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9  "... immer mehr Geld und immer weniger Bäume..."

 Margrit Kennedy im Gespräch über neutrales Geld und alternatives Siedeln 

 

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An einem sonnigen Herbsttag sitze ich mit Margrit Kennedy im Wintergarten ihres Hauses in Steyerberg. Innerhalb dieser nördlich von Hannover gelegenen ökologischen Modellsiedlung "Lebensgarten Steyerberg", einem der dezentralen Expo-Projekte, ist dieses Haus gewiß in ästhetischer wie funktionaler Hinsicht ein Juwel. Margrit Kennedy und ihr Mann Declan Kennedy gehören zu den Pionieren und herausragenden Experten auf dem Gebiet des ökologischen Bauens. In ihrem eigenen Haus haben sie die besten Ansätze, die es auf diesem Gebiet gibt, umgesetzt.

Margrit Kennedy ist Professorin für technischen Ausbau und ressourcensparendes Bauen an der Universität Hannover. 1939 in Chemnitz geboren, studierte sie in den 60er Jahren in Darmstadt Architektur und arbeitete anschließend als Stadtplanerin und Ökologin in Deutschland, Nigeria, Schottland und den USA. Seit 1972 war sie in Projekten der OECD und der UNESCO in 15 Ländern Europas sowie in Nord- und Südamerika tätig. Von 1979 bis 1984 leitete sie den Forschungsbereich Ökologie/Energie und Frauenprojekte im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Westberlin.

Ihre Erfahrungen in diesem großangelegten Versuch, die Architektur für das 21. Jahrhundert zu gestalten, machten sie auf das aufmerksam, was sie heute den "grundsätzlichen Konstruktionsfehler in unserem Geldsystem" nennt. Seitdem beschäftigt sie sich neben ihrer Arbeit an der Entwicklung einer ökologischen Architektur mit Möglichkeiten, diesen Konstruktionsfehler zu beheben und Alternativen aufzuzeigen. Die Theorie des "neutralen Geldes", an der sie in einem kleinen Netzwerk von Ökonomen und interessierten Laien theoretisch und publizistisch arbeitet, basiert auf den Grundlagen, die Silvio Gesell in den 20er Jahren in Eden gelegt hat.

Sie haben sich als Architektin und Stadtplanerin schon in der Pionierphase in den 70er Jahren für ökologisches Bauen engagiert. Das war im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Westberlin von 1979 bis 1984. Was hat Sie nur wenig später veranlaßt, die Grenzen Ihres Faches zu verlassen und mit einer radikalen Kritik am gegenwärtigen Geldsystem hervorzutreten?

Der wesentliche Punkt war wohl, daß ich relativ früh, nach zwei Jahren Arbeit in diesem ökologischen Modellbereich in der Internationalen Bauausstellung, begriffen hatte: Wenn diese Modelle sich nicht auf breiter Basis realisieren lassen, macht es eigentlich wenig Sinn, mit soviel Geld und Unterstützung von Staatsseite weiterhin Modellprojekte zu erstellen. Diese waren ja immer nur begrenzt auf irgendwelche Bauausstellungen, Expos, 100-Jahr-Feiern oder sonst etwas. Es war zu der Zeit bereits völlig klar, daß die Umweltfragen zu den eigentlich entscheidenden Fragen gehörten und daß die Lösungen auch auf breiter Ebene anwendbar sein mußten. 

Und wo immer ich hinkam und diese Projekte vorstellte, sagten die Leute: Das ist ja alles wunderschön, was Sie uns da erzählen, aber das rechnet sich nicht. 

Ich wußte zwar, daß es verschiedene Gründe dafür gab: Zum einen verringerten sich die Preise nicht dadurch, daß etwas in großer Stückzahl hergestellt werden konnte. Es war auch noch sehr schwierig vom Planungsprozeß, von der rechtlichen und Finanzierungsseite her. Aber ich hatte immer das Gefühl, es gibt noch etwas, was da eine Rolle spielt, was ich aber nicht fassen konnte.
Wie haben Sie diesen springenden Punkt entdeckt?

Durch einen Vortrag des Architekten Helmut Creutz hei einer Tagung über Ökologie und Ökonomie, auf der er das Thema Geld für mich zum erstenmal so darstellte, daß ich es in einer halben Stunde verstanden hatte. Er bewies, daß letztlich das Wachstum des Geldes, die Vermehrung des Geldes über Zins und Zinseszins, eine Exponentialkurve darstellt. Das heißt, dieses Wachstum beginnt relativ langsam und wird dann immer schneller.

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Alle natürlichen Wachstumsvorgänge, im physischen Bereich das Wachstum unseres Körpers, das Wachstum eines Baumes, eines Tieres, verlaufen dagegen umgekehrt. Sie fangen zunächst relativ schnell an, hören aber ab einer optimalen Größe auf. Eine völlig andere Wachstumskurve also. Das war für mich wirklich aufschlußreich. Plötzlich verstand ich: Hier liegt ein wichtiger Grund, warum wir immer weniger Bäume haben und immer mehr Geld. Und es ist mir dann auch klargeworden, daß diese Tendenz exponentiell zunehmen würde. Und das ist auch der Fall. Es ist heute so, daß 97 Prozent des Geldes in dieser Welt eigentlich nur noch zur Spekulation da sind. Mit drei Prozent wäre der gesamte Welthandel abzuwickeln!

Wieso hemmt das Wachstum des Geldes den ökologischen Umbau?

Ich hatte nie richtig verstanden, was die Leute meinten, wenn sie sagten: Das rechnet sich nicht. Was sie damit meinten war:
Wenn sich aus der Investition nicht mindestens so viele wirtschaftliche Vorteile ergeben, wie man Zinsen auf der Bank bekommt, dann werden Investitionen eben nicht getätigt. Ich nehme mal das Beispiel von dem Sonnenkollektor, der vielleicht für den, der ihn einsetzt, zwei Prozent an Rendite im Jahr erwirtschaftet. Das war jedenfalls am Anfang so, heute ist es etwas besser, eben wegen der größeren Stückzahl. Aber diese zwei Prozent sind natürlich wenig gegen sechs Prozent, die man vielleicht für sein Geld auf der Bank bekommen kann, oder neun Prozent, die man zahlt, wenn man das Geld leiht. Das können sich idealistische Privatleute leisten, aber die Wirtschaft insgesamt kann es nicht. Das heißt, der Zins setzt sozusagen die unterste Grenze für das, was als wirtschaftlich angesehen wird. Und wenn diese unterste Grenze exponentiell, das heißt pathologisch wächst, muß die Wirtschaft ebenso wachsen. Das ist auch ein Grund für die ständige Vergrößerung der Wirtschaftsräume.

Welche besondere Rolle spielen die Zinsen auf dem Bausektor?

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Jeder denkt, er zahlt nur Zinsen, wenn er sich auf der Bank Geld borgt. Nur wenige wissen, daß Zinsen in allen Preisen enthalten sind: zum Beispiel zwölf Prozent Zinsen in den Gebühren für die Abfallbeseitigung, 38 Prozent bei der Trinkwasserversorgung, oder 77 Prozent Zinsen - auf 100 Jahre gerechnet - in der Miete beim sozialen Wohnungsbau. Das ist etwas, was kaum eine/r meiner Kolleginnen in seiner ganzen Tragweite versteht.

Wir wissen nur eins: Wenn der Zinssatz um ein Prozent hochgeht, dann müssen wir versuchen zu sparen. Dann müssen oft alle Qualitäten, die das Gebäude noch hatte, entfallen, um die "Wirtschaftlichkeit" zu gewährleisten. Dagegen wehrt sich kein Mensch. Da ist wieder diese Diskrepanz zwischen dem, was vom Architekten geleistet wird, um Gebäude möglichst preiswert zu machen, und dem Anspruch des Geldes auf der anderen Seite. Die 77 Prozent Zinsen in der Miete stellt überhaupt niemand in Frage. Schle-yer, also der ehemalige Geschäftsführer des Bundesverbandes der deutschen Industrie, hat ja einmal gesagt: "Kapital muß bedient werden." Ja, mein Gott, warum muß eigentlich Kapital bedient werden? Warum muß das Kapital nicht uns Menschen dienen? Schließlich haben wir dieses völlig künstliche Geldsystem selbst erschaffen.

... ein System, das die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich mit verursacht?

Ja, auch das. Wenn man sich ansieht, wer in der Bundesrepublik Deutschland von dem System profitiert und wer draufzahlt, kann man sagen, daß zehn Prozent der Bevölkerung im enormen Maße profitieren und 80 Prozent der Bevölkerung draufzahlen. Etwa ein Drittel der Zeit arbeitet der Durch-schnittsverdiener, um die Zinsen in den Preisen zu erwirtschaften.

Und was sind Zinsen? Zinsen sind der Mechanismus, um Geld im Kreislauf zu halten. Wenn keine Zinsen gezahlt werden, gibt derjenige, der das Geld hat, es nicht weiter, sondern behält es zurück. Damit stockt der Kreislauf. Wenn viele das tun, entstehen Rezessionen, beziehungsweise das ganze Wirtschaften wird behindert. Aber letzten Endes ist das Geldsystem ja nur eine Vereinbarung, die wir miteinander haben. Wenn zum Beispiel niemand mehr daran glauben würde, daß dieser Schein, der in Wirklichkeit 20 Pfennig kostet, 1000 Mark wert ist, würde das System sofort zusammenbrechen.

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 Wenn also etwas, was allein aufgrund einer allgemeinen Vereinbarung funktioniert und eine Art öffentliche Dienstleistung darstellt, nur zehn Prozent der Menschen dient und 80 Prozent der Menschen benachteiligt, ist es meines Erach-tens in einem demokratischen Staat verfassungswidrig.

Haben Sie so etwas wie ein Szenario für einen ökonomischen, ökologischen und sozialen Crash?

Durch das ständige Auseinanderdriften der Einkommen — immer höhere Zinseinnahmen der wenigen Reichen und immer geringere Einkommen der großen Masse, die diese Zinsen bedienen muß — entstehen soziale Spannungen, von denen wir eben gerade erst den Anfang erleben und die noch wachsen werden, solange dieses Geldsystem beibehalten wird. Das heißt, es kann nicht mehr lange dauern, bis wir einer explosiven Situation gegenüberstehen. Die Leute werden tatsächlich auf die Straße gehen, und die Kriminalität wird in einem Maße wachsen, wie wir es uns überhaupt noch nicht vorstellen können. Bis zu einem Zeitpunkt, an dem sich wahrscheinlich die Leute, die nichts haben, zusammenschließen werden, um ihr Recht auf Überleben durchzusetzen, so daß man tatsächlich einen richtigen Polizeistaat braucht, um das noch irgendwie zu regeln.

Das kündigt sich in der aktuellen Politik unter dem Stichwort "innere Sicherheit" an.

Eine härtere Bestrafung von kleineren Delikten, während das große Delikt Geldsystem ungeschoren bleibt, das ist die eine Entwicklung. Die andere ist, daß der Staat Wachstum um jeden Preis erzeugen muß, damit die sozialen Konsequenzen der Umverteilung weniger sichtbar sind. Wachstum um jeden Preis heißt also mehr Großprojekte, Straßenbau, bis hin zu Atomkraftwerken und sonstigen Großprojekten in den neuen Bundesländern oder den ehemaligen Ostblockstaaten, die sich jetzt dem Kapitalismus geöffnet haben. Damit ist aber die ökologische Katastrophe vorprogrammiert. Alles, was vernünftig, kleinteilig ist, auf eine Art Nullwachstum hinsteuert, muß unter allen Umständen unterbunden werden und wird keinesfalls gefördert.

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Und das dritte Problem, was nicht zu lösen ist, liegt darin, daß keine Zentralbank auf Dauer eine Geldwert­stabilität erreichen kann, wenn die Geldmenge über den Zins- und Zinseszinsmechanismus einem ständigen Wachstum folgen muß. Jeder Ingenieur weiß: Exponentielles Wachstum in einem System, das ist die Katastrophe schlechthin. Da leuchten sämtliche rote Lampen auf. Das muß er unter allen Umständen unterbinden. Egal, ob er ein Kernkraftwerk konstruiert oder sonst irgendwas, wo eine positive Rückkopplung stattfindet, die sich dann exponentiell verstärkt. Und die Ökonomen begreifen das einfach nicht. Es ist nicht zu fassen, daß die Ökonomie so tut, als gebe es das Problem überhaupt nicht.

Worin sehen Sie die Lösung des Problems?

Was wir brauchen, ist ein Geld, das wirklich als Tauschmittel konstruiert wird. Geld als Tauschmittel ist eine geniale Erfindung, die Grundlage jeder Zivilisation, die ja auf Arbeitsteilung beruht, und der einzige Wertmaßstah, der heute in der ganzen Welt gültig ist. Diese Funktion Wertmaßstab — und zwar ein stabiler in dem reformierten System — muß ebenso erhalten werden wie die Funktion Wertspeicher. Der einzige Unterschied zu dem jetzigen zinstragenden Geld ist, daß es ein Wertspeicher ohne exponentiell wachsende Ansprüche werden muß. Denn darin liegt das Problem. Also statt Zinsen zu bekommen, was sozusagen eine Belohnung ist, damit man das Geld wieder in den Umlauf hineingibt, zahlt derjenige, der das Geld hat, eine kleine Nutzungsgebühr. Ähnlich wie ja auch kein Mensch auf die Idee käme, jemandem, der einen Güter-waggon benutzt, eine Belohnung zu zahlen, damit er ihn entlädt, sondern eine Standgebühr pro Tag erhoben wird, könnten wir den Geldumlauf durch eine kleine "Parkgebühr" regeln.

In etwa so, wie die "Zinstreppe" heute diejenigen entsprechend belohnt, die sich kurz oder langfristig von ihrem Geld trennen können, würde eine Nutzungsgebühr diejenigen belohnen, die sich kurz oder langfristig von ihrem Geld trennen. Dies aber nicht durch eine immer höhere Belohnung, sondern durch eine immer geringere Gebühr (oder Bestrafung) bis hin zum langfristigen Sparkonto, auf dem man sein Geld ohne Verlust aufbewahren kann.

 

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UMLAUFSICHERUNG

Darstellung von Zinsen und Nutzungsgebühren aus dem Buch "Geld ohne Zinsen und Inflation" von Margrit Kennedy

 

 

Hier können die Banken es ja an Kreditsuchende weitergeben. Vieles bleibt, wie es heute ist. Der Kreditnehmer bezahlt weiterhin die Arbeit der Bank (ca. 1,7 Prozent) und die Risikoprämie (ca. 0,8 Prozent), die auch im heutigen Zins versteckt sind. Was er nicht mehr zahlt, ist die Liquiditätsprämie (ca. 3 Prozent) und den Inflationsausgleich (ca. 4 Prozent), denn ohne "Zinsen" entfällt bei einem ausgeglichenen Staatshaushalt auch die Notwendigkeit, Inflation zu erzeugen.

Für die Erhebung einer Gebühr auf Bargeld gibt es mehrere technische Möglichkeiten, auf die ich in meinem Buch detailliert eingehe. Wichtig ist jedoch zu verstehen, welche Vorteile durch eine solche Geldreform für jeden einzelnen entstehen. Nimmt man eine durchschnittlich verdienende Familie in Deutschland mit einem Jahreseinkommen von 60.000 DM, so wären 30 Prozent Zinsen (versteckt in Preisen, Steuern und Abgaben) ca. 18.000 DM im Jahr.

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Eine Nutzungsgebühr von acht Prozent auf das Bargeld, das die Familie gerade besitzt — nehmen wir einen ungünstigen Fall von 2000 DM — würde 160 DM kosten auf dem Girokonto, bei 5000 DM mit 6 Prozent Verlust pro Jahr wären 300 DM zu zahlen, eine kurzfristige Anlage von 10.000 DM mit einem Prozent Verlust würde 100 DM Gebühr ausmachen. Insgesamt beliefen sich die Kosten für die Nutzungsgebühr - immer extrem ungünstige Fälle vorausgesetzt — auf jährlich 560 DM. Das sind etwa fünf Prozent dessen, was der/die DurchschnittsverdienerIn heute für die "Umlaufsicherung" Zins ausgeben muß. Selbst wenn er gespart hat und etwas an Zinsen einnimmt, macht das im Schnitt nicht mehr als 10 bis 20 Prozent des Verlustes wett. Da es aber weder bekannt ist, wie Zinsen bezahlt werden noch daß es Alternativen gibt, wird über das Problem nicht diskutiert.

 

Was halten Sie in dem Zusammenhang von Basisinitiativen wie Tauschringen etc.?

Daß alternative Systeme heute wie Pilze aus dem Boden schießen, zum Beispiel LET-Systeme (local exchange trade sy-Stems) oder Talente-Systeme, also Tauschringe, wo Mengchen, wenn man so will, praktisch ihr eigenes Geld erschaffen, ist eine typische Entwicklung, die es auch in den 2öer und 30er Jahren schon gegeben hat und die immer dann auftritt, wenn das "normale" Geldsystem für viele versagt. Es wird in dem jeweiligen Tauschring über eine zentrale Buchführung jedem ermöglicht, mit anderen in Kontakt /.u treten und Leistungen auszutauschen, relativ frei Preise auszuhandeln und dann die jeweiligen Konten mit einer Gutschrift oder Belastung zu versehen. Damit wird im Moment des Austauschs das entsprechende Geld erschaffen.

 

Das wäre also eine Art Versuchsgelände für den Umbau des Geldwesens?

Im Moment geht es darum, daß Leute wieder begreifen, wie Geld entsteht. Das ist der große Vorteil alternativer Geldsysteme, die jetzt entstehen und deren "Währung" eigentlich gar nicht als Geld bezeichnet werden sollte, sondern als Tauschmittel, damit man weiß, es ist etwas anderes.

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Ich möchte Sie noch nach Ihren eigenen Erfahrungen mit dem Einstieg in ein alternatives Projekt befragen. Sie leben seit langem in einem ökologischen Siedlungsprojekt, dem "Lebensgarten Steyerberg" am Rande eines zwischen Hannover und Bremen gelegenen Dorfes. Was hat Sie daran gereizt?

 

Eigentlich wollten wir, mein Mann und ich, 1987 ein ökologisches Modellprojekt verwirklichen, ausprobieren, ob das, was wir theoretisch wußten, praktisch möglich wäre. Dazu gehörten Energiesparsysteme, aktive und passive Solarenergienutzung, Abfall- und Wasser-Recycling, Produktion von Nahrung, integriert in eine andere soziale Lebensform. Besonders wichtig war uns aufzuzeigen, daß Ökologie nicht ein "Reduktionskonzept" sein muß, mit Verboten, Einschränkungen und unglücklichen Menschen, sondern daß es Abenteuer, Reichtum, Glück und Schönheit bedeuten kann. Das hat sich hier zu einem erheblichen Teil umsetzen lassen. Zu zweit, zu viert oder zehnt kann man nur bestimmte Dinge verwirklichen. Wenn man aber ökologische Maßnahmen in einer Gruppe von etwa 150 Leuten, wie wir es jetzt hier sind, durchzusetzen versucht, dann gibt es da schon andere Möglichkeiten. Wir haben zum Beispiel zwei Solarautos, die von allen genutzt werden, um in den Ort zu fahren. Dann gibt es sehr viele Car-Sharing-Gruppen. Wir kommen mit wesentlich weniger Autos aus als der Durchschnitt der Dorfbewohner, und alle haben, was sie brauchen, zu erheblich niedrigeren Kosten. Dann haben wir unsere eigene Coop, also einen Lebensmittelladen, der im wesentlichen alles, was sich dafür anbietet, regional einkauft und nur, was wir dort nicht bekommen, aus weiter entfernten Gegenden holt.

Sie haben sich hier intensiv mit Permakultur beschäftigt. Das ist ja nicht nur eine spezifische Methode des Gartenbaus, also der eigenen ganzjährigen Nahrungsmittelproduktion im Garten, sondern auch der Versuch, einen nachhaltigen Lebensstil zu etablieren. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?


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Es gibt ein paar Grundprinzipien in der Permakultur, die vom Einfamilienhaus bis zur Planung eines Landes gelten, zum Beispiel, daß alle Elemente in einem System mehreren Zwecken dienen können und alle Funktionen, die wir brauchen, die Versorgung mit Nahrung, Energie, Wasser etc., von mehreren Elementen abgedeckt werden. Damit bekommt man die größte Flexibilität und Stabilität im jeweiligen System. Ein anderes Beispiel ist das Prinzip der Zonierung, das heißt, daß man Energie spart, indem man die Dinge, die man täglich braucht, möglichst in der Nähe produziert. Oder daß man die Sonnenenergie, die auf dieses Haus fällt, eines Tages so perfekt nutzt, daß man tatsächlich keine fossilen Brennstoffe mehr braucht. Permakultur heißt ja eigentlich: dauerhafte Kultur, nämlich einen Lebensstil zu finden, der auf Dauer haltbar ist, der auch unseren Kindern und Enkelkindern noch die Grundlagen erhält, die auch wir haben, um zu überleben. Das Wort kommt eigentlich von permanent agriculture, also "dauerhafter Landwirtschaft", und wurde dann zusammengezogen zu permaculture. Im Grundsatz ist das für mich immer noch das intelligenteste ökologische Konzept, das ich kenne.

 

Was haben Sie bei Ihren praktischen Versuchen damit erlebt?

Wir haben in unserer Gruppe selber Landwirtschaft betrieben. Einige haben selber Kühe gehabt, andere Hühner gehabt oder auf landwirtschaftlichen Flächen Gemüse angebaut. Unsere Erfahrung war, daß die Menschen, die diese Landwirtschaft betrieben haben, letztlich mehr Zeit und Energie gebraucht haben, um etwas zu produzieren, weil sie nicht dafür ausgebildet waren und es nicht professionell betreiben konnten. Was man brauchte, wäre ein Verbundsystem von professionell ausgebildeten Menschen. Ob es die Bienenzucht ist, ob es die Fischzucht ist, ob es der Getreideanbau ist - es muß ein umfangreiches Wissen in der Gruppe existieren, um so ein vernetztes System erfolgreich zu betreiben. Was zum Beispiel in so einem Anlehn-Gewächshaus in Polykultur wächst, also ohne Biozide, ohne fossilen Energieverbrauch, mit wenig Arbeit, kann Ihnen heute kein Gemüsebauer sagen. Um das herauszufinden, haben wir Jahre gebraucht. Wenn Sie das auf alle Bereiche ausdehnen, die dazugehören, wie Trinkwasseroder Energieversorgung etc., dann sieht man, daß aus diesem Ansatz, teilautonom sein zu wollen, auch eine Überlastung entstehen kann.

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Er funktioniert in der Praxis aber auch deshalb nicht, weil wir ein landwirtschaftliches System haben, das diejenigen belohnt, die das Wasser belasten, die Erde belasten, die Luft belasten, und eine landwirtschaftliche Produktion belohnt, die uns eigentlich auf Dauer nur schadet, während die Leute, die ökologisch wirtschaften, keine oder kaum Zuschüsse bekommen. Deshalb können sie natürlich mit der konventionellen Landwirtschaft nur schwer konkurrieren. Wenn sich die ökologische Wahrheit in den Preisen spiegeln würde, hätte der ökologische Landbau längst gesiegt.

Würden Sie sagen, daß Sie hier in Steyerberg einen nachhaltigen Lebensstil erreicht haben?

Nein. Unser Leben hier ist noch immer kein nachhaltiges. Es ist aber doch nachhaltiger als das der meisten um uns herum, und damit ist es ein Schritt in die richtige Richtung. Es scheint so, als ob es einer noch größeren Notsituation bedarf als zum Beispiel nach dem Unfall in Tschernobyl, damit das alles wirklich ins Lot kommt. Möglicherweise wird solche Notsituation eine harte Probe für unsere ganze Zivilisation werden. Auf der anderen Seite gibt es im Moment auch viele Leute, die weltweit versuchen, Veränderungen herbeizuführen. Ich denke, man braucht weder pessimistisch zu sein, noch kann man übermäßig optimistisch sein. Man tut einfach das, was man kann.

Was empfehlen Sie jungen Menschen, die in die Bewegung, die Sie gerade skizziert haben, einsteigen möchten?

Der wichtigste Beitrag, den sie leisten können, ist, "Denkhygiene" zu betreiben. Weil nichts auf dieser Welt passiert, was nicht vorher gedacht wurde, ist es besser, positiven Veränderungen in unserem Denken Raum zu geben statt Gedanken, die Negativität und Zerstörung zum Inhalt haben. Das ist ein Beitrag, den sie leisten können, um sich selbst und diese Welt auf den richtigen Weg zu bringen. Es ist furchtbar leicht, Gefühlen von Trauer und Wut nachzugeben, wenn man sieht, wie die Dinge sind. Es ist schon etwas schwieriger, sich an den auch vorhandenen positiven Aspekten zu orientieren und diese, soweit es geht, zu unterstützen.

Wenn wir uns als Teil eines gesamten "Menschheitskörpers" betrachten, sind wir individuell so wichtig, wie jede Zelle in unserem Körper wichtig ist, die gleichzeitig aber auch völlig autonom ihren Beitrag zum Ganzen leistet. Wir alle können uns als Individuen begreifen, die dieser Welt etwas Einmaliges zu bieten haben. Dazu müssen wir herausfinden, was dieses Einmalige ist, und es entwickeln. Außerdem können wir damit anderen helfen, ihren einmaligen Beitrag zu leisten, und den Weg ebnen für eine wirklich fruchtbare Zusammenarbeit auf allen Gebieten. Am wichtigsten, scheint mir, ist es, selbst Verantwortung zu übernehmen für das, was in dem Bereich passiert, den wir beeinflussen können. Das ist es, was ich mir wünsche.

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Ökodorf de luxe:   Herrmannsdorfer Landwerkstätten

 

 

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Ein kleines Bündel Werbematerial der Herrmannsdorfer Landwerkstätten hatte ich im Rucksack, als ich mich auf den Weg machte. Einer dieser Prospekte war in Form und Farbe einem Bergahornblatt nachgestaltet.

"48 Grad nördliche Breite, 12 Grad östliche Länge." Mit den geographischen Koordinaten war auf diesem Blatt die Lage von Herrmannsdorf auf dem Planeten verortet. <Think globally, act locally>. Genauso - fiel mir ein -, nämlich mit den Koordinaten, hatte vor fast 200 Jahren Robert Owen den Ort seiner kurzlebigen, utopischen Siedlung New Harmony auf der Landkarte der neuen Welt beschrieben.

In Herrmannsdorf, so entnahm ich den Werbeprospekten, arbeite man an einem neuen Modell der Vernetzung von ökologischem Landbau, handwerklicher Verarbeitung und direkter Vermarktung von Lebens-Mitteln. Es sei der Versuch, traditionelles bäuerliches und handwerkliches Können mit heutigem ökologischem Wissen, angepaßter moderner Technik und - auch das gehöre hier dazu - zeitgenössischer Kunst zu verknüpfen. Ich war sehr gespannt.

 

Der Weg nach Herrmannsdorf führt durch eine Landschaft von sanfter Schönheit. Grünes, hügeliges, reich gegliedertes Voralpenland. Bei klarer Sicht kommt im Süden die schroffe Silhouette der Alpenkette vom Karwendel bis zum Wilden Kaiser ins Blickfeld. Wenn Föhn weht, sind sogar einzelne Gipfelkreuze zu erkennen. Die weichgeschwungenen Linien des Glonner Hügellandes sind von den Gletschern der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren geformt worden. Diese Region südöstlich von München ist uralter Kulturboden, der jahrhundertelang von der bäuerlichen Bevölkerung pfleglich genutzt wurde: Äcker und Grünland, Wälder, Moore und kleine Wasserspiegel in lebhaftem Wechsel. Eingestreut darin liegen Einödhöfe, Weiler und, aus der Ferne von Kirchtürmen angezeigt, die Marktorte. Eine Landschaft, in der man sich schon bei der ersten Annäherung wohlfühlen kann.


Mit dem Fahrrad war ich etwa drei Stunden von München aus unterwegs. Dann tauchte auf einer Anhöhe ein paar Kilometer hinter dem Städtchen Glonn die kleine Siedlung auf. Herrmannsdorf besteht aus einem großzügig angelegten, von alten Laubbäumen flankierten ehemaligen Gutshof. Die Gebäude mit den Werkstätten und dem Wohnbereich sind im Viereck um den weiträumigen Wirtschaftshof gruppiert, den man durch Tore von mehreren Seiten aus betreten kann. Außerhalb, an der Straße, steht die Häuserzeile mit den Wohnungen, in denen früher die Landarbeiter und ihre Familien untergebracht waren.

Ein Glockenturm überragt die Anlage, die erst um 1900 im Stil eines alten oberbayerischen Vierseithofes erbaut wurde. Zum Schluß war dieser ganze Komplex zu einem Schweinemast-Großbetrieb heruntergekommen. Der Neuanfang wurde in den späten 80er Jahren gemacht. Seitdem ist das Anwesen innen und außen von Grund auf erneuert worden. Nach den neuesten Erkenntnissen des ökologischen Bauens, mit großem Respekt vor der Harmonie der umgebenden Landschaft und der ursprünglichen Anlage und mit einem immensen Aufwand an Ideen und Geld.

Der Umbau ist erst seit 1996 abgeschlossen. Das Weiß der Wände ist noch frisch, das Holz der Balken und Fenster und das Ziegelrot der Dachpfannen sind noch hell. Die Wahrzeichen der Erneuerung fallen sofort ins Auge: Ställe mit angrenzenden Freilandflächen, Permakulturgärten, Sonnenkollektoren, Wirtshaus und Hofmarkt, Biogasanlagen, biologische Klärteiche und: Kunstwerke unter freiem Himmel mit Namen wie "Windwaage", "Sonnenstein" und "Blaue Blume".

Keine der einzelnen Ideen, die hier umgesetzt sind, so lese ich, sei neu. Ihre Bündelung und Anordnung zu einem kleinen, überschaubaren, aber hochproduktiven Kreislaufsystem — das sei das Besondere an Herrmannsdorf. Man ist nicht erstaunt zu hören, daß bei der Planung neben Top-Architekten, Denkmalschützern und Vordenkern von ökologischer Landwirtschaft auch der Systemwissenschaftler Frederic Vester beteiligt war.

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Luftbild der Hermannsdorfer Landwerkstätten aus dem Jahr 1997

 

Auf dem Innenhof ragt ein weißblau bemalter Maibaum in den Himmel. An seiner Spitze ist statt des landesüblichen Wettergockels ein Schlapphut mit Gamsbart angenagelt. Den brauche man aber nicht zu grüßen, sagt jemand im Vorübergehen. Der Besitzer des Hutes und dieser Siedlung heilst Karl-Ludwig Schweisfurth oder - so läßt er sich selbst gern titulieren: Kl.S. Die Süddeutsche Zeitung nannte ihn in einem Artikel spöttisch den "Öko-Kini".

"Die Zweifel der Eliten sind die Schwalben der Veränderung", schrieb einmal der 1995 verstorbene Zukunftsforscher Robert Jungk. Das Subjekt der Transformation sah Jungk gewiß zuallererst in den Initiativen und Bewegungen an den Graswurzeln der Gesellschaft. Aber stets richtete er einen besonders aufmerksamen Blick auf den Dissens von Experten und den Ausstieg von Machern, also auf den "inneren Riß in den technokratischen Kommandozentralen unserer Zivilisation". Besonders viele solcher Schwalben sind in Deutschland zehn Jahre nach Robert Jungks hoffnungsvoller Prognose noch nicht zu beobachten. Zu diesen wenigen zählt sicherlich KLS. Ihm gehörte, bis er ihn 1986 verkaufte, der größte Fleischwaren­konzern Europas.

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"Herta, wenn's um die Wurst geht", war bis dahin der mit dem Foto einer grellbunten Wurstpalette und dem Foto einer einladend lächelnden Hausfrau illustrierte Werbespruch. In Herten, einer von der Maloche des Bergbaus geprägten Stadt im Ruhrgebiet, war die Schweisfurth KG über drei Generationen groß geworden. "Durch Qualität an die Spitze kommen", das war das Motto des Firmengründers von den Anfängen im Jahre 1897 an. Für gutes Schlachtvieh zahlte er den Bauern im Umland ein paar Mark mehr als üblich, würzte nach alten westfälischen Rezepturen und achtete strikt auf Hygiene. Von seinen Kunden verlangte er dafür Barzahlung. Mit dieser Firmenphilosophie expandierte die Metzgerei zu einem Konzern mit einer Belegschaft von 5000 Leuten und Produktionsstätten im In- und Ausland (Frankreich, Brasilien etc.), in denen am Fließhand pro Jahr eine halbe Million Schweine, Rinder und Kälber geschlachtet und verarbeitet wurden. Der Familienbetrieb war lange Zeit ein global player in einem blutigen Geschäft.

Als KLS Mitte der 60er Jahre das Imperium von seinem Vater übernahm, setzte er neue Akzente. Auf der grünen Wiese ließ er sich von einem avant­gardistischen Architekten ein neues Betriebsgelände entwerfen. Ein Bürokomplex aus Glas und Aluminium als "Forum des Betriebs" sollte (O-Ton '68) "funktional und rangstufenneutral" sein und "Transparenz und aktive Kommunikation stimulieren". KLS holte Gärtner und Künstler in die neue Fabrik, und zwar keine naiven Maler von röhrenden Hirschen, sondern die Avantgarde von '68. Warhol und Beuys waren da.

 

"Offen sein, nicht dieses verdammte einbetonierte Denken, diese eingeschliffenen Denkmuster." Karl Ludwig Schweisfurth ist heute 67 Jahre alt, schlank, mit sonnengebräuntem hagerem Gesicht, bewegt sich mit raschem, federndem Gang und wehenden grauen Haaren. "Offen sein für Neues, bisher noch nicht Gewesenes, noch nicht Gesehenes, neugierig bleiben, offen sein für neues Denken, neue Sichtweisen zulassen — das hat mir die Kunst gebracht. Ohne die moderne Kunst", hatte er ziemlich zu Anfang unseres ersten Gespräches im Frühling 1995 gesagt, "hätte ich diesen Weg nicht gehen können."

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Auf die Frage, welche Bücher ihn beeinflußt hätten, nennt der ehemalige Präsident des europäischen Fleischindustrieverbandes Erich Fromms <Haben oder Sein> von 1976 und E.F. Schumachers <Small is beautiful> von 1977. 

Aber auslösend für die Wende in seinem Leben seien seine Kinder gewesen.

Der Konflikt im Schoß der Familie, die kritischen Fragen seiner drei von den grünen und alternativen Gegenkulturen der späten 60er Jahre angehauchten Kinder: Was machst du eigentlich mit der Natur und der Umwelt? Für unser eigenes Leben stellen wir uns etwas anderes vor. "Ich begann, genauer hinzuschauen, wie heute in der Landwirtschaft Tiere gehalten werden und wie mit Tieren umgegangen wird. Was ich damals gesehen habe, hat mich tief erschüttert." Und das war der Moment der Umkehr.

KLS kann diesen Moment in seinem Leben auf den Tag genau datieren. Am 7. Januar 1984 sei die Vision von der Gründung einer großangelegten Öko-Mustersiedlung geboren worden. Es dauerte zwei Jahre, bis er den Verkauf des Konzerns an den Schweizer Nahrungsmittel-Multi Nestle abgewickelt hatte. (Nebenbei gesagt: Ein paar kleine "Filetstücke" behielt er.) Mit den Erlösen gründete er gemeinsam mit seiner Frau in München eine mit 30 Millionen DM ausgestattete Stiftung zur Förderung von ökologischem Landbau und begann ein neues Unternehmen, die Herrmannsdorfer Landwerkstätten. Das neue Motto heißt: "In besserem Einklang mit der Natur". Dieses neue Denken ist hier auf Schritt und Tritt präsent. In den Werbeprospekten wird es mit dem stilisierten Flugbild eines Steinadlers symbolisiert oder durch zwei anein-andergelegte Handteller, die zu einer schützenden und bergenden Höhlung geöffnet sind. Darin in grüner Schrift: Herrmannsdorfer Agrar-Kultur - Der achtsame Umgang mit Boden, Wasser, Pflanzen und Tieren. Darunter feierlich: Dafür stehe ich ein. Unterschrift in Faksimile: Karl L. Schweisfurth.

 

Anfangs ging es vorrangig um ökologisches Wirtschaften, um Erhalt von Bodenfruchtbarkeit, um Stoffkreisläufe. Was hinzukam im Laufe der Jahre - auch unter dem Einfluß von deep-ecology-Denkern oder von Wissenschaftlern wie dem Biophysiker Fritz-Albert Popp -, war die Rückbesinnung auf das Eigentliche und das Wesentliche von "Lebens-Mitteln". Dieses Wort schreibt man in Herrmannsdorf mit Bindestrich. Das soll betonen: Es sind Mittel, die von Lebewesen stammen und dem Leben dienen sollen.

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Für KLS ist die sinnliche Qualitätsebene, das, was zu sehen, fühlen, riechen, schmecken und zu genießen ist, ausgesprochen wichtig. Aber in der Nahrung sei noch eine andere, mit den Methoden der Lebensmittelanalyse bisher nicht erkennbare Qualitätsebene enthalten. In seinem 1996 veröffentlichten Buch "Auf der Suche nach Überlebens-Mitteln" hat KLS das so formuliert: "Wir glauben, daß es in den Lebens-Mitteln eine nicht meßbare geistige Ebene gibt, die auch Intelligenz, Information oder Lebensenergie genannt wird."

Ob man diese Energie mit Wilhelm Reich "Orgon" oder mit Rudolf Steiner "Astralleib" nenne, sei gleichgültig. Aber dieses "Leben", die eigentliche Essenz von hochwertigen Lebens-Mitteln, gelte es zu schützen und zu bewahren. "Wir haben durch alle möglichen Zusatzstoffe und durch alle möglichen Technologien und vor allem durch eine immer intensivere Erhitzung langsam, ohne es genau zu merken, das Leben in den Lebens-Mitteln zerstört." Gesunder Boden, reines Wasser, gute Sonnenexposition und möglichst große Bewegungsfreiheit seien die elementaren Voraussetzungen. Nur so könnten vitale Tiere und Pflanzen heranwachsen und ihr Leben leben. Und dann, wenn das Tier geschlachtet und die Pflanze gepflückt sei, komme es darauf an, von Stufe zu Stufe der Umwandlung in Lebens-Mittel diese "Lebensenergie" zu schützen, bis der menschliche Organismus sie sich einverleibe und damit seine Zellen erneuere, seinen Bio-rhythmus stabilisiere, Wärme produziere und sein Lehen erhalte. Diese Denkmuster haben die Strukturen von Herrmanns-dorf entscheidend geprägt und erweitert.

Die Konsequenz, die KLS aus dieser Denk-Reise in noch wenig erforschtes Terrain zieht: "Wir glauben an die alte ma-krobiotische Regel, die sagt: Iß Lebens-Mittel aus deiner Nachbarschaft, dort, wo sie gewachsen sind, und dann, wenn sie reif sind." Die Konsequenz daraus: "Wir haben gelernt, daß Ökologie vor allen Dingen auch Nähe ist." Denn nur Nähe ermögliche die Frische. Und Frische sei neben der schonenden Verarbeitung entscheidend für die ökologische Qualität von Lebens-Mitteln.

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Etwa 60 Leute sind in den Landwerkstätten beschäftigt. Viele von ihnen wohnen in Herrmannsdorf. Dort zu leben, wo man arbeitet, hat auch etwas mit dem Prinzip der Nähe zu tun. Die Führung unter Leitung von Frau Gessner beginnt in der von früher her so genannten Nordscheune. Dieses Herz der Okosiedlung erscheint zunächst verwirrend: als ein ausgeklügeltes, labyrinthisches System von Gängen, Treppen, offenen Plattformen, Ver- und Entsorgungsleitungen, Werkstätten, Speichern, Kühlräumen, unterirdischen Gewölben und Brunnen.
Wir gehen zuerst hinauf in die Backstube. Die Brote von heute morgen liegen schon ausgekühlt da, und der Bäckermeister ist schon gegangen, als wir die Backstube betreten. Er habe sehr viel zu tun mit der Einrichtung seiner eigenen Bäckerei, höre ich, denn er wolle Hcrrmannsdorf verlassen und sich selbständig machen.
"Wir stehen hier vor der Osttiroler Getreidemühle", sagt Frau Gessner. Das Korn werde täglich unmittelbar vor dem Backen gemahlen, um sämtliche Inhaltsstoffe, die das volle, reife Korn einschließlich der Schalen und des Keims enthalte, im Mehl zu bewahren. Verbacken wird vor allem Roggen, Weizen und Dinkel. "Wenn Sie rausschauen, dann sehen Sie, wo das Brot herkommt, was hier jetzt in der Kruste vor uns liegt."

Die Landwerkstätten bewirtschaften 170 Hektar selbst. Auf den Lehmböden in der Nachbarschaft gedeihe besonders Dinkel ausgesprochen gut. Diese alte Weizenart sei nicht nur besonders wertvoll für die Ernährung, ein Dinkelfeld sei auch eine Augenweide: "Das sind ja ewig lange Halme, wunderschöne, farbkräftige Halme, rosa Halme mit großen Ähren dran."

Wir gehen von der Mühle hinüber zum Backofen, einem zweistöckigen, nach altem Muster aus Lehm gebauten Heizofen. Angeheizt wird er mit Buchenscheiten auf 360 Grad. Ein I eil des Brennholzes kommt aus dem eigenen, nachhaltig bewirtschafteten Wald. Nach dem Ablöschen schieben die Bäcker die Brotlaibe in diesen heißen Ofen. In der Backstube stehen auch moderne, mit Heizöl betriebene Backöfen, die nach neuesten Standards mit Bedampfungsanlage und anderen Funktionen, die auf Knopfdruck reagieren, ausgestattet sind.

Ein Lehrling, den ich nach dem Unterschied im Geschmack der Brote frage, zögert kurz. Die Kruste, meint er dann, sei anders.

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Foto: Karl-Ludwig Schweisfurth, 
Gründer der beispielhaften Öko-Mustersiedlung unders.

Beim Holzofenbrot reiße sie schöner auf und gehe dem Brot ein besonderes Aroma. Das Holzofenbrot, ein gewürztes Bauernbrot, heißt nach dem noch amtierenden Bäckermeister "Martinsbrot". Im Hofladen bezahle ich später für den ein Kilo schweren Laib an die acht Mark.

"Sehen sie den Regenbogen auf dem Arbeitstisch?" Ein bunter Fleck tanzt auf der Arbeitspläne der Bäcker hin und her. "Schauen Sie mal die Fenster an", sagt Frau Gessner und zeigt auf die Prismen, die da aufgebracht sind. "Der Kaum ist nämlich nach Osten ausgerichtet, weil die Bäcker die ersten sind, die morgens die Sonne sehen, und diese Prismen verteilen die Regenbogenstrahlen in der ganzen Bäckerei."

Beim Weitergehen verfliegt der Duft des frischgebackenen Brotes, und der aromatisch-süßliche Geruch von Hopfen und Malz steigt in die Nase. Im urwüchsigen fränkischen Dialekt erzählt der Braumeister, der Nikolaus Starkmeth heißt, von seiner Art, Bier zu brauen. "Jeder Rohstoff ist anders. Ich hab' jetzt neue Malzlieferungen bekommen, da weiß ich erst nach ein oder zwei Süden, wie die sich genau verhalten. Es ist derselbe Jahrgang, aber von einem anderen Acker. Und da kann's sein, daß das Malz ein bissel anders behandelt werden will. Und darauf kann ich eingehen. Das kann der Computer nicht."

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Der Braumeister ist gerade beim Abläutern. Im Kessel siedet eine dunkle Brühe. Aus dem Maischebehälter fließt der Sud durch ein Sieb, auf dem sich die Spelzen, die Schalen der Gerste, abgelegt haben, in den Läuterbottich. Was da rausfließt, ist ein naturtrübes Bier. Die Feststoffe werden in den Spelzen zurückgehalten. Das ist der Treber. Dieses Abfallprodukt des Bierbrauens ist eine eiweißreiche Substanz mit Zucker und Ballaststoffen. Im Kreislauf von Herrmannsdorf findet es als hervorragendes Tierfutter Verwendung. "Die handwerkliche Arbeit macht's teuer", sagt der Braumeister, "macht's aber eben auch sehr individuell." Damit ist offensichtlich auch ein Problem verbunden, mit dem man hier überall zu tun hat. "Ein ökologischer Rohstoff lebt und hat aufgrund dessen auch schwankende Eigenschaften. Gewisse Geschmacksschwankungen sind von mir akzeptiert. Ich könnt' was machen, um eine gewisse Einheitlichkeit reinzukriegen, aber ich tu's nicht. Für mich ist wichtig, daß der Kunde wieder sich selbst glaubt und nicht irgendwas anderem."

Als wir später auf dem Rundgang noch einmal an der Brauerei vorbeikommen, sehe ich den Braumeister des "Herrmansdorfer Schweinsbräu", wie er Etiketten auf die Flaschen klebt. Außer ihm gibt es hier nur noch einen Lehrling.

An der Wand der Brauerei war mir ein System von mit Röhren verbundenen Wasserschalen aufgefallen. Solche sogenannten Verwirbelungsschalen hatte ich schon in der Backstube gesehen. Das Wasser fließt von einer Schale in die andere hinab. Auf dem Weg wird es durch den Schwung mit Sauerstoff angereichert und bekommt dadurch eine höhere Qualität und mehr Energie. Auch in der Käserei wird mit dem so aufbereiteten Wasser gearbeitet. Und selbst draußen am Klärteich und auf der Weide bei der Viehtränke sind solche Verwirbelungsschalen installiert. Eine Maßnahme zur Verbesserung der Wasserqualität? Ein ästhetisches Spiel mit dem Element Wasser? Spielerische Kunst am Arbeitsplatz? Herrmannsdorf, das ist inzwischen klargeworden, hat auch seine esoterischen Momente.

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Wirft man auf dem Gang durch die Werkstätten einen Blick aus dem Fenster, sieht man nicht nur die Felder, auf denen das Korn für das Brot und die Gerste für das Bier wachsen, sondern auch das Grünland, auf dem das Milchvieh weidet. Fünf Milchbauern aus der unmittelbaren Nachbarschaft liefern täglich 2000 Liter Milch für die Käserei. Sie haben präzise abgefaßte Verträge. Die Landwerkstätten zahlen den Bauern etwa 20 Pfennig mehr pro Liter als die örtliche Molkerei. Die Bauern müssen sich dafür eidesstattlich verpflichten, die Herrmannsdorfer Grundsätze für ökologische Landwirtschaft einzuhalten und jederzeit Kontrollen zuzulassen. 10.000 Keime pro Milliliter ist die Norm, die nur durch arbeitsintensive Methoden und strengste Hygiene erreichbar ist. Eine normale Molkerei würde noch Milch mit 300.000 Keimen akzeptieren, weil sie die Milch weitgehend sterilisiert.

 

Unsere Schritte hallen in dem Gewölbe der Käserei, drei Meter unter der Erde, wo der Käse zum Reifen liegt. Die Anlage llt neu. Die Methode, gemauerte, unterirdische Gewölbe zur Kühlung zu nutzen, ist uralt. Hier ist sie mit moderner Kühltechnik, die im Notfall eingeschaltet wird, kombiniert. Die Investitionskosten betragen nur ein Drittel der Kosten eines heute üblichen Kühlhauses, der Energie-Einsatz ist auf ein Zehntel reduziert.

Hier unten erklärt Hans Schindecker, der junge Käsermeister, wie er mit dem Lebens-Mittel Milch umgeht. "Wir machen Rohmilchkäse. Das gibt's eigentlich fast nimmer. Nur noch in zwei oder drei anderen Betrieben in Deutschland. Der Käse lebt, weil die Milch nicht pasteurisiert ist, sondern die natürliche Rohmilch von der Kuh genommen wird. Das ist ein naturbelassenes Produkt, weil da nix hinzukommt oder wegkommt."

Jeder Käse ist individuell. Der Geschmack kann variieren: je nach Jahreszeit, nach dem Wetter auf der Weide, nach dem Futter der Tiere, nach der Reifedauer. Der Braumeister hatte das Problem schon angedeutet, die Käserei hat offensichtlich stark mit eingeschliffenen Verbrauchergewohnheiten zu kämpfen. Der Käs' vor drei Monaten habe anders geschmeckt, würden viele Kunden reklamieren, sagt Hans Schindecker. 

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"Es ist klar, aber das liegt nicht an uns, sondern am natürlichen Ausgangsprodukt, der Milch. Das ist leider ins Bewußtsein noch nicht ganz eingedrungen, daß man nicht auf der einen Seite Handwerk und biologische Erzeugnisse haben kann, auf der anderen Seite aber den immergleichen Standard wie im Supermarkt. Das geht halt net."

Wir gehen ins Freie. Hinter der Nordscheune mit den Werkstätten liegen die Anlagen für die Schweine. Schwäbisch-häl-lisch heißt die Rasse, eine alte Haustierrasse, die wegen ihrer unerwünschten relativ großen Fettauflage lange nicht mehr gezüchtet wurde. Susanne Wegemann, studierte Okologin und erfahrene Biobäuerin, ist für die Schweinehaltung verantwortlich. "Wesentlich ist, daß man sich mehr darauf besinnt, was die Tiere brauchen, was für die Tiere gut ist." Die meisten der relativ kleinen, lustig gestreiften Tiere haben sich gerade in den inneren Bereich zurückgezogen und liegen auf dem Stroh ausgestreckt. Man legt hier Wert auf die klare Strukturierung des Lebensraumes der Tiere, auf die Trennung von Lauf-, Abkot- und Freßbereich. Der Liegebereich hat mehr einen Nestcharaktcr, dort suchen die Tiere durchaus auch Fnge und Körperkontakt. Frau Wegemann beruft sich dabei nicht nur auf eigene Beobachtungen, sondern auch auf den internationalen Forschungsstand. Man hat nämlich festgestellt, daß sich die Hausschweine in ihren Verhaltensweisen von der Urform nicht unterscheiden. Deren Instinkte haben sich keineswegs verflüchtigt. "Wenn man Hausschweine nimmt und in der Wildnis aussetzt, verhalten sie sich genauso wie Wildschweine. Sie fangen an, sich ein Nest zu bauen. Und das tun sie hier auch. Man muß ihnen nur die Möglichkeit geben." Die Schwierigkeit sei die Wirtschaftlichkeit. Schweinefleisch aus artgerechter Tierhaltung wird nicht genügend nachgefragt. "Im Moment kriegt man auf dem konventionellen Markt bis zu vier Mark 80 pro Kilo, und wir kriegen fünf Mark. Damit können wir unsere Kosten nicht decken."

Der Zwang zur Wirtschaftlichkeit wird auch in diesem Musterbetrieb stärker. Auch die Züchterin der Herrmannsdorfer Schweine hat nur eine Halbtagsstelle.

 

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Eine andere Grppe kommt zur Besichtigung, als wir gehen. Es sind Bauernfaniilien von der Schwäbischen Alb, die mit dem Bus angereist sind. Sie stehen vor den Stallungen und hören den Erklärungen zu - viele mit verschränkten Armen und wuchern, aber skeptischem Blick, so als wollten sie sagen: Das Ganze ist der Spleen eines Multi-Millionärs. Gut gerneint. (int durchdacht. Aber es kann in der Praxis nicht funktionieren. Es rechnet sich nicht.

Wir betreten das Schlachthaus. Hier in diesem überdachten Rniim, voll mit Einstreu versehen, warten die Tiere, die ge-"chlachtet werden. Sie werden von dem, der sie aufgezogen hnt, hierher gebracht. Die Transportwege sind kurz. "Und dann", so betont Frau Gessner und zeigt auf die Eisentür, "ist der ganz wichtige Unterschied, daß jedes Tier einzeln zum Schlachten gebracht wird. Es muß also niemals ein Tier den Tod seines Artgenossen mit ansehen."
l linter der Tür, im Betäubungstrakt, werden die Schlacht-ticre mit dem Bolzenschußgerät oder der Zange betäubt. Wir (It'lu-n durch eine weitere Tür. In der Kammer, in der wir uns null befinden, wird das Tier gestochen und entblutet. Durch die räumliche Trennung bleiben den Tieren der große Schock lind die Todesangst erspart. Allerdings haben sie einen feinen (it'ruchssinn, und was sie von diesem Geschehen genau mitbekommen, weiß niemand.

Unmittelbar nach dem Schlachten - es vergehen keine 20 Minuten - wird das Fleisch des Tieres verarbeitet. Im Wurmen Zustand sind noch sämtliche Inhaltsstoffc vorhanden. Man muß nichts künstlich zusetzen. Man braucht keine (ic'schmacksverstärker. Man braucht keine Phosphate, weil der l'ierkörper eigene Phosphate hat, durch die eben die l ler Ntfllung von Wurst begünstigt wird. Warmfleischtechnologie heißt das Verfahren. Früher, hei den Schlachtfesten auf dem l .und, war es das einzig Mögliche. Man hatte keine Konser virrungsstoffe und Kühlanlagen. Heute arbeitet man mit den Kenntnissen von früher und den neuesten Technikstandards /.iigleich.

"Schmeckt so wie früher", heißt ein Werbeslogan der l lerr-mannsdorfer Landwerkstätten. Er beschwört die suggestive Macht der Nostalgie, die Erinnerung an die Schönheiten und Genüsse des verlorengegangenen einfachen Lebens auf dem Lande.

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Die Frage nach seinem Verständnis von Ethik ist KLS gewohnt. "Die Tiere, die wir schlachten, die haben gelebt, die haben ihre eigenen Bedürfnisse ausleben können. Die haben so etwas wie ihre eigene Lebensqualität gehabt. Das ist der würdevolle Umgang, der respektvolle Umgang mit den Tieren, die wir halten: die Art, wie sie leben, wie wir sie füttern, wie wir mit ihnen umgehen. Und dann kommt man nicht daran vorbei, sich darum zu bemühen, auch auf dem letzten Gang des Tieres dafür zu sorgen, daß es seine Würde behalten kann, das heißt, es nicht zu quälen, es nicht zu ängstigen, es nicht zu erschrecken. Und das geht wohl nur, wenn auch der Mensch dabei seine Würde nicht verliert. Wenn der Handwerker einmal oder zweimal in der Woche eine überschaubare Anzahl von Tieren tötet und dann wieder andere Arbeiten macht, dann wird das nicht zur Routine, dann wird das nicht zur Fließbandarbeit, sondern es wird sehr bewußt getan."

Ein weiter Weg seit der Verherrlichung des Fleischkonsums. Achtsamer Umgang mit dem Leben der Tiere heißt jetzt: bewußter Verzicht auf Fleisch von Tieren, die ein armseliges Leben und einen qualvollen Tod hatten. Statt dessen:
Fleisch aus artgerechter Tierhaltung verzehren, bewußter Fleisch essen, weniger Fleisch essen. Es heißt auch, für die ethische Dimension und die ökologische Qualität einen wesentlich höheren Preis in Kauf zu nehmen.

Draußen, an der Südseite der Werkstätten, besichtigen wir gegen Ende des Rundgangs die Anlagen für die Energieversorgung. Auch hier gilt das Prinzip der Nähe. Herrmannsdorf hat ein eigenes System der Energieversorgung. Energie aus nachwachsenden Rohstoffen, das ist der Grundgedanke. Die Symbiose von Abfallwirtschaft und Energiegewinnung ist der Weg: Die Landwerkstätten nutzen die Synergien, die entstehen, wenn wieder Landwirtschaft und Verarbeitung, Markt und Wohnen beieinander sind. Nach dem Vorbild der Natur wandeln sie die Abfälle des einen Bereichs in Rohstoffe für den anderen Bereich um. Die Technik: eine Biogasanlage und ein Blockheizkraftwerk. Zunächst wird die Biomasse, die in der Produktion anfällt, also Tiermist und andere organische Abfälle, in einem Schnitzelwerk zerkleinert, mit einem Quirl verrührt und in einem ersten Gärtank erwärmt. Von dort läuft

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diese Jauche hinüber in die zweite Gärstufe. Bei den Vergärungsprozessen entsteht Methangas. Damit werden Motoren angetrieben, die elektrischen Strom erzeugen, wobei die dabei gleichzeitig entstehende Wärme als Prozeßwärme zum Heizen genutzt wird.

"Wir könnten autark sein. Wenn der Strom ausfällt, können wir uns selber versorgen", sagt Frau Gessner. Aber im Durchschnitt werde zur Zeit nur etwa ein Drittel der benötigten Energie selbst hergestellt. In der dritten Gärstufe ist von der Biomasse dann nur noch Gülle übrig, die so ausgefault und reif ist, daß sie, ohne die Felder zu überschwemmen und das Grundwasser zu verseuchen, auf den Böden ihre nährende Wirkung entfalten kann und die Bodenfruchtbarkeit für die nächste Vegetationsperiode fördert. Das sind die Kreisläufe nach dem Vorbild der Natur, an denen man sich orientiert.

"Wir können", sagte KLS, "sehr viel von dem Mehraufwand für handwerkliche Arbeit auf der anderen Seite wieder einsparen. Durch Synergien, die wir haben. Durch Nähe, Vermeidung von Zwischenlagerung, Vermeidung von Transporten und indem wir unsere eigene Energie gewinnen. Hier können wir einen Teil der höheren Arbeitskosten wieder kompensieren. Und das ist für mich ein wichtiger Weg in die Zukunft. Denn, ich denke, jedermann weiß heute: Das Problem Nr. 1 ist: Wie beschaffen wir genügend Arbeit für die Millionen von Menschen, nicht nur hier in unserem Land, sondern in der ganzen Welt."

 

Nach dem Rundgang gehe ich in der Markthalle von Herrmannsdorf einkaufen. Der Laden ist zentrales Glied einer kleinen Ladenkette. Die anderen sechs Geschäfte liegen in verschiedenen Münchner Stadtteilen. Außerdem werden einige Wochenmärkte beliefert. Alle Verkaufsstellen liegen in einem Radius von 50 Kilometern. Wieder das Prinzip der Nähe, wie bei der Erzeugung. Die Markthalle befindet sich gegenüber der Nordscheune neben dem ehemaligen Herrenhaus des Gutes, wo heute der Sohn von KLS, der die Leitung der Landwerkstätten übernommen hat, wohnt. Zusammen übrigens mit den Lehrlingen des Betriebes. Dieser Hofladen mit seinen holzvertäfelten Fassaden und dem weit überkragenden Dach wirkt von außen wie eine alpine Hütte.

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Wenn man eintritt und an dem Gemüsestand, der von einer selbständigen Bio-gärtnerei betrieben wird, vorbei ins Innere kommt, ändert sich die Atmosphäre. Hier fühlt man sich eher wie in einer gediegen und geschmackvoll eingerichteten und ausgeleuchteten Delikateß-Abteilung eines eleganten Kaufhauses. Das scheint mir das Konzept von Herrmannsdorf zu sein: Grundnahrungsmittel als Delikatessen anzubieten.

Hinter dem Glas der verschiedenen Ladentheken sehe ich nun in ganzer Fülle die Dinge, deren Produktion ich in den Werkstätten beobachtet hatte: die kräftigen Laibe Martinsbrot, die Literflaschen Nikolausbräu mit dem praktischen, alten Bügelverschluß, die Stücke Rohmilch-Camembert und Alter Herrmannsdorfer, die luftgetrockneten Parmaschinken und die vielen Wurstkringel. Überall liegen Kostproben bereit. Die Verkäuferinnen geben geduldig und kompetent Auskünfte über die geschmacklichen Besonderheiten und die ökologische Qualität der jeweiligen Erzeugnisse. Hier einzukaufen macht Spaß. Mein Einkaufskorb füllt sich mit dem Nötigen für die zwei, drei Tage, die ich hier verbringen werde.

"Schmecken Sie und lassen Sie Ihren Körper fühlen mit allen seinen Sinnen" (O-Ton-Werbung). Ich habe in diesen Tagen mit sehr großem Genuß von dem Eingekauften gelebt. Alles hat geschmeckt. Aber es hat auch seinen Preis: ein Kilo-Brot - acht Mark, zwei Flaschen Bier - zehn Mark, 200 Gramm Bergkäse - sieben Mark. An der Kasse habe ich rund 50 Mark bezahlt. Noch einmal soviel müßte ich wohl für eine warme Mahlzeit im "Schweinsbräu", dem Wirtshaus in der Nordscheune, anlegen. Der Name klingt bieder, die blankgescheuerten Holztische wirken rustikal. Die Küche kocht nach regionalen Rezepten überwiegend mit den selbsterzeugten Rohstoffen. Aber die Kochkunst kann es in Sachen Raffinesse - und auch was die Preise angeht - mit den Gourmet-Restaurants in der Münchner Innenstadt aufnehmen. Als ich da war, bevölkerten eine vielköpfige Hochzeitsgesellschaft und ein Damenkränzchen, das einen Geburtstag feierte, die Gaststätte. Die meisten Autos auf dem Parkplatz hatten Münchner Kennzeichen. "Die einfachen Leute von hier gehen da oben nicht einkaufen oder essen", hörte ich in einem Dorf in der Nähe. 

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Für das Geld, was man da für einen Schweinsbraten zahle, bekomme man woanders zwei. Aus der Region - für die Region? Die Leute zucken mit der Schulter. Für die unteren Schichten in diesen Dörfern war das Prinzip der Nähe von alters her ein ökonomischer Zwang, dem man erst in dieser Generation endlich entronnen ist.

Mit den als richtig erkannten Prinzipien und der erreichten ökologischen Qualität ökonomisch überlebensfähig zu werden und zu bleiben ist ein Ziel, das sich der Unternehmer Schweisfurth von Anfang an gesetzt hat. Nur mit schwarzen Zahlen kann Hermannsdorf in die Breite wirken. Wann das Ziel erreicht sein wird, scheint noch offen.

Szenenwechsel. 

30 Kilometer Luftlinie von Herrmannsdorf entfernt. Ein Haus in dem Schloßrondell, das in einem weiten Halbkreis die Front des Nymphenburger Schlosses einschließt. Das ehemalige Kavaliershaus ist das Münchner Domizil der Schweisfurth-Stiftung. Ich warte im Garten hinter dem Haus. Unter alten Bäumen - Rotbuchen, einer Robinie, Holunderbüschen - blüht eine Blumenwiese mit hohem, wogendem Gras, Margeriten und Hahnenfuß. Ein Spiel von Licht und Schatten der Blätter und Gräser. Eine Amsel singt. Ein Schmetterling flattert vorüber. Der Lärm der Großstadt dringt nur gedämpft in diesen Innenraum. Ein Gartenweg schlängelt sich vorbei an einer Laube und rohgezimmerten Bänken zu einem Komposthaufen. Vor der Laube thront eine Buddha-Figur. Hier läßt sich gut über Natur philosophieren.

"Die Schweisfurth-Stiftung dient einer neuen Kultur des Umgangs mit der Erde — mit Tieren, Pflanzen und Menschen." So lese ich in einem Jahresbericht der Stiftung. Und an anderer Stelle: "Die immer deutlicher spürbaren Umweltprobleme erfordern eine neue Selbstbestimmung des Menschen im Ganzen der Natur, die Ausbildung eines ganzheitlichen Bewußtseins der Wechselwirkungen zwischen allem Lebendigen." Fotos von Veranstaltungen in der Stiftung zeigen Leute, die auf Stühlen oder auf dem Boden im Kreis sitzen, debattieren, meditieren, spielen.

Das Veranstaltungsverzeichnis listet viel internationale Prominenz auf: Matthew Fox, den Schöpfungs­theologen aus Kalifornien, Donella Meadows aus den USA, die die "Grenzen des Wachstums" mitverfaßt hat, Arne Naess, den deep-ecology- Vordenker aus Norwegen, Masanoba Fukuoka, den japanischen Garten-Philosophen.

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Als KLS kommt, sind wir im Gespräch ganz schnell bei den neuesten Entwicklungen in der Nahrungsmittel­produktion, bei den geklonten Tieren und den gentechnologisch veränderten Pflanzen. Das komme unaufhaltsam, meint KLS. 

"Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, so etwas zu stoppen. Wenn man im Einzelfall streng naturwissenschaftlich im Hinblick auf Ursache und Wirkung nachweisen könnte, daß zum Beispiel die Hormone in dem amerikanischen Rindfleisch für die menschliche Gesundheit gefährlich sind. Nur wenn Sie diesen Nachweis bringen können, haben Sie eine Chance, so etwas zu verhindern, sonst nicht."

Was können die Herrmannsdorfer Landwerkstätten und die Schweisfurth-Stiftung dieser globalen  Entwicklung entgegensetzen?

"Wir arbeiten daran, daß es eine Alternative gibt neben diesem Hauptstrom, neben dieser Hauptentwicklung, um all den Menschen, die das nicht wollen - sei es aus persönlichen oder aus ethischen Gründen oder weil sie Angst vor gesundheitlichen Schäden haben -, um diesen Menschen etwas anderes anbieten zu können, um sagen zu können: Wenn ihr das nicht wollt, hier ist ein Gegenangebot. Ich weiß es ja auch nicht, ob diese technischen Entwicklungen, die wir heute haben, schädlich oder nützlich sind, ob die gut oder schlecht sind. Wer will denn das schon beurteilen? Vielleicht wissen wir ja in 20 Jahren mehr darüber. Also nicht schwarz und weiß malen, sondern einfach dafür sorgen, daß es eine Option gibt. Daran arbeiten wir, und daran arbeiten alle die, die irgendwo mir dem ökologischen Landbau zu tun haben, mit der ökologischen Lebens-Mittel-Herstellung und deren Vertrieb. Es muß zumindest dieses Angebot, diese Option auf etwas anderes dasein."

Entscheidend ist, wie dieses Gegenangebot beschaffen ist, damit es Zuspruch findet.

"Das Angebot muß gut sein, und es muß auch professionell gemacht sein. Es muß überzeugen und den Ansprüchen der Menschen von heute genügen. Und es muß vor allen Dingen schön sein, muß Freude machen. Ökologisch allein, das reicht nicht, ist meine Erfahrung. Man muß sich bei dem Genuß von solchen Lebens-Mitteln besonders gut fühlen. Wenn man denn noch auf seinen Körper hören kann. Man muß sich besser fühlen. Man muß mehr Freude daran haben. Das gehört schon mit dazu. Mit Ökologie allein kann man nur sehr wenige Menschen ansprechen."

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Der Ausstieg aus der industriellen Massenproduktion hatte Schweisfurth massive Anfeindungen aus dem Unternehmerlager eingetragen. Sein Beharren auf unternehmerischem Denken und Handeln machte ihn - zumindest am Anfang - in der ökologischen Bewegung zum Außenseiter.

"Ohne die fachliche Professionalität funktioniert das Ganze nicht. Dann bleibt es ein schöner Traum. Ökologie muß sich mit handwerklicher Professionalität paaren. Erst dann entsteht das, was wir ökologische Qualität nennen. Und damit, glaube ich, kann man die Menschen überzeugen. Ein Lebens-Mittel, das ökologisch hergestellt ist, aber nicht schmeckt, ist für mich keine Lösung für die Zukunft. In der ganzen ökologischen Bewegung gibt es wunderbare Menschen, die sich unglaublich einsetzen und die mit ganzem Engagement dabeisind. Aber das reicht nicht aus. Es gehört nun mal die Professionalität dazu. Das war immer so, und das wird so bleiben. Und das ist ein ganz großes Anliegen von mir. Da bin ich auch gnadenlos und kompromißlos und bestehe darauf, daß diese Ehe von Ökologie und Professionalität wirklich gelebt wird."

Auf die Frage, ob ein solches professionelles ökologisches Wirtschaften nicht Rieseninvestitionen erfordere und damit ein Privileg der Reichen bleibe, verweist KLS auf die angepaßte Technologie von Herrmannsdorf. Die gemauerten Gewölbe der Käserei, der Lehmbackofen und andere angepaßte Technologien seien gerade auch in armen Regionen und Ländern, zum Beispiel in den ehemals sozialistischen Ländern, möglich und sinnvoll.
"Da, wo nicht viel Geld ist für Investitionen, wo aber Menschen sind, die solche Dinge aus ihrem handwerklichen Können heraus selber herstellen können, macht es Sinn. Ein Gewölbe kann ein guter Maurer selber bauen, einen Backofen auch. Und was dann noch an Technik notwendig ist, kostet nicht viel. Für diese angepaßten Technologien brauchen wir Handwerker, die wieder große Zusammenhänge überschauen können.

Also eine Vision von zwei, drei, vielen Herrmannsdörfern?

Ein Zitat aus Schweisfurths Buch von 1996: 

"Menschen eines Dorfes oder einer überschaubaren Gemeinschaft schließen sich zusammen und organisieren sich zu gemeinsamem Wirtschaften. Das kann in Form von kleinen Genossenschaften, Erzeugergemeinschaften, wirtschaftlichen Vereinen oder im Rahmen von Kapitalgesellschaften geschehen."

Regionale Netzwerke müßten auf diesem Weg entstehen, erläutert KLS dieses Konzept. Selbständige Bauern, vertraglich verbunden mit Handwerkern, die die Pflanzen und Tiere zu Lebens-Mitteln verarbeiten, und mit denjenigen, die solche Lebens-Mittel vermarkten. Wichtig sei das vertragliche Netzwerk, in dem die Regeln genau beschrieben sind. Jeder könne selbständiger Unternehmer bleiben, aber er müsse sich qua Vertrag zu bestimmten Leistungen verpflichten, sonst falle das Ganze auseinander. Und: Es müsse gewährleistet sein, daß die Abfall- und Energiewirtschaft im Verbund möglich ist. Ein solches Netzwerk dürfe eine bestimmte Größe nicht überschreiten. Es müsse überschaubar und handhabbar bleiben.

Ich stelle zum Schluß die Frage nach der Vernetzung der eigenen Mitarbeiter. Herrmannsdorf sei keine Kommune, erklärt KLS. "Mitbestimmung in der Form, daß alle über alles entscheiden - das geht nicht, dann werden wir nie fertig." Es gibt eine Geschäftsleitung. Es gibt Meister, die für ihren Bereich verantwortlich sind. Und es gibt auch sehr viele Gesprächsrunden: Meisterrunden, die regelmäßig zusammenkommen, den Mitarbeiterrat, wo soziale Spannungen erörtert werden. Es gibt viele Seminare und Fachvorträge. Das erfolgt alles ohne Zwang. Jeder muß seinen eigenen Weg finden.

"Es gibt also nicht — um Gottes Willen! — den Gleichklang wie in einer Sekte. Jeder muß sich als eigene Persönlichkeit entwickeln können. Also kein irgendwie gearteter Zwang, keine Gleichschaltung." Statt dessen der Hinweis: "Leute, macht euch auf den Weg. Macht eure Schritte. Leben ist Wachstum. Leben ist Veränderung. Bleibt in Bewegung. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger."

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