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4  Tod  

Fuller-1994

 

110-139

Der verdrängte Tod, der verschwiegene Tod, der tote Tod: so läßt sich das westliche Verhältnis zum Tod am Ende dieses Jahrtausends bezeichnen. Das letzte Tabu unserer Gesellschaft ist nicht die Sexualität, sondern der Tod. Die erhöhte Lebenserwartung, die medizinische Ausgrenzung des Todes durch die Intensivstation, die Heilbarkeit vieler Krankheiten und die Funktionsmanie einer Gesellschaft, die nur Jugend und Gesundheit anerkennt, haben zu einem Verlust der Sterbe- und Todesrituale geführt

Täglich erlebt man allerdings in den Massenmedien eine Parade der Todesbilder. Aber der im Fernsehen und im Film nur sekundenlang angeschaute Tod durch Hunger, Krieg, Mord und Verkehrsunfall distanziert den Zuschauer von der unmittelbaren Wirklichkeit. Das Fernsehen versichert uns, wie France Morin schreibt, daß Greueltaten immer nur den anderen geschehen.

Seit ungefähr fünfzig bis hundert Jahren verweigert die Gesellschaft den Tod. Sie wertet ihn als böse. In unendlicher Selbstentfremdung verleugnet der Mensch damit seine eigene Biologie, seinen Körper. Die Normalität des Vergehens wird verdrängt. Worte wie diese von Montaigne: »Das Ziel unserer Laufbahn ist der Tod« werden mißachtet. Je mehr der Tod aus dem Alltag ausgeklammert wird und somit unbekannt bleibt, desto größer wird die Todesfurcht.

Menschen früherer Jahrhunderte lebten und starben in einem ganz anderen Todesbewußtsein. Der Kulturhistoriker Philippe Aries unterscheidet im letzten Jahrtausend verschiedene Perioden des Verhältnisses zum Tod. Vom 11. bis zum 18. Jahrhundert wird das Todesverständnis von der Sorge um das eigene Seelenheil geprägt. Nach Ariès ist der Tod in dieser Periode der »gezähmte Tod« und der »eigene Tod«. Memento-mori-Werke, Darstellungen und Bücher der Ars moriendi, der Kunst zu sterben, sind für diese Einstellung typisch.

Im 18. Jahrhundert verschiebt sich die Todesbeschäftigung auf den anderen und dessen Tod. Diese Zeit des »Todes des anderen« wurde, so Ariès, vor ungefähr fünfzig Jahren von der des »verbotenen Todes« abgelöst. Der Tod, der durch eine stetige Ausgrenzung aus dem Alltag weniger vertraut ist als früher, verwandelt sich jetzt in ein Tabu. Wortkargheit im Angesicht des Todes und ein Unvermögen, Gefühle der Trauer und des Schmerzes auszudrücken, bestimmen unser Verhältnis zum Sterben und zum Tod. 

Wie der Künstler Hans Danuser zeigt: Im Tod auf der Intensivstation reduziert sich das Problem auf die Technik. Die öffentliche Trauerzeit wird aus dem Leben verbannt. Das Leid kehrt sich nach innen; der Mensch trauert nur mehr verschämt. Eine ernsthafte, ganz natürliche Beschäftigung mit dem Tod ist gleichsam verboten. Der Tod erfährt allenthalben eine Trivialisierung, die unser unernstes Verhältnis zu ihm zementiert: im Actionfilm, im Kriminalroman und im Fernsehkrimi, als Totenkopf-Radiergummi und in der Geisterbahn.

Die enge Verflechtung von Thanatos und Eros, die Bataille in Kunst und Kultur untersucht hat, existiert nicht mehr. Eros verflacht zur buchstäblich nackten Libido, Thanatos wird in den Horrorfilm und in die Abendnachrichten verbannt. Die moderne Gesellschaft hat sich Epikurs simplistische Maxime zu eigen gemacht: »Der Tod geht uns gar nichts an. Denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.«

Es mag zutreffen, daß, wie Susan Sontag geschrieben hat, Aids einen Wandel im Verhältnis zum Tod einleitet. In den Homosexuellenkreisen New Yorks sind die »memorials« — Veranstaltungen zum Gedenken an die an Aids Gestorbenen — zu dem sozialen Ereignis geworden. Die Künstler der neunziger Jahre beschäftigen sich intensiver und häufiger denn je mit dem Todesthema und mit verwandten Bereichen. Die Körperbetonung erfährt in den neunziger Jahren eine neue Dimension. Es ist kein Zufall, wenn bei Kiki Smith und Andres Serrano die Körperflüssigkeiten neue Konnotationen als Todessäfte erhalten, wenn Kiki Smith die leidenden Körper der Frauen ins Zentrum ihrer Arbeit stellt. Hautstudien wie die von Serrano hat man noch nie gesehen. In den Bildern László Fehérs löst sich der Körper auf, nur der Umriß bleibt noch eine kurze Zeit. Für Arnulf Rainer besitzt der Tod noch alle Schrecken. Er versucht, ihn auszulöschen.

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Einen Höhepunkt erreicht die ernsthafte Beschäftigung mit dem Tod in den Fotoarbeiten Jeffrey Silverthornes. Stille und Würde, ohne falsche Ästhetisierung, sprechen aus seinen Fotografien. Silverthornes Arbeiten führen zum Ziel eines sinnvollen und unentfremdeten Umgangs mit dem Tod, das da heißt: Annehmen der eigenen Sterblichkeit. »Die Bedingung eurer Schöpfung«, schrieb Montaigne, »ein Teil eurer selbst, ist der Tod.«

Bis zur Renaissance bedingte die Untrennbarkeit von Kunst und Religion, daß die künstlerische Beschäftigung mit dem Tod in den religiös bestimmten Alltag eingebunden war. Mit dem Verlust der religiösen Dominanz der Kunst verselbständigte sich der Tod. Der religiöse Vanitasgedanke wurde säkularisiert und fand im 17. Jahrhundert und wieder im romantischen Vergänglichkeitsgedanken des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt. Wie bereits im Anfangskapitel beschrieben, durchzieht die Todesthematik auch das gesamte 20. Jahrhundert, doch beherrscht sie die Kunst des Jahrhunderts keineswegs.

Erst seit der Mitte der achtziger Jahre kommt das Thema immer häufiger und eindringlicher in der Kunst vor, suchen immer mehr Künstler eine Annäherung an den totgeglaubten Tod und erstreben eine Reintegration des Todes in die moderne Gesellschaft. Mit der Ernsthaftigkeit der Todesbeschäftigung gewinnt die Vanitaskunst in gottloser Zeit eine neue Qualität. Das nichtsensationalistische Zeigen des Todes, und nur dieses, deckt Verschüttetes auf, vermag Ängste abzubauen und ebnet die Wege für ein neues Kulturbewußtsein. Die sinnvolle und nichtpathologische künstlerische Beschäftigung mit dem Tod könnte ein Gegengewicht zur elektronischen Instantkultur unserer Tage schaffen und schließlich das erstrebenswerte gelassene Annehmen des eigenen Todes fördern helfen.

Christian Boltanski, 1944 in Paris geboren, möchte Vergangenheit und Tod vergegenwärtigen. Boltanski betreibt eine Archäologie der Erinnerung. Seit 1985 lautet der Obertitel seiner sämtlichen Arbeiten Lecons de tenebres (Grablektionen).

Boltanski erinnert an reale, aber anonyme Tote ebenso wie an »tote«, also scheinbar abgeschlossen-vergangene Zustände. Eine solche Phase ist die Kindheit. Fragilität und Abtötung des Kind-Ichs im Erwachsenen bilden die Themen der Kinderarbeiten. »Wenn mein Werk die Kindheit behandelt, ist es nicht, weil ich mich für die Kindheit interessiere, es ist, weil dies der erste Teil von uns ist, der tot ist.« 

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72   Christian Boltanski  
Les Suisses morts 
(Die toten Schweizer) 
1990  

 

Monument: Die Kinder von Dijon (Farbtafel 10), 1986 in Dijon mit 50 Fotografien und 150 Lichtern installiert, setzt der — eigenen — Kindheit ein Denkmal. Vieldeutiger ist die Reserve des Kindermuseums (Farbtafel 9). Die abgelegten Kleider erinnern an Gegenwart und Abwesenheit zugleich. Das Gedächtnissouvenir eines Subjekts verwandelt dieses in ein geschundenes Objekt, wenn man — die Lampen evozieren das Bild der Scheinwerfer an den Stacheldrahtzäunen in den Konzentrationslagern — an die aufgehäuften Kleider der in den Todeslagern Ermordeten denkt.

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73 Christian Boltanski, 

Réserve des Suisses morts (Reserve der toten Schweizer), 1991

 

 

   

74 Christian Boltanski, 

Réserve des Suisses morts 

(Reserve der toten Schweizer), 

1990

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Die toten Schweizer hat Boltanski in vielen Variationen ausgestellt (Abb. 72-74). Die Fotografien entnahm der Künstler der regionalen Schweizer Zeitung Le Nouvelliste du Valais, in der sie als Todesanzeigen erschienen. Insbesondere die Frankfurter Version von 1990 beeindruckt: Wie in ein Mausoleum steigt der Betrachter hinab, begleitet von 754 Fotos der Durchschnittsgesichter, die vom Boden bis zur Decke aneinandergereiht sind (Abb. 72). In anderen Versionen teilt Boltanski jeder Metallschachtel ein Gesicht zu. Alles, was bleibt, ist ein Gesicht und eine bedeutungslose Schachtel.

Der Schlüssel zu den Toten Schweizern liegt in der Normalität der Personen. Boltanski meinte, es gebe nichts Normaleres als einen Schweizer. Um so grotesker und eindringlicher erscheinen die Alltagsgesichter auf den Fotos. Sie sind anonym, was den Betrachter noch mehr rührt, als wenn er ein paar illustre Individuen vor sich hätte. Der Künstler holt die insbesondere im 15. und 16. Jahrhundert beliebten Memento-mori-Darstellungen mit den modernen Mitteln der kombinierten Fotografie und Installation in unsere Zeit herüber. Die Memento-mori-Darstellungen waren Jedermann-Bilder und mußten typisierte Menschen zeigen, um allgemeine und für die damalige Zeit weithin verständliche Aussagen zu machen. 

Bei Boltanski scheint trotz der Verschiedenartigkeit der Physiognomien die Individualität höchstens hindurch. Jeder war ein Individuum; und nun sind alle gleich im Tod. Auch dies ein Aspekt etwa der Totentanzdarstellungen des 15. Jahrhunderts, in denen Menschen jeden Alters, Berufs und Standes vom Großen Gleichmacher dahingerafft werden. Obwohl dieses Thema des Spätmittelalters zeitgebunden ist, versteht es Boltanski in seinen eindrucksvollen Installationen, den überzeitlichen Aspekt in einer zeitgemäßen Weise zu vermitteln. 

Boltanskis Installationen gehen über ins Environment; nomen est omen: Sie umfangen den Betrachter mit ihrer ernsten, weihevollen Atmosphäre, sie entrücken geradezu, aber in nüchternem und säkularem Gedenken an die Toten. Immer wieder gelingt Boltanski das Meisterstück, eine beinahe wohltuende, absolut nichtreligiöse Atmosphäre zu schaffen. Von der Kirche einst konditioniert, fühlt man sich den anonymen Verstorbenen zugehörig. Boltanskis Botschaft lautet: Hier ist dein Fotoalbum, hier sind deine Freunde und Verwandten. Und hier bist du selbst.

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75   Arnulf Rainer, Mumienkopf, 1979/80 
76    Arnulf Rainer, Totengesicht, 1979
77   Arnulf Rainer, Totengesicht, 1979

              

 

Boltanski erinnert, würdigt und bewahrt. Bei dem 1929 in Baden bei Wien geborenen Arnulf Rainer stehen hingegen Auslöschung und Vernichtung im Zentrum. Fotografierte Totenmasken berühmter Persönlichkeiten, Gesichter anonymer Leichen und Mumienköpfe werden von Rainer zum Kunstgegenstand gemacht (Abb. 75-77). Schon als Mitglied der Wiener »Hundsgruppe« ging es Rainer 1952 darum, mittels blasphemischer Gesten den Status der Kunst zu entweihen. Diesen Tabubruch setzt er mit den Totenübermalungen fort. Die Übermalungen der Totenmasken sollen den Geniekult des 19. Jahrhunderts persiflieren. Freilich gehören Tabuverletzung, Satire, gestische Asthetisierung nur zur oberflächlichsten Interpretationsebene von Rainers Werken.

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Rainers Annäherungen an den Tod sind undenkbar ohne den rituellen Charakter, den der Künstler für seine Handlungen beansprucht. Er nannte sie »Abtötungsübungen«. Problematisch ist der Ritus bei Rainer, weil sich die Kunst längst vom religiösen Kult getrennt hat. Eine individuelle Ritualisierung will nicht mehr überzeugen. Darüber hinaus führt der Begriff des Ritus eine ganz neue Aura in die Kunst ein, die den Künstler mythologisiert, während Rainer just den Kult um die Kunst doch angeblich abzuschaffen bemüht war.

Dringt man tiefer in Rainers Werk ein, so wird der ambivalente Charakter seiner Kunsthandlungen und seiner Kunstprodukte offenbarer. Auf der einen Seite beschäftigt sich Rainer überhaupt mit dem Thema Tod. So bekennt er sich zum Tod. Auf der anderen Seite löschen die wilden Übermalungen die toten Individuen ganz und gar aus. Rainer gibt seine Ohnmacht vor dem Tode zu, indem er post mortem übermalt; ein im Grunde sinnloser Akt, der am Tod nichts ändert. Wenn der Künstler aber die stets geduldigen Toten mit Farbe und mit seinen kräftigen Initialen überdeckt, so bedeutet dies auch: Das ist mein Werk, das ist meine Kunst, das gehört nun mir. Rainer mißachtet die Individualität der Toten, schenkt ihnen freilich durch seine Asthetisierung eine neue Rolle, die sie im Leben nie hätten erlangen können.

Rainers Äußerungen weisen eine ebenso große Widersprüchlichkeit auf. Er schreibt, die Annäherung an die Toten sei für ihn »die große Konfrontation«. Andererseits decouvriert er sein nacktes Eigeninteresse: »Der Künstler will vor allem zur Gestaltungsekstase vorstoßen.« Rainer instrumentalisiert dazu die Toten. Ihre stille Würde achtet er dabei nicht, sie werden übergangen, zum zweiten Mal ausgelöscht. Die Wehrlosen werden ästhetisiert, ohne danach verlangt zu haben. Aus diesem Grunde können die Übermalungen Rainers nicht überzeugen.

Boltanskis Ambivalenzen sind rein künstlerischer Natur. Bei Rainer steckt hinter der künstlerischen Ambivalenz eine persönliche. Diese gründet jedoch weniger in der Person Arnulf Rainer selbst als vielmehr im gesamtgesellschaftlichen Todestabu und verdankt sich dergestalt der vorherrschenden Ideologie. 

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Zwar beschäftigt sich Rainer mit dem Tod, aber nur, um ihn, so weit es seine Kräfte vermögen, zu neutralisieren. Die Toten werden in ihrer verschwindenden Leibhaftigkeit nicht respektiert. Ihr Tod und der Tod überhaupt erfahren Nichtakzeptanz. Rainers Versuch, Extremsituationen durch Tabubruch zu erleben und mitzuteilen, scheitert, weil er im Grunde kein Tabu bricht. Weder die Gesellschaft noch Rainer akzeptieren den Tod. Die Gesellschaft grenzt ihn real aus, Rainer vernichtet ihn ideell durch Übermalen. Durch sein mangelndes Annehmen des Todes bekräftigt Rainer in letzter Konsequenz unwissentlich unsere Furcht vor dem unbekannten Tod.

»Um sich mit dem Tod vertraut zu machen«, schrieb Montaigne, »braucht man sich ihm nur zu nähern.« Der 1946 in Honolulu geborene und heute in Indiana lebende Jeffrey Silverthorne hat dieses Wort ernster genommen als Rainer. Sein Herangehen an den Tod ist in seiner Objektivität dem Rainerschen Weg entgegengesetzt. Der Schrecken, der von Silverthornes Bildern ausgeht, entsteht aus der stillen Nüchternheit des Kameraauges.

Schon seit den späten sechziger Jahren setzt sich Silverthorne mit menschlichen Extremsituationen fotokünstlerisch auseinander. Die Jagd, der Ringkampf, Gefangene, illegale Einwanderer an der texanisch-mexikanischen Grenze, Prostituierte und vor allem Tod und Körperlichkeit bilden seine Hauptthemen. Nachdem in den Jahren 1972-74, mit Zustimmung des Justizministers von Rhode Island, die Leichenschauhausserie Listen entstanden war, fotografierte Silverthorne 1986 und 1990/91 wieder im Leichenschauhaus. Der Obertitel seiner nichtinszenierten Leichenschauhausarbeiten lautet Morgue Work. Mehrfachüberlagerungen von Lebenden und Toten in der Serie Briefe aus dem Totenhaus von 1986-89 intensivieren Silverthornes Meditation über die Sterblichkeit des Menschen, ebenso wie die inszenierte Serie Stille Feuer (1982-84), die den Mythos von Orpheus und Eurydike auf überraschend neue Weise behandelt.

Aus Silverthornes Fotoceuvre spricht das ernsthafte Bemühen, den Tod zu verstehen und zu akzeptieren. Keinem anderen Fotokünstler in diesem Jahrhundert gelang dies so überzeugend wie Jeffrey Silverthorne. Weegees Fotos verharren im Schrecken der Gewalt, in War-hols Siebdrucken bleiben die Serien der Unfälle und elektrischen Stühle Episode. Im Gegensatz zu Robert Mapplethorpe und Hans Danuser verzichtet Silverthorne auf Ästhetisierung. 

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78 Jeffrey Silverthorne, The Woman Who Died in Her Sleep (Die Frau, die im Schlafe starb), 1972-74

Er steht im wesentlichen in der Tradition der »straight photography«, der auch Walker Evans angehört; ohne Scheu nimmt er sich der im Wortsinne nackten Tatsachen an. Er wollte, wie er selbst sagt, »zeigen, daß kein Weg um das Ereignis Tod herumführt«.

Die Leiche, die Silverthorne portraitiert, signalisiert den Verlust des menschlichen Status als eines tätigen, eigenverantwortlichen Subjekts, wie die Kritikerin Rita Bischof schreibt. Der Tote ist in der Leiche anwesend und abwesend zugleich. Die »beunruhigende Passivität« der Leiche löst, wie es weiter heißt, sämtliche sozialen Beziehungen auf. Insofern stellt die Leiche ein Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft dar, eine extreme Bedrohung. Die sinnlich wahrnehmbare Verwandlung eines tätigen, bewegten Menschen in einen starren Leichnam, meint Bischof, macht die Leiche äußerst vertraut und äußerst fremd. Die Leiche ist weniger ein Ding als ein Unding, ein geformtes Nichts, das als Paradoxon — die abwesende Anwesenheit des Toten — Rätsel aufgibt. Tiefer als jeder andere Künstler ist Silverthorne in dieses Rätsel eingedrungen.

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79 Jeffrey Silverthorne, Home Death (Zu Hause gestorben), 1973

80 Jeffrey Silverthorne, Beating Victim (Schlägereiopfer), 1972-74

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81 Jeffrey Silverthorne, Mother and Son (Mutter und Sohn), 1986

82 Jeffrey Silverthorne, Lovers, Accidental Carbon Monoxide Poisoning (Liebende, versehentliche Kohlenmonoxidvergiftung), 1973

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Das Foto ist für diese Suche das adäquate Medium, denn nur das objektive Foto verlangt vom Betrachter das subjektive Bemühen um das Rätsel. Indem sich der Betrachter in die Fotos einfühlt, abgestoßen und angezogen zugleich, beginnt er, sich dem anderen und damit sich selbst zu nähern. Zugleich erfährt er das extreme Anderssein der Leiche. Auch Silverthorne erfuhr diesen unüberbrückbaren Graben zwischen sich und der Leiche. Er habe, wann immer er wollte, das Leichenschauhaus verlassen können, »und sie konnten es nicht. Aber ich schon. Ich war immer froh, einfach hinausgehen zu können, meine Freiheit zu haben.«

Silverthorne begann seine ersten Leichenschauhausarbeiten von 1972-74 »mit dem Wunsch zu verstehen, wie meine Eltern empfanden, aussahen und was sie wußten, als sie starben. Mit diesem Wissen glaubte ich mich auf mein eigenes Sterben vorzubereiten.« Einschränkend gesteht er, er könne »den Tod nicht erlernen, aber indem ich aufpaßte, könnte ich mehr über das Leben lernen«. »Wenn man den Tod verneint, verneint man das Leben«, sagte der Künstler 1993. So darf man dem Tod auch nicht mit Gleichgültigkeit begegnen. Aus dem berückend schönen Foto Die Frau, die im Schlafe starb (Abb. 78) spricht allerdings nicht nur Bedauern über den Verlust dieses Menschen. Das Foto lebt vom Kontrast des brutalen Obduktionsschnitts mit der Stille und Würde des ewigen Schlafs. Die Zartgliedrigkeit des zusammengeflickten Leibs siegt in ihrer Schönheit über die Pathologie. Selten gelang einem Fotografen eine solch beeindruckende Einheit von Eros und Tod.

Dieses Bataille-Thema von Eros und Thanatos variiert Silverthorne viele Male in seinem Werk. Seine Arbeit Liebende, versehentliche Kohlenmonoxidvergiftung (Abb. 82) zeigt eine ebenso strenge Geometrie wie das Foto der obduzierten Frau; die stille Geometrie der Toten. Die symbolhaft wirkende Zweiteilung des Bildes durch die Leichenkammertür, die die Liebenden trennt, und das schachbrettartige Muster des Fußbodens, das die Assoziation eines verlorenen Spiels zuläßt, ergeben eine ungeheure Bildintensität. Silverthorne verstärkt die Wirkung noch, indem er die tote Geometrie mit der Frechheit der Lebenden durchbricht: Der Fotograf, pars pro toto sein Bein, drängt sich ins Bild; eine geradezu klassische Interaktion von Leben und Tod.

Ein Pars pro toto auch in Zuhause gestorben (Abb. 79): ein Toter, der uns anatmet, ein Foto, das dem Betrachter kein Entkommen läßt. 

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Den Gedanken, im Tod werde man wieder zu Erde, mag der Alte Mann wachrufen (Farbtafel 12). Auf diesem Foto sieht man ein Gesicht wie eine bizarre Landschaft, wie Hügel und Täler. Im Tod wird man wieder Teil der Ursprünglichkeit, die man im Leben geleugnet hat, da man den Geist überbewertete. Mit dieser Arbeit näherte sich Silverthorne am ehesten der Akzeptanz des Todes. »Wenn man sich auf den Tod vorbereitet«, sagte er 1993, »ist das vielleicht keine so große Sache.« Andere Bilder beweisen, daß auch für Silverthorne der Tod seinen Stachel nicht verloren hat.

Das Schlägereiopfer (Abb. 80) ist ein typisches Gewaltopfer unserer Tage. Gehört dieser Tote auch ganz in unsere Zeit, so wird er doch überhöht: Das Tuch wirkt wie eine Aura, wie ein Heiligenschein. Man wird unweigerlich an den toten Christus erinnert, eine Erinnerung, die die Würde auch dieses armseligen Kriminalitätsopfers bestätigt. Noch stärker wirkt Mutter und Sohn (Abb. 81). Durch die Kameraperspektive würdigt Silverthorne das auch im Tode noch Bergende und Schützende der Mutter. Deren baumstarke Beine kontrastieren mit der Fragilität des obduzierten Babys.

Silverthornes klassische Arbeiten drücken eine tiefe Menschlichkeit aus, trotz und gerade wegen der Neutralität der Kamera. Hier wird nicht lauthals und künstlich getrauert. Hier wird mit ästhetischer Zurückhaltung eine Totenwelt abgelichtet, ohne auf der einen Seite ins Sentimentale, auf der anderen Seite ins reine Dokument zurückzufallen. Dem Fotokünstler gelingt die Gratwanderung zwischen den Extremen. Wohldurchdacht, wirken seine Fotos niemals gewollt. Auch dem Schock und dem Horror verweigert sich Silverthorne durch seine kühle Bildkonstruktion, die jedoch stets das senti-mentfreie Mitgefühl erahnen läßt.

Silverthornes Giuvre handelt vom Extremen und doch Alltäglichen: vom Tod, von Prostituierten, toten Tieren, illegalen Einwanderern an der texanisch-mexikanischen Grenze. Respekt und Distanz kennzeichnen seinen Umgang mit den Sujets. Seine wundervollen Prostituiertenportraits zeugen von unendlicher Müdigkeit und Trauer. Die Leichenschauhausarbeiter und die amerikanischen Grenzwächter verbindet eines: Sie »räumen auf«, wie der Fotokünstler betont. Die Gesellschaft liebt weder Leichen noch Illegale. Sie müssen darum beiseite geschafft werden. Prostituierte, Leichen und Illegale sind Menschen in Isolation. Silverthorne unterstreicht ihre Würde. 

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83 Jeffrey Silverthorne, In My Minor (In meinem Spiegel), 1991

In den Montagen der achtziger und neunziger Jahre kontrastiert Silverthorne die Welt der Lebenden und die der Toten. Der billige Sex in Motels wird oft Leichenfotos gegenübergestellt, die sich auf hämische Weise in die scheinbar sinnlichen Bilder einschleichen. In der Serie The Detroit Negatives hat Silverthorne die Negative eines unbekannten Pornofotografen aus den fünfziger Jahren mit Leichenportraits montiert. In meinem Spiegel von 1991 (Abb. 83) ist eine solche Arbeit. Der beziehungsreiche Spiegel, der als Doppelung die Lust steigern soll, entpuppt sich als Hort der Vanitas. Im Spiegel schaut die Frau ihren eigenen Tod. Die Leiche, die der Spiegel preisgibt (Silverthorne hat hier ein eigenes Foto aus dem Jahre 1986 benutzt), könnte dreißig Jahre später ihre eigene Zukunft darstellen, wie der Künstler bemerkte.

Die nichtmontierten Fotos setzen die Gestaltung kontrapunktisch zum Gegenstand der Bilder. Silverthorne schafft mit dem bewundernswert klaren Bildaufbau — meist ist es ein Geflecht von Vertikalen und Horizontalen — Ordnung. 

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Das Leben jedoch läßt sich nicht anders als chaotisch nennen. Der Mensch strebt nach Erfüllung, Sinn, Liebe und Geborgenheit. Folgt man Silverthornes Fotos, so erntet er Kälte, Einsamkeit und am Schluß den Tod. Diesen Tod behandelt der Künstler auf äußerst vielschichtige Weise. Doch bei aller Verschiedenartigkeit der Einzelbotschaften lautet der Tenor: Trotz der radikalen Andersheit der Leiche — dies ist der Tod, der auch euer, unser Tod ist. Davon legt meine Kamera Zeugnis ab. Oder, wie Silverthorne es selbst ausdrückt: Die Portraits waren nicht Portraits von Toten, »sie waren Portraits von mir«.

Auch der 1950 in New York geborene Andres Serrano, kubanisch-honduranischer Abstammung, beschäftigt sich mit den Extremsituationen des Menschen. Davon zeugen seine Nomaden-Serie über Obdachlose und seine Serie Das Leichenschauhaus (Todesursache) von 1992. Der Exkatholik bildete Priester und andere Kirchenrepräsentanten sowie Ku-Klux-Klan-Mitglieder ab. 

84 Andres Serrano, Black Supper (III) (Schwarzes Abendmahl [III]), 1990

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85 Andres Serrano, The Morgue (AIDS Related Death) (Das Leichenschauhaus [Aidstod]), 1992

86 Andres Serrano, The Morgue (Hacked to Death II) (Das Leichenschauhaus [Zu Tode gehackt II]), 1992

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87 Andres Serrano, The Morgue (Fatal Meningitis II) (Das Leichenschauhaus [Tödliche Hirnhautentzündung II]), 1992

88 Andres Serrano, The Morgue (Rat Poison Suicide II) (Das Leichenschauhaus [Selbstmord durch Rattengift II]), 1992

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Sein junges Werk weist nicht die Einheitlichkeit von Silverthornes CEuvre auf. Eine frühere Arbeit wie Piss Christus von 1987 (ein Kruzifix in einem Glasbehälter, gefüllt mit Serranos Urin) diente vornehmlich der Provokation. Das Schwarze Abendmahl (Abb. 84) behandelt das letzte Abendmahl auf eine ungewöhnliche Weise. Es gerinnt zum Todesmahl buchstäblich untergetauchter Figuren. Die zukunftsweisenden Symbole von Brot und Wein lösen sich auf. Serrano konterkariert den Ernst des heiligen Aktes mittels der Luftblasen, die sich, verspielt, auf den Skulpturen sammeln. Alle Farbigkeit hat sich in Todesschwarz verwandelt. Samen und Blut (Farbtafel 13) beeindruckt mehr als Serranos frühe Arbeiten. Wie bei Kiki Smith gewinnen die Körpersäfte hier neuen Stellenwert; der Hinweis auf Aids und damit auf den Tod ist offensichtlich.

In der etwa fünfzig Fotoarbeiten umfassenden Leichenschauhausserie von 1992 (Abb. 85-88) erreicht Serranos Schaffen einen Höhepunkt. Zur Gliederung der Serie sagt Serrano, die Todesursachen seien »gleichmäßig aufgeteilt zwischen Selbstmorden, Morden und natürlichen Ursachen ..., falls man eine Krankheit als natürliche Ursache wertet. Nur zwei starben an Altersschwäche.« Es war dem Künstler aus rechtlichen Gründen nicht erlaubt, das ganze Gesicht oder den ganzen Körper zu fotografieren. Der Not gehorchend, konzentrierte er sich auf das Pars pro toto. 

Das tote Auge des von seiner Frau Erstochenen, die nun im Tode kühle Stirn des an Hirnhautentzündung gestorbenen Kindes, der Fuß des Selbstmörders, gleichsam mit dem Wundmal des Gekreuzigten - diese Bilder, Details nur, sind von großer Aussagekraft. Die Hände einer an Aids gestorbenen Frau evozieren Trauer gerade wegen der perfekten Maniküre. Wie die Zeitung Le Monde geschrieben hat: Die Realität des Todes packt den Betrachter bei der Kehle, weil sie eher angedeutet denn gezeigt wird. Nicht Leichen werden vorgeführt, sondern vollkommene Stilleben. Serranos Pars-pro-toto-Portraits wohnt eine Spiritualität inne, wie man sie nur noch bei Silverthorne findet. Beide Künstler achten die Privatsphäre ihrer toten Gegenüber. Bei Silverthorne etwa in der Frau, die im Schlafe starb: Trotz der Erotik des Bildes macht das Auge der Kamera vor der Scham der Toten halt, als wollte Silverthorne sagen: Der Rest geht euch nichts an.

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89 Hans Danuser, aus dem Zyklus In vivo, 1980-89

90 Hans Danuser, aus dem Zyklus In vivo, 1980-89

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Neben Lob bekam Serrano von der amerikanischen Kritik auch Vorwürfe zu hören: er ziele nur auf Schockwirkung ab, er ästhetisiere den Tod. Da der Künstler sich auf nichtspektakuläre Details konzentriert — keine aufgeschlitzten Hälse, keine bluttriefenden Wunden —, will der erste Vorwurf nicht recht treffen. Anders ist es mit der Ästhetisierung des Todes: Sie schwingt in den Fotos tatsächlich mit. Doch gilt dies nicht für jede künstlerische Behandlung des Todes, angefangen im Altertum? Der Künstler hat das Recht, jeden Gegenstand ästhetisch zu behandeln; man hätte es ansonsten mit einer Dokumentation zu tun. Es bleibt das Vorrecht des Künstlers, sich auf eine ihm gemäße Weise auch dem Todesphänomen zu nähern, sofern er nicht in modische Respektlosigkeit oder in Sentimentalität oder in Überästhetisierung fällt. Man müßte eher fragen: Überwuchert die Ästhetisierung das Sujet, oder trägt sie die Botschaft des Bildes? Die ehrliche Aussage Serranos zur Leichenschauhausserie deutet auf letzteres hin, denn auch Serrano bemüht sich um eine Aneignung des Todes: »Ich merkte, daß sie [die Serie] mir ein wenig die Angst vor meinem eigenen Tod nahm.«

Das Problem der Überästhetisierung stellt sich nachdrücklicher bei dem 1953 im schweizerischen Chur geborenen Hans Danuser. Sein Interesse gilt den abgeschotteten Tabubereichen der Gesellschaft: den Atomkraftwerken, der Münzanstalt, dem Banktresor, der Pathologie, den Laboratorien für Kern- und Laserforschung, den Versuchsinstituten der Pharmakologie und der Chemie. Nur Eingeweihte dringen in diese modernen Tempel vor, deren Macht sich umgekehrt proportional zu ihrer Sichtbarkeit verhält. Es sind, wie geschrieben wurde, die »neuralgischen Punkte« unseres unbekannten Alltags, ausgegrenzte Bereiche, Terrae incognitae für den Durchschnittsmenschen. Der Begriff Terra incognita impliziert stets auch Gefahr. Danuser läßt den Betrachter eine kühle Reise ins Unbekannte antreten.

Der Titel eines 1980-89 entstandenen 93teiligen Fotozyklus, In vivo, steht in ironischem Kontrast zu den Motiven der Bilder. »Am Lebendigen« wird experimentiert, lebendig ist jedoch nichts. Die Gänge der Pathologie (Abb. 89) sind so steril wie anonym. Die zu sezierenden Leichen liegen akkurat ausgerichtet da, bloße Nummern (Abb. 90). Tote ohne Gesichter sind den Medizinstudenten preisgegeben (Abb. 91), Herzen ohne Körper warten in Schalen auf Wiederverwendung (Abb. 92). Ein kaum sichtbarer Embryo liegt auf einem riesigen Eiswürfelberg (Abb. 93).

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91 Hans Danuser, aus dem Zyklus In vivo, 1980-89

92 Hans Danuser, aus dem Zyklus In vivo, 1980-

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93 Hans Danuser, aus dem Zyklus In vivo, 1980-89

Danuser führt eine kalte Welt vor, die nur den reinen Nutzen kennt. Lebende Menschen kommen nicht vor. Die Toten dienen der Verwertung: dem Experiment, der Organentnahme, den sezierenden Medizinstudenten. Tiere werden, wie einst von Descartes gefordert und heute von der Pharmaindustrie realisiert, auf den absoluten Objektstatus reduziert. Tiere, Menschen, Embryos, Gold, hochradioaktiver Abfall und nun auch das Erbgut werden verwaltet, je nach Gegenstandsbereich und je nach Maximalnutzen. Im Atomkraftwerk und im Banktresor wird verhüllt, im Labor werden Mensch und Tier körperlich bloßgestellt. In der Pathologie wird die Leiche Schicht für Schicht, Stück für Stück auseinandergenommen.

Danusers emotionslose Todeswelt bezieht ihren Horror nicht aus blutrünstigen Bildern, sondern aus der Kälte der Macht. Die Helldunkelwerte der Fotos und der durchdachte Bildaufbau tragen zur Kühle, ja Kälte der Arbeiten bei. Diese Konstruktionselemente — dies ist die Antwort auf den Vorwurf der Überästhetisierung — versinnbildlichen die Kältebotschaft der Bilder. 

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Danuser decouvriert ganze Welten mit ihren eigenen Mitteln. Die völlige Zurückhaltung des Kameraauges entspricht der fehlenden Menschlichkeit dieser toten und doch so machtvoll verwaltenden Herrschaftswelt. Ohne missionarischen Eifer verweist Danuser mit seiner unüberbietbaren Nüchternheit auf eine gefühllose Todesmaschinerie, die die Menschheit infiltriert hat. Noch schlimmer: Die lebendige Menschenwelt wird bereits von ihr beherrscht.

Eine ganz andere Kühle atmen die perfekt inszenierten Fotoarbeiten des Amerikaners Robert Mapplethorpe (1946-1989). Während Danuser eine künstliche Welt ablichtet, die von der Gesellschaft geschaffen wurde, portraitiert Mapplethorpe ein Universum, dessen Künstlichkeit er selbst hervorgebracht hat. Janet Kardon schrieb, er sei »ein engagierter Formalist, darauf versessen, den schönsten Aspekt jedes Sujets herauszuarbeiten«. Seine bevorzugten Sujets waren Blumen, Akte, insbesondere von Schwarzen, homoerotische Szenen, Prominente und die Gewichtheberin Lisa Lyon.

Auf vielfältige Weise, nicht nur so unverschlüsselt wie im Kreuz (Abb. 94), manifestiert sich Mapplethorpes Katholizismus in seinem Werk. In einem Interview von 1987 sagte der Künstler: »Katholisch sein offenbart sich in einer gewissen Symmetrie, in einem gewissen Herangehen ... Ich arrangiere die Dinge auf eine katholische Weise.«

Die insbesondere katholische Einheit von Sinnenfreude und Todeskult findet sich bis zum Schluß in Mapplethorpes Arbeiten, ja sie geht nahtlos über in Mapplethorpes vom Thema Sadomasochismus beherrschte Bilder. Diese drücken eine buchstäblich gebundene, stets mit schwarzem Leder verzerrte Sinnlichkeit aus, eine ästhetisch hochstilisierte, nicht aber lebendige Sexualität. Mapplethorpes sadomasochistische Fotografien atmen den Tod. Das hängt mit der Eigentümlichkeit der homoerotischen SM-Welt zusammen: Eros mit Schmerz, Eros mit Thanatos. Mit den erstarrten Gesten und Posen wird, vielleicht wider Willen des Künstlers, Freudlosigkeit ausgedrückt. Möglicherweise hat Mapplethorpe gerade den inneren Kern der SM-Welt begriffen und bildhaft umgesetzt.

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94  Robert Mapplethorpe, Cross (Kreuz), 1984 
95  Robert Mapplethorpe, Irises (Schwertlilien), 1988  
96  Robert Mapplethorpe, Skull (Totenschädel), 1988

          

 

Der versteckte Tod: So läßt sich vielleicht das Leitmotiv im Giuvre Mapplethorpes fassen. Der Vanitasgedanke findet sich in fast all seinen Werken, bei aller Perfektion und Schönheit des Sujets. In der Vollkommenheit des Augenblicks deutet sich bereits der nächste Augenblick an, der des Verfalls. Den wunderbaren Blumenstilleben des Künstlers (Abb. 95) eignet eine sinnliche Schwere, man vermeint einen schwülen Duft zu riechen. Trotz oder gerade in ihrer Schönheit verweisen die Schwertlilien auf ihre Vergänglichkeit. Das schräg hereinfallende Nachmittagslicht, das bald zur Dämmerung werden wird, unterstützt die Aussage des Fotos. Es ist dasselbe Licht wie in der Fotografie des Vanitassymbols par excellence, des Schädels (Abb. 96). Bei anderen Blumenstilleben ragen die Blütenstempel aggressiv und phallisch empor. Die Lilie, die die Reinheit der Muttergottes symbolisiert, will auch verführen und angreifen, sie manifestiert ihren positiven und ihren dämonischen Charakter. 

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Mapplethorpes Werk ist von solcher grundlegenden Ambiguität durchzogen. Die Gaumenfreude, die der Fasan verspricht, kann nur mit dem Tod des Vogels erkauft werden (Abb. 97). Die Freuden der SM-Sexualität werden nur durch Leiden eingelöst. Lisa Lyon, Fotomodell und Gewichtheberin, von Mapplethorpe über hundertmal portraitiert, demonstriert eine geschlechtliche Doppeldeutigkeit. Das muskulöse Mannweib zieht an und stößt zugleich ab. Lisa Lyon ist ein Zwitter, ein Wesen von einem anderen Planeten.

Diese durchgängige Ambiguität in Mapplethorpes CEuvre macht einen Teil der Faszination aus, die der Betrachter empfindet. Der inszenierte Charakter der Bilder, die Schärfe der Konturen, der perfekte Bildaufbau, die Stille und die im Grunde dynamische Bewegungslosigkeit tragen ebenso zur Faszination bei.

Die Künstlichkeit in Mapplethorpes Werk wirft das Problem der künstlerischen Aufrichtigkeit auf. Viele Fotografien überzeugen nicht, weil die Künstlichkeit einen Grad erreicht, der eine wahrhaftige Aussage nicht erlaubt. In anderen, lapidaren Inszenierungen hingegen wird die Botschaft unmittelbar und mit großem Engagement vorgetragen. Der an Aids sterbende Künstler schreit in einem seiner letzten Selbstportraits (es entstand im Jahre 1988) seine Todeswut heraus (Abb. 98).

97 Robert Mapplethorpe,  Pheasant (Fasan), 1984  
98  Robert Mapplethorpe, Self Portrait (Selbstportrait), 1988

      

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Mit der Stütze des Totenschädelknaufs am Spazierstock bestätigt er seine eigene Vergänglichkeit. Mapplethorpe setzte sich direkt und gnadenlos mit seinem eigenen sicheren Tod auseinander. Noch zu Beginn der achtziger Jahre hatte er den Tod ästhetisiert, wie etwa das Kreuz offenbart, wo er mit dem Todes- und Auferstehungssymbol Schattenspiele veranstaltete. Sein Selbstportrait als Todgeweihter überwindet das bedeutungslose Spiel. Ein wahrhaftigeres Foto hat man selten gesehen.

Boltanski verquickt die Themen Tod und Vergangenheit. Er stellt moderne Denkmäler für jedermann auf. Rainer kann den Tod nicht annehmen. Silverthorne und Serrano legen Zeugnis ab vom Tod. Danuser führt die gefühllosen Zentren der Macht über Leben und Tod vor; Machtzentren, deren Unmenschlichkeit den tausendfachen Tod ausströmt. Mapplethorpe thematisiert die Vanitas, indem er den perfekten Augenblick, den Augenblick vor dem Übergang, inszeniert.

 

Diesen Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Tod sei eine letzte hinzugefügt, eine, in der eine grundsätzlich andere Perspektive sichtbar wird. Denn der 1950 bei Ancona geborene Enzo Cucchi läßt, jedoch in einem durchaus nichtchristlichen Sinne, Leben dort beginnen, wo der Tod einsetzt. Nur Cucchi und Christa Näher interpretieren den Tod als Verwandlung. Bei Rainer, Silverthorne und Serrano hingegen setzt der Tod den endgültigen Schlußakkord.

Cucchis Kunst wurde als visionär, mythologisch, mystisch, düster, tragisch oder existentiell charakterisiert. All dies mag mehr oder minder zutreffen; und doch wird man ihr nicht gerecht, wenn man ihr einen Stempel aufzu­drücken sucht. Ohne Zweifel sind Cucchis Bilder spiritueller Natur. Dies hängt mit dem von Cucchi beschriebenen Charakter der Zeichnung als »Ort des Mysteriums« zusammen, der zugleich der Ort der »meraviglia«, des Erstaunens und des Wunders, zu sein habe, eines Wunders für den Künstler und für den Betrachter. Dieser soll den Schöpfungsakt des Künstlers nachvollziehen und eine Welt gewinnen. Mit der Kunst, so Cucchi, soll der zeitgenössische Mensch die technokratisch organisierte Welt überwinden und die verlorengegangenen seelischen Kräfte zurückerobern. Das Medium der Rückeroberung sei die Zeichnung, die sich auf das »segno«, das Zeichen, konzentriert. 

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99  Enzo Cucchi, ohne Titel (Skulptur für Basel), 1984 (Detail)

Die überpersönliche Vision des Künstlers vermag es, diese Zeichen zu konkretisieren, ohne sie eindeutig zu determinieren. Nur so vermag der Betrachter sie nachzuvollziehen, ohne in seiner eigenen Phantasie eingeschränkt zu werden. Kurz: Cucchi interpretiert die Zeichnung als unmittelbaren Ausfluß seines Geistes im Hegelschen Sinn. Die Zeichnung wird zur Bedeutungsträgerin eines neuen Kosmos.

Dieses Ziel einer rein spirituellen Vermittlung erreichen freilich nur einige Arbeiten Cucchis, wenn überhaupt. Die Baseler Bronze verbildlicht den Tod, der mit dem Lebensbaum eine Einheit bildet (Abb. 99). Im Traum des Meeres (Abb. 101) scheint das Schiff zu zerschellen, aber es fährt mit Volldampf weiter. 

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100 Enzo Cucchi, ohne Titel, 1984/85

 

101  Enzo Cucchi, Sogno del Mare (Der Traum des Meeres), 1983

 

Andere Bilder sind an Düsternis kaum zu überbieten, etwa Das Leben ist erschrocken (Farbtafel 6). Dann eine unbetitelte Zeichnung (Abb. 100): Tanzen die Menschen einen Totentanz, oder kündigt sich durch das Christuskind rechts unten im Bild Erlösung an? Der Künstler läßt den Erlösungs­gedanken nur anklingen. Mitten im Tod setzt er zwar verhaltene Hoffnungszeichen, doch wirken die Bilder insgesamt auf den Betrachter so düster, daß er an die angeblich intendierte positive Botschaft nicht glauben mag.

Cucchi zeichnet und malt fremdartige, abweisende Orte der Verlassenheit. Wenn die Kritik etwa in seinen langgezogenen Häusern ein Moment des Bergenden, Rettenden sehen will, so vermag dies doch kaum etwas gegen die trostlose Atmosphäre der Bilder auszurichten. Cucchis Zeichen erlauben eine so eindeutige Interpretation nicht. 

Geht der Betrachter von der Atmosphäre der Zeichnungen aus, so teilt sich ihm, und dies ist vielleicht eher im Sinne des Künstlers, die Botschaft der Überschreitung des irdischen Jammertals verhaltener mit, als die Kritik glauben macht. Vielleicht auch sollte man sich als Betrachter schlichtweg der Suggestivkraft der merkwürdigen Bilder hingeben, ohne die Rettung zu erhoffen, die Cucchi, ein später und naiver Modernist, von der Kunst erwarten zu dürfen glaubt.

Ein künstlerischer Ort des Mysteriums will in der Endzeitatmosphäre der Jahrtausendwende nicht mehr überzeugen. Allzu viele Utopien haben sich als Schimäre entpuppt. Alle sind sie gescheitert.

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Gregory Fuller 1994 Endzeitstimmung