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2   WOLLEN WIR FREIHEIT?

Chorafas-1974

 

Der Mensch in seiner Geschichte

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Wenn wir die Vielzahl und Vielfalt menschlicher Handlungen betrachten, stellen wir fest, daß sie eines gemeinsam haben: Es handelt sich immer um Verhalten, welches das Element Mensch in Beziehung setzt zu seiner Umgebung, zu den gesellschaftlichen und natürlichen Systemen, denen er angehört: Das Handeln des Menschen umfaßt ebenso »instinktive«, oberflächliche oder - in der Mehrzahl - rein gewohnheitsmäßige Reaktionen wie - seltener - Aktionen, die aus langer und bewußter Überlegung hervorgehen.

Jahrhundertelang lebte der Mensch hinter einem Schleier aus religiösen Überzeugungen, Mythen, Illusionen und Vorurteilen - ein Schleier, durch den das Bewußtsein seiner Existenz und seiner Zugehörigkeit zu einer Rasse, Nation, Stadtgemeinschaft, Partei oder Familie bestimmt war. Die einschneidenden Veränderungen, die er im Laufe seiner ganzen Geschichte erlebte, haben sein Bewußtsein verändert und zu sozialen Konflikten und Kriegen geführt. Der moderne Mensch in seiner Massengesellschaft mit immer geringerem Bewegungsspielraum für das Individuum hat zwar dazu beigetragen, diesen Schleier im wesentlichen zu beseitigen, dennoch halten sich noch immer Spuren davon in den Tiefenschichten seines Geistes. Sie sind verantwortlich für die Unsicherheit, den Zweifel, die Frustration, Neurosen und schließlich auch für das neue Gefühl der Vereinsamung inmitten der Masse, das heute die Menschen bedrängt.

Die Vernichtung ganzer Kulturen war eine »Mutation«, ein Betriebsunfall im menschlichen Psychometabolismus. Nach den vier dunklen Jahrhunderten, die auf die Zerstörung der minoischen Kultur folgten und in denen die Kenntnis der Schrift verschwunden war, tauchte das geschriebene Wort wieder auf. Trotzdem blieb die Weitergabe alter Mythen und Märchen noch Jahrhunderte auf mündliche Überlieferung beschränkt, eine Vortrags-, keine literarische Kunst, und jeder solche Vortrag barg seine eigenen Möglichkeiten einer >Mutation<.

Mit der gleichen Leidenschaft, mit der der Mensch baut, ist er an einem anderen Tag fähig, sein Werk wieder einzureißen. Zuweilen führt solche Zerstörung zu Mutationen; in anderen Fällen wird das erworbene Wissensgut verpflanzt, oder es geht für immer verloren. Als Byzanz versank, zogen seine Künstler und Intellektuellen nach Westen und verhalfen der Renaissance in Italien zum Durchbruch. Die Maja-Kultur hingegen hinterließ kaum eine geistige Spur, und dasselbe gilt für das Mali-Reich, das vom 13. bis zum 17. Jahrhundert zwischen Senegal und Niger bestand. Dies zeigt ein Problem auf, dem wir in vielen verschiedenen Formen begegnen: Bei aller Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der menschlichen Art ist die friedliche Veränderung von einer Generation zur nächsten doch sehr gering im Vergleich zu den Gewalten der Zerstörung, die ganze Kulturen auslöschen können.

Der Niedergang eines geistigen Erbes und der Ideen, die es hervorgebracht hat, erzeugt eine Welle von Unsicherheit im menschlichen Leben, vor allem weil es den meisten sehr schwerfällt, über die eigene Nasenspitze hinaus­zudenken. Der Mensch besitzt noch nicht die Fähigkeit, die Natur ganz zu begreifen, geschweige denn die Auswirkungen von Institutionen, die er selbst errichtet. Warum gaben manche Gesellschaften das polytheistische Pantheon auf und ersetzten es durch einen einzigen Gott? Wie überwand das menschliche Geschlecht beim Übergang von der Poly- zur Monogamie die biologische Hürde?

Im polygamen System zeugt der Privilegierte oder Kultivierte, der König oder Häuptling, einen großen Teil der Gemeinschaftsmitglieder, und unter solchen Bedingungen läßt sich in etwa erwarten, daß bestimmte Eigenschaften, wie zum Beispiel die Intelligenz, sich rascher vermehren als unter monogamen Verhältnissen.

Die menschliche Art war viele Jahrtausende polygam, während die Monogamie, in unterschiedlicher Stabilität, erst seit vergleichsweise kurzer Zeit besteht. Ist dies eine Wirkung der Freiheit oder ist es ihre Verneinung?

Karl Popper meint mit Recht, daß die Zukunft von uns selbst abhänge und daß wir keineswegs irgendeiner historischen Zwangsläufigkeit unterworfen seien. Und doch, in den Jahrtausenden, die vergangen sind, seit der Mensch sich seiner bewußt wurde, hat ihn, ungleich mehr als das Freiheitsproblem, die große Frage bewegt: »Was wird die Zukunft bringen?« Diese Ungewißheit ist immer gegenwärtig. Große Organisationsstrukturen, Informations­systeme, gewaltige, miteinander in Verbindung stehende Datenbanken, um aktuelle Beispiele zu nennen, stellen uns nicht nur technische Probleme, sondern auch Fragen, die für die gesamte Zukunft der Gesell­schaft von enormer Bedeutung sind.

Der Mensch kann nur langsam das Dunkel der von ihm selbst geschaffenen Systeme und Institutionen verlassen. Deshalb ist seine Emanzipation als Arznei, die selbsternannte Freiheitsexperten anbieten, so oft von tödlicher Wirkung. Statt einer neuen Rolle für den Menschen und die menschliche Gesellschaft stellt sich eine Krise nach der anderen ein. Jede Befreiungsbewegung, die die Macht erlangt, trägt den Keim zum Machtmißbrauch in sich, der sich messen kann mit den ärgsten Beispielen des früheren Systems, das sie veränderte oder vernichtete.

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Trotzki trat für eine Verbindung Freudscher Theorie mit Pawlowschen Methoden ein, um ein korrektes materialistisches Modell menschlichen Verhaltens zu schaffen, und argumentierte mit dem Begriff des Unbewußten gegen die Theorie einer staatlich gelenkten Einheitskultur. Aber er setzte sich nicht durch. In ganz Rußland wurde mit eiserner Hand diese Einheitskultur geschaffen.

Für Revolutionäre als Individuen wie für Revolutionen überhaupt ist Freiheit nur selten mehr als ein Schlagwort. Die Krisen, denen sich heute die Gesellschaft, ihre Führer und ihre Mitglieder gegenübersehen, haben im Grunde weder mit Politik noch mit Wirtschaft zu tun. Sie gehen zurück auf unsere begrenzte Fähigkeit, komplexe Situationen zu erfassen und anschließend zu meistern; und sie werden kompliziert dadurch, daß der Mensch oft handelt, bevor er erst einmal das anstehende Problem klar definiert.

  »Freiheit von« und »Freiheit zu« 

Unsere Probleme sind nur zu lösen, wenn wir wissen, was wir wollen. Wir wollen zwar Freiheit, aber in welchem Maß? Und welche Art Freiheit? Freiheit von oder Freiheit zu?

»Der Mensch ist frei geboren«, sagt Rousseau, »aber allerorten liegt er in Ketten.« Als Kleinkind ist der Mensch den Jungen vieler Tierarten an Körperkraft und Ausdauer weit unterlegen, unfähig zu sprechen, sich auf den Beinen zu halten oder wegzulaufen. Seine Bewegungsfreiheit ist höchst begrenzt. Allmählich entwickelt sich zwar seine motorische Aktivität, doch er bleibt eingeschränkt in seiner Handlungsfreiheit durch Gehorsam, den er den Eltern, der Gesellschaft, der Religion und anderen Institutionen schuldet. Andererseits freilich kann sich der Mensch niemals geistig entwickeln, wenn er diesen Zwängen nicht ausgesetzt ist.

Die Bibel lehrt, daß der Mensch frei wurde von der süßen Fessel des paradiesischen Zustandes und dafür Nacktheit, Entfremdung von der Natur und Scham eintauschen mußte. Der Mensch löste sich aus der Natur an dem Tage, an dem er lernte zu lernen und zu denken. Aber wenn er auch nicht mehr den Befehlen der Natur zu gehorchen braucht, so muß er doch seine eigenen und die Gebote der Gesellschaft befolgen. Diese Freiheit von bezahlte er mit Mühsal, Schweiß und Angst und mit der Notwendigkeit, seiner Freiheit, tun zu können, was er will, Grenzen zu setzen.

Der Tag, an dem sich der Mensch von der Natur löste, war der Tag seines ersten Befreiungsaktes; uralte Mythen schildern anschaulich, zu welchen Leiden diese Tat führte. Es war der Beginn eines neuen Lebens, aber der Mensch verdarb ihn, denn er sah die Dinge nicht klar und glaubte zu Unrecht, Freiheit von bedeute auch Freiheit zu.

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Die Illusion einer Freiheit von begann mit der falschen Vorstellung, der Mensch habe grundsätzlich die Freiheit, sich zwischen mehreren Verhaltensmöglichkeiten zu entscheiden, einerlei, wie die Situation beschaffen ist. Kaum ein anderer von Menschen geschaffener Mythos dürfte sich so lange gehalten haben. Wir haben uns zwar in vieler Hinsicht geistig und emotional entwickelt, doch wir haben nie den Mut aufgebracht, uns klarzu­machen, was Freiheit eigentlich bedeutet. Schlimmer noch, die Kluft zwischen erworbener Freiheit von und preisgegebener Freiheit zu - der Preis, den wir für unsere Errungenschaften gezahlt haben und noch immer zahlen - vertieft sich allmählich zu einem Abgrund. Je mehr wir uns von Freiheit der ersten Art nehmen, um so mehr vergessen wir, daß Freiheit der zweiten Art existiert.

Freiheit wird errungen und geht verloren. Neuer Kampf ist notwendig, um sie wieder zu erringen. Parallelen im menschlichen Ringen um Freiheit und Aufklärung sind das Griechenland des achten vorchristlichen Jahrhunderts, als Hellas aus seinem Mittelalter auftauchte, und Europa, das mehr als zweitausend Jahre später das Dunkel des Mittelalters verließ. In beiden Fällen spielte sich die gleiche Entwicklung ab. In allen dunklen Epochen konzentrieren sich die Reste der Zivilisation auf isolierte Bollwerke, kleine Oasen inmitten einer Wüste. Die Herren der Welt in solchen Zeiten sind zumeist ungeschliffene, rohe Gesellen - und der Prozeß der Kommunikation ist schwierig und eingeschränkt.

Nur Mythen und Epen bewahren die Erinnerung an den Kampf des Menschen, seine Freiheit von zu sichern. Prometheus, der Bahnbrecher des Denkens, setzte sich über göttliche Weisungen hinweg und wurde zum Anwalt des Menschen. Er verging sich gegen Zeus' Befehl, indem er das Feuer vom Himmel stahl, um dem Menschen auf der Erde Stärke zu verleihen. Zeus verhängte eine doppelte Strafe: über den Menschen und über Prometheus. Der Göttervater rief: »Ich werde den Menschen als Preis des Feuers ein Übel senden; sie werden das Unheil mit verlangendem Lachen ergreifen!« Und so schickte er Eva-Pandora als Stifterin des Unheils, nicht durch ihre angeborene Bosheit, sondern durch ihren Leichtsinn.

Die Leichtfertigkeit, die die Götter schufen, hat der Mensch noch vermehrt. Viele törichte Anschauungen formten sich zu Legenden und verstärkten noch, wie in Feuer gegossenes Öl, die Schwierigkeiten für die Menschheit. Bis heute haben beispielsweise linke Revolutionstheoretiker nicht erkannt, daß ihre veralteten auf Marx basierenden Theorien nicht ausreichen: Ein Umsturz führt zwar oft zu einer Rückentwicklung der sozialen Verhältnisse, sichert aber mitnichten die Freiheit. Freiheit zu ist kein Freibrief für ein Blutbad. Sie wurzelt in der »Gewissensrevolution« im menschlichen Geist, und das Gewissen findet einen besseren Baugrund innerhalb der Einschaft als in der Massengesellschaft der Gemeinschaft, an welche die verschiedenen Verfechter der Gewalt appellieren.

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Es scheint, daß die Gesellschaft der antiken Mythologie wie die heutige in eine selbstgebaute Falle ging. Im Reich der Natur - als Gegensatz zu der Welt, die der Mensch schuf - gilt, daß ein Tier in seinen Aktionen und Reaktionen um so mehr von Instinkt- und Reflexmechanismen gesteuert wird, je tiefer es auf der Stufenleiter der Evolution steht. Je höher der Standort des Tieres, desto flexibler seine Handlungen, desto besser seine Anpas­sungs- und Lernfähigkeit gegenüber neuen Strukturelementen, und - im Fall des Menschen - desto länger der Prozeß der geistigen Entwicklung. Anpassung ist insofern Lernen, als sie auf formaler Ausbildung und Persön­lichkeits­entwicklung beruht. Die Grundkrankheit unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems liegt darin, daß es versäumt hat, die Tür zu ständiger Anpassung offenzuhalten.

  Die Preisgabe der »Freiheit zu« 

Der Mensch in der modernen Gesellschaft ist von der Versuchung, ja zuweilen sogar von dem Verlangen bedroht, seine Freiheit Tyrannen hinzugeben, seien es Menschen oder Maschinen. Der einzelne ist zu einem kleinen, oft bedeutungslosen Element auf der großen Bühne des Uberstaats, der Massenphilosophie, der gigantischen Großunternehmen geworden. In einer Welt, in der Computer mit ihrer überlegenen Rechenfähigkeit am Werk sind, droht dem Menschen ständig die Gefahr, wie jeder andere Automat behandelt zu werden - als ein winziges, austauschbares Teilchen einer ungeheuren Maschine.

In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gaben Millionen von Deutschen willig ihre Freiheit preis und suchten bei der Diktatur Zuflucht vor den Sorgen, die die »Freiheit« bringt. Wenn dies schon in einem Land geschehen konnte, wo Natur- und Geisteswissenschaften in höchster Blüte standen, wie sollen dann erst andere, rückständige Nationen widerstehen? Politische Leidenschaft, Stolz auf die Gemeinschaft, Religionseifer, ein hitziges Volks­temperament und Fanatismus sind die Zuflucht für Menschen, die sich vor dem Alleinsein ängstigen. Und diese tiefverwurzelte Furcht vor der Einsamkeit, die Suche nach Sicherheit um jeden Preis treibt die Menschen zur Gemeinschaft und damit zur Preisgabe der Freiheit und zur Zerstörung des individuellen Selbst. Aber ist die Freiheit von Gott gegeben?

Freiheit, meint Ernst Bloch*, sei kein angeborenes Recht. Ein Anspruch auf Freiheit existiere grundsätzlich nicht, könne jedoch vom einzelnen durch hartes und stetes Mühen erworben werden. Robert Tenenbaum** sagt, ein

* »Naturrecht und menschliche Würde«, Frankfurt 1961.

** Professor an der Graduate School of Business Administration, University of California, Los Angeles.

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Mensch sei frei, wenn er nicht unter Zwang handle, und unfrei, wenn er an der Verwirklichung seiner Wünsche gehindert werde. Aber was heißt Zwang? Die Spielregeln? Dann ist er gut, und Freiheit ist schlecht, denn ohne Regeln kann es kein Spiel geben. Moritz Schlick, ein führender Vertreter des Wiener Kreises, vertritt dagegen den Standpunkt, ein Mensch sei unfrei, wenn er eingesperrt ist oder in Ketten liegt oder wenn ihn jemand mit vorgehaltener Waffe zwingt, etwas zu tun, was er sonst nicht täte.

Die Schule des Wiener Kreises bietet eine umfassendere Deutung: Sämtliche Handlungen seien, wiewohl von außen verursacht, frei, solange sie nicht unter Zwang geschähen. »Frei« ist das »Zwanglose«. Schlösse man jedoch unter »Zwang« auch alles ein, was der Mensch aus Notwendigkeit tut, dann wäre das Gebiet der Handlungen unter Zwang enorm groß. Einstein meinte einmal, was die menschliche Freiheit im philosophischen Verstand betreffe, so glaube er nicht daran. Spinoza schrieb, ein freier Mann sei jener, der allein nach den Geboten der Vernunft lebe. Der Mensch sei zwar insofern unfrei, als er von äußeren Ursachen oder unzulänglichen und unaus-gereiften Vorstellungen abhänge, aber indem er sich diese Vorstellungen bewußter mache, könne er sich von ihnen emanzipieren. Ein in diesem Sinne kulturbewußter Mensch könne in seinem inneren Selbst frei sein, weil er seinen Platz innerhalb eines Bezugssystems kenne - eine Freiheit, die dem Unkultivierten versagt sei.

Freiheit ist nicht »Willensfreiheit«, ist auch nicht Wille, der ganz aus der Selbstbestimmung kommt. Selbstbestimmung ist wie die Autonomie des einzelnen eine Illusion: Kein lebender Organismus - schon um seiner Existenz willen auf die soziale Kooperation mit anderen lebenden Organismen angewiesen - kann eine Selbstbestimmung für sich in Anspruch nehmen, die nicht derart eingeschränkt ist, daß sie praktisch ihren Sinn verliert. Der Mensch richtet sich in seinem Handeln nach seinen Überzeugungen, seiner Stellung in der Gesellschaft, nach seinem Verhaltenskodex, seiner materiellen Situation und nach den allgemeinen sozialen Bedingungen, alles Dinge, die sich nicht wegleugnen lassen.

Man kann sagen, daß praktische Freiheit zwei Aspekte hat, einen begrifflichen und einen empirischen. Bei jenem handelt es sich um die Fähigkeit, Alternativen zu sehen und zu finden, bei diesem um das Vermögen, sich an eine freie Entscheidung zu halten, wenn sie einmal getroffen ist. »Ich bin der Herr meines Schicksals, ich bin der Kapitän meiner Seele«, so sprechen Menschen über ihr bewußtes Selbst, wenn sie Entscheidungen treffen. Das Unbewußte wirkt, als wäre es eine äußere Kraft; und Psychiater erklaren ja auch, daß der innere Tyrann des Menschen, sein Über-Ich, ihn viel arger zu quälen vermag als jeder äußere Despot.
Aus dieser Sicht ist die Freiheit, wie sie die Menschen wollen, die einzige,

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mit der sie sich begnügen, genau jene, die ihnen versagt ist, wie die Psychiatrie sagt. Wenn man einen praktizierenden Psychologen bäte, »frei« und »unfrei« zu definieren, würde er antworten, er pflege die Bezeichnung »frei« überhaupt nicht zu verwenden. Aber wenn er angeben solle, was den Freien vom Unfreien unterscheide, würde er antworten, die Freiheit eines Menschen stehe »im umgekehrten Verhältnis zu seiner Neurotisierung«: Je stärker sein Handeln von einem schädlichen Unbewußten bestimmt werde, um so weniger sei er frei.

Für Spinoza war Freiheit gewissermaßen Selbsterkenntnis: Je besser wir die Ursachen hinter unserem Tun verstehen, um so größer der Grad an Freiheit, den wir erlangen. Es gebe keinen absoluten oder freien Willen, der Geist wolle dies oder jenes aus einem Grund, der wieder von einem anderen Grund bestimmt sei, und dieser abermals durch einen anderen und so unendlich fort. Da der Mensch immer in einem gewissen Maße von äußeren Ursachen beeinflußt sei, könne er keine vollkommene Willensfreiheit besitzen.

Kant wie Leibniz gelangten zu einer ähnlichen Schlußfolgerung. Leibniz vertrat die Ansicht, wir können uns leiten lassen von unserem Verständnis der Vernunft oder würden blind befolgen, was unsere Leidenschaften uns vorschreiben. Je mehr wir entsprechend unserer Vernunft handelten, desto freier seien wir; unsere Freiheit werde dadurch geschmälert, daß wir von Leidenschaften beherrscht seien. Der große Mathematiker lehnte die Freiheit der Indifferenz gegenüber menschlichen Dingen ab und begnügte sich mit der Freiheit, die darin besteht, sich von der Vervollkommnung der eigenen Natur leiten zu lassen.

Für Kant war Freiheit ein Merkmal jenes Handelns, das aus der Eigenschaft der Vernunft hervorgeht, die wiederum allein dem moralischen Gesetz unterworfen sei. Alle anderen Handlungen gingen auf gewöhnliche physikalische Gesetze zurück und seien mithin nicht frei. Bei manchen Aktionen haben die Menschen das Gefühl, frei zu handeln, und diese Empfindung sei eine Realität, die berücksichtigt werden müsse, wenn die Frage der Freiheit erörtert werde. Freiheit möge illusorisch sein, aber das Gefühl der Freiheit sei durch Erfahrung belegt und daher nicht zu ignorieren. Diesem Gefühl stehe gegenüber, daß der Mensch, je mehr materielle Güter er erstrebe, sich desto mehr in eine Gesellschaftsstruktur einfügen und deshalb seine Freiheit zu schmälern müsse.

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   Die hierarchische Struktur  

Im ersten Kapitel, wo von der physiologischen Entwicklung des Menschen die Rede ist, wurde gesagt, daß die natürliche Evolution dadurch möglich wird, daß sich Mutationen stabilisieren und zur Basis für den nächsten Schritt der Evolution werden. Diesen Vorgang gibt es auch in der Physik: Das äußerst stabile Kohlenstoffatom sichert seinen Fortbestand auf Kosten des Heliumatoms, das schrittweise dazu dient, in Kohlenstoff verwandelt zu werden. Es ist, als ob das komplexere Kohlenstoffatom eine Fortentwicklung des einfacheren Heliumatoms wäre (wie es bei manchen Nukleinsäuren der Fall ist), evolutiv begründet dadurch, daß es stabiler ist.

In gleicher Weise befaßten wir uns mit der psychologischen Evolution und betonten dabei einen sehr bedeutsamen Punkt: daß der Psychometabo-lismus ein ebenso bedeutender Prozeß ist wie die Evolution im natürlichen Bereich. Er beruht ebenfalls auf dem Prinzip, daß komplexere Einheiten wegen ihrer Stabilität aus einfacheren gebaut werden. Aber Bauen ist ein Entwerfen, das dem Baumeister keinen allzu großen Spielraum an Freiheit zu gestattet. Innerhalb der vom System, in dem der Mensch lebt, gesetzten Grenzen und nach den Regeln, die für dieses System charakteristisch sind, entsteht eine Gruppe von Ideen, die sich dann entwickeln. Damit sprechen wir nicht mehr vom Menschen als einem unabhängigen Organismus, sondern von der Gesellschaft: ein Konglomerat eigenständiger Organismen und zugleich selbst ein Super-Organismus.

In diesem psychometabolischen Gesamtrahmen bewegt sich der Mensch. Dadurch daß er, von der Wiege bis zum Grab, einen Platz in der Welt der Gesellschaft hat, ist er in der Gesamtheit verwurzelt, von der er ein Teil ist. Wenn er älter wird, akzeptiert er die Identität mit der Rolle, die er übernommen hat, als Lehrer, Richter, Bankier, Künstler, Arbeiter oder Bauer -er fügt sich in eine Schule ein, einen Gerichtshof, eine Bank, Künstlerkolonie, Fabrik oder in eine bäuerliche Gemeinschaft, dazugehörig, darauf angewiesen und bereit zur Unterordnung. Dieses Zusammenleben, Nachahmung von Vorbildern aus der Natur, ist geprägt durch eine soziale Ordnung, die parallel zur Ordnung in der Natur strukturiert und dazu bestimmt ist, den Individuen, die sie umschließt, Sicherheit zu geben.

Diese Struktur begleitet den einzelnen wie eine Ehefrau ihren Gatten durch all die Schwierigkeiten, die er sich erspart hätte, wenn er ledig geblieben wäre. Aber innerhalb des größeren Rahmens einer Gesellschaft kann ein Mensch, der ganz allein ist, sich nicht behaupten. Zwar stehen ihm wie beim Schach viele Züge offen, aber er muß trotzdem die Grundregeln beachten. Diese Regeln sind hierarchisch und können sich nur in Zeiten des Umsturzes verändern.

1795 gab es in Frankreich unter dem Direktorium zwar keine politische,

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aber große »soziale Freiheit«. Das Prinzip der Gleichheit wurde aufrechterhalten, die Vorrechte der älteren Generation galten nicht mehr, uneheliche Kinder konnten Miterben sein. Schließlich führte dieser Zustand zu Streitigkeiten, Unsicherheit und weiteren Schwierigkeiten. Zahlreiche Gesetze wurden erlassen, die jedoch unpraktikabel waren und deswegen nie durchgeführt wurden. Einfallsreiche Köpfe nutzten politische Beziehungen, andere verschafften sich Vorteile durch Geld oder Nötigung, was zum alltäglichen Mittel wurde, um ans Ziel zu gelangen. Es herrschte Unordnung, aber inmitten dieser Unordnung entstand eine neue taxonomische Ordnung, die sich schließlich durchsetzte.

Der Sinn einer taxonomischen-hierarchischen Struktur liegt darin, Stabilität zu sichern. Eine Gesellschaft ohne Gliederung wäre chaotisch, würde an ihren eigenen Gegensätzen zerbrechen und sich auflösen. Doch darf man zugleich nicht vergessen, daß keine menschliche Sozietät, nicht einmal ein totalitäres Staatswesen, monolithisch zu einer einzigen Hierarchie geformt ist. Die Struktur komplexer Gesellschaften besteht aus mehreren miteinander verklammerten Hierarchien: Befehlsgewalt von oben ist nur eine von ihnen. Hierarchische Herrschaftsbefugnis kann sich in Individuen oder Institutionen verkörpern; sie kann starr, elastisch oder anpassungsfähig durch Rückkopplung sein, aber jedwede Hierarchie braucht eine Strukturierung, weil sonst Anarchie die Folge wäre.

Dies ist eine bekannte, aber nicht richtig erfaßte Tatsache, und darum weckt der Gedanke der Beherrschung eines Menschen durch einen anderen bei vielen ablehnende Reaktionen. Wir hängen mit Inbrunst an der Überzeugung, »frei zu sein«, und fürchten das Elend, das »Zwang und Tyrannei« hervorbringen. Dabei aber registrieren wir vielfach nicht, daß wir ständig auf die verschiedenste Weise gelenkt, ja beherrscht werden. Wir werden dirigiert von unseren Eltern, die die Gesellschaft repräsentieren, von Gesetzen und Sitten und irrationaler Beeinflussung durch Mythen und Symbole, die an unsere unbewußten Antriebe appellieren, sowenig diese mit Vernunft und Logik zu tun haben, nach denen wir zu handeln glauben, wenn wir Entscheidungen treffen.

Eine taxonomische Struktur entsteht nicht zufällig. In dem Maß, in dem die menschliche Gesellschaft sich vergrößert und Aktivität entfaltet, werden immer mehr Vorschriften nötig, damit die Mitglieder einiges von dem erreichen, was sie erstreben, und diese Vorschriften erzeugen wiederum neue Formen, Regeln und Beschränkungen. Dies ist der Grund, warum so viele Institutionen, die geschaffen wurden, um die Freiheit zu bewahren oder um den Menschen Angst, Überdruß und Verzweiflung zu nehmen, neue Bedrük-kungen entstehen lassen. Wie das Bessere der Feind des Guten ist, so ist die Freiheit von der Feind der Freiheit zu und wird es auch bleiben.

In diesem Licht betrachtet, scheint sich die Freiheit zu immer mehr zu

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verringern, und sie könnte schließlich völlig verschwinden, wenn die Gesellschaft, in der der Mensch lebt, ganz durchstrukturiert ist. Ein derartiger Schluß beruht jedoch auf der Ansicht, daß Freiheit nur im Reich der Willkür und Zügellosigkeit zu finden sei, während wir doch in Wahrheit nur dann frei sind, wenn wir nach unseren Entscheidungen handeln, wenn unsere Entscheidungen Frucht rationalen Denkens sind, wenn das rationale Denken in der Grundnatur des Menschen wurzelt.

Gesellschaftliches Bewußtsein

Zwei Historiker und drei Philosophen haben zuerst auf die Verbindung des gesellschaftlichen Bewußtseins mit der psychometabolischen Evolution hingewiesen. Der griechische Geschichtsschreiber und Dichter Hesiod rückte als erster die allgemeine Tendenz, welche die Entwicklung des Menschen beeinflußt, ins Blickfeld. Zufällig verstand er es mit großem Geschick, Geschichte zu erzählen, und deshalb ist seine Darstellung der Geschehnisse ungewöhnlich lebendig. Er wählte einen breiten Rahmen, der es ihm erlaubte, weit auszuholen. Hesiod ist als Prophet pessimistisch: Die Menschheit sei dazu bestimmt, körperlich wie moralisch zu degenerieren und damit ihre ganze Freiheit zu verlieren.

Ein anderer griechischer Denker, Heraklit, entdeckte die Idee des Wandels. »Der Kosmos«, sagte er, »ist bestenfalls einem Haufen Abfall vergleichbar, der wahllos herumgestreut wurde.« Er sah die Welt in einem riesigen Umformungsprozeß, alles sei im Fluß. Indem er einen geschichtlichen Zusammenhang herstellte, gelang es ihm, die ursprünglichen schöpferischen Impulse in der vom Menschen geschaffenen Gesellschaft aufzuzeigen. Dies war ein bedeutsamer Durchbruch, da er zu philosophischen Untersuchungen führte.

Dieser Hinweis auf Hesiod und Heraklit ist deswegen wichtig, weil sie die Philosophie Sokrates', Piatons und Aristoteles' beeinflußten, der ersten Denker, die darauf hinwiesen, daß menschliche Institutionen wie Familien, Städte, Nationen und Dynastien der Veränderung unterworfen sind - die gesellschaftliche Umwelt des Menschen besitzt keine allgemeingültigen Definitionen, die zu allen Zeiten und überall respektiert würden. Die Struktur, die Organisation und die Ideen, welche die Gesellschaft beherrschen, sind nichts Selbstverständliches, aber etwas Notwendiges, denn zu ihrer Zeit und unter den gegebenen lokalen Bedingungen sichern sie die Stabilität. »Ein Volk sollte für die Gesetze der Stadt kämpfen, als wären sie ihre Mauern«, sagt Heraklit.

Die Substruktur der Gesellschaft zeigt keine klaren Fundamente; dies

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scheint merkwürdig und gefährlich, wenn wir soziale Gebilde als Analoga zu den physikalischen Systemen und biologischen Prozessen nehmen, mit denen wir so gut vertraut sind. In der Physik haben wir die erste Annäherung an ein völlig stabiles System, wie es sich beispielsweise bei den Metallen findet, oder aber völlige Zufälligkeit, wie sie beim gasförmigen Zustand herrscht. In der Biologie finden wir kompliziertere Situationen, bei denen wir zwei einander entgegengesetzte Wirkkräfte mit ungefähr der gleichen Stärke am Werk sehen - Stabilität und Instabilität. In der Soziologie geht es vor allem um Systeme, die von Zeit zu Zeit ihr Gleichgewicht verlieren. Dies ruft Unsicherheit hervor, da wir uns nicht an einfache Analogien halten können, sondern nur an das Beispiel der Gesellschaft selbst.

Wie können wir uns mit dem Problem der Kontinuität in einer menschlichen Gesellschaft, makroskopisch gesehen, befassen, wenn die Bedeutung der Begriffe »Recht«, »Ordnung« und »Regierung« nicht feststeht? Die Antwort lautet, daß diese Kontinuität nicht real, sondern noetisch ist - wegen der schöpferischen Kraft des Intellekts. Viele Dinge, die in der Realität nicht existieren, erklären sich durch eine Untersuchung des menschlichen Denkens. Sokrates machte sich zum Denker und Forscher, indem er seine Schüler zwang, nachzudenken und die Gründe und Prinzipien hinter ihren Handlungen zu veranschaulichen. Der große Philosoph war selten mit den Antworten zufrieden, die er erhielt; wenn man ihm sagte, irgendein Tun sei »wirkungsvoll«, »tugendhaft«, »klug« oder »heilig«, so fragte er, was diese Begriffe bedeuteten.

So brachte Sokrates als erster das Problem der Definitionen zur Sprache. Er schärfte seinen Schülern die Notwendigkeit ein, nach dem Wesensgehalt von Begriffen und Dingen zu suchen. Piaton erweiterte die sokratische Methode, um die wirkliche Natur zu bestimmen: die Form oder Idee, die verborgene Essenz der Dinge. Und Aristoteles zeigte, daß Piaton sein Grundproblem darin sah, eine wissenschaftliche Methode zu finden, um wahrnehmbare Dinge zu behandeln.

Vor ungefähr 2400 lahren entwickelte sich aus diesem Streben nach rein rationalem Wissen eine wissenschaftliche Arbeitsmethode, was schließlich das Tor zu allem wissenschaftlichen Forschen aufschloß und bis auf den heutigen Tag die Suche nach Wissen möglich macht. Piaton war nicht interessiert an dem, was wir heute exakte Wissenschaft nennen, Physik, Chemie, Mathematik. Sein Ziel war die Gesellschaftswissenschaft; er brauchte eine Theorie der Veränderung, des Entstehens, des Wachstums, der Stabilität und des Verfalls, um die soziale Natur der bekannten Welt erklären zu können.

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Freiheit und Autorität

Die praktische Freiheit des Menschen hängt von der Situation ab, in der er sich befindet, und von dem Gebrauch, den er von ihr macht. Wahre Freiheit besteht nicht in der Möglichkeit, jeden Gedanken in die Wirklichkeit umzusetzen; eine solche Auffassung wäre nichts anderes als irreales Wunschdenken. Die Freiheit des Menschen ist kein Freifahrschein in eine metaphysische Welt, sondern eine Chance, aus dieser zu machen, was möglich ist. Ein Beispiel für Entscheidungsfreiheit gab vor kurzem der damalige amerikanische Finanzminister John Connally, als er Präsident Nixons Kabinett verließ. Nach seinem Rücktritt erklärte Connally, er habe, bevor er in die Regierung eintrat, den Präsidenten darauf hingewiesen, daß er niemals einen Anstellungsvertrag geschlossen habe und auch nie einen zu schließen gedenke. Sein Arbeitgeber solle die Möglichkeit haben, ihn jederzeit wegzuschicken, und er selbst die Möglichkeit, jederzeit seinen Hut zu nehmen.

Freiheit ist für diejenigen, die sie innerhalb der Grenzen des gesellschaftlichen Systems zu nutzen verstehen, gewissermaßen ein Scheinwerfer. Sie rückt Dinge ins Licht, von denen wir im Dschungel unserer Existenz sonst keine Ahnung hätten, verpflichtet uns, ihren erhellenden Strahl zu lenken, und hilft uns, in den Situationen, die sie enthüllt oder klärt, Werturteile zu fällen. Und da unsere Urteile immer im Grund unserer animalischen Herkunft wurzeln, müssen wir unser Denken stets auf ethische oder andere Werte ausrichten, wenn der Gebrauch der Freiheit innerhalb der konventionellen Grenzen des Verhaltens gehalten werden soll.

Dies war die Grundeinstellung der griechischen Denker und Philosophen. Mehr als zweitausend Jahre blieb die Sozialwissenschaft praktisch auf der Stufe, auf die Piaton und Aristoteles sie gebracht hatten. In der platonischen Hierarchie sind Zusammenwirken und Zusammenhalt innerhalb einer Gemeinschaft viel stärker als mit den Mitgliedern anderer Gemeinschaften. Und wenn es zwischen zwei verschiedenen Gesellschaften Dinge zu regeln gibt, sind dafür die jeweiligen Führer zuständig.

Die Führer eines solchen Gemeinwesens werden nach ihren Handlungen beurteilt. Nach der antiken Überlieferung unterdrückte Minos, der kretische »Wahlkönig«, die Seeräuberei, er beherrschte die Meere und schuf Ordnung in der mediterranen Welt. Die Schiffahrt war gefahrlos, gewaltige Palastkomplexe entstanden, die Künste blühten, die Linear-B-Schrift wurde entwickelt. Diese sogenannte minoische Kultur erreichte den Gipfel ihrer Leistungen in den Künsten und übertraf selbst die damals in Blüte stehenden Zivilisationen von Mesopotamien und Ägypten. All dies wurde erreicht, weil der Wahlkönig nach dem Ende seiner neunjährigen Amtszeit sich für

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seine Handlungen verantworten mußte. Befand ihn der Rat der Zweihundert als fähigen Herrscher, wurde er für eine zweite - und letzte - Amtsperiode von neun Jahren bestätigt; wurde er als unfähig befunden, so setzte man ihn ab; ließ er sich schwere Fehler oder Verstöße gegen die Landesgesetze zuschulden kommen, so wurde er von einem Berggipfel gestürzt. Um das Verschwinden des Königs zu erklären, erfand die kretische Mythologie den Minotaurus.

Sämtliche Gesellschaften kennen Strafsanktionen, Furcht sorgt dafür, daß das Räderwerk läuft. Der menschliche Esel braucht Zuckerbrot und Peitsche, damit er funktioniert und das Beste aus sich herausholt. Gesellschaftliche Organisationen unterscheiden sich nicht übermäßig von einem Tierpark, wo die Wärter auf ein Gleichgewicht von Freiheit und Zucht achten müssen, damit die Bewohner gedeihen und Ordnung halten; aber selbst dann sind vielleicht die Gefahren der Desintegration noch nicht alle gebannt.

Sobald die Bande der Gemeinschaft schwächer und die trennenden Grenzen verwischt werden, beginnt der Verfall der etablierten sozialen Grenzen und damit der herrschenden Hierarchie. Die Geschichte liefert von Assyrien bis in unsere Tage zahlreiche Beispiele zerrütteter Nationen, eine traurige Illustration der Folgen, die der Niedergang von Werten zeitigt, an deren Stelle keine neue Struktur tritt. Die emotionale Instabilität der heutigen Gesellschaft und zumal der Jugend ist ebenfalls Konsequenz des Zusammenbruchs traditioneller hierarchischer Wertsysteme, für die noch keine Nachfolger in Sichtweite sind.

Die Bande des Zusammenhalts und die trennenden Linien sind Früchte gemeinsamer Traditionen wie die Gesetze und Verhaltensnormen des Landes. Die Bindeglieder zwischen den Elementen der Sozietät verleihen der Gemeinschaft Stabilität und lassen ein Wertsystem überhaupt erst funktionieren. Überall finden wir ein Wertsystem, ohne das eine Gesellschaft nicht existieren kann.

Die Klassenherrschaft

Platon spricht vom Klassensystem, dem Aufstieg einer Klasse zur Herrschaft und ihrem späteren Zerfall. Hinter seiner Definition der Gerechtigkeit steht seine Forderung, sein Wunsch nach einem totalitären Klassenregime: Im Staat besteht Ordnung, wenn der Herrscher herrscht, der Arbeiter arbeitet und der Sklave Frondienst leistet. Der griechische Philosoph war kein reiner Theoretiker. Seine Analyse der hierarchischen Struktur des gesellschaftlichen Lebens und des Prozesses, der nach einer Umwälzung eine neue Struktur schafft, ist stark geprägt von seinen Lebenserfahrungen.

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Noch in jungen Jahren verbrachte er einige Zeit am Hofe des älteren Dionysius, des autokratischen Herrschers von Syrakus. Der Schritt von der Demokratie zur autoritären Herrschaft*, bemerkte er einmal, falle am leichtesten einer beim Volk beliebten Führerpersönlichkeit, die es - innerhalb eines demokratischen Staatswesens - verstehe, den Antagonismus zwischen den reichen und armen Klassen zu nutzen und sich eine Leibgarde oder eine eigene Privatarmee zu schaffen. Jahrhunderte später machten sich Lenin wie Hitler Piatons Lehren zunutze.

Dies steht in einem höchst bemerkenswerten Gegensatz zu Sokrates' Anschauung, der für die Autonomie der Ethik und für die Autokratie des Tugendhaften eintrat. Sokrates war - ähnlich Goethe - der große Philosoph der Einschaft. Piaton und Aristoteles vertraten den Gedanken der Gemeinschaft, in der der einzelne nicht zählt und die Macht dem Staat gehört. Die organisierte und zentralisierte politische Macht des Staates kommt aus Eroberung. Die Bürger, die dem aufstrebenden Führer zugejubelt haben, sind schon bald versklavt.

Die Klassenherrschaft beginnt mit der Notwendigkeit, aus einer amorphen Masse eine geformte, funktionierende Gesellschaft zu bilden. Die herrschende Klasse insgesamt und zumal der Machtinhaber selbst muß Worte finden, welche bei der Masse zünden und ihr Ziele weisen. Somit hat weder Marx noch Rosenberg den autoritären Staat erfunden. Die Wurzeln liegen weit in der Vergangenheit, in der athenischen Polis. Die Feststellungen, zu denen Piaton gelangte, zeigen eine reiche Fülle praktischer Erfahrungen und großen Scharfsinn bei der Analyse gesellschaftlicher Institutionen. Der »historische Materialismus« von Marx ist eine Wiederauflage von Piatons »wirtschaftlichem Historizismus« - Piaton betonte den wirtschaftlichen Hintergrund des politischen Lebens, und das gilt noch heute.

Platon spricht sich für Klassenprivilegien aus. Die Klasse der Wächter müsse rein erhalten werden. Zur Untermauerung seiner These verwies der Philosoph auf die Vernunftwidrigkeit, daß man Tiere mit großer Sorgfalt heranzüchte, aber das rassische Erbe des Menschen selbst vernachlässige. Alle Revolutionen setzten eine in sich uneinige herrschende Klasse voraus, weswegen ein solcher Zwiespalt unbedingt vermieden werden müsse. Der Staat, von dem Piaton träumte, war auf strengste Klassentrennung gestützt. Eine - und nur eine - Klasse müsse eine Überlegenheit, gegen die es keine Auflehnung gebe, besitzen und demonstrieren. Auch in diesem Punkt wurde seine Gesellschaftsphilosophie zum geistigen Quell der Ideen von Marx und Rosenberg.

Die Bezeichnungen »Tyrann« und »Tyrannis« sind absichtlich vermieden, da sie !rn Lauf der Jahrhunderte ihren ursprünglichen Sinn eingebüßt haben und heute eine Herrschaft der Unterdrückung bezeichnen.

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Nur die herrschende Klasse, so Piaton, dürfe Waffen tragen, nur sie habe einen Anspruch auf Erziehung und politische und juristische Rechte. Piaton und Aristoteles sahen in der Ausbildung das beste Mittel, die Einheit der Herrenklasse und -rasse zu bewahren. Daran schlössen sich psychologische Beeinflussungen, gefolgt von (in Piatons Fall) der Abschaffung des Privateigentums. Dies wirkt nur oberflächlich überraschend. Die Krieger waren die herrschende Klasse, und sie gehörten dem Staat. Die Identifizierung mit persönlichem Besitz könne zu Uneinigkeit führen. Die gesamte herrschende Klasse müsse zu einer einzigen Familie werden. Die übrigen, die arbeitende Klasse, brauchten ebenfalls kein Eigentum - und nach ihrer Meinung wurde ohnedies nicht gefragt.

Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus haben auf diesem Gebiet keine Neuentdeckungen gemacht. Ihr Vorbild war der Stadtstaat Sparta, der sich auf dem rauhen, ländlichen Peloponnes emporschwang. Die Bürger der Stadt durften keine Edelmetalle besitzen, das Familienleben der Kriegerkaste war eingeschränkt, und für alle waren gemeinschaftliche Mahlzeiten Vorschrift. Der Staat bekämpfte sowohl Armut als auch Reichtum als Nährboden der Zwietracht - eine wahre Autokratie kann weder Luxus noch Entbehrung zulassen.

Kasten

Die Bezeichnung »Kaste«, streng genommen eine Hindu-Institution, dient dazu, eine hierarchische Gesellschaftsorganisation zu benennen, in der die sozialen und sonstigen Grenzen zwischen Individuen auf verschiedenen Ebenen starr festgelegt sind. Im Persien der Zarathustra-Zeit gab es drei, in der Epoche der Sassaniden vier Kasten oder Stände: die Priesterschaft, die Krieger, die Beamten und das einfache Volk (Bauern und Handwerker), und jede dieser Gruppen war je nach Funktion wieder in mehrere Untergruppen aufgegliedert. Untersuchungen haben ergeben, daß im alten Israel sechs unterschiedliche Kasten bestanden. Die chinesische Gesellschaft im Großen Reich war immer in Kasten geteilt, wenn auch weniger streng als in Indien. Nachdem die feudale Ordnung, die auf Familienverbindungen und Privilegien basierte, durch eine zentralisierte Staatsbürokratie abgelöst worden war, galten als Maßstab für den Rang des einzelnen nicht mehr Abstammung oder Besitz, sondern Erziehung. Strenge Prüfungen regelten den sozialen Aufstieg. Dieses Mandarin-System beruhte grundsätzlich auf der Gleichheit aller Menschen, ließ aber in der Praxis viel Spielraum.

Die soziale Schichtung kann streng und stabil sein oder gelockert und fließend, aber immer und in sämtlichen Gesellschaftsformen gibt es Klassen.

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Wenn individuelle Tüchtigkeit, Begabung, Kraft, Bildung oder Klugheit den Maßstab bilden, dann sind die Klassenunterschiede in ihrer Stabilität weniger ausgeprägt; sind Geburt oder Abstammung die Kriterien, so erscheinen sie deutlicher und starrer. Gesellschaftlicher Status, der auf dem Erbwege erworben wird, begünstigt natürlicherweise einen scharfen Klassenunterschied, wie das Entstehen einer Adelsklasse belegt. Der Adel, der sich häufig durch die Erringung der Herrschaft über schwächere gesellschaftliche oder ethnische Gruppen bildet, hebt sich ab durch Besitz, Qualifikationen und berufliche Spezialisierung. Auch die direkte Beziehung zum Göttlichen verschaffte eine Sonderstellung: Die Priesterschaft, nicht der Kriegerstand bildete die erste Kaste.

Untereinander sind die verschiedenen Schichten, welche die Gesellschaft bilden, durch einen gemeinsamen Nenner von Interessen oder Anschauungen verbunden. Solange dieser Zustand unangefochten besteht, kommt es zu keinen bedeutenden Veränderungen. Doch wenn die einigende Kraft erlahmt, setzt Zerfall ein, dem die Revolution folgt. Die Geschichte sämtlicher Kulturen besteht in der Hauptsache nicht aus friedlichem Wettbewerb, sondern aus blutigen Kämpfen.

Starke Regierungen neigen dazu, die Gegenwart der Zukunft zu opfern, wobei zumeist die niedrigeren Kasten die »Zukunftsrechnung« begleichen müssen. »Gott liebt zwar die Guten, aber er steht auf der Seite der stärkeren Bataillone«, sagte Voltaire. Bisher hat noch keine soziale Umwälzung die Gesellschaft vom Kastensystem befreit.

Das Bedürfnis nach Kasten und Gruppenbildung prägt die gesamte Menschheit. Der einzelne lebt nicht für sich, er ist mit anderen durch berufliche, kulturelle und wirtschaftliche Interessen verbunden, und diese einflußreichen Gruppen neigen häufig dazu, sich als Repräsentanten der gesamten Gemeinschaft zu fühlen. Häufig erwählen sie sich einen charismatischen Führer, um den sie sich scharen. Außer geistiger Befähigung können noch andere Eigenschaften sein Prestige stützen: Erfahrung, Gerissenheit, Einfallsreichtum, Wissen und Weisheit. Namentlich in weniger komplexen Gesellschaften schreibt man dem religiösen Führer solche besonderen Qualitäten zu, und jeder, der sie zu erkennen gibt, zeigt damit nach allgemeiner Ansicht die Eignung, eine bedeutende Rolle im Leben der Gemeinschaft zu spielen.
Ein bedeutsamer Faktor für die Einteilung der Gesellschaft in Gruppen von unterschiedlichem Einfluß und Prestige ist von jeher die Arbeit. Der starke Einfluß der Arbeitsteilung auf primitive Kulturen zeigt schlüssig das Bedürfnis nach sozialer Differenzierung und Kastenbildung. Aber die trennenden Linien werden auch von anderen Kriterien bestimmt, beispielsweise der Geschlechtszugehörigkeit oder dem Lebensalter. Die Altersgruppe spielt in primitiven wie in komplexen Kulturen eine einflußreiche Rolle.

In allen Gesellschaften sind religiöse Erlebnisse und schöpferische Impulse in aller Regel den jüngeren Generationen vorbehalten, während die Organisation des religiösen Lebens von Älteren beherrscht wird. Die alte Generation ist immer die Hüterin des religiösen Traditionalismus und seit Urzeiten Bewahrerin des gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Erbes.

Die Kaste ist mithin nicht nur Instrument sozialer Einteilung, sondern auch kultureller Weitergabe. Alter, Weisheit und andere Attribute bestimmen nicht allein Art und Umfang der Arbeit, die der einzelne leistet, sondern auch das Prestige, das mit der Arbeit und der dafür nötigen Intelligenz verbunden ist - ein Faktor, der seinerseits wieder Schichtung und Organisation der Gesellschaft beeinflußt.

Eine primitive Gesellschaft, sagt Joachim Wach*, sei im allgemeinen nach der wichtigsten, der dominierenden Tätigkeit geordnet. Wir finden Sammler-, Jäger-, Fischer-, Ackerbauern- und Hirtenstämme. In manchen Gemeinschaften wechseln diese Aktivität entsprechend der Jahreszeit ab. Auf den untersten Stufen besteht mehr oder weniger Homogenität. Aber je mehr es auf der Leiter der Kultur aufwärtsgeht, um so reicher ist die Vielfalt abgestufter oder miteinander verknüpfter Beschäftigungen, bis man schließlich zu dem komplexen Gewebe beruflich spezialisierter Tätigkeiten gelangt, wie sie die höheren Zivilisationen prägen. Schon die sumerische Gesellschaft scheint fast ebensoviel Berufszweige gekannt zu haben wie unsere eigene. Noch heute gibt es Völker mit geringem Spezialisierungsgrad.

Die Eskimos beispielsweise sind nur auf dem Gebiet der Magie Experten, allerdings dafür ganz ungewöhnlich begabt. Bei den meisten Stämmen gelten Arzt, Lehrer und Priester als die hervorragenden Berufe. Handwerkliche Spezialisierung wird oft mit übernatürlichen Kräften assoziiert. Der Kriegerstand, sagt Joachim Wach, den ausschließlich bestimmte Gruppen oder Stämme der Gemeinschaft bilden, stellt ein Beispiel für Spezialisierung dar. Militärische Eroberungen, die zur Versklavung der Gefangenen führen, haben die Tendenz, Ungleichheit und Spezialisierung zu erzeugen. Die Beschaffung von Nahrung, Wohnung und Bekleidung wird zuweilen von der gesamten Gruppe besorgt, im allgemeinen jedoch den dafür besonders Qualifizierten übertragen. Eine wichtige Rolle im Prozeß der Spezialisierung spielt seit der Frühzeit der menschlichen Geschichte auch die Religion, indem sie eine Auslese traf, wer für bestimmte Aufgaben geeignet sei. Die Abweichler wurden mit Hilfe von Verfolgung und Exkommunizierung ausgemerzt, und Belohnungen erhielten nur jene, die sich konform verhielten.

* Sociology of Religion, Chicago 1944     wikipedia  Joachim_Wach  *1898 in Chemnitz bis 1955

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