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3  Dem Menschen ein Wolf 

Fuller-1994

 

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Den Satz, daß der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, wertet man entweder als Überspitzung oder als Platitüde. Künstler, die sich auf Hobbes' Homo-homini-lupus-Diktum einlassen, führen mit neuen Mitteln vor Augen, daß auch im Abgedroschenen Wahrheiten verborgen liegen können. Unser Jahrhundert bietet reichlich Gelegenheit zur Anschauung — beginnend mit den Verbrechen des Kolonialismus bis hin zu den heute stattfindenden sogenannten ethnischen Säuberungen — sprich: Vertreibung, Massenvergewaltigung und Völkermord — auf dem Balkan.

Dieses gewalttätige Jahrhundert wird von der Kunst in Bildern vorgeführt: angefangen mit Beckmann und Meidner und nicht endend mit Bacon und Hrdlicka. Zu keiner anderen Zeit wurde der existentielle Mensch am Abgrund sinnfälliger portraitiert. In der Literatur demonstriert Camus' Etranger eine Condition humaine, die dieses Kapitel mit dem vorangegangenen verklammert. 

Die thematische Einheit lautet: der sich selbst entfremdete, passive, leidende Mensch, dessen Passivität in Mord umschlägt. 

Die beiden Seiten des neuen künstlerischen Menschenbildes, die Themen »der Mensch als Opfer« und »der Mensch als Täter«, ergänzen einander. Viele zeitgenössische Künstler haben den Stimmungswandel vom Fortschrittsoptimismus zum Krisenbewußtsein seit Ende der achtziger Jahre längst nachvollzogen. Die Gewalt zwischen den Menschen wird von Susana Solano, Gretchen Bender, Alfredo Jaar, Hans Haacke, Olaf Metzel, Bastienne Schmidt, Leon Golub, Damien Hirst und Robert Longo herausgestellt, um nur einige zu nennen. 

Die Werke des 1941 in Fort Wayne (Indiana) geborenen, heute auf seiner Ranch in New Mexico lebenden Bruce Nauman können als Inbegriff der künstlerischen Beschäftigung mit der Gewalt gelten. Nauman sagt, er wolle die Möglichkeiten dessen erforschen, was überhaupt Kunst sein kann. Nauman sondiert die Grenzen der Kunst und reflektiert in seinem Werk den Kunstprozeß.  

Frühe Arbeiten aus den sechziger Jahren stellen das Medium im Kunstprozeß ins Zentrum der Betrachtung, so etwa Glasfiber, Neon (ab 1965) und Performance. Andere Materialien und Medien wie Video, Videoinstallation, Metall, Filz, Gummi, Gips und das Foto kamen hinzu. Wortspielerische Arbeiten wie etwa Raw War (1970) untersuchen die Beziehung von Neon, Wort, Kunstbegriff, Farbe, Nonsens und sinnvoller Botschaft.

Nauman ist noch heute ständig auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln; eine Suche, die von seiner Auslotung der Kunstgrenzen nicht getrennt werden kann. Nicht zuletzt geht es ihm immer um Selbsterfahrung und die Interaktion von Künstler und Gesellschaft. In einer Ausweitung dieses Themas zeigt Nauman wiederholt die Unmöglichkeit des zwischen­mensch­lichen Dialogs. 

 

44   Bruce Nauman, South American Triangle (Südamerikanisches Dreieck), 1981 

 wikipedia  Bruce_Nauman *1941 in Indiana

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Nauman möchte, eigenem Bekunden zufolge, keine großen Aussagen über Leben und Tod wagen. Er hat kein gesellschaftspolitisches Programm entwickelt, sieht sich nicht als politischen Künstler. Und doch kann man die außerordentliche gesellschaftspolitische Dimension in seinem Werk nicht übersehen.

1981 gibt es in Naumans CEuvre einen Einschnitt. Die Beschäftigung mit der Rolle des Künstlers, die Sprachspiele, die Betonung des Materials treten zurück. Das private Atelier wird von der gesellschaftlichen Thematik von Gewalt, Gegengewalt, Tod, Sexualität, Grausamkeit und Unmenschlichkeit erobert. Typisch dafür sind die Neonarbeit Amerikanische Gewalt von 1981/82 oder die Metallplastik Südamerikanisches Dreieck von 1981 (Abb. 44). Nauman las 1981 Jacobo Timermans' Bericht über dessen Folter in den argentinischen Junta-Gefängnissen. Der Stuhl, auf dem Timermans Elektroschocks erlitt, inspirierte Nauman zu dieser Arbeit. Der Stuhl — das ist der Mensch, Opfer der Gewalt. »Irgendwie fühle ich mich moralisch verantwortlich. Die meisten meiner Arbeiten kommen aus Aggression und Zorn«, sagte der Künstler. »Mein Werk entsteht aus der Enttäuschung angesichts der Conditio humana. Die Enttäuschung darüber, daß Menschen sich weigern, andere Menschen zu verstehen. Darüber, wie grausam die Menschen zueinander sein können.« 

Oder, wie es Jean-Christophe Ammann ausdrückte: Was Menschen Menschen antun können, das läßt Nauman keine Ruhe. Der Mensch, das ist auch der Erhängte (Abb. 45 und Umschlagvorderseite), eine Arbeit, die viele Assoziationen hervorruft: das gekünstelte Sterben im Hollywoodfilm, Lynchmorde, die Todesstrafe, der Wilde Westen.

Nauman fühlt sich nicht als Künstler der Botschaften, aber es gibt zunehmend Botschaften in seinem Werk. Im Jahr 1985 entstehen Neonwerke wie Sex und Tod durch Mord und Selbstmord, die das Thema von Sexualität und Gewalt, Sexualität und Macht behandeln. Coosje van Bruggen interpretiert diese eindrucksvollen Neonarbeiten mit ihren aufdringlichen Primärfarben als »satirische Komödien sozialkritischen Inhalts«. Man werde zuerst von den glühenden Farben verzaubert und unmittelbar darauf von ihrer Grobheit abgestoßen. In der Tat kann man Werke wie Punch und Judy: Tritt in die Leiste, Schlag ins Gesicht (Farbtafel 3) auf einer oberflächlichen Ebene als anziehend, ja sogar »schön« betrachten. Doch ist es offensichtlich, daß es hier um Gewalt und Gegengewalt geht. Der englische Kasperl, Punch, schlägt wie gewohnt seine Mitpuppe Judy. 

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45  Bruce Nauman  Hanged Man  (Erhängter), 1985

Die moderne Judy wehrt sich jedoch, trifft sozusagen den wunden Punkt des Mannes, dessen aggressive Erektion daraufhin sofort verschwindet. Das Neonspiel kennt nur diese beiden Phasen. Ihre stete Aufeinanderfolge (ein Element auch anderer Neonarbeiten Naumans) verstärkt die Botschaft: Gewalt — Gegengewalt — Gewalt — Gegengewalt ad infinitum. Der Geschlechterkampf hört nicht auf. Das Video Gewalttätiger Zwischenfall von 1986 behandelt die Eskalation von Gewalt als Prozeß. Das Video beginnt damit, daß jemand dem anderen den Stuhl unter dem Gesäß wegzieht, und endet mit Totschlag.

In Naumans Auseinandersetzung mit dem Thema »Gewalt« spielen Tiere eine bedeutende Rolle. Der Künstler hat sich 1988/89 mit der Tierwelt beschäftigt: »Ich fand den Weg zur menschlichen Figur nicht zurück, deswegen versuchte ich es mit Tieren.« Aufgespießte, aufgehängte und zerstückelte Kreaturen rotieren, der Drehung ausgeliefert, leiden unter der Gnadenlosigkeit ihres Herrn, vernichten sich selbst vollends und sterben elend (Abb. 46, 47).

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46  Bruce Nauman, 
untitled (two wolves, two dogs) 
(ohne Titel [zwei Wölfe, zwei Hunde]), 
1989  

 

Assoziationen drängen sich auf: Gewaltopfer, Jagdopfer, Fleischberge, Tod. Man wird gewahr, daß die Tiere ihrer Individualität beraubt worden sind. Ihre scheinbar tänzerische Leichtigkeit — das Schwebeelement wird von Nauman oft eingesetzt — läßt sich nur ironisch verstehen. Nichts könnte diesen Leidenskörpern ferner liegen. Sie evozieren Gefühle des Grauens. Auch denkt der Betrachter an Genmanipulation, Naturzerstörung und Folter. In ihrem entindividualisierten Ausgeliefertsein sind die Tiere Metaphern für die Menschheit. Wer hat die Tiere zerstückelt, wer hat sie aufgehängt? Ob er mit der Natur spielt oder mit dem Mitmenschen — Gnade und Respekt kennt der Menschenwolf, der Macht besitzt, nicht. Alles wird seinem Willen unterworfen nach Maßgabe der Wirtschaftlichkeit. Insofern weisen Nau-mans zerstückelte, mißgestalte Tierleiber vom genetischen Tierlabor unmittelbar auf das genetische Menschenlabor. 

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7 Bruce Nauman, Dog Biting Its Ass (Hund, der sich in sein Hinterteil beißt), 1989

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48 Bruce Nauman, Perfecf Balance (Perfektes Gleichgewicht), 1989

 

 

49 Bruce Nauman, Anthro/Socio (Anthro/Sozio), 1991

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Nach den Tierarbeiten wandte sich Nauman wieder direkt dem Menschensujet zu. Das Gewaltthema wurde in neuer Perspektive fortgeführt. Die Videoinstallation Perfektes Gleichgewicht (Abb. 48) zeigt den verkabelten Menschen. Das Fernsehen nimmt ihn gefangen, trennt den Kopf (Geist) vom Rumpf (Seele, Körper) und balanciert ihn nach Gutdünken auf dem allseits bekannten »Fuck-you-Finger«. Die multimedial nahe gebrachte Öffentlichkeit dringt gewaltsam in die Privatsphäre ein und entmündigt den Menschen. Die elektronischen Massenmedien verdrehen seine körperlose Welt buchstäblich: Das prekär hängende Wesen lebt auf dem Kopf, es sieht die Welt verkehrt. Und dieser armselige Restmensch kann jederzeit fallen.

Die Videoinstallation Anthro/Sozio (Abb. 49) wird jedem Besucher der documenta von 1992 unvergeßlich bleiben. Ein gequälter Kahlköpfiger schreit ununterbrochen, akustisch kaum zu verstehen, dieselbe Botschaft: »Feed me / Eat me / Anthropology« und »Help me / Hurt me /Sociology«. Haben wir es mit Opfern der Wissenschaft zu tun, die den Menschen in Funktionen aufteilt? Das Geschrei des rotierenden Kopfes dringt durch Mark und Bein und hallt noch lange im Ohr des Betrachters nach. 

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Unabhängig von dem, was der Kahlköpfige konkret formuliert: Hier schreit ein geschundener, selbst seiner Haare beraubter Mensch, ein symbolisch vollkommen nackter Mensch. Er schreit um Hilfe. Der Betrachter, fasziniert vom Schauspiel, wird hineingezogen ins Geschehen und muß die eigene Ohnmacht erfahren. Die Gewalt gegen andere lebt geradezu von denen, die nicht helfen; und die nicht erkennen, daß sie selbst die nächsten Opfer sein können.

Naumans Konzeptkunst (diese nüchterne, eher zerebrale Kunstrichtung) rührt an und bewegt. Wie vielleicht kein anderer konzeptueller Künstler versteht es Nauman, den Betrachter zugleich emotional und ästhetisch anzusprechen, weil er ins Innerste der Gesellschaft und des Menschen zielt. Er trifft ins Schwarze der gesellschaftlichen Problematik und ins Herz des Betrachters. Seine Arbeiten sind hochaktuell und dabei überzeitlich. Mit einem verblüffenden und souveränen Gebrauch neuer Medien und Materialien gelang es Nauman, die Kunstgrenzen zu erweitern, ohne sein Publikum zu verlieren. Nauman thematisiert die Faszination durch Gewalt, nicht nur die Gewalt an sich. Insbesondere seine Neonarbeiten sind, wie oben bereits festgestellt, »schön«, zumindest anziehend. Sie vereinen Vaudeville, Broadway, U- und E-Kunst, Disneyland und die attische Tragödie. 

Die billige Neonröhre faßt unsere Zeit des Massenkonsums in Bildern zusammen, man erkennt seine vergnügungssüchtige Umwelt intuitiv wieder, und man identifiziert sich, dank Wiedererkennungswert, sofort damit. Indem der Betrachter sich der Faszination durch die bunte Kinderwelt einerseits, der Faszination durch die allzu bekannte Gewalt andererseits ergibt, verliert er die Distanz zum abstoßenden Geschehen. Wer sich seine kritische Distanz vom Blender rauben läßt, wer sich in den schönen Schein verliebt, wird als Verliebter mit Blindheit geschlagen. Wer mitmacht, hat sich selbst decouvriert als Voyeur der Kunst. Denn hinter dem Glitzerschein lauert das Grauen. Nichts anderes als dieses will uns Nauman vorführen. Man lächelt, lacht und grinst bei der Betrachtung seiner Werke. Man ist bezaubert und entsetzt über so viel Grausamkeit des Triebtäters Mensch. Nauman führt auf grandiose Weise die Tragikomödie des Menschen vor Augen. Wenn ein Künstler dieses Fin de siecle das Prädikat »groß« verdient hat, dann Bruce Nauman.

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50 Marcel Odenbach, Stehen ist Nichtumfallen, 1989

Ebenso wie Nauman äußert sich der 1953 in Köln geborene und dort lebende Marcel Odenbach zum sozialpolitischen Geschehen. Auch er arbeitet mit dem Video und der Videoinstallation. Ihm geht es darum, sich der Herrschaft des kommerziellen Fernsehens entgegenzustellen, womit er die Tradition von Nam June Paik und Wolf Vostell fortsetzt. Dabei liefert er nicht nur Gegenbilder, sondern zeigt neue Sichtweisen, ja neue ästhetische Zugänge auf. Er präsentiert - in den Worten Ulrich Bischoffs - die im Fernsehen vorgestellte Zeitgeschichte so, daß sie sich selber anklagt. Er packt den Stier bei den Hörnern, indem er sich die vom Fernsehen und vom Unterhaltungsvideo monopolisierten Themen zu eigen macht. In seinen höchst assoziativen Videos, die ihre eigene Sprache sprechen, inszeniert er Gewalt, Sterben, Leiden und Krieg als Spiegel unseres Lebens.

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Odenbachs Engagement richtet sich gegen die Gewalt. Das Video Stehen ist Nichtumfallen (Abb. 50) zeigt Szenen des gewalttätigen Umgangs mit dem Mitmenschen. Im namibischen Unabhängigkeitskrieg erschießt ein Soldat einen Zivilisten, der hilflos auf der Erde liegt. Mit jedem Einschuß bäumt sich der Körper des Erschossenen auf. Der Volksgerichtshofspräsident Freisler schreit Widerstandskämpfer an. Tauben, Metaphern für die Menschheit, streiten sich um ihr armseliges Futter. In einer letzten Sequenz wird der Aufstand auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking gezeigt.

Odenbach stützt sich in seinen Videos auf dokumentarisches Material, das er mit eigenem Filmmaterial kombiniert, teils zeitgleich, etwa in Vogel friß oder stirb (Abb. 51), teils in zeitlicher Folge. Die Kontrastierung der beiden Filmstränge dient oft der Ironie, oft auch dazu, den Betrachter noch mehr in das Geschehen zu verwickeln. Keep in View (Abb. 52) zeigt im Vordergrund einen jungen Schwarzen, der nervös an seiner Rastafrisur herumspielt, während er Szenen aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung sieht. Wie in einem schlechten zeitgeschichtlichen Panoptikum laufen die Bilder der Vergeblichkeit vor seinen Augen ab: Martin Luther Kings Reden, amerikanische Bürgerrechtsdemonstrationen, Rassenunruhen, Sowetoauf-stände. Die Gewalt bedrückt ihn; ebenso wie den Betrachter die vom Videokünstler (nicht nur in Vogel friß oder stirb) thematisierte Ermordung eines Vietcongs durch den südvietnamesischen Polizeichef.

Odenbach darf nicht der Agitpropkunst zugerechnet werden. Er moralisiert nicht. Er bildet Horrorbilder nüchtern ab, und gerade das macht das Grauen schlimmer. Odenbach schaltet, im Gegensatz etwa zu Leni Riefenstahls Propagandafilmen, den Verstand nicht ab. Er appelliert zwar an das Gefühl, jedoch nur über den Verstand, der aus der Subtilität von Odenbachs Bilderfolge und der Anordnung der Installation die Bedeutung selbst zusammensetzen muß. In der Videoinstallation löst der Künstler das konventionelle Bild aus dem Kontext des Massenmediums und schafft neue Wahrnehmungsweisen. Die Darstellung der Gewalt richtet sich, wie Odenbach Anfang 1993 sagte, gegen die Gewalt im Fernsehen als Unterhaltungswert. Odenbach schlägt das Fernsehen jedoch nicht mit dessen eigenen vordergründigen Mitteln schlichter, moralisierender Spielfilmhandlungen. In ungewöhnlicher Weise setzt er musikalische Elemente ein. Der Ton ist für ihn so wichtig wie das Medium Film, und er hat zwei grundlegende Funktionsweisen: zum einen handlungsunterstüt-zend, also parallel zum Geschehen, zum anderen aber - und dies ist häufiger der Fall - ironisch, und oft beides kombiniert oder sequentiell, was vom Betrachter einen abrupten Wahrnehmungswechsel verlangt.

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51 Marcel Odenbach, Vogel friß oder stirb, 1989

52 Marcel Odenbach, Keep in View (Behalt's im Blick), 1991/92

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53 Marcel Odenbach, Wenn die Wand an den Tisch rückt, 1990

Wenn die Wand an den Tisch rückt (Abb. 53) behandelt das Thema Militär und ist folglich mit Trommelwirbel unterlegt. Die Sequenz endet in einem wilden Crescendo von Geschützdonner und auffahrenden Panzern. Der überwiegende Teil des Videos zeigt das Gesicht eines jungen DDR-Soldaten, der Ehrenwache vor der Neuen Wache in Berlin. In seinem Gesicht spiegelt sich eine ganze Welt, die die Enge des Militärdrills sprengt. Die Augen des Soldaten offenbaren Bewegung, während das Bild fast zehn Minuten lang nur eine einzige Einstellung festhält. Zugleich hört man den unablässigen Trommelwirbel, so daß die Musik zum Gegensatz zwischen der inneren Dynamik des durchaus sympathischen jungen Menschen und der äußeren, ihm abverlangten Gleichförmigkeit ein weiteres ironisches Element hinzufügt. Denn man fragt sich: Was hat der stupide (und bedrohliche) Gleichklang des Trommelwirbels mit diesem Menschen zu tun, den man in die Uniform gezwängt hat?

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Odenbach kann als der zeitgemäße Chronist der verkehrten Welt, der Welt der Gewalt, gelten. Die Videoinstallation Sie haben schon ihren Sitz (Abb. 54) verweist unmittelbar auf die Verkehrung. Die Installation nimmt Bezug auf Goyas gleichnamiges Capricho Nr. 26, in dem Frauen dargestellt sind, die ihre Stühle auf dem Kopf tragen. Das sehr spanische Video zeigt die Sequenz Prado - mörderischer Autoverkehr in Madrid - das Schlachthaus (Abb. 54) - das Kochen zu Hause. Von der Hochkultur dank dem Tiermord hin zum heimischen Herd. Odenbach führt die Ungereimtheiten einer wilden, verrückten Welt vor Augen, ohne zu surrealen Mitteln zu greifen. Seine aggressionsgeladene Welt macht angst. Odenbachs »ästhetisch pointierte Gleichnisse der Uneindeutigkeit des Seins«, wie sie einmal genannt wurden, erschrecken und provozieren zum Nachdenken. 

 

  

54  Marcel Odenbach, 
Ya tienen asiento 
(Sie haben schon ihren Sitz), 
1989 

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Der Künstler fordert »freundlich und hartnäckig zum Diskurs auf«, wie Ulrich Bischoff schrieb. Die Feststellung, Odenbach sei kein Propagandist, soll nicht besagen, seinen Arbeiten eigne keine politische Aussagekraft. Odenbach ist ein politischer Künstler. Aber Politik bedeutet nicht Plattheit oder mangelndes ästhetisches Raffinement. Odenbach kreierte, mit tausendmal gesehenen Bildern, mit bekannter (und unbekannter) Musik, mit Klischees eine neue Bildersprache, der man zunächst sprachlos gegenübersteht; erst so aber kann der Prozeß des Nachdenkens über die reale und die multimedial vermittelte Gewalt einsetzen.

Gottfried Helnwein, 1948 in Wien geboren, lebt heute in Deutschland. Frühe Aktionen der siebziger Jahre, bei denen er, Mitleid heischend, als Bandagierter auftrat, schienen dem Wiener Aktionismus nahezustehen. Helnweins Darstellung des menschlichen Leids gibt sich jedoch viel zu pointiert, ja viel zu sozialkritisch, als daß man den Künstler dem Wiener Aktionismus zuordnen dürfte. Die für diesen Kreis typische Selbstdarstellung setzt Helnwein ein, um beinahe politische Aussagen zu machen, nicht um im Orgiastischen, im Narzißmus oder gar im Mystizismus zu schwelgen.

Helnweins faszinierendes Gieuvre umfaßt absolute Gegensätze. Helnwein ist ein Künstler der kompromißlosen Aussagen: Das Triviale, etwa der Disneykultur, wechselt ab mit Untergangsvisionen der Seele, die Göttlichkeit des Kindes kontrastiert mit Horrorbildern von Kinderschändung. Sein Grundthema aber bleibt die Gewalt, das physische und seelische Leid, das ein Mensch dem anderen zufügt. Der Künstler variiert dieses Thema innerhalb zweier Komplexe, die sich über viele Jahre hin durch sein Werk ziehen.

In einem ersten Komplex setzt Helnwein sich mit sich selbst als Künstler auseinander (Abb. 55-57). Der bandagierte Mensch, mit chirurgischen Instrumenten gefoltert, schreit seine Qualen hinaus. Er leidet unendlich. Er leidet sogar so sehr, daß sein Schrei Glas zum Zerspringen bringt, wie im bekannten fotorealistischen Gemälde Blackout von 1982, das zum »Markenzeichen« Helnweins wurde. Helnwein zeichnet das Künstlerportrait eines auf Leiden reduzierten Menschen. Damit steht er in der spätmittelalterlichen Tradition des Schmerzensmannes. Helnwein geht einen Schritt weiter als Nauman, dessen Video Clown-Folter den Künstler als lächelnden Narren der Welt portraitiert.

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55 Gottfried Helnwein, Selbstportrait, 1981

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56 Gottfried Helnwein, Selbstportrait, 1981

Es geht Helnwein nicht nur um sich selbst als Außenseiter der Gesellschaft. Der Künstler als Märtyrer, so heißt es bei Peter Gorsen, erhalte eine zentrale Bedeutung in Helnweins Werk, weil er zur Projektionsfläche des Weltgeschehens werde. Zum autobiographischen Gehalt seiner Selbstportraits sagte der Künstler in einem Interview: »Damit meine ich überhaupt nicht mich, sondern ich nehme mich, weil ich als Modell jederzeit verfügbar bin: Was ich meine, ist einfach >einen Menschen<.« Von diesem handeln die Selbstbildnisse - vom leidenden, verletzten, unterworfenen, gefolterten Menschen, dem nur noch der verzweifelte Schrei bleibt. Über seine Seele verfügt er nicht mehr.

In einem zweiten Komplex tritt Helnwein seit den frühen siebziger Jahren mit Vehemenz für die Rechte des Kindes ein. Das Kind ist Helnweins andere Märtyrerfigur (Abb. 58). 

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57 Gottfried Helnwein, Black Minor V (Schwarzer Spiegel V), 1987

 

Wie der Erwachsene wird auch das Kind der Gnadenlosigkeit des Mitmenschen unterworfen. Chirurgische Instrumente fesseln es, Narben ziehen sich über sein Gesicht - ein Motiv, das Helnwein seit den siebziger Jahren immer wieder aufgriff. Der Unmensch - der in den Kinderfotos und Kinderbildnissen stets unsichtbar bleibt - nimmt früh Besitz von der Kinderseele, macht sie gefügig und bricht sie. Der abwesende Gewalttäter verkündet seine Präsenz, indem der Betrachter das Ergebnis der Unmenschlichkeit sieht. Keine helfende Hand, ebensowenig wie für die Erwachsenen, regt sich. Kind und Erwachsener sind Metaphern für den Menschen, dem niemand beisteht. Einzig der Funke der Transzendenz und der Reinheit widersteht der Gewalt. Man findet ihn bei den Kindern, deren Kopf ein Strahlenkranz umgibt wie ein Heiligenschein. Um so schwerer wiegen die Verbrechen, wenn sie an Wesen, die sich nicht wehren können, verübt werden: der Künstler als postmoderner Christus, das Kind in seiner ahnungslosen Göttlichkeit. Mit diesen beiden, in sich tausendfach abgewandelten Komplexen vermittelt der Künstler eine Botschaft, wie sie eindringlicher nicht sein könnte.

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58  Gottfried Helnwein, ohne Titel, 1987

 

 

Eine ganz andere, ebenso erschütternde Kraft spricht aus vielen Fotoportraits Helnweins, meist von Persönlichkeiten im kulturellen Sektor. Gerade die Idole der Massen und der Medien tragen in sich die Zeichen des Verfalls. Warhols ungesunde, pickelübersäte Haut scheint, wächsern und beinahe durchsichtig, den Tod zu antizipieren. Lech Walesas feistes Gesicht strotzt vor Selbstzufriedenheit. Arno Breker lugt - mit Recht - mißtrauisch in die Kameralinse. Das Gesicht des Schriftstellers und notorischen Säufers Charles Bukowski (Abb. 59) ist nichts anderes als ein Schlachtfeld. Helnwein läßt in seinen Fotoportraits Prominenter eine mißlungene Parade der Eitelkeiten vorbeidefilieren; nicht um sensationalistisch zu entlarven, sondern um Erkenntnis und Selbsterkenntnis zu ermöglichen. In den Worten von William S. Burroughs: Er zeigt dem Betrachter, »was er weiß, von dem er aber nicht weiß, daß er es weiß. Helnwein ist ein Meister dieses überraschten Erkennens«

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59 Gottfried Helnwein, Charles Bukowski, 1991

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60 Gottfried Helnwein, Feuermensch, 1991

In der Serie der Fotoportraits läßt sich noch am ehesten eine positive Botschaft des Künstlers erahnen: mögliche Selbsterkenntnis als Weg zur inneren Wandlung. Daß er sie für realistisch hält, möchte man jedoch angesichts von Helnweins Gesamtwerk kaum annehmen. Ein an die Monstren Christa Nähers erinnerndes Wesen faßt Helnweins Menschenbild zusammen. Das Gesicht im Gemälde Feuermensch (Abb. 60) verströmt Bösartigkeit, Tod und Verderben. Man könnte dieses Wesen als Verkörperung der latenten Aggression des Menschen, seiner unberechenbaren, tödlichen Energie interpretieren. Der Feuermensch lauert auf sein Opfer, er duckt sich zum Sprung. Endlich bekommen wir den Triebtäter zu Gesicht.

Wie bei Helnwein gibt es auch beim 1946 in Boston geborenen, heute in Kalifornien lebenden Chris Bürden Berührungspunkte mit dem Wiener Aktionismus der sechziger Jahre. Diese Kunstrichtung verwarf das Prinzip der Repräsentation in Malerei oder Skulptur. Nur die direkte Aktion zählte, die Existenz des Menschen sollte unmittelbar erlebt werden. 

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Die Kernfrage des Wiener Aktionismus war die Frage nach den Grenzen der menschlichen Freiheit. Sie galt es auszuloten und auszukosten. Daß dabei gesellschaftliche Tabus verletzt wurden, gehörte zum Programm. Die Erfahrungsaktionen nahmen einen ausgesprochen rituellen Charakter an. Hermann Nitsch (geb. 1938) paraphrasierte auf blasphemische Weise die Zeremonien der katholischen Kirche, Rudolf Schwarzkogler (1940-1969) wandte sich nach innen, und Otto Muehl (geb. 1925) entlud sich in Selbstbefreiungsaktionen. Günter Brus (geb. 1938) schließlich lebte seine »Selbstverstümmelungen« aus, um die Grenzen von Eros und Thanatos zu erfahren.

Während der Wiener Aktionismus um 1970 als abgeschlossen gelten kann, schössen in dessen Folge neue Kunstformen aus dem Boden: Earth-art, Performance, Video- und Computerkunst, um nur einige zu nennen. Chris Bürden verbindet mit dem Wiener Aktionismus die Abkehr von der Malerei und die konsequente Hinwendung zur direkten Aktion. Auch bei Bürden haben die Aktionen einen wenn auch nur subkutan erspürbaren rituellen Charakter. Die Mehrzahl seiner Aktionen fand von 1971 bis 1975 statt; insgesamt waren es zwischen 1971 und 1983 zirka achtzig.

Bürden wertete seine Performances als Selbstprüfungen. Er testete die eigene Standfestigkeit im Angesicht äußerlicher Gewalt. Eine rein gedankliche Prüfung kam für ihn nicht in Frage. Er verstand sich in erster Linie als körperliches Wesen. Einige Beispiele: In einer seiner denkwürdigsten Aktionen (Sboot, 1971) ließ sich Bürden von einem Freund mit einem Kleinkalibergewehr in den linken Oberarm schießen (Abb. 61, 62). Oder er robbte mit nacktem Oberkörper über eine Glasscherbenfläche oder steckte sich (Doorway to Heaven, 1973) geladene elektrische Drähte in die Brust (Abb. 64). Trans-fixed (Abb. 63) erinnert an Ensors vom Satan gepeinigten Christus am Kreuz und an Bacons Kreuzigungstriptychon. Bürden ließ sich mit zwei Nägeln durch die Handflächen an das Nachkriegssymbol der Mobilität und des relativen Wohlstands, den Volkswagen, nageln und so für einige Minuten auf die Straße schieben. Der aufheulende Motor begleitete ihn zwei Minuten lang. Dann wurde das Auto wieder in die Garage geschoben.

Der problematische Charakter von Burdens Performances ist evident. Man kann seine Aktionen als mutige Selbsterkundungen, als Entgrenzungen der Kunst loben. Oder man kann sie als dekadent,

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61 Chris Bürden, Shoot (Schieß), 19. November 1971

62 Chris Bürden, Shoot (Schieß), 19. November 1971

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63 Chris Bürden, Trans-fixed (Aufgespießt), 23. April 1974

masochistisch, krankhaft und narzißtisch verteufeln. All dies ist geschehen. Sieht man einmal von der engstirnigen Kritik ab, die den Kunstcharakter der Performance überhaupt abstreitet, so geht es bei der Bewertung von Burdens Aktionen weniger um Kunst als um Moral. Im Positiven bleiben Burdens Mut, Hingabe und Konsequenz bewundernswert; im Negativen drängt sich die Frage auf: Wer leistet sich in gewalttätiger Zeit - in der Menschen bestrebt sind, der Gewalt zu entfliehen - den Luxus der überflüssigen Gewalt anders als ein lebenshungriger Künstler?

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64 Chris Bürden, Doorway to Heaven (Tor zum Paradies), 15. November 1973

 

Diese Aporie kennzeichnet Burdens Performances: die Legitimität der unbegrenzten Selbsterfahrung, die Illegitimität der beinahe luxuriösen Gewalteskalation. Im Angesicht der gewalttätigen Auseinandersetzungen dieses Jahrhunderts muß man Burdens Aktionen frivol, ja obszön nennen; im Angesicht der notwendigen ästhetischen Revolution seit 1905 sind sie ein Meilenstein in der Kunstgeschichte.

In den achtziger Jahren setzte Bürden seine Darstellung der Gewalt mit anderen Mitteln fort. Die selbstbezüglichen Aktionen weichen symbolischen Objekten. Statt der Selbstzerstörung wird nun die politsch bedingte Menschenvernichtung thematisiert. Das andere Vietnam-Denkmal von 1991 (Abb. 65) ruft zur Erinnerung an die im Vietnamkrieg gefallenen Vietnamesen auf. Daß die eingravierten Namen erfunden sind, verweist auf den amerikanischen Umgang mit dem einstigen Gegner. Die ehemaligen Feinde gelten als Unpersonen. 

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65 Chris Burden, The Other Vietnam Memorial (Das andere Vietnam-Denkmal), 1991

66 Chris Burden, Medusa 's Head (Medusas Haupt), 1990

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Andere Arbeiten wie Medusas Haupt (Abb. 66), eine tonnenschwere, hängende Plastik, sprechen die technologisch vermittelte Gewalt, mit der der Mensch den Planeten Erde schändet, direkt an. Die Erde hat sich in den Kopf des mythologischen Ungeheuers verwandelt. Das Schlangenhaar des weiblichen Monstrums ist zu Eisenbahngleisen und Eisenbahnzügen geworden. Sie zerfurchen die Oberfläche und machen aus Gaias lieblichem Antlitz eine narbenreiche, häßliche Fratze. Mit dieser eindrucksvollen Plastik von 1990 vergegenwärtigt Bürden den Amoklauf der Teqhnik. Medusas Haupt symbolisiert unser naturvernichtendes Jahrhundert.

 

Der Aspekt der Selbstzerstörung kennzeichnete die erste Periode des Künstlers, der der Menschen- und Naturzerstörung die späte. Donald Kuspit drückt den Zusammenhang beider Phasen freudianisch aus: Zuerst habe Burdens Kunst sich mit zerstörerischen Es-Tendenzen befaßt, in den neunziger Jahren dann mit zerstörerischen Über-Ich-Tendenzen. Daß Bürden den Wandel vom künstlerischen Selbstbezug zum sozialpolitischen Engagement machte, muß man ihm zugute halten. Aus der Distanz betrachtet, kreist das Gesamtwerk um das Thema Gewalt in Form von Selbstzerstörung und Menschenvernichtung. Bürden wendet sich jedoch nicht in gleichem Maße sowohl gegen die eine als auch gegen die andere Zerstörungsform. 

Die Ablehnung seiner Performances wegen ihrer »Obszönität« beruht indes, wie betont, auf einem moralischen, nicht auf einem ästhetischen Urteil. Dies macht allerdings das Dilemma von Burdens Werk deutlich. Stets muß man zwischen beiden Urteilsformen trennen. Wahrhaftig gelungen scheint Bürden der Verweis auf die Natur- und Selbstzerstörung einer Gesellschaft erst in einem Werk der Reife wie Medusas Haupt. Diese Plastik vereint Ästhetik und Ethik, Form und Botschaft. Der schockierende und bizarre Charakter der frühen Performances verleitet dazu, diese zu überschätzen, während die Aufmerksamkeit dem späteren Werk gelten sollte.

Das Thema der gewaltsamen Entladung der Gefühle zieht sich durch die Arbeiten des Kanadiers Jeff Wall hindurch. Er wurde 1946 in Vancouver geboren und lebt noch heute dort. Seine stets bis ins letzte Detail inszenierten Fotokunstwerke stellen die Gewalt zwar ins Zentrum, weisen jedoch eine große Vielschichtigkeit auf. Wall inszeniert die Dialektik von Vertrautem und Unvertrautem. Er erreicht mit diesem Mittel eine von der Kritik so bezeichnete »defamiliarization«. Sie wiederum ermöglicht es dem Betrachter, Bekanntes mit neuen Augen zu sehen. Walls Fotos zeugen von Aggression, Entfremdung, Haß, unkontrollierbaren Gefühlen und spannungsgeladenen Beziehungen. Seine zurückhaltenden Verfremdungen lassen eine leicht merkwürdige Atmosphäre entstehen, in der man dem vertrauten Gefühlskomplex neu begegnet.

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67 Jeff Wall, The Destroyed Room (Das zerstörte Zimmer), 1978

 

 

Die Szenerie im Zerstörten Zimmer (Abb. 67), einer frühen Arbeit, verweist auf eine persönliche Tragödie einer unbekannten Frau. Mehr erfährt man nicht. Mit dem Rot der Wand assoziiert man Leidenschaft, erinnert sich wohl auch an die rote Wand in van Goghs emotionsreichem Nachtcafe von 1888. Die gesamte Habe, und vielleicht die Frau selbst, ist wüster Gewalt zum Opfer gefallen. Ausbruch (Abb. 68) stellt die Gewalt im Augenblick der Entladung dar. Haß funkelt in den Augen des Textilarbeiters. Aus seiner unglücklichen sozialen Situation entsteht seine aufgestaute Wut. Sie entlädt sich gegen den Kollegen, der ebenso starr vor Entsetzen ist wie seine Kollegin am linken Bildrand. Mit dieser pointierten Arbeit möchte Wall vordergründig eine sozialkritische Aussage machen. Die Zentrierung der Komposition, auf einem chaotischen Hintergrund, lenkt den Blick jedoch auf die Problematik des menschlichen Zusammenlebens überhaupt, denn das äußere Chaos der Fabrik spiegelt das innere des Aggressors, während die klassische Motivzentrierung rein ironischen Charakter trägt, insofern als sie Ruhe und Ordnung suggeriert, die just nicht einkehren wollen.

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68 Jeff Wall, Outburst (Ausbruch), 1989

 

In seinen dramatischen Inszenierungen scheint Wall den Augenblick zu erfassen, der mit dem Höhepunkt des Geschehens identisch ist und die Handlung zum Umschlagen bringt. Die meisterliche Dramaturgie des Fotokünstlers ist theatralisch im besten Wortsinn. Im Räumungskampf (Farbtafel 14) spielt Wall ein tragikomisches Spiel mit dem Betrachter. Auf den ersten Blick bietet sich das heitere Panorama einer aufgeräumten Vorstadtgegend dar, der Himmel strahlt blau und fotogen. Erst bei genauem Hinsehen — der Blick des Betrachters wird durch das schrägstehende Auto gelenkt — bemerkt man, daß ein erbitterter Kampf auf dem Rasen tobt. Die Enteigneten widersetzen sich der Gewalt. Die vertraute, ein wenig langweilige Suburbia birgt, winzig klein und doch hochbedeutsam, eine menschliche Tragödie. Das Bild kontrastiert heitere Scheinordnung mit tragischem Geschehen.

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Tragisch auch Walls Horrorvision aus dem Afghanistankrieg, Tote Soldaten reden (Abb. 69). Das an Goyas Desastres de la guerra und an die Höllenvisionen Hieronymus Boschs erinnernde Bild, eine reine Studioinszenierung, zeigt russische Soldaten nach einem Afghanenüberfall. Die Todgeweihten stehen unter Schock, grinsen, scheinen zu stöhnen, ohne Sinn und Verstand zu reden. Die Inszenierung dringt freilich tiefer als die Platitüde »Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten«. Wall schuf ein Memento für alle sinnlos sterbenden Soldaten, ein gültiges Bild des letzten heißen Kleinkriegs im Rahmen des großen Kalten Krieges.

Ebenso wie Nauman und Odenbach ist Wall ein bezwingender Chronist unserer Tage. Der Gitarrist von 1987 stellt »Null-Bock«-Jugendliche in ihrer schmuddeligen Bleibe dar, Der Streit von 1988 den üblichen Ehekrach. Der Stolperstein von 1991 weist auf ein weiteres Thema hin, das Wall beschäftigt: die zwischenmenschliche Entfremdung im urbanen Kontext. Die modernen Stadtmenschen sind nicht die einzigen Ausgeburten der Kühle. So unterstreicht etwa Der Geschichtenerzähler von 1986 die Entfremdung der indianischen Urbewohner von ihrer autochthonen Kultur. Am gigantischen Viadukt einer modernen Stadtautobahn sitzend, versuchen ein paar Indianer allen Widerständen zum Trotz ihre Kultur aufrechtzuerhalten.

 

69 Jeff Wall, Dead Troops Talk (Tote Soldaten reden), 1991/92

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Das Thema der Gewalt im engeren Sinn bildet nur eine Ebene in fast allen Inszenierungen des Dramaturgen, Regisseurs und Fotokünstlers Jeff Wall. Andere Themen werden ebenso angesprochen: der Zusammenbruch der Kommunikation, die Entfremdung von Mensch und Natur und die, zwischenmenschliche Entfremdung, Unterdrückung und seelisches Leid. Walls subtile Verfremdungstechnik läßt eine Atmosphäre entstehen, die immer leicht surreal ist. Man hat das Gefühl, eine stilisierte Handlung im Film oder auf der Theaterbühne anzuschauen, die wiederum ganz natürlich erscheint. 

Insofern eignet Walls Fotos eine ungeheure Spannung, getragen von der Dialektik von Ordnung und Chaos, von Bewegung und künstlich eingefrorener Pose der Agierenden. Alle Personen in Walls Fotos scheinen im Zustand der erstarrten Bewegung zu verharren, wie über seine Magie der undynamischen Dynamik geschrieben wurde. Dergestalt kann man die Personen weder als real noch als irreal bezeichnen. Sie schweben verängstigt in einer fremden Welt, ohne an ein Ziel gelangen zu können. Sie erleben am eigenen suspendierten Körper das Resultat einer gesellschaftlichen Dynamik, die nicht die ihrige ist. Winzig klein die Akteure im Räumungskampf, von Emotionen fremdgelenkt der ausgebeutete Asiate in Ausbruch, im Delirium des Granathagels gefangen die Männer in Tote Soldaten reden. 

Walls merkwürdige Inszenierungen, stets ein wenig bizarr, verweisen auf die bizarre Welt, in der wir leben, eine Welt, die dem Individuum die Autonomie raubt. Wenn das Individuum dann endlich agiert, wie im Zerstörten Zimmer, so nur eruptiv. Das Resultat — eine Katastrophe im Kleinen. Ohne seelisches Gleichgewicht gibt es keine Herrschaft über die eigenen Gefühle. Die Gefühlsautonomie jedoch wird gerade von der Gesellschaft verweigert, die das reibungslose Funktionieren verlangt. Und so sieht sich der Mensch als Suspendierter, als Bewegungsunfähiger, worauf Walls erstarrte Bewegung symbolisch verweist. Überaus eindringlich vermitteln die fehlerfreien Inszenierungen des Künstlers eine Botschaft der Vergeblichkeit. Walls Arbeiten gehören zu den eindringlichsten der Gegenwartskunst.

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70 Werner Knaupp, Schwarze Wand - Krematorium, 1980/81 (links); 
700 Köpfe (1984/85) mit Schacht (2/1984)

 

Alle Auseinandersetzungen des Lebens enden dort, wo das Werk des 1936 in Nürnberg geborenen Werner Knaupp beginnt: Die Gewalt findet ihr Telos im Tod; und nicht einmal nach dem Tod gelangt der Leib in Knaupps Arbeiten zur Ruhe. Er geht oft gewaltsam, oft sich im Feuer aufbäumend und sich auflösend, ins Nichts ein. »Mir ging es darum«, meinte Knaupp 1991 in einem Interview, »für mich sichtbar zu machen, daß Sterben nicht Randzone bedeutet, sondern der Mittelpunkt des Lebens ist.« 

Die Extremsituation des Sterbens, ein Tabu in seinem Elternhaus, wie der Künstler hervorhob, erfuhr Knaupp hautnah. 1979 arbeitete er im Sterbehaus der Mutter Teresa in Kalkutta, danach in einem Nürnberger Krematorium. Angefangen hatte er 1977/78 im Nervenkrankenhaus in Bayreuth. Auf künstlerischem Gebiet zeigt sich die Suche nach Extremsituationen auch in seinen 1965-1974 geschaffenen Landschaften. Wüsten, rauhe Inseln und Vulkane standen dabei im Zentrum. 1976-1987 befaßte er sich mit den Themen Sterben, Verbrennung und Tod, seit 1987 erneut mit Landschaften, meist mit Vulkanen.

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19 Helmut Schweizer, Deutschlandschaft 3, 1989-91

 

20 Helmut Schweizer, Deutschlandschaft 11, 1989-91

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Knaupp sucht stets nach dem Elementaren und somit Unverbrauchten und Reinen. Rein ist auch das Feuer, eine Kernmetapher in seinem Werk; wobei das Feuer auch vernichtet, der Kreatur die letzte Gewalt antut. Schwarze Wand — Krematorium (Abb. 70, 71) zeugt von der Kraft des Feuers. Der Leichnam in verschiedenen Auflösungsstadien ruht nur vorläufig auf den drei Schamottepfosten. Er verläßt die Krematoriumskammer als Staub und findet Einlaß in die absolute Anonymität. Knaupp zeichnet ein Bild der Unausweichlichkeit und des unfriedlichen Übergangs ins Jenseits. So gewaltsam das Leben, so gewaltsam die Auflösung. In Minutenschnelle wird aus dem Individuum ein Häufchen Asche.

Auch die 100 Köpfe mit Schacht (Abb. 70) führen das Ergebnis des heillosen Umwandlungsprozesses vor Augen. Knaupps Eisenplastiken von 1982-84 lassen an die Relikte menschlicher Körper denken, die Köpfe an weggeworfene Hirnschalen. Ein paar davon stecken schon im Eisenschacht, durch den sie, so kann man es sich vorstellen, in die Tiefe kugeln.

Knaupps Arbeiten gemeinsam ist die reduzierte Form einer pointierten Botschaft. Die Werke des Künstlers können als Konzentrationen von Leid, Weggeworfensein, Tod und Gewalt am leblosen Körper gelten. Knaupps Charakterisierung seiner Eisenplastik Lebensspur als »Chiffren der Vergänglichkeit« mag für sein Gesamtwerk Gültigkeit besitzen. Daß bei der Interpretation seiner Arbeiten weitergreifend assoziiert werden kann, liegt an ihrem reduzierten, allgemein-symbolischen Charakter. Die Köpfe erinnern an die Massengräber der Konzentrationslager, die Schwarze Wand an die Verbrennungsöfen der Nazis, wenn das Wachrufen solcher Assoziationen vom Künstler auch nicht unmittelbar intendiert sein mag. Fast zehn Jahre später geben die rassistischen Verbrennungsmorde von Mölln und Solingen den Werken eine schauderhafte Aktualität.

Knaupps nüchterne, stille, darum um so imposantere Arbeiten bilden den Übergang zum Todeskapitel. Knaupp rundet das Thema »der Mensch als des Menschen Wolf«, wie es Nauman, Odenbach, Helnwein, Bürden und Wall zeichneten, ab. Selbst nach dem Tode herrscht Bewegung und forcierter Übergang. Der Kreis zum Bild vom Menschen als Opferlamm — »Ecce homo« — schließt sich. Es bleibt ein von Künstlern geschauter Horrorkosmos der Opfer und der Täter.

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Gregory Fuller Endzeitstimmung (1994)