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Kriegssehnsucht? Abenteuer? Darf man alles nicht laut sagen. Es gibt eigentlich nur die offiziellen Reden, verdeckte Unmutsäußerungen und den Wunsch, daß Nord-Vietnam siegen möge. Die USA werden abgelehnt.

Was darunterliegt, wird weggedrückt. Es soll klar, eindeutig sein. Ist es aber nicht.

Und die Opfer?

Verträge. Wer verträgt sich mit wem? Offene Grenzen, Wahlen, alle Bücher in den Läden? Honecker als Hoffnung, ein Vertrag als Hoffnung, ein Waffenstillstand als Hoffnung... jeder hat Hoffnungen und Wünsche. Ich hoffe, daß das hier bald vorbei ist. Und wenn es vorbei ist?

<Offene Grenzen>, von wegen. Du hattest großes Glück, beinahe wärst du am Zaun gelandet mit geschulterter MPi. Der blöde, fiese Kern des Themas, der persönlichen Geschichte. Der Held am Antifaschistischen Schutzwall

Wer diese Ablehnung in und zwischen den Zeilen liest, kann mich verhaften lassen.

Das Foto eines Sozialdemokraten im Neuen Deutschland, er unterschreibt ein Abkommen, soll auch aus der DDR kommen, Verwandte in Jena... Die Realitäten anerkennen. Die diplomatischen Realitäten. Anerkennen, wer <nun einmal Herr im Hause ist>. Es dauert schon lange, die <Machtfrage ist eindeutig und für immer entschieden>. Ewigkeitsvokabeln. Siehe Klemperer, LTI. Auf das Bild des Sozialdemokraten folgen die sozialistischen Einordnungen, ND-Überschrift:

«Was verbirgt sich hinter dem Demokratischen Sozialismus>»... Damit keine Mißverständnisse entstehen, keine Abweichungen, keine Sympathie, keine Hoffnungen auf einen Frühling... einen anderen Weg... Rosa Luxemburg?

Schritte der Zusammenarbeit, des Dialogs. Und: Alles fest im Griff behalten.

Noch kein Buch von Schumacher oder Brandt gelesen, nur kurze Auszüge aus politischen Reden im Radio... Sozialdemokraten sind irgendwie schlecht, liegen falsch, sind feige, <Handlanger des Imperialismus), trotz einiger positiver Seiten. Schon wenn ich den Begriff ausspreche, regen sich ablehnende Gefühle. Prägungslernen? Ich spüre das Vorurteil, ein Besserwissen, eine diffuse, eingeimpfte Überlegenheit... zumindest ein Unbehagen: Sozialdemokraten sind nicht positiv, nicht zitierbar. Man darf keine Sozialdemokratische Partei gründen... Das Schlimmste: Sie haben ein <Ostbüro>... Wühltätigkeit... 17. Juni... Rias...

Sehnsucht nach wirklichem Wissen.

Arbeitslose, soziale Ungerechtigkeiten. Die Industrie hat mit Hitler zusammengearbeitet, Krieg, Armut, Elendsviertel. Franco, die Junta in Griechenland: Gegen diese Seite <des Westens> will ich sein. Aber was folgt daraus? Das hier bejahen? Trotz aller Mängel und so weiter... historisch einen Schritt weiter... Mercedes­stern, Wirtschaftswunder, Kaugummi, Hollywood... Sollen sie doch Pakete schicken, sie haben's doch! 

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Etwas Fordernd-Aggressives kommt auf. Das Westpaket als Weihnachten auf dem Tisch im Wohnzimmer, die  Schnur wird aufgeknotet, der Geruch, die Verpackung, ahh und ohh... Etwas Unwürdiges, etwas von Kaufhaus und Käuflichkeit... vielleicht Übertreibung... Der kurze Weg zur Feindschaft. Oder zur Selbstaufgabe und Vergötterung der anderen Seite... getrenntes, gefühliges, verdrehtes, nicht gelebtes Leben. Ein- und Ausgrenzung, auch innen. Vor allem innen. Die Brüder und Schwestern werden sich noch die Augen auskratzen, wenn das so weitergeht, länger dauert oder einmal anders wird... Guter, wohlriechender Jacobskaffee...

Eine DKP-Delegation in der Mensa, aus München und Umgebung. Westklamotten, Studentenbewegung, Nickelbrillen. Man ist <links> und <politisch verantwortlich tätig>. Wir sind natürlich auch links, wollen uns nicht überholen lassen. Sie erklären, warum es dort schlecht und hier gut ist.

Frage: Warum könnt ihr reisen und wir nicht?
Antwort: Die Bedingungen sind noch nicht gegeben. Der BRD-Staat erkennt die DDR-Staatsbürgerschaft nicht an.
Frage: Kennt ihr Kunze und Biermann?
Antwort: Achselzucken, ein wachsamer, prüfender Blick, oder betont freundliche Erörterungen über die «Wirkung von objektiven Klassenfeinden, die eine West-Lobby unterstützt».
Marianne diskutierte mit einer Pädagogikstudentin, sie verstanden sich gut.
Pädagogikstudentin: Aber meine Adresse kann ich dir net geben, haben wir in der Gruppe besprochen. Es könnte Schwierigkeiten geben.

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Welche Schwierigkeiten und für wen, wollte oder konnte sie nicht sagen. Sie trug lange Ohrringe und rauchte filterlose Zigaretten, nahm sie aus einer schönen blauen Schachtel, auf der ein französischer Name stand. Ein anderer erzählte:

Und der da drüben, der mit dem braunen Pullover und der Brille, der hat schon eine wichtige Funktion, einen ganzen Parteibezirk hat der unter sich. Mit sechsundzwanzig Jahren, muß man sich vorstellen ... Ich bin in der SPD, bei den Jusos, ist besser so, kann man mehr erreichen für unsere Sache, wenn man bei denen drin ist. Bin neunzehn, in diesem Jahr Abi. Brecht lese ich am liebsten, immer habe ich meine Fibel mit, ganz große Klasse ist der...

Wir nickten, fanden Brecht ja auch gut. Dennoch, es gab eine Barriere. Diese Delegation blieb fern, die einzelnen wie nicht erreichbar. Als ein Funktionär der Jenaer Kreisleitung im Studentenklub <Rosenkeller> ziemliche Phrasen drosch, meldete sich einer der Westler, widersprach heftig. Im Hinausgehen sagte er zu Marianne:
Ich bin nur mal mitgekommen auf die Reise,
war ein gutes Angebot. Na ja...

 

Ich erinnere mich an das Gefühl von Wichtigkeit, auch an den Reiz: Diskussion mit BRD-Bürgern, politische Gespräche... Das wollten wir doch, diskutieren, reden... Nicht nur Pakete auspacken und Kanal 4 glotzen. Die Umgebung, in der wir lebten, wurde aufgesucht und gelobt. Jochen Gierka betreute die Delegation, der wendige, ergebene Genosse mit der Bereitschaft zur «Parteiinformation», wie er das nannte. Er meldete «Mißstände und Fehler». Wen oder was meldete er noch?

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Marianne erlebte einmal in einer Gaststätte, wie er das Essen zurückgehen ließ und das Gästebuch verlangte, das ihm nicht schnell genug gebracht wurde. Er ließ den Gaststättenleiter kommen, redete ein paar Sätze, der wurde blaß, ließ verschiedene Speisen servieren, die Kellner flitzten, Jochen Gierka lächelte charmant. Und diese Delegation? Der Studentin mit den langen Ohrringen und den französischen Zigaretten wollten wir gerne trauen und dem einen, der widersprochen und im Hinausgehen <na ja> gesagt hatte... Und doch: Mißverständnisse.

Große Entfernungen. Jochen Gierka als Fremdenführer. Wer Uniform trägt, muß «den Kontakt abbrechen zum NSW». Specht lacht darüber.

Wie wird es kulturpolitisch weitergehen? (Ein sonderbares Wort. Die Erwartungen kleben am <Kurs>, Skepsis und Hoffnung nach oben ausgerichtet. Wie sich lösen?) Das ungezwungene Leben Kasts, Prosa von Volker Braun, positiv im ND besprochen. «Widersprüchen streitbar zu Leibe rücken», «Ein junger Sozialist entwickelt sich», von «Ehrlichkeit» ist die Rede. Rezensent ein Klaus Höpcke, kenne ich nicht. Ist das die neue Linie? Gilt sie nur für die Bekannten? Bewundere Braun, soll mit Biermann befreundet sein. Er geht ziemlich weit. Grundlagenvertrag, weiche Welle, liberale Phase... das Buch von Braun besorgen, Aufbau-Verlag. Und später?

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Überschrift einer Rede von Erich Honecker: <Das Volk der DDR kann mit Zuversicht die Schwelle zum Jahr 1973 überschreiten>.

De Bruyn im ND, ihn kann ich leiden. Ruft zur Rettung der Kinder Vietnams auf, keine Gleichgültigkeit, das Geschehen in der Ferne soll uns angehen. Alles richtig. Der Ton sanft, überzeugend. Auch bei Christa Wolf. Bei unserer Vietnam-Veranstaltung die Brecht-Zitate : «Wenn das Unrecht kommt wie Regen fällt, sagt keiner mehr halt»... Was wollen die Amerikaner in Asien, Fremdherrschaft und so weiter. Dennoch ein Unbehagen. Das Gefühl von Selbstgerechtigkeit und Lüge, von selektiver Wahrnehmung. Zumindest von Verschweigen. Feige dem Eigenen gegenüber. Tief, gütig, weich, etwas feige. Und ich? Stillgestanden!

 

Ein Zeitungsausschnitt, Erik Neutsch:

«Mitten hinein in meine Arbeit am Schreibtisch: die Materialien der 8. Tagung des Zentralkomitees der SED. Ja, wir können stolz sein, glücklich über das Erreichte seit dem VIII. Parteitag. Eine erhebende Bilanz, die auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gezogen wird. Und wie das geschieht! Ich frage mich, mitten beim Schreiben, wie ich diesen Geist realistischer Beurteilung und perspektivischer Zuversicht auch in meinen Roman hineinholen kann. Es sollte gelingen. Es muß gelingen. Die sozialistische Gesellschaft, die prinzipienfeste und elastische Politik der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Führung leben es vor...» Was frage ich mich, mitten beim Schreiben? Hoffentlich erwischt mich keiner!

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Soll ich an den VIII. Parteitag glauben, an Erich Honecker und seinen neuen Kurs? Eine gewisse Bereitschaft dazu habe ich. Das Positive lockt, die Übereinstimmung. Neutsch glaubt wahrscheinlich, was er sagt. Er beklagt noch die «viel zu langen Produktionszeiten für Bücher», zitiert wieder den i. Sekretär: «Unduldsamkeit gegenüber allem, was unseren Fortschritt bremst oder beeinträchtigt, ist eine absolut notwendige Eigenschaft.» Klingt gut.

Erinnerung an ein Foto von ihm, Neutsch. In Johanngeorgenstadt gesehen, in den ersten Wochen, wahrscheinlich Armeerundschau: Der Schriftsteller liegt hinter einem Maschinengewehr, zielt.

Etwas beunruhigt mich, warnt, stößt ab. Parteischriftsteller ... Biermann verboten... Der Schriftsteller im Widerspruch, im Konflikt... Biermann ist bekannt, es gibt Platten im Westen... Außerdem ist es ein anderer Weg, er kam aus Hamburg, sein Vater Kommunist, in Auschwitz ermordet. Auch bei Havemann spielt die antifaschistische Vergangenheit eine Rolle.

Bin vollkommen allein und am Anfang. Mache Aufzeichnungen über ein Tabuthema, weiß nicht, was daraus wird. Alles erdrückt mich. Schiß. Die großen schmutzigen Themen.

Partei. Eigentlich unmöglich, reinzugehen. Werde sagen, was ich denke, falls sie mich nehmen? Specht und Lammke als Paten. Ich bin nicht mehr naiv. Ich will es wahrscheinlich wissen. Reingehen und ändern? Andere haben es schon versucht, sind gescheitert. Muß man es noch einmal versuchen? Und wenn sie mich nehmen, <einbinden>? Das mit Hawel und der Schule fällt unter Ulbricht, sie ziehen vielleicht einen <Schlußstrich>, beginnen neu...

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Manchmal eine Sucht nach Versöhnung. Ich weiß, daß es keine geben wird, keine geben kann. Brauche nur diese Seite zu lesen, in dem zu blättern, was ich hier fabriziere. Dennoch: Auskundschaften, was innen los ist. Wallraff-Methode? So könnte ich es auch sehen. Stimmt nur nicht ganz. Ich möchte etwas versuchen, erfahren, ausprobieren, austesten. Nicht nur warten und ironische Reden halten. Möchte auch wissen, was und worüber gesprochen wird, wenn sich die Parteigruppe trifft. Die machen alles ziemlich geheimnisvoll, wichtig. Schließen die <Nicht-Genossen> aus. Reingehen, rangehen, vielleicht rausfliegen. Dann ist es noch schlimmer. Dann weiß ich aber, woran ich bin. Dann habe ich es versucht. Dann falle ich tiefer. Tiefer geht's nicht, dieses Doppelleben, und das ist es ja, halte ich nicht mehr lange durch. Solche Aufzeichnungen, zu den Bahnschienen runterrennen, in die Partei eintreten, diese Schwankungen. Auch eine Art Panik. Extreme suchen. Fühle mich extrem bedroht: Möchte Schriftsteller werden, rigoros schreiben, was ich will, einziges Kriterium: Wahrheit. Mache Aufzeichnungen, vor denen ich zunehmend Schiß bekomme. Trage Uniform, spiele mit. Denke über meinen Parteieintritt nach, will an einen Parteitag glauben, den achten.

 

Dostojewski war auch Leutnant der zaristischen Armee. Hat dann seinen Abschied genommen. Kann man hier seinen Abschied nehmen? Antwort: «Sie werden bald einen Abgang machen, an den Sie noch lange denken werden.» Immer fallen mir solche Sätze ein.

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Abgang, Abflug. Den Löffel abgeben.

Nehme neuerdings keine Bestecktasche mehr. Nur noch den Löffel, er steckt im rechten Stiefel. Nicht mal ein Geschirrhandtuch. Weiß nicht, wo ich es waschen soll. In Plauen konnte man es wöchentlich in der Kleiderkammer tauschen, mit der Unterwäsche. Hier nicht.

Hygiene? Egal.

Beobachte eine Trägheit. Bei vielen ein ständiges Blödeln und eine starke Neigung zum <Abruhen>. Kein Schlafmangel. Aber früh wie zerschlagen.

Michael, Technologie, im Zimmer mit den Theologen, spricht wenig, liest viel, hat kurz nach dem Abitur (technische Spezialklasse bei Zeiss) unterschrieben: Reserveoffizier. Hier haben sie ihn noch als Gefreiten untergebracht, nicht als Ausbilder. Er ist froh darüber, distanziert sich aber auch nicht von seiner Unterschrift: «Wollte studieren, in Jena bleiben. Außerdem bin ich für Verteidigung.» Letzteres sagt er ernst und trotzig, fast herausfordernd. Bei Werbegesprächen weisen sie auf den «zivilen Charakter» des Ganzen hin, «im Ernstfall an der richtigen Stelle, als Vorgesetzter, der beruflichen Qualifikation entsprechend...». Also nicht beim Fußvolk. Das kitzelt viele, ein Dipl.-Ing. ist dann eben Offizier, <rein technischer Einsatz> und so weiter

Die Uniform hängt dann im Schrank, die Übungen folgen, die Abhängigkeit wächst... Er will auch in die Partei. «Soll ich immer nur abwinken? Doppelte Buchhaltung, offiziell so, zu Hause so? Ich will ehrlich sein, nicht bloß rumquatschen, Bier trinken und den Pädagogen mimen wie mein Vater...» Ernst,

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liegt meist auf dem Bett, bäuchlings, liest. Keine Brille, hilfsbereit, sammelt Blues-Platten, bastelt Elektronisches, trägt einen polnischen Namen, den kaum einer richtig aussprechen kann. Er sagt ihn dann selber.

Paßt sich an, um nicht lügen zu müssen. Auch eine Variante. Etwas Ernstes, verzweifelt Gerades, Hartnäckiges geht von ihm aus. Er möchte ein guter Genösse werden, kein Karrierist, kein Zyniker. «Innen und außen muß stimmen», so etwa. Die <Firma> und ihre Anwärter als aktive Gruppe, stabil, recht sicher. Manche Einzelgänger fühlen sich angezogen von der Macht. Von der Übereinstimmung, die da ist.

Opposition? Würde man fragen, was hältst du von einer Opposition, käme zuerst die Erkundigung: «Wo denn, hier?» Dann Lächeln, Unverständnis, Achselzucken. Man müßte sich sofort erklären: es ist nur eine Frage, selber hat man keine Absichten und so weiter. Die Angst ist nahe. Im privaten Gespräch vielleicht: «Geht nicht», «kein gangbarer Weg, ist verboten», «früher ja, Weimarer Republik», «im Westen»... Wie tot diese Landschaft. Dazu der argwöhnische oder ablehnende Blick. Oder völliges Unverständnis, noch nie darüber nachgedacht, noch nie auf sich selber (und hier, heute) bezogen.

Demokratie? Republik?

Beim Studentensport, erstes Studienjahr, Turnhalle Lutherstraße, Christian, Bausoldat, will Pfarrer werden, in einer Pause des Volleyballtrainings: «Wenn ihr keinen Mut hattet zu verweigern, dann verschont uns

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auch hinterher mit Gejammer.» Einer hatte sich über das bevorstehende Lager Seelingstädt beklagt, <schon wieder> oder so ähnlich. Keine langen Ausführungen. C. hatte sofort reagiert. Diese Aufzeichnungen würde er weglegen, sich besser fühlen, eine Abneigung haben, auf Abstand gehen... Borchert findet er bestimmt großartig, Zweiter Weltkrieg, <er hat es erkannt und eindringlich formuliert, nie wieder.. .> So stelle ich mir seine Argumentation vor. Und die es dann, in den folgenden Jahrzehnten, immer noch nicht begriffen haben ...? Denen begegnet er mit Verachtung. Ich untersuche die Frage, wie diese Wiederholung geschehen kann, beschreibe den modernen Kasernenhof... verschont uns mit Gejammer»... Wo soll einer klagen und jammern, daß er wieder mitmacht, wieder antritt auf einen Pfiff hin... C. will, daß er nicht mehr antritt, daß er verweigert. Also doch Opposition. C. könnte wahrscheinlich mit dem Wort etwas anfangen. Er würde seine Haltung aber anders nennen: <Kirche im Sozialismus>? Oasen schaffen? Bausoldaten: einige Hundert im Jahr. Wehrpflichtige: Zehntausende pro Halbjahr.

Jetzt erst lerne ich Bausoldaten kennen. Habe ein dummes Gefühl, weil ich gedient habe.

 

Mühe und Not. Der Lange war Unteroffizier. Mit großen, sinnlosen Sprüngen versuchte er den Ball von rechts außen nach innen zu befördern. Immer spielte er mit Fußball, obwohl ihn keiner in der Mannschaft haben wollte. Fand eine Wahl statt, wurde er als letzter genommen, «tipp, topp, tipp, topp...». Hacker, der sehr gut spielen konnte, tat das leid, er ging dazu über,

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gleich am Anfang zu sagen, «also ich nehme den Langen». <Den Langen> sagte er, Hacker war Gefreiter, kam aus dem Erzgebirge, Spieler der Bezirksliga, der Lange hieß Weinert und war Unteroffizier, verpflichtet für drei Jahre, frisch von der Unteroffiziersschule in Johanngeorgenstadt gekommen, von den <Pfeffis> war schon die Rede, ein Bunter also, allerdings bei den Zeitsoldaten, dort zählten sie auch die Tage, hatten ein paar mehr zu zählen. Uffz Weinert war ein <Tagesilo>, ein gutmütiger Tölpel, ein eifriger, schlechter Fußballspieler. Er bemühte sich, raste dem Ball nach, von einer Seite zur anderen, verlor ihn, bot sich an, wurde selten angespielt, schoß nie ein Tor, rannte dem Gegner nach, ein hüpfender, verlierender, dürrer Riese im grauen Armeetrainingsanzug, die Hose mußte er hochziehen, sie rutschte.

Als Vorgesetzten konnte man ihn nicht bezeichnen, hilflos, leicht stotternd und grinsend machte er Witze, gab Befehle, bestimmt war er der Klassenkasper gewesen, die Bohnenstange mit den Kankerbeinen, die fast jeder in der Pause zusammenschlagen konnte, das machte ihm <gar nichts aus>, da lächelte er drüber, verzog nur bei ganz harten Schlägen das Gesicht, krümmte sich plötzlich, ging zu Boden, stand bald wieder auf, <war was, ich hab immer noch nicht genug, warum soll ich mich wehren, tut ja doch nicht weh>, sagte es nicht dem Lehrer, <Weini Weinert, der Lange> war keine Petze und eigentlich ein guter Kamerad, ein Freund, hätte er Freunde gehabt in seiner Klasse. 

Immer wollte er mit Fußball spielen, auch sonntags, wenn die vom Pionier- und Transportzug konnten, also viele gute Spieler auf dem Platz waren, auch dann stand er eilig

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bereit, sah zu Hacker, der nahm ihn, brachte anderes nicht fertig, «der flennt sonst», sagte er leise zu Gruhle, der auch in der Bezirksliga gespielt hatte vor dem Wehrdienst, allerdings bei einem anderen Klub, bei Aue, Reserve. Und Unteroffizier Weinert hätte das wahrscheinlich auch getan, er trug noch diesen penetrant-zutreffenden Namen und das freudig-erwartungsvolle Gesicht eines Stammspielers, den keine Niederlage, keiner der unzähligen verlorenen Bälle entmutigen konnte. Niemand nahm ihn für voll, und doch gehörte er dazu, gehörte zu den Spielen in der Freizeit, diesen willkommenen Schlachten, dribbeln, schießen, rennen, an nichts anderes denken auf dem schönen Spielfeld in Plauen, in der Kaserne, als an die kleinen Handballtore und den grünen Kunststoffbelag, neu und weich war dieser Platz, auch im Winter gut bespielbar, es bildete sich kaum Eis unter dem Schnee, man konnte Pässe geben und verteidigen, ich habe mitgespielt, als recht guter Spieler, als dritter, vierter wurde ich genommen beim sortierenden Tipp-Topp

Ein guter Platz, auch der <Entengang> ließ sich vorzüglich absolvieren, <Häschenhüpf>. Die Wachmannschaft mußte immer exerzieren, ein Offizier paßte auf, meist ein scharfer Hund, runter, die Waffe vor, die Stiefel, der Stahlhelm, das Sturmgepäck, noch eine Runde, noch eine. Hacker rief einmal aus dem Fenster des Funkraums, «he, was soll denn das», als wieder welche gehetzt wurden. Der Aufseher muß es nicht gehört haben. Oder überhört haben, immerhin befand sich der Funkraum im Stabsgebäude, es hätte auch ein Offizier gewesen sein können da am Fenster, er ließ bald einrücken. Als ich Weinert ein Jahr kannte, hatte er sich nicht

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verändert, nur etwas besser Fußballspielen gelernt, als rechter Verteidiger griff er stürmende Stars unerbittlich an mit seinen Gehwerkzeugen, wir spielten meist ohne Schiedsrichter, etwas gefürchtet war er schon, er trampelte auf den Gegner zu, der ja Schienbeine hatte und Knöchel.

Ende neunzehnhundertsiebzig, im November, lernte ich ihn besser kennen. Er wollte sich mit mir befreunden. Wir hatten bis dahin nicht viel geredet. Ich lachte selten über ihn, Hackers Mitleid gefiel mir... als Soldat zog ich einen Unteroffizier wie Weinert, der <lahm> war, einem Glaser mit seinen scharfen Stubendurchgängen vor. Weinert setzte sich im Klubraum zu mir, bezahlte Kaffee, ließ sich Bücher empfehlen, ich brachte ihm Krimis mit aus der Bibliothek, ab und zu klingelte er sogar am Funkraum, wenn ich Dienst hatte, um mit mir zu plaudern. Das war untersagt, aber ich ließ ihn ein, er war immerhin Unteroffizier, warum sollte ich nicht mit ihm reden. Über Möbel erzählte er viel, wie er seine Wohnung einrichten wollte, später, von dem gesparten Geld, er bekam etwa fünfhundert im Monat, gab wenig aus, «Holz, alles Holz, auch die Decke», und welche Gruppe er am liebsten hörte, die Beatles. Er redete und redete, etwas ging er mir auf den Wecker, manchmal kamen Funksprüche, ich wollte auch lesen. 

An einem Freitag fragte er mich plötzlich, ich durfte am nächsten Tag auf Urlaub fahren, Eva treffen, war schon aufgeregt, hatte gute Laune, noch eine Nachtschicht, dann der Vormittag, dann ab... «wie stehst du eigentlich zu dem Dubcek», fragte er. Ich sah ihn an. Er war selbst erschrocken, verändert, über Politik hatten wir bisher kaum gesprochen, Dubcek war ein

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<Konterrevolutionär>, nach dem fragte er, wollte wissen, wie ich einen Feind finde, einen, der in Ungnade gefallen war, den man zum Feind erklärt hatte in Zeitungen, <Schwarzen-Kanal>-Sendungen und Politschulungen. 

Ich zuckte die Achseln, winkte ab, wich seiner Frage aus, «reden wir lieber über Möbel». Plötzlich legte Unteroffizier Weinert seine Arme breit auf den Tisch, links vor ihm das Funkgerät, ein großer Kasten, ein <SS 100>, laut war es im Raum, kurzwellig, Geräusche aus dem Äther, manchmal verzerrte Melodien, überlagerte, fremde Signale, Tonwirbel, die kamen und weiterzogen, man mußte nicht die Frequenz wechseln, nur die Tonhöhe regulieren, er vergrub sein Gesicht, der Rücken bebte, Weini Weinert, der große Fußballspieler, weinte. «Was ist los?» fragte ich. Er sah hoch mit geröteten Augen, Tränen waren keine zu sehen, aber ein winselnder Blick: «Ich soll dich bespitzeln», sagte er, «noch heute einen Bericht durch den Briefkasten stecken im ersten Stock, linke Seite, da ist ein Briefkasten, eine Seite, DIN A4, über dich. Was du denkst, politisch, die wollen irgendwas wissen, über deine Lehrer auch, Schule, ich habe ja keine Ahnung, nur zehnte Klasse... und was du liest, welche Bücher, ich soll was rausfinden, wenn ich nur wüßte was... eine Seite DIN A4, bei meiner Rechtschreibung... Aufsätze habe ich nie gern geschrieben...»

Gekrümmt, das Gesicht wieder zwischen den Armen, so saß er am Tisch im Funkraum. Ich sagte erst nichts, dann etwas gallig, aber durchaus unsicher, die Angst war nicht weit: «Und jetzt soll ich dir den Bericht noch selber schreiben, was?» 

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Und etwas später: «Hast du schon was geschrieben?» Er schüttelte den Kopf: «Nur Gespräche», sagte er, «harmlos, nur allgemein ...» Groß und dünn stand er jetzt vor mir, er war so alt wie ich, neunzehn, ging zur Tür. «Ich schreibe nichts Negatives... aber irgendwas muß ich schreiben, verstehst du, sonst machen die mich fertig.»

Ich fragte wieso, er antwortete, daß ich das doch wisse, «die geben mir einen Befehl, was soll ich machen?». «Weigern», sagte ich. Er schüttelte den Kopf: «Dann schreit er, der eine, der kleine Dicke, Major, der schreit bestimmt. Und das kann ich auf gar keinen Fall aushalten. Lieber Ohrfeigen ... Also mach's gut. Und entschuldige. Und sag es keinem, sonst bin ich erledigt.»

Er ging, wir tranken nie wieder Kaffee an einem Tisch, Hacker und Gruhle wurden entlassen, ihre Dienstzeit war um, ich hatte noch ein halbes Jahr, beim Fußballspielen gab es eine Flaute, es regnete auch viel. Was wollen sie rausbekommen, fragte ich mich. Vielleicht wegen Hawel, oder Rachowski, den haben sie relegiert, aus der elften Klasse geschmissen, wegen Beleidigung von Lehrern, du kennst ihn, hast Briefe geschrieben. Die Andeutung vom Hauptmann. Mit Leichsenring rede ich vollkommen offen auf der Stube, den kotzt auch alles an. Aber sonst. Kaum Gespräche über Politik. Ich muß mehr aufpassen, die Notizen vernichten. Wenn sie die finden. Weini habe ich auch nichts erzählt, Tage, Bandmaß, Alktransport, da ist keiner unschuldig. Was wollen sie. Berichte werden viele geschrieben. Ich sollte es noch erfahren. Bald sollte ich es erfahren, im Mai einundsiebzig, ein paar Tage nach der Entlassung. Nach der erträumten, großartigen Entlassung. Weini Weinert hat nichts Schlechtes

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geschrieben, bestimmt nicht. Seine Rechtschreibung wird nicht besonders gewesen sein. Einen Duden wird er nicht benutzt haben. Mit Kuli wird er geschrieben haben, auf kariertes Papier, eine Seite. Mit Mühe und Not.

Auf dem Rückweg von den Halden gestolpert, Hand verstaucht. Schmerzen. Im Sanitätsgebäude ein Arzt, jünger, etwas korpulent, Helfer stehen in weißen Kitteln herum, Medizinstudenten. Man erwartet von einem Arzt Aufmerksamkeit, auch Trost. Wahrscheinlich zuviel verlangt. Besonders hier. Sie werden schlechte Laune haben, wären lieber zu Hause. Überweisung nach Ronneburg zum Röntgen. Ein Außentermin, nicht schlecht. Hoffentlich nichts gebrochen. Ob sie mich dann nach Hause lassen? Erinnerung an Vorlesungen in der Jenaer Nervenklinik, <Fälle aus der Psychiatrischen Praxis>, Dr. Bock, der Patient Hammer ...

 

Zerschnittene Scheine. Der Hörsaal, die langen, aufsteigenden Bankreihen, wer oben saß, konnte gut herabsehen, das Stehen vor dem Gebäude, die kleinen Gruppen, Mädchen und Frauen, Männer, Studentinnen und Studenten, Zigaretten, bunte Kleider, Kugelschreiber, Reisetaschen, man fuhr nach Hause oder kam von dort, freitags, montags, Sonne und Regen, der Seiteneingang, der Weg durch Kellergänge, dicke Rohre, alles weiß, von außen ein altes ehrwürdiges Gebäude, manchmal Patienten an den Fenstern, sie stehen, warten, sehen einem lange nach, die Gitter verziert, Wein wächst die Wände hoch, gegenüber das Re-

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chenzentrum, ein Flachbau, blechern, blau, das Heizhaus, der Schornstein, der bräunlichgelbe Ziegelschornstein, Rauch, unheimlicher Rauch, Bäume, ein Garten, kein hoher Zaun, keine scharfen Kontrollen, man läuft einfach durch beim Pförtner, sagt «Vorlesung», der nickt, kennt seine Leute, es gibt geschlossene Häuser. Über den Portalen Hinweise auf wichtige Vorgänger, Gründer, Kapazitäten der Wissenschaft. Und Doktor Bock. Manche schwänzten, selten wurde kontrolliert, selten gingen Listen um. Und wenn, schrieb einer zwei Namen auf, nett war das, freundlich, möglich. Vorlesungsmitschriften wurden angelegt, klinische Praxis, viele wollten Mediziner werden, nicht in Betriebe und sonstige Einrichtungen, Sozialpsychologie, was ist das, womöglich <Leitertraining>, nein danke, lieber im weißen Kittel auf Station 2 oder 3, einige Tests, Gespräche, Therapien, nachmittags Gruppe. 

Doktor Bock war Oberarzt, mittelgroß, schwarz, nach hinten gekämmte Haare, schwarze Brille, weißer Kittel, stämmig, recht streng, eine Macht ging von ihm aus, er redete viel und gern, dann handelte er, kannte auch den «militärischen Bereich», wie er sagte. «Praxisnähe» wollte er herstellen, «nicht nur Bücher, Tabellen, wir haben es ja mit wirklichen Menschen zu tun». Neben der Tafel war eine Tür, die öffnete er, dann erschien ein Patient, ein Patient pro Vorlesung, in Ausnahmefällen zwei. Hoch hinauf die Bankreihen. Weit irrte der Blick. Doktor Bock sprach laut und höflich. «Können Sie uns Ihren Namen sagen, Fräulein Werner? Das hier sind Studenten, die tun Ihnen nichts, wollen lernen, lernen wie man heilt. Auch Sie wollen doch wieder gesund werden, nicht wahr,

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Fräulein Werner?» Fräulein Werner nickte, sagte ihren Namen, die Adresse. Gläubig sei sie, in der Gemeinschaft wäre sie gewesen. Anderen Menschen habe sie helfen wollen. Auch als Sekretärin in der Brauerei, wo viel getrunken wurde, auch tagsüber. Gebetet habe sie. Und dann viel geweint. Plötzlich wären Stimmen gekommen. Und eine Nachricht: Nur noch Limonade, ihre Brauerei habe die Produktion umgestellt, ihre Gebete seien erhört worden. Da habe sie sich gefreut. Aber am nächsten Morgen stellte sich heraus, daß alles lief wie vorher, die ganze Produktion. Und auch das Trinken. Da habe sie geweint. Und nicht mehr reden können. Ganz schwer sei alles gewesen, ganz steif. Die Eltern hätten geschimpft. Jetzt sei sie hier und auf dem Weg der Besserung. 

Doktor Bock analysierte «das Problem Wahn und Schizophrenie». Ein Junge kam herein, wollte nicht bleiben, drückte sich in eine Ecke, zehn, zwölf Jahre war er, klein, blaß, stumm. Schafe habe er gequält und ertränkt, sagte Doktor Bock. «Sadistisch veranlagte Persönlichkeit, Taube lebendig gerupft, dann den Kopf abgeschnitten, wie war das, Andreas? Kurz nach der polizeilichen Vernehmung zwei Hühner erstochen, vierte Klasse Hilfsschule, milieugeschädigt, Pseudologica phantastica, Mitschüler und Lehrerin berichteten, also Lügen, phantastische Geschichten, hat keinen Gemütskontakt, nach der Schule stromerte er rum, zu Hause sechs Kinder, der Vater Schlosser, Eltern prügelten sich, so was bekam er zu hören: <Du verdammter Kerl, ich schlage dich tot.> Dann schlug er Tiere tot. Andreas, willst du noch was dazu sagen? War alles richtig? Fühlst du dich wohl hier? Deine anderen Geschwister sind im Heim. Willst du uns deinen Namen nicht sagen, nein?» 

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Er wollte nicht, sagte nichts, blieb starr in seiner Ecke, Bock redete, «zerrüttete Familienverhältnisse, Problematik Lust-Aggression, Gewalt, Täter, Opfer, eigenes Erleben kompensieren, Entwicklungsfehler, Schulversagen... So, Andreas, danke, daß du gekommen bist, ich bringe dich gleich mal nach oben...» 

Ein Mann trat ein beim nächsten Mal, Mitte Dreißig, zeigte sofort auf die Steckdosen, war «schon öfters bei den Studenten gewesen, aber ja... da kommen Stimmen raus, Befehle, der Preißler befiehlt mich immer, dann mache ich es. Esse auch Zigaretten zur Strafe. Oder soll springen. Aber da sind Gitter.» Doktor Bock nickte, redete, klopfte auf Schultern, führte vor. Wir sahen und hörten zu, unbehaglich war es uns, man wollte sich gar nicht anlehnen an die langen, hohen Holzbänke, lieber schreiben, auch nicht tuscheln mit dem Nachbarn, lieber hinter einer Glasscheibe sitzen, unsichtbar, lieber so. 

Doktor Bocks große, forsche Schritte. Nein, unfreundlich war er nicht. Aber der weite, irrende Blick der Patienten, wenn sie durch die kleine Tür traten. In die Arena kamen. Ihre Angst, ihr gehorsames Erscheinen. Doktor Bock war der Oberarzt. Man wollte schließlich wieder raus hier. «Jeder kann ablehnen», sagte er, «völlig freiwillig ... allerdings muß eine Begründung gegeben werden. Auch aus kommunikativen Lerngründen. Sie sollen ja lernen, die eigene Lage zu überblicken, auch Stellung zu nehmen. Schwere Fälle bringe ich sowieso nicht. Ich schätze das ab. Aber sie wollen ja was lernen. Überhaupt zuwenig Praxis heutzutage. Viel zuwenig.» 

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Dann kam Patient Hammer. Die kleine Tür öffnete sich, Bock drehte sich um, wollte abwinken, <noch nicht> sagen, aber der junge Mann war schon eingetreten, achtzehn, neunzehn war er, längeres, lockiges Haar, gesprächsbereit, er nannte seinen Namen, auch den Vornamen, ich glaube Thomas, und den von Bock, durchaus ironisch stellte er den Arzt vor. Der sagte mit lauter Stimme: «Also das ist Herr Hammer, er wollte gerne kommen, das sehen Sie ja...» Weiter kam er nicht. Patient Hammer unterbrach den Doktor, wollte sich selber vorstellen: «Meinen Namen hat er schon richtig gesagt, Zwangseinweisung, Medikamentenbehandlung, dämpfende Mittel, die jetzt abgesetzt werden...» 

«Wie zu bemerken ist...» warf Bock lachend ein. «Ja», setzte der Patient lachend fort, «ich bin gern gekommen, so kann ich einiges mitteilen. Wissen Sie, warum ich hier bin? Briefe habe ich verschickt, auf den Umschlägen Collagen, zerschnittene Geldscheine, sehr erhabene Köpfe und einige Sprüche. Bei Marx wird ja der Tauschwert behandelt, diesen Fetischcharakter wollte ich zeigen und zerstören. Folge: Polizei, Ärger in der Schule, der Direktor spießig, Gefängnis oder das hier. Meine Eltern telefonierten...» 

Doktor Bock winkte ab, «nicht ganz, nicht ganz, bitte beachten Sie die manische Komponente, meine Damen und Herren, mal depressiv-anklagend, fast böse, mal heiter und gesprächig wie jetzt, nicht wahr, Herr Hammer?» Der nickte, «das ist schon richtig, böse kann ich auch werden. Wenn ich Grund dazu habe. Ich will Maler werden, oder fotografieren, oder Pantomime, jedenfalls Künstler. Bisher wird auf mich aber vor allem psychiatrisch reagiert.» 

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Wieder lachte Dr. Bock, «soso, nun, Ihre Behandlung ist bald beendet, dann kann das ja alles beginnen». Patient Hammer: «Aber wann, bestimmen Sie. Und andere haben auch noch ein Wörtchen mitzureden.» «Das ist so in Staat und Gesellschaft. Es gibt Regeln und Gesetze. An die muß man sich halten. Auch als Mensch mit psychischen Problemen.» Hammer: «Ich kann sagen, was ich will, es muß ja nicht stimmen. Sage ich: Ich kann auf den Händen laufen, könnte das eine größenwahnsinnige Behauptung sein. Sie lachen. Ich bin der Patient. Und jetzt passen Sie mal auf...» Patient Hammer springt gekonnt in den Handstand und läuft zur Tür, sieht auf uns, hebt den Kopf, die Beine weit über ihm, den Weg zurück. Beifall, Heiterkeit. «Sehen Sie, ich kann es aber wirklich.» 

Bock, lachend: «Sie sind ein kluger, anregender Mensch, Herr Hammer. Auch körperlich sehr durchtrainiert, mein Kompliment. Niemand bezweifelt Ihre Fähigkeiten. Sie müssen auch nicht alles beweisen oder vorführen, wir glauben Ihnen. Sie waren krank, sind auf dem Weg der Besserung, sehen vieles ruhiger, erkennen das Maß, die Regeln... Erinnern Sie sich an Ihre depressiven Phasen?» «Ja, durchaus», sagte Hammer, «man hatte mich verhört und bedroht, da war ich deprimiert. Von der Schule fliegen, ist das nichts?» 

Bock wurde ein wenig unwillig: «Also jetzt erzählen Sie keine Märchen, es gab Probleme, ja, die Damen und Herren bekommen sonst ein falsches Bild. Sie sind hier als Patient, wenn alles wieder gut ist, wird man weitersehen, auch schulisch und beruflich, das garantiere ich Ihnen. Und jetzt möchten wir fortsetzen, danke, Herr Hammer.» Herr Hammer nickt, verbeugt sich, es gibt Beifall, die Studentinnen und Studenten des dritten Semesters der Psychologie klat-

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schen, lachen, Patient Hammer winkt, entfernt sich, die Tür neben der großen Wandtafel klappt zu. Das war's, Doktor Bock referiert noch ein wenig über manisch-depressive Phasen, erwähnt verschiedene Krankheitsarten und Mischformen, die Vorlesung ist beendet.

Im Weggehen erregte Debatten, Harry Folkert: «Das geht nicht.» Wiegand, amüsiert: «Ganz schöne Experten hier.» «Bißchen gesponnen hat er, aber toll, wie er Handstand konnte. Und sehr charmant.» Carmen Z. Raskolnikow, der Idiot, der Jüngling, der Patient, Militärarzt Bock, wir klatschten Beifall. Das Studium hinschmeißen. Ehrwürdige Gebäude anzünden. Hammer rausholen. Schaurig schimpfte auch, wollte ihn besuchen. Wochen später auf dem Magdelstieg: Hammer mit einer großen Zeichenmappe, ernst, eilig, geht vorbei, dreht sich um. Schaurig sah ihn im Theater. Entlassen? Ausgang? Bock habe ihn vor dem Knast bewahrt, sagte Schaurig. Nun sei er Patient.

Ich werde nie in einer Klinik arbeiten. Und nicht auf Macke machen, wenn sie kommen. Der Herr Psychologe, der Herr Schriftsteller! Sie leiden also an Schreibzwang und wollen den Menschen die Wahrheit mitteilen? Ist es so?

 

 

Ein Glückstag: Post von Marianne. Und Pilz, der einen Tag weg war, Begräbnis seines Großvaters, brachte eine Flasche Weinbrand mit, in Unterwäsche eingewickelt. Gut geschlafen, bis eins gelacht. Schonwald brüllte aus dem Fenster «Alarm», überall ging das Licht an. OvD kam, ging wieder, nichts gemerkt. Die heitere, flüssige, betrunkene Seite dieses Aufenthalts. Bauchschmerzen vom Lachen.

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Es gibt Erzählungen: Schreiber gewesen, Kleiderkammer, viel gesoffen. Und gefressen, jeden Abend Schinken, Eier, ihr macht euch keine Vorstellung. Die Armee als Warenlager, als nächtliches Gelage, als Ausnahmezustand. Eine mögliche Variante. Du hast sie nicht erlebt. Zu ihr gehört Zufall und Anpassung, Mitspielen. Sonst bekommt man keinen Posten und keinen Schlüssel für Küche und Speisekammer. Und Vorgesetzte müssen mitmachen, zumindest einer. In kleinen Außenposten geht das, manchmal in Grenzkompanien. Aber es gibt Kontrollen.

 

Samstag ab siebzehn Uhr Ausgang. In Wattesachen, mit Filzstiefeln, durch eine Schneelandschaft in ein benachbartes Dorf... ein Bier, dann weiter, man will schließen... Wind, Verwehungen, macht nichts, zu einer Kirmes, vier Kilometer. Böse Blicke, die männliche Dorfjugend will keine Gäste. Truthahnessen im Gastraum. Nachts zurück, ich trage Specht eigene Gedichte vor. Wind heult, er wird nicht viel verstanden haben, Lob. Ein Bus hält an der Hauptstraße, ein Wismut-Zubringer. Zehn nach zwölf sind wir zurück. Unterwegs sein in einer Gruppe, man kennt sich, ist nicht befreundet, aber zusammen, es ist <ganz schön was los>, ein <Kameradschaftsabend>, ein <Brigadeausflug>, Alkohol, Essen, Tanz, Lachen, Witze, man <hält zusammen>. Auch das ist Armee. Hat etwas von Clique, Bande, Provinz, Gruppe. Es gibt <uns> und die anderem. «Wenn jemand was will, soll er es sagen», zusammenhalten und andere ausschließen.

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Auch gemeinsam über Vorgesetzte lachen, denen man doch gehorcht. Wer da nicht mitmacht oder weggeht, ist <draußen>. Wird ausgestoßen. Ist das die Falle? <Genosse> und <Partei> trifft nicht genau das, was ich meine. Eher <Kamerad> oder <Truppe> oder <Volksgenosse>. Ein <Wir> steckt dahinter, der Gemeinschaftsgedanke, der hart auftrumpfen kann. <Familie>, <auf einer Stube>, aus einem Ort, auch das. Ein wenig Abwehr, Aufmucken, <Notgemeinschaft> ist auch dabei. Vertraut, aber eng.

Vorsicht. Gefährliche Nähe. Geschlossener Kreis.

Zettelwirtschaft. <Wie soll man den Wettbewerb organisieren?> Herausgeschriebene Leninzitate. «Die Einheit im Grundlegenden, im Wichtigsten, im Wesentlichen wird nicht gestört, sondern gesichert durch die Mannigfaltigkeit der Einzelheiten, der lokalen Besonderheiten, der Methoden des Herangehens an die Dinge, der Methoden der Durchführung der Kontrolle, der Wege zur Ausrottung und Unschädlichmachung der Parasiten (der Reichen und Gauner, der Tagediebe und Hysteriker unter der Intelligenz usw. usf.)... Mannigfaltigkeit ist hier eine Bürgschaft für Lebensfähigkeit, Gewähr für die Erreichung des gemeinsamen, einheitlichen Ziels: der Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer, von den Flöhen — den Gaunern, von den Wanzen — den Reichen usw. usf. An einem Ort wird man zehn Reiche, ein Dutzend Gauner, ein halbes Dutzend Arbeiter, die sich vor der Arbeit drücken (ebenso flegelhaft wie viele Setzer in Petrograd, besonders in den Parteidruckereien), ins Gefängnis stecken. 

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An einem anderen Ort wird man sie die Klosetts reinigen lassen. An einem dritten Ort wird man ihnen nach Abbüßung ihrer Freiheitsstrafe gelbe Pässe aushändigen, damit das ganze Volk sie bis zu ihrer Besserung als schädliche Elemente überwache. An einem vierten Ort wird man einen von zehn, die sich des Parasitentums schuldig machen, auf der Stelle erschießen. An einem fünften Ort wird man eine Kombination verschiedener Mittel ersinnen und zum Beispiel durch eine bedingte Freilassung eine rasche Besserung jener Elemente unter den Reichen, den bürgerlichen Intellektuellen, den Gaunern und den Rowdys erzielen, die der Besserung fähig sind. Je mannigfaltiger, desto besser, desto reicher wird die allgemeine Erfahrung sein, desto sicherer und rascher wird der Erfolg des Sozialismus sein, desto leichter wird die Praxis - denn nur die Praxis ist dazu imstande -, die besten Methoden und Mittel des Kampfes herauszuarbeiten.» Schock.

Sah noch einmal in der Gesamtausgabe nach, alles stimmt, Band 26, Seiten 412 und 413.

Das Harte, Erbarmungslose dieser Sprache... Bin ich auch ein <Hysteriker unter der Intelligenz>? Ungeziefer ... ins Gefängnis stecken, Klosetts reinigen lassen, gelbe Pässe aushändigen, auf der Stelle erschießen... Ich bin auch ein <schädliches Element>, wenn sie das lesen.

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Muß an Klammer denken. Dieser Sozialismus ist also einer nach Lenins Ratschlägen. Dachte es anders ... hoffte es... Die Setzer in den Parteidruckereien, was will er mit denen machen? <Flegelhaft>... Vielleicht waren sie gegen ihn, gehörten zu einer anderen Fraktion ... <Säuberung der russischen Erde>... <Säuberung der deutschen Erde>: Woran erinnert mich das ?

Seite 406: «Die Arbeiter und Bauern sind nicht im geringsten von den sentimentalen Illusionen der Herren Intelligenzler, dieser ganzen haltlosen Bande von der <Nowaja Shisn> usw. angesteckt»... Zur <Nowaja Shisn> gehörte 1917/18 Maxim Gorki, weiß ich genau. Herausfinden, was gemeint ist. Gorki war gegen Lenin? Und später?

Lektüre beenden. Demontiere letzten politischen Halt. Befand mich eigentlich auf der Suche nach marxistisch-leninistischen Autoritätsbeweisen, nach der reinen Lehre. Finde Realität vor, Telegramme, Dekrete, Betrachtungen eines Polit-Journalisten, vorwurfsvoller, herrischer Ton... Befehle...

Nicht alles so wichtig nehmen. Gedichte lesen. Musik hören. Habe ein Tonbandgerät aus dem Schulungsraum, <wichtige Funksprüche aufnehmen>, Rockoper von <The Who>... laut, bis zum Anschlag, mit Kopfhörern ... An diese Zeit erinnere ich mich gut. Plauen.

«Wenn alle Irrtümer verbraucht sind.» Ich glaube, von Brecht. Specht fragen.

Blättern, überfliegen. <Wie soll man den Wettbewerb organisieren?> Lenin kann, darf nicht so sein. Immer wieder dieser Impuls. Der liebe Gott muß gut sein. Sonst... was ist sonst? Was ist, wenn es anders ist?

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Viel billiger, viel brutaler.

Und immer <gut gemeint>. Abwenden. Brechen. Nicht länger darauf hoffen. Es sind harte, festgelegte Menschen. Einige von ihnen leiderfahren. Ihre Antwort: Macht, andere in Schach halten, eigene Sicherheit. Nicht länger etwas von ihnen erwarten, ablösen, abnabeln. Und dann? Hassen ? Ohne Halt sein, ohne Bezugssystem. Das Ende der Systeme. Des Systems. Die Erinnerung bewahren, nicht abwenden. Trauer, diese Notizen als Ausweg. Wenn sie mich lassen, nicht völlig zum Opfer (oder Täter) machen. Gibt es eine authentische, humane Linke, die Hitler, Stalin und auch Lenin verneint, aber die Hoffnung nicht aufgibt? Welche Hoffnung? Auf freundlichere Verhältnisse, weniger Druck. Auf eine sanfte, offene Republik, die sich nicht einmauert, also Widersprüche erträgt, Andersdenkende aushält. Biermann, Havemann, Kunze, wie wenig ich von ihnen weiß. Suche ich neue Götter? Halte ich diese Lage, dieses Alleinsein nicht aus ? Halte mich an Literatur fest. «Eine ungefederte, abgenutzte Kalesche verläßt die Kreisstadt N. im Gouvernement Z....»

Auf der Lagerstraße stehen. Oben die kleinen, hellen Punkte. Sputniks und Flugzeuge zählen nicht. Ist da ein Blick, eine Aufmerksamkeit? Wie fern, wie ungewiß. Doch nicht entschieden. Wir wissen es nicht. Ich weiß es nicht. Eine (gar nicht einzige) erste Person Singular... will es gern wissen...

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Die Relationen. Die Relativität der Ereignisse hier. Die Lächerlichkeit eines Befehls von Ludwig.

Andere in den <Bruderländern> denken vielleicht wie ich. Der Ormig-Abzug aus Greiz, polnische Lyrik, Herbert, Zagajewski, Krynicki.

Das kann ich auswendig, ein Gedicht aus der tschechischen Anthologie Glasträne:

Parkspaziergang 1939

Es gibt Parks. Es gibt Schwarzes. 
Das Schwarze bläht sich. 
Es gibt Schilder: Verboten ist -
Macht nichts. Die Erde dreht sich. 
Die Nacht verfließt.

Solche Zeilen fallen mir ein, solche Jahreszahlen. Nicht interpretieren.

 

Der Frühaufsteher. Wenn er den einen einzigen Ton der Trillerpfeife hörte, sprang Soldat Dominiak sofort aus dem Bett.

Dieses kleine schwarze Ding... man traut ihm die Lautstärke nicht zu, das Dringen durch Türen und Wände... der Kirschkern im Inneren zappelt... an jeweilige Lippen gesetzt um fünf Uhr fünfundfünfzig, meist an die des Unteroffiziers vom Dienst, der die Nacht in seinem Häuschen gehockt hatte... besonders stark bläst er hinein, holt noch einmal Luft: «Kompaniiiie! Nachtruhe beenden, fertigmachen zum Frühsport!», <hoch jetzt, aufstehen, lange genug herumgele-

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gen, wir sind bei der Armee, nicht in einem Sanatorium>, denkt es oder sagt es, trillert, ruft, geht den Gang entlang, öffnet Stubentüren, stößt sie auf, steckt das kleine schwarze Ding weg, holt es heraus, den Helfer, an einer Schnur hing er am Hals des Sportlehrers, piep, piep, piep, gymnastische Übungen Scheiße, Spiele schön, ja, Herr Fügmann, ja, Völkerball, Handball, Krebsfußball, jetzt dringt das in den Schlaf, in undeutliche, lastende Von-zu-Hause-Träume, ins Zimmer der Bunten, Plauen, Januar siebzig, der Helfer, das kleine schwarze Ding, der neue Tag.

Doppelstockbetten, zwei Fenster, nachts zugezogen, sechs Schränke, ein Tisch, sechs Hocker aus Holz, jeden Morgen geht das so seit dem Tag der Versetzung aus Johanngeorgenstadt: Trillerpfeife, Weckruf, Dominiak, er liegt über mir, fährt hoch, das Bett aus Eisen quietscht, bewegt sich, er springt im Dunkeln auf den Boden, rennt zum Lichtschalter, dann zum Schrank, Schlafanzug aus, Trainingsanzug, Turnschuhe an, raus auf den Gang. Schnell macht Soldat Dominiak, ganz schnell. Im Ausbildungslager gab es Gründe, sich so zu beeilen, aber hier wären noch ein paar Sekunden geblieben. Dann macht einer die Tür auf, das Licht an, «aufstehen», vielleicht auch noch «los, los» und diverse Sprüche, man wäre aufgestanden... umziehen, pinkeln, die Runden ums Haus, wie die anderen... Um diese Sekunden, diese kleine Weile, ging es. Stöhnen half nicht, Flüche, zur Wand drehen, das half nicht, erreichten ihn nicht, er hörte das Signal und stürzte los, wie ganz allein, wartete nicht auf andere, sprach nicht, kein <Morgen> oder <Kommt schon>, Licht an, zum Schrank, raus auf den Flur. 

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Mit Siggi Biellau hatte er in einem Zimmer gelegen in Johanngeorgenstadt, der war früh immer der letzte gewesen, der langsame Biellau, angeschrien hatten sie ihn, Dominiak beeilte sich, auch wenn Biellau gar nicht hier war, nachkommen sollte er, vielleicht nachkommen, aber dann bitte in ein anderes Zimmer, der Pfiff, Nachtruhe beenden, runter vom Bett, raustreten. Nicht einmal Pinkeln ging er, er stand an der Ecke des Flurs, hatte Haltung angenommen an der <Linie>, an der zweiten Fliesenfuge von der Wand aus gerechnet, nur wenn es sehr lange dauerte und auch andere in der besagten Tür verschwanden und er dringend mußte, verließ er noch einmal seinen Posten, freilich mußte mindestens ein Vorgesetzter sein rechtzeitiges Antreten gesehen haben. 

Wie er es gelernt hatte in der Grundausbildung. Tagsüber, bei Außendienst oder Revierreinigen, war er gar nicht besonders eifrig, nur früh, wenn er hochschreckte, die Pfeife hörte, gab es kein Halten, kein Zögern, kein Gähnen, kein Atemholen, kein Augenreiben: runter vom Bett, Licht an, umziehen, raus auf den Flur. Ein Reflex war es, Pawlow wurde in der elften Klasse durchgenommen, seine Versuche mit den Hunden, den armen Woyzecks, ein bedingter Reflex, Stresslernen, «ruhig, Junge, ruhig», rief Kraus, «nicht so eilig», aber Dominiak hörte ihn nicht. Oder hörte ihn und verstand nicht. Oder verstand und rannte trotzdem los. Mit kleinen, müden, geröteten Augen rannte er los. So ging es Wochen.

Ingenieur wollte er werden, berlinerisch sprach er, mit einer dicken Ledermappe für Stifte und Briefpapier ging er abends in den Klubraum, dünn, mittelgroß, ein Jüngling mit einer Tolle im Haar, singen konnte er, in Johanngeorgenstadt, beim Kartoffelschälen, hatte er

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<Down by the Riverside> gesungen mit lauter, schmachtender Stimme, solo, die anderen hatten zugehört und geklatscht, und früh dieses Hochschnippen, auch solo, nur sonntags nicht, da wurde später geweckt, es gab keinen Frühsport, dafür Kuchen zum Frühstück. Aber sonst, an den anderen Tagen, wie ein Uhrwerk, wie ein Automat, was ist los, Dominiak. Ich sagte nichts zu ihm, hatte auch dieses Zucken in den Gliedern, wenn der Pfiff kam, hochschnippen konnte ich auch, in Johanngeorgenstadt war es so gewesen, früh und bei Alarm, zick-zack, das konnte ich auch. Hier in Plauen blieb ich noch kurz liegen, die Augen offen, das Licht war an und Dominiak schon auf dem Flur. Der Motor war angesprungen, ich konnte ihn aber bremsen, nicht ganz so schnell, so neu sind wir nicht mehr, hier ist es etwas ruhiger, nicht ganz soviel Hektik und Strafen, Moment noch, Moment. Zu Dominiak sagte ich nichts, die anderen fluchten, «dienstgeil» und so weiter. Abends, nach zehn, wenn das Licht aus war und ich am Wegdämmern, zuckten die Glieder, es war wie ein elektrischer Schlag, wie eine Entladung war es, dann kam der Schlaf. Darum sagte ich nichts zu Dominiak, der schnell war am Morgen, sehr schnell, zu schnell. Ein Wecken im Januar soll beschrieben werden, Montag oder Dienstag, fünf, sechs Wochen waren wir in Flauen: Wieder die Trillerpfeife, das Rufen, das Nachscheppern der Töne im Gang, über mir wird es lebendig, der Sprung auf den Boden mit nackten Füßen vom oberen Bett, dann ein Schlag, Schreie, Wimmern, was ist los, einer tappt zum Lichtschalter, Kraus, die anderen bleiben liegen, ich sitze, einer ruft: «Ruhe, ihr verdammten Arschlöcher! Jeden Morgen dasselbe!» 

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Was ist denn? Kraus ruft jetzt 
 «Kommt her, schnell», Dominiak liegt auf dem Fußboden, das da, was unter Hocker und Tisch vorkommt, ist ja Blut, du blutest ja, Dominiak, hoch, Hilfe, ich fasse mit an, er liegt zwischen Tisch und Hocker, zappelt ein wenig, zuckt, im Schlafanzug liegt er da, den Mund schief, blutig, verletzt, Kraus hebt ihn hoch, die anderen kommen jetzt doch schon aus den Betten, starren, verschlafen und erstaunt, ungelenk stehen sie herum, einer holt einen Scheuerlappen, will das Blut aufwischen, läßt es aber. Was ist passiert? Dominiak ist etwas passiert, die kleinen weißen Steine da, zwischen dem abgesplitterten Holz, das sind Zähne... Was hast du gemacht, Dominiak, du blutest, aus deinem Mund kommt eine rote Suppe, die Schneidezähne fehlen... Dominiak winselt, bewegt sich, will vom Tisch herunter, auf den ihn Kraus gelegt hat, stöhnt, schreit, spuckt in seine hohlen Hände. Ein Unglück, eine Hirnerschütterung, drei Wochen Med.-Punkt, Bettruhe, dann Innendienst, sprechen und lachen nur hinter vorgehaltener Hand, junges Gesicht und Greisenmund, kauen nur links und rechts hinten, an Singen gar nicht zu denken, von wegen <Down by the Riverside>... Zuerst eine Lücke, dann eine Spange, dann eine Brücke, Stiftzähne, mit Zement befestigt. Im Dunkeln war er gestolpert und auf eine Hockerkante gefallen, sechs harte, alte Hocker standen herum, einer von ihnen trug helle Spuren, Holz war abgesplittert, auf der anderen Seite Zähne, kleine eckige Steinchen mit glatten Bruchstellen, «wie Elfenbein», sagte Kraus, der uns in eine Streichholzschachtel gucken ließ, dieses Behältnis mit Inhalt überreichte er dem Unglücksraben, dem Frühaufsteher, als

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er aus der Krankenstation kam. <Kreislaufstörungen> diagnostizierte der Arzt, Schonung, früh langsam aufstehen, eine Weile im Bett sitzenbleiben, dann erst heruntersteigen, nicht springen. So sollte es Dominiak machen auf ärztlichen Rat. Und so machte er es. Als letzter schlich er aus dem Zimmer, mußte lange keinen Frühsport mitmachen, ging aufs Klo, ging waschen, ließ sich Zeit, war <innendiensttauglich>... Später wurde er doch hin und wieder angetrieben, neue Unteroffiziere kamen, neue Moden, das Auf und Ab der Kasernenwelt... Wütend rief er: «Auf ärztliche Weisung, auf ärztliche Weisung!», ganz langsam, ganz ruhig, wie ein abgebrühter Veteran zog Dominiak seinen Schlafanzug aus... Dominiak hatte sich verändert. Er erzählte auch Witze, verstand sich mit anderen besser, spielte Karten, spendierte Kaffee. Kamen Vorgesetzte in Sicht, vor allem morgens, verdunkelte sich sein Gesicht, Wut umwölkte die Haartolle, die früh recht wirr in die Stirn hing: «Von wegen», sagte er und zeigte auf seine Zähne, «einmal und nie wieder, auf ärztliche Weisung, auf ärztliche Weisung!»

Später hörte ich von Krüger, daß welche aus anderen Zimmern Hocker verrückt und eine «kleine Barriere» gebaut hätten zwischen Bett und Lichtschalter, «um die Bunten zu ärgern»... «Man muß ja nicht losrasen wie ein Wilder», sagte Krüger, Kraus schüttelte den Kopf, nein, das mußte man nicht. In Plauen nicht. Auch Dominiak nicht. Und der ließ es sein, nachdem seine Schneidezähne in einer leeren Streichholzschachtel gelandet waren.

Rutschen über schlammige Halden. Es ist ein hellbrauner, lehmiger Schlamm. Man muß die Lederstiefel unter die Wasserleitung halten und abscheuern, trocknen lassen, eincremen, polieren, dauert lange. Ein Physiker, mit dem Specht sprach, schloß eine Strahlengefährdung nicht aus, auch beim Wasser. Man weiß nichts, tut nichts, fragt nicht nach, protestiert nicht.

Ferienlager, siebente Klasse, Zobes bei Flauen. Überall Halden, wir kletterten auf den Gesteinsbrocken herum. Das war zwar verboten, aber wer kann Dreizehnjährige halten. An einem schönen Waldrand standen unsere Viermannzelte, ausgerichtet, in einer Reihe. Fußballspielen, Luftgewehrschießen, Geländespiele, zum Essen marschieren. Wie gern marschierten wir zum Essen. Auch Gewehre hätten wir uns umgehängt. Ganz in der Nähe lag Armee, eine kleine Einheit. Wir standen oft am Zaun. Junge Soldaten, die freundlich zu uns waren und Bälle ausliehen... Es fanden <Freundschaftstreffen> statt, Sport und Spiel, abends Lagerfeuer. «Nachts bewachen sie uns», hieß es. Da fühlten wir uns sicher.

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