker an einer vernünftigen Ausbildung interessiert als die Freaks der 80er Jahre. Kaum einer der Kursteilnehmer habe die Perspektive, allein einen Hof zu pachten. Die meisten wollten nach ihrer Ausbildung in eine Gemeinschaft einsteigen oder selbst eine gründen.

Dieter Bauer sieht diesen Trend positiv. Aber er warnt vor einer Illusion: 

"Es ist mir ganz wichtig, daß man das nicht unter dem Aspekt sieht: allein zu schwach, mit anderen wird es schon gehen. Das funktioniert nicht. Die Gemeinschaft um der Gemeinschaft willen - das ist es nicht. Eine Gemeinschaft bildet sich dadurch, daß sich Menschen zusammen­finden, die eine bestimmte Aufgabe aufgreifen, zusammen etwas machen und vorwärtsbringen wollen."

Von der Suche nach einem wärmenden Nest, von dem Wunsch: alle sollen lieb zu mir sein, müsse man sich wirklich freimachen. "Ich hatte am Anfang, und dann jahrzehntelang, das Gefühl: Es ist drinnen kälter als draußen." Wenn man sich gleichwertig und gleichberechtigt gegenübersteht, kommen viele Probleme an die Oberfläche. Das braucht Kraft. Das verschleißt. Auch wenn es auf der anderen Seite Kräfte aufbaut und daraus später eine soziale Gemein­schaft entstehen kann. 

"Aber wir hatten hier nicht das Ziel, eine soziale Gemeinschaft zu produzieren, sondern Landwirtschaft zu machen. Unter dem Aspekt des Sozialen irgendeine Sache anzufangen, halte ich für verkehrt. Wichtig ist, daß man gemeinsam in eine Richtung guckt. Das Bild, das man für die zukünftige Entwicklung hat, muß sich immer weiter schärfen. Auf der anderen Seite muß man daran arbeiten, daß sich Illusionen abbauen. Das hört sich gegensätzlich an, ist es aber nicht. Das Illusionäre fällt immer wieder in sich zusammen."

Der Laden ist längst geschlossen. Ab und zu muht eine Kuh draußen auf der Weide am Fluß. Eine junge Frau schließt die Tür zum Labor ab und packt ein paar Utensilien auf den Fahrradanhänger. Ein kurzer Plausch mit einem Kollegen, der mit einer Schubkarre über den Hof kommt. Ein Lachen. Dann schwingt sie sich auf ihr Rad und macht sich auf den Heimweg. Im Gemeinschaftsraum der Landbauschule, so sehe ich durch das Fenster, beginnt bei Kerzenschein und schönen Gesängen eine Geburtstagsfeier. Im Eckhaus an der Pforte übt jemand Flöte. Abend auf dem Dottenfelderhof. Morgen ist Samstag. In ein paar Stunden, kurz nach Mitternacht, wird Ebba Bauer aufstehen und das Feuer in ihren Backöfen schüren. 

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