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Industrielandschaft. Militärlandschaft. Der harte Zugriff. Wir hampeln dazwischen herum. Etwas Trostloses geht von allem aus. Neubauten passen dazu. Fahnen. Dienstgebäude. Langläufe. Doppelachser. Überland­leitungen. Werksküchen. Asphaltstraßen. Kohlezüge.

Und Eva Blau? War nach Plauen gekommen im August, der Soldat bekam Ausgang ab elf, rannte los in Uniform, sehr heiß, sehr schön das Wetter, sehr kurz ihr Kleid, sehr lang ihr Haar, sehr jung ihr Gesicht, sehr vergnügt ihr Lachen. Viele Spaziergänger, Kleingärten, Hunde, Ameisen, Tannennadeln, Bonbontüten, alte Tempotaschentücher, Autos, die Schienen einer Werksbahn, heute Ruhetag, fremdes Gelände, Zäune, Schweißperlen, die Schirmmütze, weg rannten die Stunden, durch Straßen und Parks, Richtung Bahnhof rannten sie, Ausgang ist Ausgang, den Zug erreichen, den Bus, die Straßenbahn, rechtzeitig zurück sein. Wiedersehen, mach's gut, bis bald. Und schreib, ich warte. 

Ein Brief aus Ungarn. Ein Jakob hatte viele Bücher im Kofferraum und gelesen, «vielleicht mehr als du», kam aus Essen, trank Rotwein, fuhr eine <Ente>, wollte Zivildienst machen. Herrliches Wetter, lange Reise, neue Eindrücke, «ich schicke Bilder». Eva Blau mußte keine Bilder mehr schicken. Der Blecheimer, ein Streichholz, Briefe brannten, im Freien wurde es gemacht, abends, bei den Mülltonnen. Der Posten am Zaun kam, fragte was los ist, «nichts ist los», sagte einer. Sagte es wütend und leer, mit einem falschen, trotzigen Ton. 

Wo ist es, wann kommt es, wonach der aus ist? Später, vielleicht später, wenn das hier vorbei ist, mit anderen Klamotten, auf anderen Wegen, in anderen Städten. Durchs Tor durch, am Posten vorbei, ohne Rückfahrt, ohne Schein, ohne Karte, ohne Schirmmütze. Wenn du alle Bücher gelesen hast, in denen es steht. Wenn du sie alle gelesen und weggelegt hast, sie helfen nicht, nichts hilft, wenn es so ist.

Keine Wut, kein Zinkeimer, keine Sprüche, kein Blick in den Waschraumspiegel, «über den Ohren sind die Haare eigentlich ziemlich lang»... Wenn es so ist, hilft gar nichts. 

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Der eine fährt nach Ungarn und der andere sitzt in einer Kaserne. Wie im richtigen Leben ist es, auch wenn du lieber Hemingway lesen und mit auf Reisen gehen möchtest, auf Jagd. Das ist deine Jagd, dein Abschied, dein Abenteuer, dein Schmerz. Hier hast du ihn, hier passiert es, Regimentskaserne Schöpsdrehe, Neubau, vor den Mülltonnen am Zaun. Und jetzt geh zurück, nimm den Eimer mit, heulen sollst du. Und nicht rumfuchteln und tun als ob. Da ist ein Zaun und da ist deine Zeit, zähl die Tage. Liegen möchtest du irgendwo mit Eva Blau und es tun, das ist es. Hier bist du und nicht da und nicht bei ihr. Nimm deinen Eimer und sei beleidigt, wenn du zu blöde bist. Papier brennt, geh weiter, Posten am Tor, es ist nichts, nur das übliche, der steigt nicht drüber, der legt nicht Feuer, der rennt nicht weg. Der wartet und flennt, vielleicht kommen Briefe.

Sie: Uniformen sehen eigentlich ganz gut aus. Dir steht sie, finde ich.
Uniformen? Du spinnst doch!

Sie: Du ziehst sie nicht gern an?
Nein!

Sie: Das stört mich an dir: Daß du sie trotzdem anziehst.
Was soll ich machen?

Sie: Weiß nicht. Irgendwas Schönes.
Was denn?

Sie: Weiß nicht.

 

Es kamen Briefe. Dann keine mehr. Zuwenig geflennt, zuwenig gewartet, Soldat. Hast du geschrieben? Nein. Und gewartet? Ja. Der Schreiber holte die Post. Sie

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lernte Krankenschwester, wollte Medizin studieren. War fröhlich, lachte gern. Sah gut aus. Hatte einen schönen Namen. Sie hieß Eva Blau. Und jetzt noch das Gedicht von Brecht mit der Wolke, sehr weiß und ungeheuer oben. Nein, nicht. «Ihr mit eurer Armee», hatte sie gesagt, «immer davon sprechen, ich weiß nicht, immer nur davon.» Eva Blau. Irgendwas Schönes. Was denn? Weiß nicht.

 

Auf der Lagerstraße treffe ich Jochen Gierka, Feldwebel Gierka, mit Stahlhelm und Taschenlampe, Offizier vom Dienst. Seelingstädt. Mit ihnen bin ich zusammen, sie treffe ich zu meiner Zeit auf der Straße.

G.: Und, wie steht's? 
Na ja.
G.: Klingt nicht sehr heiter. 
Nein.
G.: Beschwerden? 
Das nicht.
G.: Stefan sagte, du willst Genosse werden? 
So?
G.: Stimmt das nicht? 
Ich überlege.
G.: Finde ich gut. Man übernimmt Verantwortung. 
Auch für das hier?
G.: Wie meinst du das? 
Unterschiedliches Essen, Abstufungen jeder Art...
G.: Wir sind bei der Armee.
Einer im vorigen Lehrgang soll sich das Leben genommen haben...
G.: Ich brauche dir doch nicht zu sagen, daß es Probleme geben kann. Auch persönliche Konflikte.

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Das kann man nicht der Gesellschaft anlasten, gar der Partei... Suchst du Negatives? Irgendwie kommt es mir so vor...

Was heißt suchen...
G.: Doch, seitdem ich dich kenne...
Soll ich die Augen verschließen?
G.: Nein, wer sagt denn das. Das sind wieder Übertreibungen. Als Genosse...
Bin ich noch nicht.
G.: Du solltest dir das überlegen.
Tue ich.
G.: Kopf hoch, bald vorbei...
Das sagst du?
G.: Warum nicht? Truppendienst war nie mein Traum. Notwendig ja... Komm mal zu uns...
Wohin?
G.: Auf unsere Stube, wir reden mal, spielen 'ne Runde Skat.
Zu den Offizieren darf man rein?
G.: Rede doch nicht so. Wir sind in einer Seminargruppe.
Hier nicht.
G.: Aber bald wieder... Nicht übertreiben bitte...

Einladung zum Skat. Gierka, Lehmann, Wiegand als Gastgeber. Ist das jetzt mein Weg? Dazugehören. Wozu... Diese Nähe...

 

Assoziationen. Der Vater als Lehrling im Elektrogeschäft Kluge mußte kehren und kehren... Die Wehrmacht empfand er als Erleichterung, als Weg aus bedrückender Enge. Wenn dann noch ein Offizier sagte:

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«Sie haben Fähigkeiten, machen einen Funkerlehrgang bei der Luftwaffe», war Dankbarkeit da, Aufatmen, Selbstgefühl, Treue. «Er war vorgesehen als Wetterfrosch, Flugleiter in Amsterdam, nach dem Krieg. Den hat Hitler verloren...» Stimmen aus der Verwandtschaft. Als Kind: «Amsterdam? Wo ist das? Im Westen? So was!» Der eigene deutsche Vater in Amsterdam! Später Erschrecken. Ein Verwandter: «Und was machen die Russen, die Amis, der Franzmann? Bleiben auch in ändern Ländern. Da ist es erlaubt. Nur bei uns...» 

Und: «Die Weimarer Republik ist gescheitert, zu schwach, die Sozis wurden nicht fertig mit den Problemen, die Arbeitslosen. Und fünfundvierzig von den Kommunisten einwickeln lassen, wieder nichts...» Leise Stimmen. Haß. Ducken. Angst. «Demokratie geht nicht, sieht man ja... die im Westen streiten sich so lange, bis alles zusammenbricht. Dann kommt der Russe...» Immer noch... auch hinter Parteiabzeichen. Nicht erlöst, nicht befreit, nicht überlebt. Keine offene Atmosphäre. Keine Rede und Gegenrede. Keine Toleranz, keine Konfliktbereitschaft. So oder so. Dazwischen ist nichts. Ehemalige Opfer sind an der Macht. Das verquälte Kuschen vor ihrer Stärke. 

Ulbricht. Stalin... Das Tuscheln über ihre Untaten, die es offiziell nicht gibt. Auschwitz gibt es, Buchenwald: Gedenkstätten. Das Eigene wird weggedrückt, heimliche Vergleiche, Aufrechnen, verstockte, verbogene Geschichte. Plötzliche Zugehörig­keit: «Ewige, unverbrüchliche Freundschaft mit dem Lande Lenins.» Der Krach am Abend­brottisch. Das Blauhemd auf dem Bügel. Der Ekel vor Befehlen. Vor Fassonschnitt. Vor Hundert­prozentigen. Vor heimlichen Nazis. Das beleidigte, verkniffene Gesicht dieser neuen Gesellschaft. Als Männergesicht gerahmt an der Wand.

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Vorher Hitlers Gebrüll. «Nationalsozialismus». Die Begeisterung von Millionen. Unheimlich. Lastend. Die gereckten Arme.

Einen Spiegel bitte. Das Überernste, Vorwurfsvolle, Humorlose als Überrest, als Nachwirkung? Auch die übergroße Angst, der ständige Blick nach oben? Alte, alte Kinder. Und das eigene Gesicht? Die eigene Macke? Wir sind die Nachgeborenen... weggehen, lösen als Variante...

Es soll gleichgültig werden, die Macht verlieren.

Man kann nicht diskutieren. Entweder Krach, Türenschlagen, Ausziehen, die private Variante. Oder Einsperren. Bedrohen, die staatliche Variante. Kein Probieren, Hören, Nachdenken. Ausnahme: die Großmutter! Gute, gute Großmutter! Eine hat durchgesehen. Und Kuchen gebacken. Und nicht gedroht mit den Augen. Und darüber geredet ohne viel Angst, ohne Haß. Im Bündnis mit einem freundlichen Gott.

Wer abweicht, muß sterben. Ich spüre den Vorwurf, die Todesdrohung: der Andere, Fremde... ordnet sich unter oder «muß weg», «kann sich nicht halten». Manchmal Mitleid.

Hugo Wettig aus der anderen Seminargruppe, zehn Prozent Sehkraft, eine Lupenbrille, die Augen irren umher, von Seelingstädt freigestellt. Anfangs stellte er kritische Fragen, dann spielte er mit Lehmann und Gierka Skat, wurde aufgenommen in ihre Gemeinschaft, «aufgebaut». War selig. 

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Wurde Kandidat, entwickelte einen plötzlichen, unerbittlichen Optimismus in allen «Grundsatzfragen». Möchte eine Dissertation schreiben und Forschungsstudent werden... «jeden gewinnen, keinen zurücklassen»... sie machen ein Angebot ...

Unterwerfung? Karrierestreben? Vielleicht eher <Hingabe>, Identifikation mit Personen der Macht (auch welchen, die ihr dienen) auf einer persönlichen Ebene. Es wird <du> gesagt. Gierkas Weg ist ein möglicher, Bahr und Kohl reichen sich die Hand, Armeen gibt es überall. Warum wehrst du dich gegen diese verständnisvolle, relativierende Betrachtungsweise? Du willst nicht wie Gierka werden. Warum nicht? Er ist gehorsam. Gehorsame Leute können keine guten Gedichte schreiben. Du willst nicht den <Oktoberklub>, du willst Biermann.

Selber denken.

Gefahr: Verhärtung, <Klappe runter>. Man wird wie sie.

Etwas anderes: Solche wie Specht unterstützen. Reingehen und den Rausschmiß riskieren, diskutieren. Wenn sie mich reinlassen. Gierka wird seine Zweifel haben. Braun, Christa Wolf, Kunert sind in der Partei. Biermann, Havemann und Kunze waren auch: rausgeflogen, ausgetreten. Kunze achtundsechzig, nach dem Einmarsch der Truppen in die Tschechoslowakei, schickte sein Parteibuch zurück... Merkwürdig: Ich wende mich ab und denke über Parteieintritt nach. Warum? Will ich persönlich erleben, was da los ist? Das Geheimnis soll weg. Gibt es Wege außerhalb des Systems?

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Bin gespalten. Doppelte Buchhaltung, doppeltes Handeln. Psychiatrie läßt grüßen. Wo liegt meine Identität, wer bin ich? Schriftsteller? Im Schreiben ist die Entscheidung gefallen: keine Kompromisse. Diese Aufzeichnungen fortsetzen. Sich dem Papier wirklich anvertrauen, dieses Risiko eingehen... Und politisch, in der <Kunst des Möglichem? Taktieren, schlau sein? Den Weg durch die Institutionen versuchen, <Marsch> will ich nicht sagen, zu militärisch. Brechen, offen <Nein> sagen? Ich zögere, möchte das den anderen überlassen, der anderen Seite. Und die Folgen?

Wer redet so? Einer in Uniform. Ein Student im zweiten Studienjahr, der Schriftsteller werden will, große Pläne hat. «Se wolln wohl zur Prominenz ge-hörn, nee, daraus wird nischt.»

Lyrisch werden, höhere Gefilde aufsuchen? <Sinn und Form>? Dieser Alltag ist mein Thema. Ich bin ein Teil meines Themas: ein Niemand, ein Garnichts, irgendein Student, der Gedichte schreibt, die er <im Rahmen der Poetenbewegung zur Diskussion stellen kann>. Seminarleiter: Günter Deicke, Martin Viertel, Reinhard Weisbach. Blauhemd ist mitzubringen. Verantwortlich: FDJ-Zentralrat. Jedes Talent wird ins Schweriner Schloß eingeladen! Angela Davis sitzt in den USA im Gefängnis, vielleicht fällt ein Solidaritäts­lied ein mit Durchschlag an die Junge Welt. Oder etwas über Liebe und Natur. Du bist hingefahren, warst ein junges Talent, durftest nach Jena zum Studium und auch nach Schwerin. Pannach hast du dort getroffen, Pietraß, Rosenlöcher, Sparschuh, Gabriele Eckart, nicht nur Idioten. Das blaue Hemd mit dem Emblem hast du zu Hause gelassen. Du hättest es auch

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mitgenommen, so war es nicht. Das Kasernengemache vergessen, die Erlebnisse abstreifen, eine Hoffnung haben, vielleicht sind es doch bloß <Fehler>... die sehnsüchtige Bereitschaft nach Versöhnung... Aber wie starr saßest du vor dem Papier, etwas stimmte nicht. 

Einer brachte kaum lesbare Abschriften mit Gedichten von Helga M. Novak: 

«bei Nacht gehen Boten um / erfaßt sind die Bewohner / in Stadtplan und Adreßbuch // Broschüren Statistiken Revuen/verstopfen die Briefkästen/und die Schlitze der Türen // ein Bergmann lachend mit Blumen/ein Präsident lachend mit Kindern/ ein Bauer lachend mit Blumen / ein Nationalsoldat lachend mit Kindern // die Kanonenrohre des Nachbarn/die Abschußrampen des Gegners / die Düsenjäger des Feindes / die Lunte eines Saboteurs // Diplomatendiener stehlen einander Listen / mit deinen und meinen Namen // bei Nacht gehen Boten um». 

Solche Gedichte warfen alles um, was zusammengezimmert wurde in versöhnlicher Absicht. Es geht nicht halb, nicht verdeckt, nicht verlogen: Helga M. Novak, Sarah Kirsch: «verstopft/Augen und Ohren mit Gras die Zeitungen sind leer/eh sie hier ankommen der Wald/hat all seine Blätter und weiß/nichts vom Feuer».

Wieder Kaserne. Lindner, die Sturmbahn, all das. Es fragt keiner. Borchert an die Front. Radnoti ins Lager, Schalamow nach Kolyma. Das ist euer Literaturinstitut, warum soll einer verschont bleiben? Weil er Gedichte schreibt? Weil er vielleicht irgendwelche Aufzeichnungen macht? Schonwald kommt, fragt, was ich mache.

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Selten Kontrollen. Nieselregen. Uniform feucht. Trocknet schlecht. Übertreibe ich? Kämpfe an gegen einen psychischen Mechanismus, der wegsteckt, für normal erklärt, für alltäglich, was nicht hingenommen werden dürfte. Den Augenblick halten, manche Sekunden zählen, Ausdrücke, Kleinigkeiten... Die meisten hier können sich eine andere Zeit, Gesellschaft etc. nicht vorstellen. Auch keinen anderen Sozialismus. Keine Phantasie, keine Hoffnungen, keine Kenntnisse. «Es ist so.» Das Faktische hat übergroße Macht. Der einzelne kommt sich klein, unbedeutend vor, ohne Einfluß auf Geschichte. «Es passiert.» Ulbricht und Honecker werden nicht als vergleichbare, fehlbare Menschen wahrgenommen. Die Hierarchie wird akzeptiert, gelebt, gestützt. Literatur sägt an dieser Lethargie, will ermutigen. Sie ist unnütz, aber human, den Opfern nahe. Dieser Staat, diese Partei ist nicht <links>, Macht wird gebraucht und angestrebt: <Zentralkomitee>, <Zentralrat>. Dazu noch die Büro-Vokabeln. Reingehen und sehen, was sie tun. Erleben, analysieren, beschreiben. Das Thema auskundschaften. Veröffentlichen.

Was wird aus dem Kundschafter?

Er könnte sich eine Geheimsprache zulegen. Auf Poet machen, sensibel und so weiter, der <das Gute will> und subjektiv mit einigen Maßnahmen nicht ganz klarkommt.. .>. In einer eigenen Sprache leben, Monologe führen, Formen finden, das <&> als Schreibmaschinenzeichen, antike Stoffe bearbeiten. Brecht verehren, nicht viel Neues für möglich halten. Brecht ablehnen. Warum nicht.

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Mich interessiert, wie ungeniert, wie offen der Alltag dieser Unteroffizierswelt ist. Die Wirkung von Wiederholungen, von Drohungen, die Primitivität ihres Selbstlobs. Der Kontrast zu dem, was man sonst spricht und denkt. Die Frechheit ihrer Einwortsätze. Das Banale ihrer Angstmache und Kumpelhaftigkeit. Das Trübe ihrer Klarheit, ihrer Linien und Losungen, das Verrätselte, Hochmütige ihrer Einfachheit. Die Komik ihres sozialistischen Realismus>. Haben sie die Aufklärung für sich gepachtet? Ausgerechnet sie mit ihren Referaten und schlechten Reden?

Eine einzige Rettung. Nach der Vergatterung, zwischen fünf und sechs, erfuhr man, wer OvD war. Einer sah ihn, er war an der Rüstung zu erkennen: Stahlhelm, breiter glänzender Ledergürtel, Pistolentasche. Hösel sah ihn, wenn er von der Garage kam, oder Trenske, sagte es den anderen, beruhigte, warnte. Ein <Offizier vom Dienst> lief im Kasernengelände herum, er konnte plötzlich auftauchen, Stubendurchgänge machen, Kontrollen, es war gut zu wissen, wer da herumlief. Eingeteilt wurde in <friedlich>, <Vorsicht> und <geht>. Firle zum Beispiel, der kleine rachsüchtige Stabsfeldwebel aus der Nachrichtenwerkstatt, fiel unter (Vorsicht! Sportoffizier Windisch, ein Leutnant mit kurzen blonden Haaren, Messerformschnitt, Spitzname <Sonnyboy>, meist lächelnd, kam eine Krankenschwester aus dem Med.-Punkt, grüßte er, sprach sie an oder sah ihr nach, galt als <friedlich>.

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Eines Abends stand Windisch kurz vor zehn in beschriebener Montur im Zimmer vierundzwanzig des Plauener Neubaus, im Zimmer der Funker, Biellau kehrte gerade den Fußboden, «Achtung», ich lag im Schlafanzug auf dem Bett, stand auf, Windisch winkte ab, hatte eine Taschenlampe in der Hand, schaltete sie an, obwohl die Deckenbeleuchtung brannte, funzelte im Zimmer herum, drehte sich zur Tür, sah eine ziemlich große Fotografie hinter Glas, eingerahmt, ein wildes Porträt, Che mit fernem Blick, Hochglanz, seine Mütze, der weiche entschlossene Heldenmund an der Wand einer neueren deutschen Kaserne.

«Ach», sagte Windisch und knipste seine Taschenlampe aus.
«Kämpfer der Befreiungsbewegung», sagte ich.
«Schon jemand gesehen?» fragte er.
Ich nickte.
«Und?»
«Keine Beanstandungen...»

Rödiger hatte gegrinst und gefragt, war gegangen, kopfschüttelnd. Am nächsten Tag war ein Politnik gekommen, der hatte etwas über Fidel Castro und «die spezifischen Probleme des Kampfes in Südamerika» geredet. Mir gefielen vor allem die Mütze und die langen Haare, ein anderes Gesicht als Firle. Und das Aufsässige im Blick. Und daß man wahrscheinlich nichts direkt gegen ihn sagen konnte, auch wenn er nicht auf Parteilinie lag. Aus anderen Stuben kamen sie und grinsten, freuten sich. Eine Provokation hing an der Wand, «wie der aussieht». So durften wir nicht aussehen, wir braven Kämpfer. Windisch nickte, sagte «so» und «na ja», ging.

Ein paar Tage blieb das Foto hängen, dann war es weg. Holzrahmen und Foto weg, auch der Nagel weg.

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Ich hatte Che Guevara mit einer Rasierklinge aus einem Bildband entfernt, samstags, allein in der Bibliothek. Ein nagelneues Buch, Sachbeschädigung, hätten sie sagen können. Aber wer wußte schon von diesem Bildband über Kuba, in einem Korb, ganz unten, hatte ich ihn gefunden, das verwegene Bild zufällig entdeckt.

 

Windisch holte etwas später Heinz Hacker und mich in seine <Sportauswahl Leichtathletik>, erst sollten wir ein paar Tage in Johanngeorgenstadt trainieren, dann in Rudolstadt an der <Armeemeisterschaft des südlichen Abschnitts> teilnehmen. Hacker sollte die längeren Strecken laufen, ich hundert und zweihundert Meter. Zehn oder zwölf waren wir, aus verschiedenen Einheiten. Johanngeorgenstadt! Zweiter Besuch! Und nicht als Neuer, nicht als <buntes Laub>, das man herumscheucht <bis die Blätter fallen>, sondern als Sportler, als Spezialist, gute Verpflegung, kein Kasernendienst, Training, untergebracht im <Gebäudeteil Ortsmitto, nicht in den eingeschossigen Häusern, die ich kennengelernt hatte... Läufe, Staffel, etwas Krafttraining, abends Freizeit, Privilegien! <Lenz>! Wie gut das schmeckte, wie versöhnlich das stimmte. Anderen geht es anders, man hat es vor Augen, so war es einem auch ergangen, aber jetzt nicht mehr! Und das war nicht schlecht! Warum auch? Sollte man die milde, liberale Zeit nicht genießen, nur weil sie nicht für alle galt? Ein bißchen wegsehen mußte man, wenn die <Eilmärsche> vorbeistürmten, Unteroffiziere wie Hundehalter daneben, Pfeifen in der Hand... Ein Posten, ein Job, eine Ausnahme, ein Extragang, das ließ sich schon verkraften, da kam man nicht um vor schlechtem Gewissen... 

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Windisch verschwand abends mit einem Lächeln, <Frauen>, um so besser, so waren wir ganz ohne Aufsicht. Die Kasernenoffiziere waren für uns nicht zuständig, wir kamen aus dem Regiment, galten als Trainingslager. Entweder spielten wir noch Fußball oder gingen zeitig schlafen...

 

Von Windisch will ich erzählen, dem Sportoffizier, von meiner kurzen Rückkehr ins Erzgebirge als Privilegierter. Aber immer muß ich an diesen Samstag denken, er drängt sich dazwischen, in Briefe an Eva, in Wochenenden, in andere Tage und Zeiten... Sie hat gelächelt, nicht gefragt. Wahrscheinlich nicht verstanden, was ich meinte. Ich machte Andeutungen... dunkle, wirre Töne, die lahmten und verwirrten... Was sollte sie auch sagen? Bis Mittag hatten wir Training, dann Essen, dann Freizeit. Heinz Hacker hatte sich aufs Bett gelegt, ich stand am Fenster, Windisch war schon wieder gegangen, ein Hund bellte in größerer Entfernung, Montag sollte es nach Flauen zurückgehen, am folgenden Wochenende zum Sportfest nach Rudolstadt. In der Nähe des Zauns spielten einige Soldaten Fußball, Bunte. «Haben die etwa schon Freizeit?» fragte einer von uns etwas höhnisch. «Wir rotierten samstags immer bis nachmittags, Stubendurchgang, drei, vier wurde es immer...» ... «tagemäßig ziemlich schwerfällig», befand ein anderer, Schober aus Magdeburg, Lehrer und Schreiber in einer Grenzkompanie, Hochspringer. «Spieln wir bissel?» fragte Hacker. «Gegen die?» fragte Schober. Hacker nickte, stand auf, zog seine Fußballschuhe an. Er hatte seine Fußballschuhe mit, alte, ausgelatschte Dinger, «durchgedrunscht», wie Hacker sagte, der schnelle Rechtsaußen und Torschützenkönig. Fußballspielen wollte er immer, auch bei Regen, bei schlechter Laune, dribbeln, Flanken geben, einköpfen...

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Die drei Schüsse waren kaum zu hören, etwas dämpfte den Schall.

Der Posten am Tor war tot, seine Herzteile hingen oben im Postenpilz, der war grün, ganz grün wie Bäume und Sträucher. Wir rannten hinunter, sahen es, hatten die Schüsse gehört. Drei Schüsse, keine Schreie, der Posten am Tor hatte nicht geschrien, als er starb vor unseren Augen. Und ganz nahe bei denen, die Fußball spielten, ganz nahe, zwanzig, dreißig Meter von ihnen entfernt, einer schüttelte immer den Kopf, «das gibt's nicht, das gibt's doch gar nicht», lief dann weg, hatte irgend etwas zu tun, schüttelte den Kopf, kam wieder, blieb etwas entfernt stehen, schüttelte den Kopf.

Daran muß ich immer denken. Alles andere ist vielleicht sinnlos, unwichtig, Gerede. Obwohl es dazugehört. Das Fußballspielen, der Postenpilz, die Soldaten mit ihrem Lederball, Hacker, der aufstand und seine alten Schuhe aus dem Schrank holte, ich am Fenster, Schober mit seinen Reden, der eigentlich Lehrer war und einsneunzig übersprang mit Wälzer.

Abends im Essenraum war es still, etwa sechzig saßen an Tischen und kauten, wir etwas abseits, in Türnähe, zwei große Wurstteller vor uns, freie Auswahl. «Kein Grund zur Panik, Genossen», sagte ein Oberleutnant, ein wenig bebte die Stimme, «er war schwermütig veranlagt, das kommt vor, ein Einzelgänger, nahm sich alles sehr zu Herzen, zu Hause stimmte etwas nicht... und überhaupt, was weiß denn ich, was sich so einer dabei denkt...» Noch ein Tritt. «So einer»... 

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Draußen hatte man die Lautsprecher eingeschaltet, Musik, Schlager und Märsche. Als wir in die Unterkünfte zurückgingen, überholten uns zwei Unteroffiziere und redeten laut über «diese Schwächlinge, denen man eben keine scharfe Munition geben kann...». Daran denkst du, wirst nicht fertig mit dieser Geschichte. Von zwei anderen Fällen hast du gehört. Auch hier in Seelingstädt, beim letzten Lehrgang, muß etwas passiert sein... Was war los mit diesem Posten am Tor? In der Kantine hatte Hacker andere Soldaten gefragt, sie wußten nichts. Oder wollten nichts sagen. Es wird dann geschwiegen und von etwas anderem geredet. Eva hat auch nichts gesagt. Was willst du, was soll man sagen? Wer Schuld hat?

 

Windisch kam am nächsten Morgen, hatte <von dem Vorfall gehört>. Verschlafene, gerötete Augen hatte er. Und eine leichte Fahne. Wir trainierten weiter. Er konnte gut rennen, vierhundert Meter vor allem, «man sollte mal Meister werden», sagte er. Leistungssportler, dann Armee. Oder Armeesportklub, dann Truppendienst. Er lächelte, redete nicht darüber, stoppte die Zeit, war locker, ein Trainer, kein Vorgesetzter. Verschwand wieder gegen Abend.

 

Hoffmann aus Reichenbach war drei Jahre älter, er zehnte, ich achte Klasse, Pausendienst im Kartenzimmer, er war der Verantwortliche. Den kleinen Meyer nahm er regelmäßig durch, kitzelte, scheuchte ihn, «Eier massieren huhseisassasa». Hoffmann kam auf die Sportschule nach Karl-Marx-Stadt, Mittelstrecke, Kreismeister war er geworden, Silbermedaille im Bezirk bei der Spartakiade, Teilnehmer in Berlin, Hoffmann war ein Talent, das sprach sich herum, «auf der Sportschule...». Es klang wichtig, nach Meisterschaft und Olympiade, nach Westreisen und eigenem Auto.

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Einer aus dem Nachbardorf, aus Limbach, war schon Kugelstoßer geworden, startete <auf DDR-Ebene>, mit siebzehn sah er aus wie dreißig, Muskeln, Kraft, Körpergröße, wo kam das so schnell her, <der trainiert>, hieß es. 

Hoffmann, Bonk, wichtig war das, man suchte in der Zeitung. Und fern war es, in Berlin oder Karl-Marx-Stadt. Und nahe, aus der Wiesenstraße, aus Limbach. Und etwas unheimlich: Einer veränderte sich, wurde ein Athlet, ein Riese wie Bonk, eine Berühmtheit...

Nach zwei Jahren war Hoffmann wieder in der Stadt, blieb, arbeitete in den Druckwerken an der Werdauer Straße. «Zuviel Wasser getrunken nach dem Training», sagte er mir, ich war Oberschüler geworden, etwas älter, nicht mehr Kartenzimmer achte Klasse, man konnte mit mir reden, und sportlich war ich auch, <Einheit Reichenbach>, Training Donnerstag siebzehn Uhr.

 

«Sie haben mich fallengelassen», sagte Hoffmann und sah merkwürdig aus, älter, ein Verlierer, «erst viel Wirbel, dann Arschtritt», sagte Hoffmann, «Gewichtsprobleme, Verletzungen, na ja, habe das aufgegeben...» Mit Mädchen lief er herum, eine kannte ich aus dem Bad, Brille, lange Haare, ziemlich jung, rennen sah ich Hoffmann nie wieder in sportlicher Absicht, hinter Mädchen rannte er her, heiratete die mit der Brille, wurde Offsetdrucker, später Gewerkschaftsfunktionär, zuständig für Urlaubs­plätze. Und Obenauf. In Rudolstadt die Wettkämpfe, Armeesport, vierter Platz über einhundert Meter, achter über zweihundert, Windisch war mit mir zufrieden. Er scheiterte im Vierhundert-Meter-Vorlauf. Ein blonder, kurzhaariger Offizier, der Windisch sehr ähnlich sah, gewann die zweihundert Meter mit klarem Vorsprung.

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Ein wenig dünner, drahtiger war er als Windisch, und nicht sehr freundlich sein Blick, kein Lächeln, als er gewonnen hatte, unzufrieden sah er aus, enttäuscht, hart. «War Olympiakader», sagte Windisch. Und das hieß: Hatte Pläne, aus denen nichts wurde, was ist das hier, <Armeemeisterschaft südlicher Abschnitt>, zum Lachen ist das, Kleinbrezelsdorf, ich bin international gestartet. Und Obenauf. Hacker kannte ihn von zu Hause, Nachbarort, glaube ich. Über dreitausend Meter hatte er gewonnen, Hacker war zwölfter geworden mit einer Runde Rückstand, «mit sechzehn lief er Klassezeiten», wußte er von Obenauf.

 

Über Mittag standen wir ein wenig zusammen, aßen eine Bockwurst, Hacker kannte ihn wirklich gut. «Ich trainiere jeden Tag», sagte er zu Hacker, «will hier schnell wieder raus, unbedingt... Offiziersschule ist nichts für mich... die haben mich eingewickelt... noch bin ich nicht zu alt, das werden wir ja sehen, einundzwanzig ist kein Alter für längere Strecken, bei Turnern ist das was anderes, bei Schwimmern... jeden Tag drei, vier Stunden... ich muß den ganzen Ablauf mitmachen, die Ausbildung, ziemlich viel... vor dem Wettkampf hier haben sie mich trainieren lassen, auch Richtung Armeemeisterschaft... aber danach... ich kann es schaffen, Krafttraining, Ausdauer, daran hat es gehapert... und Verletzungen, Sehnenriß ... Kaserne ist nichts für mich... die haben mich überredet... Plauen ist kein Trainingszentrum, ich bin auf dem Abstellgleis... aber wir werden sehen, ich schwöre es, du wirst es erleben, Heinz... ich schaffe es... Klasseform, das ist meine einzige Rettung...»

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Hastig sprach Obenauf, sah uns nicht an, stand dicht bei Hacker, sagte «Heinz» zu ihm. Klein war er, winkelte die Arme stark an beim Laufen, arbeitete mit dem Oberkörper, stürmte vor, wollte weg, kämpfte im Endspurt, gewann nicht spielend, nur knapp, aber er gewann. Er lief auch eine gute Zeit, qualifizierte sich für die nächste Runde in Leipzig. Vielleicht schaffte er den Absprung.

«Übertrainiert», sagte Heinz Hacker, «zu jung gewesen, viele Läufe, nicht aufgepaßt, sehr ehrgeizig, guter Kerl», sagte er, «wir sind weitläufig verwandt.» Die Offiziersschule, in der Obenauf gelandet war, kannte ich, denn sie befand sich in Plauen. Mit Zahnschmerzen hatte ich einmal die <Sprechstunde für Armeeangehörige> aufgesucht, modern ausgerüstet, nebenan ein Friseur.

Einen hatte ich Runden drehen sehen am Vormittag, vielleicht Obenauf. Ich bin dann noch durch die Stadt geschlendert, die Regimentskaserne lag auf der anderen Seite, ich ließ mir Zeit, eine Bockwurst, Buchhandlungen. Obenauf hatte keine Zeit, er wollte wieder der Schnellste werden. Zumindest einer der schnellsten. Wenn er da herauskommen wollte. Unterschrieben hatte er, für viele Tage unterschrieben, für ein ganzes Leben womöglich. Für viel mehr Tage, als ich abzuschneiden hatte vom Bandmaß. Darum beeilte er sich auch so, quälte sich ab, arbeitete mit den Armen, drehte eine Runde nach der anderen, wollte es erzwingen. Er tat mir leid, als er neben Hacker stand. Seinen Namen, ich erinnerte mich, hatte ich in der Jungen Welt gelesen, mit sechzehn, siebzehn schon eine Berühmtheit, Heinz-Florian Oertel wird seinen Namen genannt haben bei Übertragungen, freundlich, vielleicht begeistert, stolz wird er seinen Namen genannt haben, «unsere Jungs», das klang gut, nahe, familiär.

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Wie bei den Berichten über die Friedensfahrt, «unsere Mannschaft im blauen Trikot, Klaus Ampler in der Verfolgergruppe»... da freute man sich, war verbunden, gehörte dazu, stand an der Straße, saß vor dem Radio, dem Fernseher.

In Sportsendungen war Obenauf vielleicht auch erwähnt worden, die Eltern hatten es gehört, die Nachbarn... der berühmte Sohn... Du hast ihn sprechen hören in Rudolstadt, Heinz Hacker stand neben ihm. Es klang etwas anders. Es war später, danach, nach den Klassezeiten, den Rekorden, den Trainingskursen, nach dem Stolz, den Erfolgen, nach Heinz-Florian Oertel und Täve Schur. In einem späteren Alltag war es, in einer kleinen Stadt in Thüringen, in einem mittelgroßen Stadion mit Holzdachtribüne, auf einer gut gewalzten, mittelmäßigen Bahn...

Und dazwischen diese Geschichte. Auf den Lauf wird er sich gestützt und abgedrückt haben, der kleine Hebel an der Seite auf Dauerfeuer, zufällig, mit Rumspielen, geht das nicht. Vielleicht hatte er Ärger mit dem Unteroffizier, wollte nach Hause, nicht Wache schieben, die Freundin schwanger, die Eltern komisch, vielleicht mußte er weg und durfte nicht. Der Unteroffizier hat es nicht gewußt, oder gewußt und vergessen. Oder vergessen und wieder gewußt und für scheißegal erklärt, er konnte es sich auch nicht aussuchen. Oder der Spieß hatte die Einteilung gemacht. Wenn es so war, was beweist das? Wo kann es nicht passieren? Was ist in anderen Armeen? Härten gibt es nicht nur beim Wacheschieben, als Posten am Tor, samstags, wenn die Pärchen auf der Straße vorbeigehen, andere ihren Urlaubsschein vorzeigen und wieder andere Fußball spielen. Vielleicht hatte er doch rumgespielt, das Magazin verwechselt, einer im Wachlokal wollte Scherze machen.

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Ja, das sagte Weidauer, als wir ankamen im November: «Damit wir uns gleich richtig verstehen: Wer hier durchdreht und Faxen machen will, der muß sich schon was Besonderes einfallen lassen, hier gab's schon alles: Aufhängen, Fenstersturz, Tabletten, auf Wache abknallen, alles schon dagewesen.» Das sagte er. War nicht der Schlechteste, hat Pausen gemacht im Gelände, selten einen bestraft. Wollte in seinen Spind einen Fernseher einbauen, heimlich. Mich hat er ausgewählt zum Saubermachen der Unteroffiziersstube, er lag mit Stiefeln auf dem Bett, früh Feuer machen, abends Holz bereitlegen.

In Plauen Grenzalarm, Wochenende, Ausgangs- und Urlaubssperre, einer ist abgehaun. Und durchgekommen, heißt es. Alarm beendet. Einen Major siehst du stehen, als du aus dem Funkraum kommst, er macht Meldung, steht stramm vor dem Regiments­kommandeur, der eingetroffen ist mit Fahrer und Wolga, jünger als der Berichterstatter, der da steht, die Hand am Mützenrand, schuldbewußte Stimme: «Ich melde einen Fehler, Genosse Oberstleutnant.»

Der Fehler hieß Weidauer. Mit einem Arbeitstrupp an die Grenze, in seine alte Kompanie, man hatte ihn ja abgelöst, ins Ausbildungslager zurückverfrachtet aus irgendeinem Grund, dann dieser Auftrag, wieder war er an der alten Stelle, da ist er abgehaun bei Nebel, kannte sich gut aus, wurde nicht mehr gesehen, nur die Stiefelspuren wurden noch gesehen.

Als ich es hörte, mußte ich grinsen, schief und hämisch grinsen. Die Stubendurchgänge, die Marschübungen, die Politinformationen, die gegrölten Lieder, «zu Befehl, Genosse Unterfeldwebel», der ganze Heckmeck, dann das

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Der OPD, der Offizier vom <Operativen Dienst>, mußte vor der Tür stehen und Meldung machen, als Pabst ankam Sonntag morgen, «Grenzdurchbruch konnte nicht verhindert werden». Er hatte an den Telefonen gesessen im Hinterland, vorn war Weidauer durchgeschlüpft, wie haben sie auch so einen nehmen können für das Arbeitskommando, werden die Heimlichen unter sich geredet haben, Warnungen lagen vor, eine Versetzung, jeder suchte seine Fehler. Oder die der anderen.

Über Selbstmorde hatte Weidauer gesprochen, ganz offen. Vielleicht sollte es eine Warnung sein, ein schockierender Hinweis: «Macht keine Scheiße.» Und die andere Scheiße, die vorn am Strich, wenn hingehalten wird, auf Rücken, Kopf oder Beine? Weidauer hätte es treffen können trotz Nebel, wenn einer aufgepaßt hätte, einer wie Emmerich oder Firle. Dann wäre das anders ausgegangen, Weidauer.

Die Samstag in den Urlaub fahren wollten, durften nicht weg. Da war der Genosse Ausbilder und Unter­feldwebel vielleicht schon in Bayern. Na dann Mahlzeit! Auf dem Weg zum Essen hatte ich es gehört. Und gegrinst, eine Mischung aus Überraschung, Häme und Wut. Setzen sich ab, wir hocken hier, diese Arschlöcher. Das war das Grinsen.

 

<Drüben> war Fremdland, keine Diskussion, keine Möglichkeit. Höchstens eine Kulisse im Fernsehen zu Hause, wenn der Sender Ochsenkopf das Erste Programm ausstrahlte, «Strahlend weiß», «Colgate», «Greife lieber zur HB, dann geht alles wie von selbst», so war es da eben, besser, teurer, Reklame, da war Weidauer jetzt, in diesem Paradies, der Genosse Ausbilder. Grinsen, Haß, Häme, Leere.

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Immer wieder die andere Geschichte, die mit Weidauer zusammenhängt, mit Johanngeorgenstadt, Fußball und Tor. Wir rannten hin, sahen nach oben, die Löcher im Postenpilz, was da hing, rausgerissen, ein Rot, ein dunkles, perlendes Rot, anders als das der Fahnen, wärmer, näher, schrecklicher. Fleischer, Schlachthof, Schlachtfeld, Ende und Krieg bei strahlendem Himmel, hart, endgültig, vorbei. Dreißig Minuten später wurde der Postenpilz abgeschrubbt und überstrichen, die Löcher verklebt, Farbe drüber, kurze Zeit später. Und Sand gestreut. Unten wurde Sand gestreut.

Vietnam, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Korea, KZ, Folter, das ist schlimm. Halt die Schnauze. Halt die Schnauze.

Im Stabsgebäude hingen Bilder, im ersten Stock, im zweiten Stock, in den Gängen, auch im Treppenhaus. Vierzig, fünfzig Bilder, ein Motiv: Lenin. Lenin mit Genossen. Lenin auf einer Bank. Lenin mit Kindern. Lenin lesend und so weiter. Die Rahmen aus hellem, lackiertem Holz, eine Größe, ein Gesicht, aber unterschiedliche Darstellungen, unterschiedliche Zeichen- und Maltechniken, unterschiedliche Maler. Dazwischen Fotografien: Lenin.

Worüber regst du dich auf? Über den Kult, die Zahl, das Format? Wird er so <geschändet>, müßte man behutsamer mit ihm umgehen, sensibler, ehrfürchtiger? Sachlicher? Weniger Pomp, «ihn ehren, indem wir uns nützen»? Laß doch. Soll das alles da hängen. Du hast ihn doch auch gut gefunden, hast in seinen <Gesammelten Werken> gelesen und seitenlang rausgeschrieben, hast den Genossen Lenin zitiert.

Laß doch. Außerdem ist es eine gute Kulisse. Außerdem ist <hängen> ein nettes Verb. Andere wurden erschossen, du pinselst ganze Hefte voll. Soll das alles da hängen. Und sein wie es ist. Es ist die Gegenwart. Und die willst du doch beschreiben. Also beeil dich, die Zeit vergeht, deine Tage sind bald abgelaufen. Auch wenn sie wiederkommen.

Ich komme nicht wieder. Stehe nicht mehr zur Verfügung. Nie mehr. Langsam, langsam, wir wollen sehen. Im Flur: «Kompanie Nachtruhe!» Pack deine Tasche zusammen, die schmutzige Wäsche, überleg dir was für deine Zettel, Hefte und <Briefe>...

Pilz, Schonwald und Schenck spielen Karten, mischen, teilen noch einmal aus, berechnen ihre Punkte. Specht fragt, ob sie uns nach Hause lassen nach «dem heute abend». Pilz: «Ja doch. Die wolln selber heim. Haben doch ihre Koffer auch schon gepackt... Habt ihr gesehen, wie die gekrochen sind...» Er beginnt wieder zu lachen.

21.12.72. Am Tor keine Kontrollen, alles gut. Habe Zivil an, der Zug fuhr pünktlich. Ohne Halt bis Göschwitz. Marianne kam gestern zurück. Ich freue mich. Freue mich.

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 Ende einer Feigheit

 

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