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Teil 1 

Die Vernichtung
des Lebens 

Geulen-2020

aus der Verlagsleseprobe

Buch beim Verlag

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wikipedia  Enola_Gay

wikipedia  Paul_Tibbets  1915-2007

wikipedia  Boeing_B-29  

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Ditfurth-1985

Weiner-1990

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12-39

Das Leben auf der Erde ist vor drei Milliarden Jahren im Wasser entstanden. Vor 400 Millionen Jahren begannen Lebewesen, das Wasser zu verlassen und das Land zu besiedeln. Die ersten Säugetiere haben sich vor 200 Millionen Jahren entwickelt, die ersten Hominiden vor 2,8 Millionen Jahre. Der qualitative Sprung zum homo sapiens fand vor 300.000 Jahren statt. Die dokumentierte Menschheitsgeschichte begann mit dem Ende der letzten Eiszeit vor 10.000 bis 12.000 Jahren.

Nach 200 Jahren Industrialisierung haben die nuklearen und thermischen Vernichtungspotenziale die Aussicht auf künftiges irdisches Leben unumkehrbar beendet.

Bemisst man die Geschichte der Menschheit mit dem Maße eines Meters, leben wir gegenwärtig innerhalb des letzten Millimeters.

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Die Endzeit der Menschheit begann am 16. Juli 1945 mit den ersten Zündungen nuklearer Bomben in der Wüste von New Mexico und den folgenden Einsätzen in Hiroshima und Nagasaki.

Inzwischen übersteigt die Sprengkraft der einsatzbereiten Nuklearwaffen die der sogenannten Hiroshimabombe um das 24.000-fache; bereits wenige Prozent des nuklearen Zerstörungs­potenzials reichen aus, das gesamte Leben auf der Erde in 10 bis 15 Stunden zu exterminieren.

Auch die thermische Vernichtung des Lebens ist unumkehrbar. Seit Beginn der Industrialisierung wird die Atmosphäre unaufhaltsam carbonisiert, zur Zeit mit etwa 105 Millionen Tonnen CO2 täglich. Das polare Eis schmilzt um etwa 335 Milliarden Tonnen pro Jahr, das Dreifache des verbliebenen Gletschervolumens der Alpen. Die Erderwärmung wird in den nächsten Jahrzehnten exponentiell zunehmen und die terrestrischen und maritimen Öko­systeme weiter zerstören.


  I.  Die Spaltung des Atoms und der Nuklearkrieg  

   1-  Das Sterben des Einzelnen - sofortige Vernichtung, letale Verstrahlung      2-     3-     4-        ^^^^

 

In den frühen Morgenstunden des 6. August 1945 startete in Tinian, einem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt im Guam-Archipel, ein Militärflugzeug des Typs B-29-Superfortress in Richtung der japanischen Insel Honshu. Der Bomber war beladen mit einer Uranbombe, der »Atombombe«. Der Einsatzbefehl lautete, die Bombe über der japanischen Stadt Hiroshima zu zünden. Der Pilot Paul Tibbets hatte auf den Rumpf seiner B-29 den Namen seiner Mutter geschrieben, Enola Gay; die Bombe war »Little Boy« getauft worden. Er überflog zunächst den Luftwaffenstützpunkt Ihoa Iwojima zwischen Guam und Honshu und schloss sich mit zwei weiteren B-29-Maschinen zu einem Verband zusammen. Eine dieser Maschinen führte Messgeräte mit, um die Druckwellen der nuklearen Explosion aufzuzeichnen, die zweite Maschine sollte die Folgen der Zündung mit Photo- und Filmkameras dokumentieren. 

Der Verband näherte sich von Osten seinem Ziel, der Aioi-Brücke im Zentrum Hiroshimas. Gut vier Kilometer vor dem Ziel wurde »Little Boy« aus einer Höhe von zehn Kilometern ausgeklinkt. Die Bombe hatte keinen eigenen Antrieb. Sie flog zunächst mit der Geschwindigkeit des Flugzeugs, beschleunigte während des Falls und fiel in einer ballistischen Kurve ihrem Ziel entgegen, das sie – wie berechnet – 43 Sekunden nach dem Ausklinken erreichte. Nach dem Abwurf drehte die Enola Gay in einem Winkel von 155 Grad ab und umkreiste gemeinsam mit den beiden Begleitflugzeugen in einer horizontalen Entfernung von 18,5 Kilometern und einer Höhe von ca. zehn Kilometern einen Punkt am Stadtrand von Hiroshima, um die Wirkungen der Zündung zu beobachten. »Jeder zählte bis 43«, berichtete ein Besatzungsmitglied später. Sie sahen schließlich den Atomblitz, einige Sekunden später erreichte sie die Druckwelle und kurz danach eine zweite, die durch die Reflexion der ersten am Boden verursacht worden war.(1)

Hiroshima war bis zum 6. August 1945 vom Krieg weitgehend verschont geblieben. Mehrere japanische Großstädte, darunter Tokio, waren von der US Air Force mit konventionellen Bomben angegriffen worden, Hiroshima nicht. Die Menschen wussten nichts von der Vernichtungswaffe, die die Amerikaner drei Wochen zuvor in New Mexico erfolgreich getestet hatten, und sie wussten nichts von den Ultimaten, die ihrem Kaiser und ihrer Regierung gestellt worden waren. Der Anflug der Enola Gay und ihres Verbandes war von der japanischen Radarüberwachung wahrgenommen worden. Es wurde Bombenalarm ausgelöst. Die Bombenangriffe auf japanische Großstädte wie Tokio waren jeweils in großen Verbänden geflogen worden. Als sich herausstellte, dass lediglich drei amerikanische Militärmaschinen im Anflug waren, wurde der Bombenalarm aufgehoben. Die Menschen in Hiroshima konnten die anfliegenden Maschinen auch nicht hören. Berechnungen haben ergeben, dass Little Boy aufgrund seiner hohen Fallgeschwindigkeit zündete, bevor der Motorenlärm der B-29-Bomber die Stadtmitte erreichte.

Little Boy zündete die Kettenreaktion um acht Uhr, 16 Minuten und zwei Sekunden Ortszeit in ca. sechshundert Metern über der Stadtmitte. Niemals zuvor hatte es auf der Erde eine vergleichbare menschengemachte Explosion gegeben. Die Temperatur im Fokus der Explosion wird später mit ca. einer Million Grad Celsius ermittelt. Auf Ground Zero betrug sie noch mehrere tausend Grad Celsius. In dem Hiroshima Communications Hospital, das ca. 1500 Meter von Ground Zero entfernt lag, befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion am frühen Morgen mehrere hundert Patienten. Etwa zwei Sekunden nach der Explosion stand von dem Krankenhaus nur noch das Betongerüst des Rohbaus.(2)

       

 

       

14/15

Die Druck- und Hitzewelle breitete sich mit einer Geschwindigkeit von 1500 km/h aus und vernichtete innerhalb von fünf Sekunden etwa 80.000 Menschen in einem Radius von fünf Kilometern um Ground Zero. Nichts blieb übrig, kein Blut, keine Knochen; ihre Organe wurden im Hitzesturm verdampft. Photos, die in den Tagen nach den Bombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki aufgenommen wurden, zeigen nur die Schatten der Menschen an den Wänden der Häuser.

Unter den Opfern waren so gut wie keine japanischen Militärs (diese lagen an den Kriegsfronten), sondern Frauen und Kinder und Alte sowie etwa 20.000 bis 30.000 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die die japanische Armee aus dem besetzten Korea verschleppt hatte.(3)

Der japanische Arzt Dr. Michihiko Hachiya, den die Druckwelle der Hiroshimabombe etwa zwei Kilometer entfernt vom Epizentrum traf, führte vom Tag der Explosion an ein Tagebuch, das bis heute die authentischste Quelle der unmittelbaren Folgen des Atombombenabwurfs darstellt. Er beschreibt, wie er das Bewusstsein verlor und sich mit anderen Opfern, die die Zündung überlebt hatten, nackt wiederfand; ihre Kleider waren von der Druckwelle der Bombe weggerissen oder in die Haut gebrannt worden. Er begab sich trotz seiner Verletzungen auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle, dem Hiroshima Communications Hospital:

Allmählich erst begann die Umgebung für mich deutlich zu werden. Schattenhaft sah ich Menschengestalten. Manche wirkten wie wandelnde Gespenster, andere bewegten sich gekrümmt vor Schmerzen, Vogel­scheuchen gleich, indem sie die Arme so vom Körper abspreizten, daß die Unterarme und Hände baumelnd herabhingen. Mir waren diese Menschen ein Rätsel, bis ich plötzlich erkannte, daß sie verbrannt waren und die Arme so hielten, damit nicht die Stellen mit dem geplatzten Fleisch aneinander rieben.


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Eine nackte Frau mit einem nackten Säugling kam in mein Gesichtsfeld. Ich wandte den Blick ab, vielleicht waren sie im Bade gewesen, aber dann sah ich auch einen nackten Mann, und nun mußte ich mir sagen, daß eine unbekannte Gewalt ihnen, wie mir, die Kleidung geraubt hatte. Nahe bei mir lag eine alte Frau, deren Gesicht zeigte, daß sie litt, doch sie gab keinen Laut von sich. Ja, wirklich, eins hatten alle, die ich sah, gemeinsam: Sie waren ganz still.(4)

In den folgenden Tagen irrten Tausende todgeweihter Überlebender durch die Straßen und versuchten aus der Stadt zu fliehen:

Es war ein grauenhafter Anblick, Hunderte von Verletzten, die in die Berge zu fliehen versuchten, kamen an unserem Hause vorbei. Ein fast unerträgliches Bild: Verbrannte mit geschwollenen Gesichtern, denen große Hautfetzen, vom Gewebe losgerissen, am Körper hingen wie Lumpen an einer Vogelscheuche. Die Menschen bewegten sich in den Reihen wie Ameisen. Die ganze Nacht hindurch zogen sie am Haus vorbei, doch heute Morgen war es mit der Prozession zu Ende. Ich sah sie dann zu beiden Seiten der Straße liegen, so eng beieinander, daß es unmöglich war, zu gehen, ohne auf sie zu treten [...]. Ich traf viele, wie viele weiß ich nicht, die von den Hüften aufwärts verbrannt waren. Die Haut hatte sich abgeschält, ihr Fleisch war naß und schwammig. Sie mußten die Mützen aufgehabt haben; denn ihr schwarzes Kopfhaar war nicht angesengt, so daß es aussah, als trügen sie Schüsseln von schwarzem Lack auf den Köpfen. Und - sie hatten keine Gesichter! Ihre Augen, Nasen und Münder waren weggebrannt und die Ohren schienen förmlich abgeschmolzen zu sein. Kaum konnte ich die Vorderseiten vom Rücken unterscheiden.5


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Berichte von Augenzeugen finden sich auch in der umfangreichen Veröffentlichung von Tsuyoshi Hasegawa. Er beschreibt die brennenden Menschen, die wie Fackeln durch die Straßen liefen, und die gespenstische Ruhe in der Stadt:

Menschen liefen ziellos herum in unheimlichem Schweigen [eerie silence], manche schwarz verbrannt, ihre Haut schälte sich von ihren Körpern. Andere liefen verzweifelt [frantically], um nach ihren verschwund­enen Verwandten zu suchen. Tausende toter Körper schwammen im Fluss. Überall Leiden und Schrecken, unaussprechbar, beispiellos.6

Noch größer war die tödliche Wirkung der ionisierenden Strahlung, die sich etwa zwanzig Minuten nach der Zündung über Hiroshima und seiner Umgebung ausbreitete:

Dann fiel der schwarze Regen und durchnässte jeden mit Strahlung. Wer die erste Druck- und Hitzewelle überlebt hatte, begann nun an der Strahlenkrankheit zu sterben.(7)

Die Folgen der Verstrahlung waren zunächst nicht sichtbar, es gab keine Verbrennungen auf der Haut; aber es bildeten sich rote Flecken, die sich schließlich zu Beulen auswuchsen. Dann folgten Symptome wie Haematemesis (blutiges Erbrechen) sowie schließlich Blutungen aus allen Körperöffnungen.8 Aus den dokumentierten Berichten der Krankenhäuser in der Umgebung von Hiroshima wird deutlich, dass die Ursache, die tödlichen Strahlen­wirkungen, über Wochen und Monate hinweg von niemandem erkannt wurde. In den Tagen und Wochen nach dem 6. August 1945 wurden immer mehr Menschen in die Krankenhäuser eingeliefert mit Symptomen, die zunächst als Hautkrankheiten oder Masern diagnostiziert wurden.


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Man isolierte Patienten mit blutigem Brechdurchfall von den anderen, weil die überlebenden Ärzte die ansteckende Durchfallkrankheit Ruhr diagnostizierten. Als die epidemischen Ausmaße der Erkrankungen sich dadurch nicht eindämmen ließen, nahmen die Ärzte an, dass es sich bei der Bombe um eine biologische oder chemische Waffe gehandelt haben müsse. Von den tödlichen Folgen der ionisierenden Strahlung wussten sie nichts.

Die Leichen konnten lange nicht obduziert werden, weil alles Sezierbesteck zerschmolzen war. Als erste Autopsien möglich waren, ergaben sie, dass die Organe durch schwere innere Blutungen zerstört worden waren; die Vernichtung roter Blutkörperchen war derart stark fortgeschritten, dass das Blut auch viele Stunden nach Eintritt des Todes noch flüssig war und nicht gerinnen konnte. Die Ärzte vermuteten, dass es sich um eine bisher völlig unbekannte Krankheit handeln müsse. Die Strahlenopfer erlebten ihr Sterben bei vollem Bewusstsein. Es gab für ihr Leiden keine Diagnose und keine Behandlung. Die Krankheit, von der sie befallen waren, war ihnen und ihren Ärzten unbekannt. Der Verlauf ihrer Erkrankung war nicht absehbar, die Ärzte hatten keine Erklärung, es gab keine Therapie und keine Hoffnung.

Die Zahl der Strahlentoten kann nur abgeschätzt werden. Die Stadt Hiroshima hat in einem Bericht an die Vereinten Nationen die Zahl der Opfer, die bis Dezember 1945 gestorben waren, auf etwa 140.000 geschätzt; für Nagasaki wurden die Zahlen mit 70.000 bis 80.000 angegeben. Die Zahl derer, die das Jahr 1945 überlebten, aber in den folgenden Jahren Opfer der Verstrahlung wurden, wird für Hiroshima auf 300.000 bis 350.000 beziffert und für Nagasaki auf 270.000.(9)

Über das Schicksal der etwa 20.000 bis 30.000 koreanischen Zwangsarbeiter, die Opfer der Hiroshimabombe wurden, ist die Geschichte hinweg­gegangen. Für die Geschichtsschreibung der USA war es wichtig, die koreanischen Kriegsgefangenen als Militärpersonal der Japaner zu bezeichnen, um den Abwurf der Hiroshimabombe als Kriegshandlung zu rechtfertigen.


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Die japanische Geschichtsschreibung verschwieg den völkerrechtswidrigen Einsatz der koreanischen Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter, um den historischen Opfermythos nicht zu beflecken. Bis heute liegt die Stätte, die in Hiroshima an sie erinnert, abgelegen neben dem offiziellen Gedenkort am Dom. Für die Menschen Japans wäre Hiroshima der Ort, sich angesichts des Leidens und Sterbens der Opfer auch mit der eigenen Geschichte als gnadenloser und aggressiver Kriegsmacht zu konfrontieren.

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Der Blick auf die Zündung nuklearer Bomben ist seit Jahrzehnten durch Täterbilder präsent. Die Teilnehmer der ersten nuklearen Kettenreaktion am Trinity Point am 16. Juli 1945 beschrieben den Atomblitz:

Das Licht des ersten Blitzes reflektierte vom Boden und drang durch die Augenlider. Als wir aufschauten, sahen wir den Feuerball und unmittelbar danach diese unirdisch schwebende Wolke. Sie war hell und tief purpurrot.(10)

Ein weiterer Beobachter, General Thomas F. Farrell, beschrieb den Atomblitz begeistert wie folgt:

Die Wirkungen konnte man nur als beispiellos, großartig, schön, gewaltig und erschreckend bezeichnen. Nie zuvor hatte es ein menschen­gemachtes Phänomen solch unglaublicher Macht gegeben. Die Wirkung des Blitzes war unbeschreiblich. Die ganze Landschaft war von einem gleißenden Licht erleuchtet, um ein vielfaches heller als die Mittagssonne. Es war golden, purpur, violett, grau und blau. Es beleuchtete jeden Hügel, jede Spalte oder Ecke der umgebenden Bergkette mit einer Klarheit und Schönheit, die man nicht beschreiben, sondern nur sehen kann. Es war diese Schönheit, von der große Dichter träumen, über die sie aber nur ärmlich und unangemessen schreiben können.

19/20

Dreißig Sekunden nach dem Explosionsblitz schlug die Druckwelle hart gegen Menschen und Dinge, gefolgt von einem starken untergründigen und furchtbaren Röhren, das vor dem Weltuntergang [doomsday] warnte. Wir fühlten, dass wir kleinen Leute Blasphemiker sind, uns anzulegen mit Mächten, die nur den Göttern vorbehalten ist. Worte können diese physischen, mentalen und psychologischen Wirkungen nicht beschreiben, um sie zu realisieren muss man Zeuge gewesen sein.(11)

Die Photos aus Hiroshima zeigen die Explosion und den Atompilz. Auch dieser Einsatz wurde ausschließlich von Soldaten der US Air Force photographiert und gefilmt, die beeindruckt waren von dem Pilz, der bereits innerhalb kurzer Zeit die Flughöhe ihrer Maschinen überstiegen hatte.

Seit den fünfziger Jahren sind uns die Bilder bekannt von überirdischen Atombombentests auf der Nevada Test Site. Die Techniker, Politiker und Soldaten sitzen auf Holzbänken wie in einem Open Air-Kino, beobachten durch Sonnenbrillen den Atomblitz, klatschen Beifall und reden freudig erregt darüber, dass dieser Atompilz schöner und symmetrischer war als die der letzten Tests.(12) Die Ästhetik der Atompilze bezeugt bis heute die Faszination menschlicher Allmacht.

 

    2-   »Als wir die Bombe hatten, haben wir sie eingesetzt.«      2-   3-     4-   ^^^^

 

Kurz nach der ersten nuklearen Kettenreaktion am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico waren zwei weitere Nuklearbomben einsatzbereit. Die wissenschaftlichen Forschungen und Dokumentationen der letzten Jahrzehnte haben uns darüber belehrt, dass der Einsatz dieser Bomben über Hiroshima und Nagasaki durch ihre bloße Existenz determiniert war.

11 Thomas F. Farrell: Oppenheimer Scarcely Breathed, in: Cynthia C. Kelly: The Manhattan Project, op. cit., S. 296 f.
12 Von den meisten der 119 überirdischen Tests wurden Photos geschossen und Filme gedreht, die über Apps einzusehen sind.


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Die nuklearen Bomben waren das Ergebnis des bis dahin größten industriellen Projekts der Menschheit, des sog. Manhattan Project. Deutsche Physiker hatten bereits in den zwanziger Jahren damit begonnen, die theoretischen Grundlagen zu legen für die Kernspaltung und die Kettenreaktion. Kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen - dem Beginn des Zweiten Weltkriegs - hatte der deutsche Nobelpreisträger Albert Einstein am 2. August 1939 einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Theodor W. Roosevelt geschrieben und ihn vor den Risiken einer deutschen Atombombe gewarnt. Einstein wusste von den Plänen der deutschen Wehrmacht, durch Eroberungskriege das Uranerz für den Bau der deutschen Atombombe zu beschaffen.(13)

Nachdem das Deutsche Reich mehrere Länder überfallen hatte, die über waffentaugliche Rohstoffe verfügten,(14) setzte die Regierung der USA unter der Führung der amerikanischen Armee das Manhattan-Projekt zum Bau einer nuklearen Vernichtungswaffe um.(15) Auf dem Höhepunkt - von Ende 1944 bis Juli 1945 - arbeiteten an dem Projekt ca. 190.000 Mitarbeiter, überwiegend Techniker und Wissenschaftler. Die finanziellen Ressourcen waren unbegrenzt. Die Gesamtkosten wurden später mit umgerechnet etwa 24 Milliarden Dollar beziffert.16 Die Arbeiten konzentrierten sich auf drei Orte: Oak Ridge, Hanford und Los Alamos.

In Oak Ridge (Tennessee) wurde im Februar 1943 mit dem Bau von Anlagen begonnen zur Trennung der Uranisotope U-235 und U-238 durch Gasdiffusion (K-25-Anlage). Die Isotopen-Trennung war der schwierigste und aufwendigste Teil des Projekts. Es wurde ein vierstöckiger Bau errichtet, in U-Form und mit einer Seitenlänge von jeweils ca. achthundert Metern.


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Anfang 1945, auf dem Höhepunkt des Manhattan-Projekts, arbeiteten in der K-25-Anlage ca. 140.000 Mitarbeiter. In Hanford (Washington State) wurden ab März 1943 sechs Plutoniumfabriken gebaut. Am Columbia River wird ein Gelände von mehreren hundert Quadratkilometern requiriert. Die Indianerstämme der Wanapum, die hier seit Jahrhunderten gesiedelt hatten, wurden vertrieben und als Volk vernichtet. Nach kaum mehr als einem Jahr lebten und arbeiteten 50.000 Techniker und Ingenieure in Hanford, 1200 Gebäude sind errichtet worden und hunderte Kilometer neuer Straßen. Insgesamt kostete allein dieser Komplex ca. 2,3 Milliarden Dollar.17

Im Februar 1945 lieferten die Hanford-Anlagen das erste Gramm eines fast reinen Plutoniumnitrats nach Los Alamos. Heute gilt Hanford als der verstrahlteste Ort der westlichen Hemisphäre.(18) Das Gehirn des Mannhatten-Projekts lag in dem Omega-Canyon in Los Alamos im Nordwesten von New Mexico. Leiter dieses Projekts war ein junger Star der Theoretischen Physik, Robert Oppenheimer. Anfang 1945 arbeiteten in Los Alamos 2500 Physiker daran, aus dem in Oak Ridge angereicherten U-235 und dem Plutonium aus Hanford die kritische Masse für eine nukleare Kettenreaktion zu gewinnen. Das Projekt stand kurz vor dem erfolgreichen Abschluss, als das Deutsche Reich am 8. Mai 1945 kapitulierte. Unter den führenden Leuten des Manhattan-Projekts wurde in den folgenden Wochen diskutiert, ob der Einsatz einer Atombombe noch zu rechtfertigen sei. Der Abwurf auf Deutschland war nach der Kapitulation nicht mehr möglich.(19)


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Japan führte den Pazifikkrieg gegen die USA zwar fort, aber Mitte 1945 war die japanische Kriegswirtschaft durch den amerikanischen Luftkrieg bereits entscheidend geschwächt, das japanische Militär befand sich an allen Fronten auf dem Rückzug, Japan hatte seine gesamte Flotte verloren, zwei Drittel aller japanischen Großstädte waren zu mehr als fünfzig Prozent zerstört. Die Amerikaner hatten die Lufthoheit erobert, im Bomben­krieg gegen die japanische Zivilbevölkerung waren bereits über eine Million Menschen getötet worden.

Angesichts des historisch einzigartigen Aufwandes für das Manhattan-Projekt drängte die Truman-Administration nun auf den erfolgreichen Test einer nuklearen Kettenreaktion. Die Leute um Oppenheimer in Los Alamos stellten einen Testversuch aber erst für September 1945 in Aussicht. Inzwischen hatten die USA, Großbritannien und die Sowjetunion sich darauf verständigt, dass die Siegerkonferenz der Alliierten am 17. Juli 1945 in Potsdam beginnen sollte. Die Truman-Administration setzte schließlich durch, dass der Test am Tag vor Beginn der Potsdam-Konferenz - also am 16. Juli 1945 -versucht werden sollte. In den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1945 wurde die Testbombe am Trinity-Point in der Wüste von New Mexico gezündet.(20)

Der militärische Einsatz der Atombombe als Kriegswaffe verlief von diesem Augenblick an nach den deterministischen Gesetzen eines militärischen Showdowns: Die Nuklearphysiker um Oppenheimer hatten alle Anstrengungen unternommen, den Trinity-Test am Tag vor der Potsdam-Konferenz zu realisieren.(21) Eine zweite Bombe - diesmal für den Kriegseinsatz - war noch nicht einsatzbereit. Erforderlich waren die technischen Auswertungen der Trinity-Explosion, die Fertigstellung einer weiteren Bombe, deren Verladung in Los Alamos, ihr Transport in das ca. 10.700 Kilometer entfernte Tinian, dort die technische Vorbereitung des Einsatzes in den Hallen neben der nördlichen Startbahn, die Zusammenstellung des B-29-Verbandes für den etwa 2600 Kilometer weiten Flug nach Japan, das Beladen der B-29-Bomber und der Einsatz selbst.


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Gleichwohl unterschrieb Truman bereits neun Tage nach dem Trinity-Test - am 25. Juli 1945 - noch in Potsdam den Einsatzbefehl, der den Generälen offen ließ, zu welchem Zeitpunkt und über welchem Ziel in Japan die Bombe gezündet werden sollte.(22) Truman reiste nach dem Ende der Potsdamer Konferenz am 02. August 1945 über Plymouth mit der »Augusta« in die USA zurück. Als er nach vier Tagen das Weiße Haus erreichte, war die Bombe in Hiroshima bereits gezündet worden. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich Truman zwischen der schriftlichen Erteilung des Befehls am 25. Juli 1945 in Potsdam und dem Abwurf auf Hiroshima am 6. August 1945 um das weitere Schicksal seines Befehls gekümmert hätte; alle Macht lag bei den Militärs, und nichts konnte den Abwurf der Bombe über Hiroshima verhindern.

Zur Rechtfertigung des Einsatzes diente von Anfang an das Argument, die Japaner hätten auf die deutlichen Ultimaten der USA nicht reagiert. Die neuere zeitgeschichtliche Forschung spricht eine andere Sprache. Die Ultimaten waren derart kurz terminiert, dass die japanische Regierung nicht mehr reagieren konnte.

In Japan herrschte ein fanatisches und gnadenloses Militär, das seit Jahrhunderten dem Leitbild des Samurais folgte, des heldenhaften Kriegers, der seine Ehre bis zum letzten verteidigt und sich im Akt der Kamikaze in sein Schwert stürzt, bevor der Gegner ihn tötet. Und über allem thronte seit 1300 Jahren eine kaiserliche Dynastie, geführt von einem gottähnlichen Samurai, dem Tenno. Nur wenige hatten ihn je gesehen, seine Macht lag im Dunkeln, und der »faschistische Tenno«, Hirohito, hatte sich bis zuletzt mit dem Mythos umgeben, an den Angriffskriegen seiner Militärs nicht beteiligt gewesen zu sein.

22 Die Stadt Potsdam hat 65 Jahre nach Trumans Einsatzbefehl den Platz vor der damaligen Residenz der amerikanischen Delegation der Potsdamer Konferenz »Hiroshima-Nagasaki-Platz« benannt. In die beiden Steinplatten aus Hiroshima und Nagasaki wurde folgender Satz eingraviert: »Die zerstörerische Kraft der Bomben brachte hunderttausendfachen Tod und entsetzliches Leid über die Menschen.«


25

Wer zwischen dem 4. und dem 9. August 1945 innerhalb des japanischen Kaiserreichs über Kenntnisse, Informationen und die Macht verfügte, auf ein Ultimatum der USA zu reagieren, ist historisch nicht geklärt. Für die Ankündigung der zweiten Bombe, die drei Tage nach der ersten Nagasaki vernichtete, gab es weder ein Ultimatum noch eine Ankündigung. Von der Zerstörung Hiroshimas am Morgen des 6. August 1945 erfuhr die japanische Regierung aus der Radioansprache des Präsidenten Truman. Die Bombe hatte in Hiroshima sämtliche Nachrichten­verbindungen zerstört; Tokio selbst und sein Flughafen waren seit Tagen durch konventionelle Bomben angegriffen worden. Zudem hatte das japanische Militär jede Meldung über den Abwurf der Hiroshimabombe und das Ausmaß ihrer Zerstörung untersagt.

Wenige Stunden vor dem Abwurf der zweiten Bombe in Nagasaki meldeten amerikanische Radiosender, es sei ein weiterer schwerer Schlag gegen die japanische Kriegsindustrie geplant, und die Bürger sollten militärische und industrielle Anlagen sofort verlassen. Die Menschen in den japanischen Städten erfuhren von diesen Ankündigungen nichts, da es keinen Nachrichtenempfang mehr gab. Und Nagasaki war nur ein zufälliges Ziel; die zweite Bombe sollte eigentlich Kurkura treffen, ein Zentrum der japanischen Rüstungsindustrie. Kurkura lag aber unter Wolken. Da der Treibstoff des anfliegenden Bombers für weitere Anflüge nicht ausreichte, musste er entweder nach Tinian zurückkehren oder die Bombe über einer Stadt mit guten Sichtverhältnissen abwerfen. Da Trumans Einsatzbefehl diese Entscheidungen den Generälen überlassen hatte (und die Generäle den eingesetzten Piloten), drehte der Bomber ab und warf die zweite Bombe auf Nagasaki.(23)

Der amerikanische General Dwight D. Eisenhower, der Supreme-Commander der amerikanischen Armee in Europa gewesen war, berichtete später, die Entscheidung zum Einsatz der beiden Bomben habe mit dem erfolgreichen Trinity Test festgestanden, obwohl die Japaner ihre Bereitschaft signalisiert hatten zu kapitulieren.(24)


26

Churchill, der an den meisten Sitzungen der Potsdamer Konferenz der Siegermächte teilgenommen hatte, schrieb in seinem Rückblick im Jahre 1953, nach dem erfolgreichen Test am Trinity Point sei der Einsatz der Bombe unter den verantwortlichen Politikern überhaupt kein Thema mehr gewesen:

The historical fact remains [...], that the decision whether or not use the atomic bomb was [...] never an issue. There was unanimous, automatic, unquestioned agreement around our table; nor did I ever hear the slightest Suggestion that we should do otherwise.(25)

Die Nachricht vom Abwurf der Hiroshimabombe erreichte Truman beim Lunch auf der »Augusta«, vier Tage nachdem diese in Plymouth abgelegt hatte: Die »big bomb« sei ein voller Erfolg gewesen.26 Teilnehmer des Essens auf der »Augusta« berichteten, dass der Präsident strahlte, aufsprang, seinen Beratern die Hände schüttelte und sagte: »Das ist die größte Sache der bisherigen Geschichte.«(27)

Wer die deterministische Logik des Nuklearkrieges verstehen will, kann aus dem Announcement, das Präsident Truman danach vor den Kameras der Wochenschauen abgab, viel lernen.

Truman, der nach dem Tod von Franklin D. Roosevelt im April 1945 unversehens Präsident der USA geworden war, las vom Blatt ein Statement ab, das den Beginn der Endzeit verkündete. Reden des Präsidenten wurden damals live im Radio übertragen bzw. gefilmt und weitgehend ungeschnitten in Wochenschauen gezeigt.


27

Der Präsident, wie immer mit randloser Brille und dem leicht zusammengekniffenen Mund des Bürokraten, der er war, ordnet die Seiten seines Skripts, rückt seinen Hemdkragen zurecht, lässt sich von einem Kameramann ein Glas Wasser reichen, sein Gesichtsausdruck wandelt sich kurz zu einem bemühten Lächeln, der Kameramann gibt ein Zeichen, und der Präsident verliest sein Announcement:

 wiktionary  announcement  amtliche Bekanntmachung

Vor 16 Stunden hat ein amerikanisches Flugzeug über Hiroshima, einer wichtigen japanischen Militärbasis, eine Bombe abgeworfen. Sie hatte die Sprengkraft von mehr als 20.000 Tonnen TNT. Es handelt sich um eine Atombombe. Sie verkörpert die Nutzbarmachung der elementaren Kräfte des Universums.(28)

Truman erklärte, dass die erste Bombe auf Hiroshima, eine Militärbasis (a military base), geworfen wurde, »weil wir bei diesem ersten Angriff den Tod von Zivilisten soweit möglich vermeiden wollten«. Und zum ersten Mal erfährt die Welt von dem Manhattan-Projekt, an dem in Spitzenzeiten bis zu 190.000 Menschen mitgewirkt hatten:

Bis 1939 glaubten die Wissenschaftler, dass es theoretisch möglich sei, die atomare Energie auszulösen [release]. Aber niemand kannte eine praktische Methode, dies auch zu tun. 1942 jedoch erfuhren wir, dass die Deutschen fieberhaft daran arbeiteten, einen Weg zu finden, die Atomenergie in Kriegswaffen einzusetzen, mit denen sie die Welt zu versklaven hofften.(29)

Drei Tage später, am 9. August 1945, berichtet Truman in einem weiteren Radio-Statement an das amerikanische Volk, dass Nazi-Deutschland kurz vor der erfolgreichen Entwicklung einer Atombombe gestanden habe und er Gott danke, »dass er zu uns gekommen ist statt zu unseren Feinden«. Und der wichtigste Satz des Radioreports vom 9. August 1945 lautet:

Als wir die Bombe hatten, haben wir sie eingesetzt.(30)


28

Die wenigen Tage Anfang August 1945 markieren den technisch ersten und politisch letzten Zeitpunkt, zu dem die Bombe in diesem Krieg noch eingesetzt werden konnte. Einsatzbereit zur Verladung in den B-29-Bomber in Tinian war die Bombe nach dem Trinity-Test genau 13 Tage später, am 29. Juli. Der Einsatz sollte befehlsgemäß unter Sichtflugbedingungen erfolgen und verzögerte sich wegen der schlechten Wetterbedingungen um mehrere Tage bis zum 5. August 1945. Bis zu der absehbaren Kapitulation Japan gab es nur noch ein kleines Zeitfenster, das die USA sofort nutzten. Und es dürften jene Historiker Recht haben, die gar nicht Japan als Adressaten des US-Einsatzes ansahen, sondern die Sowjetunion und jeden to whom it may concern:(31) Die USA demonstrierten mit dem Einsatz der neuen Vernichtungswaffe ihren Anspruch, größte militärische Weltmacht zu sein. - Die nuklearen Zündungen am Trinity-Point, in Hiroshima und Nagasaki waren nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern der Beginn der menschlichen Endzeit.

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    3-   Overkilling - 24.000-mal Hiroshima und die ewige Lüge vom präventiven Erstschlag      2-   3-     4-     ^^^^

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Seit Beginn des Atomzeitalters ist die zentrale Option des nuklearen Krieges die unterschiedslose Vernichtung des Territoriums und der Zivilbevölkerung des Gegners. Das amerikanische Militär hatte mit dem Beginn des Kalten Kriegs die sogenannte MAD-Doktrin entwickelt, die Strategie der »Mutually Assured Destruction«, also »der gegenseitig versicherten Zerstörung«.(32)


29

Die militärstrategische Dimension der MAD-Doktrin bestand darin, genügend Langstreckenbomber mit Atomwaffen und - schließlich - Missiles mit nuklearen Sprengköpfen vorzuhalten, um das Territorium und das Volk des Gegners weitgehend vernichten zu können. Beide Seiten - die USA und die Sowjetunion - hielten daher zu jedem Zeitpunkt des Kalten Kriegs nukleare Overkill-Kapazitäten einsatzbereit.

In der deutschen Version wird die »gegenseitig versicherte Zerstörung« zu einem »Gleichgewicht des Schreckens«. »Gleichgewicht« suggeriert, dass die Vernichtungswaffen in den Händen der beiden Hegemonial­staaten sich gegenseitig neutralisieren. Auch der Begriff des »Schreckens« hat eine verharmlosende Konnotation. Ein Schrecken ist die spontane, kurze Reaktion auf ein Ereignis; der Begriff reduziert die drohende Vernicht­ungs­gefahr des gegenseitigen Overkills auf einen temporären Gefühlszustand.

Selbst in den Hochzeiten des sogenannten Kalten Kriegs befand sich das nukleare Zerstörungspotential nicht in einem »Gleichgewicht«. Zu keinem Zeitpunkt waren nukleare Angriffe und Gegenschläge wirklich übersehbar, geschweige denn beherrschbar.

Schon während des Kalten Kriegs gab es mehrere Situationen, in denen nuklear bestückter Missiles innerhalb weniger Minuten abgeschossen werden sollten. Die Aufarbeitung der sogenannten »Kuba-Krise« im Jahre 1961 ergab nach dem Zerfall der Sowjetunion, dass der Befehl zum Einsatz nuklearer Raketen kurz bevorstand.(33) Das Gleiche gilt für die sogenannte »Able Archer«-Krise des Jahres 1983,(34) deren Umstände bis heute nicht genau aufgeklärt sind.(35)


30

Im Jahre 1983 befanden sich im europäischen Teil der Sowjetunion 243 einsatzbereite SS-20-Raketen mit ca. 750 nuklearen Gefechtsköpfen. Das NATO-Manöver »Able Archer« (»Geschickter Bogenschütze«), das im November 1983 einen Atomkrieg simulieren sollte, wurde vom sowjet­ischen Geheimdienst KGB als Vorbereitung eines real bevorstehenden nuklearen Schlags gedeutet. Zu den ungeklärten Umständen der Able-Archer-Krise gehört auch eine Fehlfunktion des sowjetischen Raketenfrühwarnsystems, das versehentlich einen Angriff mit fünf Inter­kontinental­raketen auf die Sowjetunion meldete. Am 27. September 1983 stand Europa kurz vor einem nuklearen Krieg.  

 wikipe  Nuklear-Fehlalarm_von_1983  

Die Kuba- und die Able Archer-Krise hatten gezeigt, dass im unmittelbaren Vorfeld der Auslösung nuklearer Vernichtungswaffen nicht die Politiker der Hegemonialstaaten an ihren roten Telefonen die Entscheidungsmacht hatten, sondern vielmehr ranghohe Militärs, die ihre Entscheidungen innerhalb weniger Minuten auf der Grundlage nichtverifizierbarer Informationen und unsicherer Risikoabschätzungen treffen mussten. In beiden Fällen waren es gerade die von den beiden Großmächten geschaffenen Kontrollsysteme zur Verhinderung atomarer Angriffe, die die Eskalation verursachten: die Fehlmeldungen der eigenen radargestützten Frühwarnsysteme über einen drohenden Erstschlag des Feindes.

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Das einsatzbereite nukleare Sprengstoffpotential hat sich seit dem Abwurf der Hiroshima-Bombe auf das 24.000-fache erhöht. Legt man das gesamte vorhandene nukleare Vernichtungspotential zugrunde, beträgt die Erhöhung das etwa 80.000-fache.

Als Maßeinheit der Energie, die durch eine Explosion freigesetzt wird, ist seit jeher das sogenannte TNT-Äquivalent gebräuchlich. Ein Vergleich nach dem Maßstab des TNT-Äquivalents zeigt die ständige Erhöhung des globeln Nuklearpotentials. Die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki setzten eine Explosionsenergie frei von ca. 12,5 und 22 Kilotonnen (kT). Die in den folgenden 15 Jahren entwickelten Wasserstoffbomben hatten eine Sprengkraft von bis zu 50.000 kT, also dem etwa 3.000-fachen der Hiroshima-Bombe; noch stärker war die Sprengkraft der sogenannten Zar-Bombe der Sowjetunion, die im Jahre 1961 getestet wurde. Ihre Druckwelle umrundete dreimal den Globus.


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Das klassische Bild der »Atombombe« ist obsolet. Die sogenannten Freifallbomben wurden bereits seit den fünfziger Jahren ersetzt durch Trägerraketen, die mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet waren. Es hat etwa zwanzig Jahre gedauert von der Entwicklung der Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von ca. tausend Kilometern über Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von etwa zweitausend Kilometern bis hin zu den ballistischen Inter­kontinentalraketen, die innerhalb weniger Stunden jedes transkontinentale Ziel zerstören können.

Kontinuierlich weiterentwickelt wurden die nuklearen Sprengköpfe der Missiles. Die inzwischen entwickelten Trägerraketen tragen mehrere Sprengköpfe, so dass eine einzige Missile innerhalb weniger Sekunden mehrere Ziele zerstören kann.36

Alle Atommächte modernisieren gegenwärtig ihre nuklearen Waffentechniken.37 Die Trägerraketen werden sukzessive ersetzt durch sogenannte automatisierte Lenkwaffen, die von Bodenstationen, Flugzeugen oder U-Booten abgeschossen werden können und jeweils mit mehreren nuklearen Sprengköpfen ausgestattet sind.38 Insgesamt verfügen die beiden großen Atommächte - die USA und Russland - zur Zeit über ca. 14.000 Atomwaffen (überwiegend Sprengköpfe), von denen ca. 3.300 sofort einsatzbereit sind sowie etwa 1800 in ständiger Höchstalarmbereitschaft (launch on warning); weitere Sprengköpfe befinden sich in Reserve, der Rest ist für die Verschrottung vorgesehen.


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Sprengköpfe in Höchstalarmbereitschaft können ihre Ziele vom Zeitpunkt des Einsatzbefehls innerhalb weniger Minuten bzw. Stunden erreichen.(39)

Kontinuierlich vergrößert hat sich seit den sechziger Jahren die Zahl der Atommächte, die über unterschiedlichste Abschussbasen und Trägerraketen mit nuklearen Sprengköpfen verfügen. Neben den klassischen Atom­mächten, den USA und Russland sowie später Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan und Israel, gibt es inzwischen weitere Staaten wie Nordkorea und den Iran, die über einsatzfähige Missiles und waffenfähiges nukleares Material verfügen und zeitnah in der Lage sind, eine nukleare Kettenreaktion auf fremdem Territorium auszulösen.

Es gibt insgesamt über sechzig Waffensysteme und mehrere tausend Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten von bis zu 5500 Kilometern. Ein besonders gravierendes Risiko stellt das kerntechnische Material dar, das aufgrund der unkontrollierten Proliferation in die Hände religionsfanatischer Staaten und paramilitärischer Organisationen gelangt ist.

Zu den souveränen Staaten, die bereits über nukleare Waffen verfügen, treten damit anonyme Akteure als potentielle nukleare Angreifer auf, die nicht abschreckbar sind.

Seitdem Anfang der fünfziger Jahre das Atombomben-Monopol der USA durch die Sowjetunion gebrochen worden war, rechtfertigten die Hegemonialmächte die ständige Vergrößerung ihrer nuklearen Vernichtungsarsenale mit der militär-strategischen Notwendigkeit eines Verteidigungskrieges: Ein »präventiver Erstschlag« könnte geboten sein, um einem vernichtenden Erstschlag des Feindes zu entgehen. Die Wahrheit ist, dass nukleare Erstschläge nur in der Propaganda der Militärs und der Hegemonialpolitiker existieren; zu keinem Zeitpunkt seit 1945 war es möglich, durch einen präventiven Erstschlag einem nuklearen Gegenangriff zu entkommen.


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Die beiden großen Atommächte hatten bereits in den sechziger Jahren damit begonnen, die Abschusspositionen ihrer nuklear ausgestatteten Missiles soweit zu camouflieren, dass eine Ausschaltung des gegnerischen Angriffspotentials durch einen Erstschlag unmöglich war. Praktisch waren die beiden großen Atommächte von Anfang an in der Lage, nukleare Erstschläge mit vernichtenden Zweitschlägen zu beantworten. Die MAD-Doktrin zielte auch nicht entscheidend auf gegnerische Angriffswaffen, die ohnehin nicht auszuschalten waren, sondern auf die Zerstörung industrieller Anlagen und die Vernichtung der Bevölkerung.

Die Sicherung der Abschusspositionen vor gegnerischen Nuklearangriffen wurde durch mehrere Maßnahmen realisiert.

Bereits seit den sechziger Jahren hatten die beiden großen Nuklearmächte damit begonnen, ihre stationären Interkontinentalraketen mit nuklearen Sprengköpfen in unterirdischen Depots (Weapons Storage)(40) einsatzbereit zu halten, die so konstruiert waren, dass sie den Explosionswirkungen eines nuklearen Angriffs des Gegners funktionstüchtig widerstehen konnten. Die Besatzungen der unterirdischen Abschussanlagen beider Seiten waren in der Lage, die seismischen Druckwellen und die Strahlenbelastung eines nuklearen Angriffs für mindestens drei Wochen zu überleben - und somit fähig, den Erstschlag durch einen Zweitschlag zu erwidern.

Beide Hegemonialmächte gingen dann zusätzlich seit den siebziger Jahren dazu über, mobile Abschusstechniken für nukleare Raketen zu entwickeln.

Die mobilen Abschussbasen, die ich in Perwomaisk besichtigen konnte,(41) operierten während des gesamten Kalten Krieges auf riesigen Lastwagen, permanent getarnt und unsichtbar, in den Weiten der Sowjetunion. Insgesamt verfügte die Sowjetunion nach vorsichtigen Schätzungen über eine dreistellige Zahl solcher mobilen Abschlussrampen, die praktisch täglich ihren Standort wechselten - und zwar auf der Straße wie auf der Schiene; zum Ende der Sowjetunion gab es sechs Raketenzüge (Bargusin), die als Kühltransporter getarnt einsatzbereite Raketen mit nuklearen Sprengköpfen transportierten und sich permanent im Land bewegten.(42)


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In hohem Maße mobil und für den Gegner kaum zu verorten waren schließlich die Trägersysteme für nukleare Sprengköpfe wie Flugzeuge und Unterseeboote. Insgesamt verfügte die Sowjetunion bis 1990 über mehrere hundert Abschussstationen unter der Erde, auf mobilen Fahrzeugen, in militärischen Flugzeugen und Unterseebooten; jede dieser Basen war kurzfristig gefechtsbereit und konnte innerhalb kürzester Zeit bei Freigabe der entsprechenden Codes nukleare Vernichtungswaffen abschießen.

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Seit etwa zehn Jahren arbeiten die nuklearen Hegemonialmächte wieder massiv daran, die Zeit zur Platzierung eines nuklearen Erstschlags immer weiter zu verkürzen. Die Langstreckenraketen sind hierzu weniger geeignet, weil sie in ballistischen Bahnen die großen interkontinentalen Entfernungen überwinden müssen und potentiell durch gegnerische Radarkontrollen geortet und abgefangen werden können.

Die neue Militärstrategie, die als »Prompt Global Strike« (PGS), also als »sofortiger globaler Angriff« bezeichnet wird, basiert darauf, weltweit möglichst viele Mittelstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen zu platzieren, um jedes beliebige Ziel innerhalb von sechzig Minuten treffen zu können.

Das erklärte Ziel der PGS-Strategie ist, das Risiko für den Gegner dadurch zu erhöhen, dass die Schwelle für den Einsatz der Waffen tendentiell immer niedriger wird. Praktisch muss der Gegner nunmehr gewärtigen, dass große Städte und ganze Territorien seines Landes innerhalb von sechzig bis neunzig Minuten definitiv zerstört werden. Die Chance, durch Erstschläge Zweitschläge zu verhindern, wird aber hierdurch nicht erhöht, da jede der beiden Atommächte auch nach gegnerischen nuklearen Angriffen über hinreichende mobile und immobile Overkill-Kapazitäten verfügt.


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Den beiden Hegemonialstaaten USA und Russland ist es zur Zeit jährlich insgesamt etwa dreißig Milliarden US-Dollar wert, mit der neuen Strategie des »sofortigen globalen Angriffs« die Zeit für die Extermination des Gegners von neunzig Minuten auf aktuell ca. sechzig Minuten zu reduzieren.

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Seit den fünfziger Jahren entsprach es der Logik der militärischen Strategie der beiden großen Hegemonialmächte, dass ein Krieg mit nuklearen Mittelstreckenraketen vor allem in Europa ausgetragen wird. Hier befanden sich die territorialen Abschussstationen der Missiles, die für jede Seite das wichtigste und erste Angriffsziel waren. In der Adenauer-Zeit hatte die Bundesregierung noch alles unternommen, eine Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen im Falle eines nuklearen Krieges gegen die Sowjetunion zu erhalten.(43) Die Pläne scheiterten schließlich daran, dass die USA die Hoheit über die Nuklearwaffen nicht teilen wollten und dass das Frankreich de.Gaulles seine Bereitschaft, gemeinsam mit Deutschland eine Atommacht zu werden, aufgeben musste aufgrund seiner Schwächung durch die verlorenen Kriege in Indochina und Algerien.

Von der Verfügung über Nuklearwaffen ausgeschlossen, hat die Bundesrepublik seit der Kanzlerschaft Adenauers in den fünfziger Jahren bis zu der Schmidts in den Siebzigern erfolgreich eingefordert, dass amerikanische Nuklearwaffen in der Bundesrepublik deponiert werden.(44) Auf dem Boden der heutigen Bundesrepublik sind im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« US-Atomwaffen stationiert auf dem Militärflugplatz Büchel in der Südeifel, unweit von Koblenz.


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Bei meiner Besichtigung der früheren sowjetischen Raketenbasis Perwomaisk waren die programmierten Ziele der zehn Missiles auf dem Display der Überwachungsstation im Kontrollzentrum sichtbar.(45) Der letzte Kommandant der Raketenbasis, der mich durch die Anlagen führte, machte mir klar, dass auf dem Display überwiegend militärische Ziele angezeigt wurden. Die zweite Rakete war anscheinend für die Abschussbasis der NATO in Büchel bestimmt, die etwa 1800 Kilometer westlich von Perwomaisk liegt.

Gegenwärtig lagern in Büchel in unterirdischen Bunkern ca. zwanzig taktische Nuklearwaffen, die von Jets der Bundeswehr in die Luft gebracht werden können und je nach Typ des Trägerflugzeuges eine Reichweite von bis zu 5000 Kilometern haben. Die in Büchel lagernden nuklearen Sprengköpfe haben eine variable Sprengkraft von maximal 170 kt, also etwa dem Zehnfachen der sogenannten Hiroshima-Bombe.(46)

In der Endzeit der Menschheit ist Büchel die wichtigste Geisel der westlichen Militärstrategie in Deutschland. Ein nuklearer Erst- oder Zweitschlag auf Büchel würde große Teile des mittleren Rheintals unbewohnbar machen und mehreren Millionen Menschen die Lebensgrundlage entziehen.

 

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Wie die Kernspaltung und die Raketentechnik war auch die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz von Anfang an ein Produkt der Kriegstechnologie. Gegenwärtig werden wir Zeuge eines qualitativen Sprungs der militär-strategischen Kriegsführung durch die Emanzipation autonomisierter Künstlicher Intelligenz, die eine zunehmende Verfügungsmacht über die nukleare Extermination gewinnt.

Künstliche Intelligenz zeichnet sich im Gegensatz zu klassischen Algorithmen durch eine immanente Fähigkeit zum Lernen aus. Ihre Software kann einen Lösungsweg für unbekannte und unvorhersehbare Ereignisse entwickeln. Künstliche neuronale Netze verarbeiten die von ihnen generierten Informationen nach biologischem Vorbild und unterscheiden sich damit wesentlich von den überkommenen Informations­technologien. Anders als die klassischen Algorithmen verarbeitet Künstliche Intelligenz Daten autonom und losgelöst von den vorgegebenen Anweisungen. Welche Daten die Künstliche Intelligenz verwendet und welche Problem­lösung sie wählt, entscheidet sie selbst.

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Im Unterschied zur menschlichen Intelligenz, deren Steigerung von den Gesetzen einer langsam verlaufenden Evolution gesteuert wird, zielt die Logik der Künstlichen Intelligenz auf eine ständige Erhöhung des Intelligenz­effekts, auf eine »Maschinenintelligenz«, die »unsere Intelligenz in viel höherem Maße übertreffen [wird] als unsere menschliche Intelligenz die von Schnecken.«(47)

Gegenwärtig wird der Einsatz Künstlicher Intelligenz entwickelt für autonomisierte Waffensysteme wie etwa Drohnen, die nicht nur ihre Ziele selbst bestimmen, sondern auch den Zeitpunkt ihrer Einsätze.

Eine weitere Stufe der Entwicklung ist nunmehr, dass Künstliche Intelligenz in fremde Logistiksysteme eindringt und Verfügungsgewalt über den Einsatz nuklearer Waffen erhält.

Ziel der Entwicklung sind die sogenannten Letalen Autonomen Waffensysteme (Letal Autonomous Waepons Systems, LAWS), die von jedem Ort in der Luft, an Land, zu Wasser, unter Wasser oder im Weltraum betrieben werden können. Die LAWS bewegen sich frei in ihrem Einsatzgebiet, generieren Daten und Informationen und entscheiden über Zeitpunkt und Ziel des Einsatzes der Lenkkörper.

Die Autonomisierung der Nuklearwaffen wird den Einsatz von Lang- und Mittelstreckenraketen mit atomaren Sprengkörpern nicht ersetzen, sondern effektivieren und das Risiko eines Nuklearkrieges weiter erhöhen.

Während Informatiker und Softwareentwickler, Technologiekonzerne und Militärs einstimmig erklären, dass die Vernichtungsoptionen der Künstlichen Intelligenz prinzipiell unbegrenzt sind,(48) hat die etablierte natürliche Intelligenz, Wissenschaftler und Philosophen, das Thema den Medien überlassen.

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Comics, Sciencefiction-Spiele, Filme und Romane zeigen seit über einem halben Jahrhundert detailliert und phantasievoll Szenarien der Extermination auf. Der Science-Fiction-Film hat dann zunehmend die Autonomisierung der Roboter antizipiert. Der bekannteste ist der große Film »2001: Space Odyssey« von Stanley Kubrick aus dem Jahre 1968. »Hall 9000«, der in diesem Film präsentierte Computer des Raumschiffs, zeigt bereits alle Fähigkeiten heutiger und zukünftiger Künstlicher Intelligenz; er analysiert selbständig Daten, wertet sie aus, immunisiert sich gegen die Befehle seiner menschlichen Programmierer und wird zum autonomen Subjekt.

Obwohl der militärische Einsatz Künstlicher Intelligenz ständig optimiert wird, ist deren mediale Wahrnehmung in Deutschland beschränkt auf fliegende Paketboten, Einparkhilfen für Autofahrer oder drollige, kleine Plastik­dummies, die mit ihrem unbeholfenen Gang signalisieren, wie unterlegen sie dem Menschen sind. Für die gebildeten Kreise wird die Künstliche Intelligenz als Schachspieler präsentiert. Und neuerdings haben auch Philosophen die entscheidende Frage gestellt: Können wir Roboter bauen, die klüger sind als der Mensch?(49)

Hier kommt nun alles zusammen, was der deutsche Geist seit der Aufklärung an Trümmern und Abraum aufgeschüttet hat: der Mensch als das historische Subjekt, die Ideen des Humanismus als Heiligenschein der preußischen Geschichte, der europäische Geist als Weltgeist und natürlich Goethe, der den Deutschen schon immer ein Trost war: Der homunculus, Goethes anthropozentrischer Mythos von der Künstlichen Intelligenz, war ein Mensch, ein Menschlein auf dem Weg zum »homo digitalis«.(50)

Der Vergleich der Künstlichen Intelligenz mit der Intelligenz des Menschen verstellt a priori den Blick auf die Realität und die Logik eines modernen Nuklearkrieges.

Mit der Intelligenz der Menschen hat die Künstliche Intelligenz nichts zu tun. Sie ist autonom, anonym, humorlos und schmerzfrei und nur ihrer eigenen Logik unterworfen. Menschliche Eigenschaften sind ihr fremd; sie hat keine Absichten, sie will niemanden schonen und niemanden vernichten, und sie interessiert sich nicht für die Menschen und Völker, die ihr ausgeliefert sind.

Die anthropozentrische Einbildung, der Mensch könne die Künstliche Intelligenz beliebig steuern, macht die künstlichen neuronalen Netze zu gigantischen Projektionsflächen: für den Traum von den endlosen Segnungen digitaler Systeme einerseits und für die Ängste vor ihrer Golemisierung andererseits.

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Geulen-2020