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3   Einschaft und Gemeinschaft 

Chorafas-1974

 

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  Marduk 

Die traditionelle Familieneinheit, im Kollektivismus der Frühzeit gegründet, wurde durch den Aufstieg des Individuums schwer erschüttert. Die Lockerung des Zusammenhalts innerhalb des Stammes bahnte den Weg für eine universalere Sicht. Es entwickelten sich andere Bindungen, um den Zusammenhalt zu sichern. Vor allen Dingen die Religionen beeinflußten und beeinflussen die soziologische Struktur jeder Zivilisation. Die Konzeption einer Trinität - Gott, Mensch und Gesellschaft -, die den meisten Religionen eigen ist, implizierte die Auflösung bisheriger Bindungen und die gleichzeitige Schaffung neuer, zuweilen gekoppelt mit der Konsekration einiger verbleibender Bande.

Für den Menschen, der vergeblich einen Sinn des Lebens zu finden oder zu erahnen versuchte, brachte die Religion eine große Hoffnung - und wie nie vordem eine Möglichkeit, den harten Realitäten des täglichen Lebens zu entfliehen. In Babylonien, Griechenland, China, Indien oder Mexiko, überall wurde der Geist der Gemeinsamkeit in städtischen Ansiedlungen durch Riten und Feste demonstriert. Viele Städte hatten ihre eigenen Schutz­gottheiten, Zeremonien und Heiligtümer. Mit dem Wachstum der Gemeinwesen setzte ein Prozeß der Schichtenbildung in der Bürgerschaft ein, bei dem Beruf, Wohnsitz, Eigentum und gesellschaftlicher Rang die bestimmende Rolle spielten, und dieser Prozeß wirkte sich auch auf religiöse Einstellungen, Institutionen und Kultformen aus.

In der Morgendämmerung der Zivilisation integrierte die frühe babylonische Religion die wichtigsten Arten des angewandten Wissens ihrer Zeit und blieb deshalb viele Generationen lang unangefochten. Jahrhunderte hindurch waren die Veränderungen, die der Mensch bewirkte - wie die Entwicklung der Künste und Wissenschaften - unbedeutend: Alles, was auf Erden existierte, stand in den göttlichen Schriften, und das meiste von dem, was in diesen Büchern stand, existierte tatsächlich auf Erden. Auf den Ungebildeten jener Zeit wirkte dies wie reine Offenbarung: Nur die Götter über ihm konnten alles wissen und beherrschen, was es auf dieser Welt gab. »Glauben, nicht fragen«, dieser Grundsatz bestimmte das Denken der Menschen - wie es noch heute der Fall ist.

Es herrschte die allgemeine Ansicht, daß außer dem, was die Götter in ihrer Großmut dem Menschen gewährten, nicht viel zu erwarten sei. Jedoch, diese Vorstellung übersah etwas. Als die Menschen ihre Dörfer verließen und ihre Wanderung durch das Land zwischen Euphrat und Tigris begannen, kamen sie mit anderen Anschauungen, anderen Glaubensvorstellungen und anderen Göttern in Berührung. Dies machte eine Integration notwendig, welche die divergenten Elemente verschmolz. Die mesopotami-sche Religion folgte in ihrer Entwicklung der des Landes. Während ehedem selbständige Gemeinschaften sich zusammenschlössen, entstand - analog zu den irdischen Verhältnissen - ein System, in dem die Gottheiten durch verwandtschaftliche und gesellschaftliche Beziehungen miteinander verknüpft waren. Diese Einrichtung etablierte sich im religiösen Denken. Allerdings gab es auch Inkonsequenzen und Widersprüche, die sich am augenfälligsten in der Verbindung zwischen den verschiedenen Göttern manifestierten.

Die Umgestaltung des Götterhimmels spiegelt sich im babylonischen Schöpfungsepos wider. Dieses schildert die Götter als hilflose Gestalten, die sich in ihrer Angst vor Tiamat - dem Chaos - an Marduk um Beistand wandten und ihm freiwillig all ihre Macht abtraten. Durch einen genialen mythologischen Schachzug sorgte die Priesterschaft dafür, daß die alten Gottheiten weder an Zahl noch an Bedeutung gemindert wurden. Nun gab es einfach einen höchsten Gott - eine Spiegelung der Autokratie, die auf der Erde herrschte. Die Geschichte der Religion verläuft parallel zur Geschichte des Menschen.

Arthur Koestler meint*, die Religion sei vielleicht Opium fürs Volk gewesen, aber Opiumsüchtige fänden an anderer Kost nicht viel Geschmack. Ein Blick auf die übervollen Kirchen in und um Moskau beweist die Richtigkeit dieser Bemerkung.

Es hat sich gezeigt, daß die Ausmerzung religiöser Anschauungen im Widerspruch zur menschlichen Natur steht. Jedesmal, wenn sie systematisch durchgeführt wurde, füllte eine andere, abstraktere und weniger konsequente »Theosophie« in Gestalt politischer Dogmen das Vakuum. Die Mythologien des Faschismus und des Kommunismus, meint Koestler, sind keine Neukonstruktionen, sondern nur wiederbelebte Archetypen, die modernisiert wurden und imstande sind, nicht nur das Denken, sondern schließlich den ganzen Menschen zu absorbieren. Sie bieten emotionale Sättigung und ersetzen die Religion, wie harte Drogen den Tabakgenuß. Die »klassenlose« kommunistische Gesellschaft sollte den Menschen von seinem religiösen Gewissen befreien, wurde aber nur zu einer Neuauflage des Königreichs der Furcht. Sie kündigte eine Ära des dialektischen Denkens an und verkam zu einer autoritären, repressiven Gesellschaft der Mittelmäßigkeit.

* The Ghost in the Machine, London 1967

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Wenn man die babylonische Religion, in der sich 7000 Jahre menschlichen Denkens spiegeln, und die filtrierte Form, in der sie ins Christentum einging, mit dem konfusen Kauderwelsch des Marxismus und Nachmarxismus vergleicht, so war jene entschieden weniger »Opium«.

Der Mensch hat bis heute noch kein Gleichgewicht in seiner geistigen Welt gefunden. Der theoretische Aspekt der Religion

Der organisatorische Unterbau der Religion ist überraschend einfach. Religiöse Erfahrung bewegt sich um drei Themen von besonderem Interesse: Gott, Welt und Mensch. Theologische, kosmologische und anthropologische Vorstellungen in Form von Mythen, Doktrinen und Dogmen treten hinzu. Das Wesen der Götter beziehungsweise des Gottes, Herkunft und Aufstieg von Gottheiten und ihrer Attribute, die Beziehung der Gottheit zur Welt, dies bildet die theoretische Grundstruktur, mit der sich die Theologie beschäftigt.

Die Kosmologie befaßt sich mit Ursprung, Entwicklung und Schicksal der Welt; die Überlegungen der theologischen Anthropologie drehen sich um Ursprung, Natur und Schicksal des Menschen.

Die große Veränderung im religiösen Unterbau bewirkten die Juden mit der Ersetzung des Pantheons durch einen Gott. Damit erreichte die Zen-tralisationstendenz, die schon zur Zeit Marduks begonnen hatte, ihren Höhepunkt. Nun war, zumindest für einen Teil der Welt, der Prozeß der Konzentration, der Tausende von Jahren gedauert hatte, abgeschlossen. Solange es das Pantheon gab, konnte jeder Mensch sich mit dem Gott oder den Göttern identifizieren, deren Bild seinen Idealen am besten entsprach, und demgemäß hielt er sich an den ethischen Kodex, der mit der von ihm gewählten Gottheit verbunden war. Als jedoch das Pantheon aufgelöst und durch einen einzigen Gott ersetzt wurde, verschwanden die verschiedenen Götter und mit ihnen die dazugehörigen Verhaltensnormen. Nun blieb dem Menschen keine andere Wahl, als dem einen, dem einzigen Gott zu gehorchen. Aber da es leichter ist, das Pantheon abzuschaffen, als die Menschen gleichzuschalten, war ein neuer Kodex von Normen notwendig, um Denken und Handeln zu lenken und zu beherrschen. Diesen Kodex erhielt die Menschheit mittels »Offenbarung«, zu der Zeit, als die Zehn Gebote entstanden.

Das Aufkommen einer religiösen Monokultur stellt eine Regression dar, denn sie nahm dem Menschen die Freiheit der Wahl und beschränkte seine Möglichkeiten der Identifizierung. Es führte darüber hinaus zu Fanatismus, iJogmatismus, Grausamkeiten und politischem Aufruhr. Tatsächlich kann

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man sich nicht leicht vorstellen, daß Zeus, Hermes, Demeter oder Apollo der Menschheit befohlen hätten, die Ungläubigen zu vertilgen und Heilige Kriege zu führen, wie Allah es von seinen Gläubigen verlangt haben soll.

Durch die Jahrhunderte hatte die Religion eine doppelte Wirkung auf die Menschheit: einerseits einen positiven Einfluß, der Zusammenhalt und Integration stärkte, und andererseits einen negativen, der auflösend und zerstörerisch wirkte. Normalerweise fungieren religiöse Überzeugungen als ethische Wegmarken, die den Menschen dazu leiten, gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Doch in Zeiten überstarker Belastungen gießt die Religion Öl in das Feuer menschlichen Ehrgeizes: Die Moslems wären niemals bis Poi-tiers gelangt, hätte sie nicht der Eifer angetrieben, die Ungläubigen zu vertilgen. Ein neuer Glaube schafft eine neue Welt, in der alte Begriffe und Institutionen ihren Sinn und ihre Identität verlieren - und dies steigert die Unzufriedenheit des Menschen.

Dabei gerät die theoretische Seite der Religion in Vergessenheit. Sie wurde irgendwann von den religiösen Denkern Griechenlands entdeckt. Der Unterschied zwischen den Gläubigen der babylonischen und der griechischen Religion liegt darin, daß letztere die Götter einige Schritte weiter humanisierten, und zwar so weit, daß sie begrifflich am täglichen Leben des Sterblichen teilnahmen. Die »Philosophie der Religion« war eine Entdeckung ersten Ranges; wir finden ihre Wirkung in Aristoteles' System der Zusammenfassung des Wissens, das die ersten Ansätze theoretischen Denkens um seiner selbst willen zeigt. Im antiken Griechenland begann der Mensch, die so lange gültige mythologische Welterklärung aufzugeben und an ihre Stelle die Erkenntnisse der Theologen zu setzen*. Damit wurde der wissenschaftlichen Methodik und Rationalität die Bahn erschlossen.

Die Theologie brachte schließlich die Philosophie hervor. Die verschiedenen Mythologien waren der erste Schritt in diesem Wachstums- und Syste-matisierungsprozeß des intellektuellen Ausdrucks des menschlichen Denkens. Aber die Religion hat eine evolutionäre Tendenz zur Analyse, gefolgt von dem Streben nach Zusammenfassung und Kodifizierung. Sie stimulierte das Wachstum der Philosophie durch die Beschäftigung mit den Grundlagen und die Entwicklung religiöser Begriffe. Die Analyse erfaßte das Wesen von »Form« und »Inhalt« der Theorie an sich.

Was dem primitiven Denken der Mythos ist, findet sich in einer fortgeschrittenen Kultur in Gestalt von Theorie und Doktrin. Die Sprache der Mythen hat ihre eigene Logik und ihre eigenen Maßstäbe, und das gleiche gilt für die Sprache der Wissenschaft. Der intelligente Mensch ist stets be-

* Die Termini »Theologen« und »Theologie« werden hier im umfassendsten Sinn benützt. Theologie ist mithin gleichbedeutend mit dem englischen »Divinity« und der deutschen »Religionslehre«. Dies erlaubt es, von einer Theologie vor dem Auftreten der christlichen Religion zu sprechen.

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strebt, sich zu einer höheren geistigen Sphäre zu erheben. Allerdings wird dies nicht immer anerkannt; nach einem chinesischen Sprichwort wirkt der Klügere auf die einfachen Leute töricht. Der wirklich bedeutende Intellektuelle stellt immer Fragen - genauso wie der große Theologe. Männer von geistigem Rang nehmen die sokratische Haltung ein: »Ich weiß nichts, sag mir mehr«, und damit ist der Durchschnittsmensch überfordert.

Das vergangene halbe Jahrhundert hat eine große Zunahme des historischen Detailwissens und ein wachsendes Interesse an allen religiösen Formen mit sich gebracht und uns gelehrt, manche Verallgemeinerung über die Religion des Altertums mit Mißtrauen zu betrachten. Generalisierungen über den philosophischen Unterbau religiöser Anschauungen sind deswegen gefährlich, weil die fundamentalen Lehren, ob sie nun den einzelnen oder die Gruppe betreffen, sich immer wieder auf verschiedene Punkte konzentrierten. Mit Sicherheit läßt sich nur sagen, daß der damalige Begriff der religiösen Gemeinschaft - ausgedrückt in den Kulten der antiken Welt - sich von unserem unterschied und in gewissem Sinn individualistischer war.

Im griechischen Religionssystem konnte das Individuum frei über seine Form der Gottesverehrung bestimmen. Öffentliche Zeremonien waren auf Feste beschränkt, die dem doppelten Zweck dienten, die Bürgerschaft an die Notwendigkeit religiöser Observanz zu erinnern und ihr zugleich Unterhaltung zu bieten. Die religiöse Praxis hatte im alten Griechenland einen ausgeprägt individualistischen Zug, aber schon auf römischem Boden existierte das Individuum vor allem zum Wohl der Familie, der Gruppe und des Staates.

Die Analyse von Einschaft und Gemeinschaft, der Entwicklung der Freiheitsvorstellung im menschlichen Denken und Handeln muß den Prozeß der Beachtung religiöser Vorschriften und Riten einschließen. Die Religion konditioniert die menschliche Gesellschaft. Ob primitiv oder kultiviert, klug oder dumm, gebildet oder unwissend, der Mensch strebt nach materiellen Gütern, aber darüber hinaus gilt, bewußt oder unbewußt, sein Verlangen höheren, geistigen Dingen.

Gesetzgebung

Die zunehmende Emanzipation des Menschen von der Natur, von der natürlichen Umgebung, in der er lebt, brachte ihm eine wachsende Abhängigkeit von seinen Mitmenschen, beginnend mit der Familie, dann dem Stamm, der Nation und schließlich der gesamten Menschheit. Diese Abhängigkeit schränkt seine Freiheit zu erheblich ein. Das Mitglied eines Klans, der Bürger einer Stadt, eines Staates ist moralisch verpflichtet, weder seinen Mit-

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menschen ungerecht zu behandeln (die Zehn Gebote) noch an Exzessen wie Massenmord oder zerstörerischer Umweltverschmutzung (der noch fehlende neue ethische Kodex) teilzunehmen. Aber wie sehen die Tatsachen aus?

Es wäre unmöglich, den Begriff Freiheit in der modernen Geschichte zu verstehen, ohne einen Blick auf die Wurzeln zu werfen, als das doppeldeutige Wort Freiheit geprägt wurde. Da die vom Menschen geschaffenen Gesetze aus uralten religiösen und anderen Gebräuchen hervorgingen, waren die Griechen der Überzeugung, diese Gesetze stünden unter göttlichem Schutz und die frühen Gesetzgeber, Solon in Athen und Lykurg in Sparta, seien zu ihrem Werk direkt von den Göttern inspiriert worden.

Mit der Entwicklung des Gemeinschaftsgeistes kamen fortschrittliche Denker zu dem Schluß, die Furcht als Fundament politischer Herrschaft solle abgelöst werden durch eine gewisse Achtung vor dem Recht. Nach dem Ende des griechischen Mittelalters setzte der Prozeß der Kodifizierung von Gesetzen ein, die bis dahin nur mündlich oder auf Steintafeln überliefert worden waren. Von besonderer Strenge war der Kodex des athenischen Gesetzgebers Drakon, der um 621 v. Chr. aufgezeichnet wurde; er bestätigte beispielsweise dem Gläubiger das Recht, einen säumigen Schuldner zu seinem Sklaven zu machen, und schrieb sogar für Bagatelldiebstähle die Todesstrafe vor. »Drakons Gesetze waren nicht mit Tinte, sondern mit Blut geschrieben.«

Das späte 7. und das 6. vorchristliche Jahrhundert waren in Griechenland von Klassenkämpfen erfüllt, die das Ausmaß einer sozialen Revolution erreichten. Die Massen forderten Freiheit und wandten sich in ihrer aufrührerischen Stimmung einem neuen Typ von Politiker zu: dem starken Mann, der dem Adel die Macht im Staat entriß. Beispiele aus der antiken und der modernen Geschichte sind: Pheidon in Argos, Periander in Korinth, Polykrates auf Samos, Gelon in Syrakus, Peisistratos in Athen, Lenin in Rußland, Mussolini in Italien, Hitler in Deutschland; Despoten, die die Macht usurpierten und ihre Herrschaft auf das angebliche Wohl der Gemeinschaft gründeten.

Es kann nicht weiter überraschen, daß manche dieser Tyrannen bei ihren Untertanen beliebt waren. Peisistratos von Athen wird in Geschichtsbüchern als ein gütiger, intelligenter Mann geschildert, der im Inneren Frieden schuf, die Macht seiner Polis stärkte, den Bürgern Arbeit gab und mit dem Bau der ersten großen Tempel auf der Akropolis begann. Seine Gesetzgebung beruhte auf Solons Werk, der 594 v. Chr. zum Archon gewählt worden war.

Von vornehmer Abkunft, weitgereist, umfassend gebildet, human und literarisch begabt, nutzte Solon das ihm erteilte Mandat, um umfassende Reformen in der Gesetzgebung einzuführen. Er kann als der erste Sozialwissenschaftler der Geschichte gelten. Bevor er seine gesetzgebende Arbeit be-

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gann, studierte er die fortschrittlichsten Herrschaftssysteme seiner Zeit und unternahm zu diesem Zweck Reisen, die ihn auch nach Ägypten und Ly-dien führten. Berühmt geworden sind seine Gespräche mit den Mächtigen der damaligen Epoche und die Beratungen, die er mit Gelehrten führte, um sicherzustellen, daß die Gesetze, die er schriftlich niederlegen wollte, auch wirklich den gesellschaftlichen Gegebenheiten entsprachen. Obwohl die Griechen den Begriff »democratia« damals noch nicht kannten und Solons Reformen erst von Peisistratos - einem Diktator, der mit dem Gesetzgeber verwandt war - durchgeführt wurden, kann man die Solonische Verfassung mit Fug und Recht das erste Rechtssystem nennen, das sich zum Ziel setzte, die Bedingungen zu schaffen, damit der Mensch in die Gemeinschaft integriert werden konnte.

Individualismus

Solons Gesetze erhielten Leben durch ihre Anwendung in der politisch-gesellschaftlichen Arena und ihre Auslegung vor den Gerichten. Sein Werk erhob den einzelnen zu einer neuen Stellung, aber der Mann, der dem neuen Rechtssystem erst Fleisch und Blut gab, war der große Politiker Perikles. Er trat dafür ein, den Individualismus mit dem Altruismus zu verbinden, und spornte die Jugend Athens an, geistige Beweglichkeit und Selbstbewußtsein zu entwickeln. Dieses Verbrechen gegen den Geist der Gemeinschaft mußte Perikles büßen. Die athenische Einschaft, deren Schöpfer er war, ging in dem langen und sinnlosen Peloponnesischen Krieg zugrunde.

Die Idee, daß das Individuum Herr seiner selbst wird und sich über die Masse erhebt, wurde von Sokrates auf den höchsten geistigen Gipfel geführt. Sokrates lehrte, nach geistiger Redlichkeit und Klarheit zu streben, Selbstkritik zu üben und sich vor jedem engstirnigen Dogmatismus zu hüten. Dies war das Goldene Zeitalter der Einschaft, das seither nie wiedergekehrt ist. In einer £7n.?c/ja//-Gesellschaft ist der einzelne alles; der Staat stellt nur die allgemeinen Dienstleistungen zur Verfügung, ist aber nicht Beherrscher. Die Blüte der Einschaft wird bezeichnet von drei Namen, dem Gesetzgeber Solon, dem Staatsmann Perikles und dem Philosophen Sokrates. Aber der Individualismus begnügt sich nicht mit stetigem Fortschritt und wird ungeduldig, wenn er sich in seinem Wachstum gehemmt sieht. Sein Niedergang begann in dem Augenblick, in dem die Kräfte der Gemeinschaft zum Gegenschlag ausholten.

Sokrates' Wertbegriffe nährten sich aus einer Quelle, die ebenso objektiv und zuverlässig war wie jegliche göttliche Offenbarung; für ihn war be-

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stimmend das Bild des geistig entwickelten Menschen. Damit stand er im Gegensatz zu jenen, für welche die Gemeinschaft maßgebend war, in die sich der einzelne einzufügen habe, Sokrates' Anschauungen waren der Veränderung und Erweiterung fähig und nicht auf Steintafeln verewigt. Dies machte das Denken des großen Philosophen und Lehrers reicher, als viele glauben - aber auch unwillkommen für alle, die für die Herrschaft des Menschen über den Menschen eintreten.

Sokrates' Maßstäbe waren objektiv und real, aber auch anstößig für die große Masse, die schwerlich verstehen kann, daß geistige Freiheit für die menschliche Gesellschaft von essentieller Bedeutung ist - die Freiheit, Wissen aufzunehmen und zu verbreiten; die Freiheit, freimütig und furchtlos diskutieren zu können; und die Freiheit von amtlicher Gängelung und von Vorurteilen. Eine solche Trinität der Gedankenfreiheit sichert das Volk vor der Ansteckung durch Massenmythen und garantiert eine klarsichtige Einstellung zu Fragen der Politik, Wirtschaft und Kultur. - Aber sollen die Prinzipien der Einschaft das Denken bestimmen oder soll es sich der Gemeinschaft Unterordnen?

Die individualistisch orientierte Gesellschaft Athens war während des größten Teils ihres Bestehens durch Klassengegensätze bedroht. Auf der Suche nach einer anderen Gesellschaftsform blickten gebildete Athener oft nach Sparta, dem größten Konkurrenten ihrer Polis. Piaton war aufrichtig, als er seinem Idealstaat weitgehend das Vorbild Sparta zugrunde legte. Ebenso dachte Xenophon, gleichfalls ein Schüler Sokrates', der die autoritären Züge des spartanischen Systems pries und sogar den Spartanern beipflichtete, daß es auf göttliche Eingebung zurückgehe.

Der Widerspruch zwischen Einschaft und Gemeinschaft rührt daher, daß wir alle auf zweierlei Weise handeln: einmal als Individuen und dann als Angehörige einer Gruppe. Daher teilen sich unsere Reflexe in zwei Kategorien; die wertenden Reflexe sind völlig verschieden, je nachdem, ob sie das Individuum oder die Gruppe betreffen. Mord, planmäßige Vernichtung, Raub und Lüge sind die am weitesten verbreiteten Verbrechen. Aber verbrecherisch sind solche Akte nur, sofern sie von einem Mitglied der Gruppe an einem anderen begangen werden. Wird jedoch das Kollektiv in der Auseinandersetzung mit anderen Gruppen zum Täter, so werden aus den Verbrechen unvermittelt Tugenden, ehrenhafte Taten, und Helden bemißt man nach der Zahl und Größe solcher »tugendhafter« Handlungen.

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Die Macht der Gemeinschaft

Der früheste Gesetzgeber der Gemeinschaft war der Spartaner Lykurg. Er nahm den Bürgern seiner Polis den Willen und die Fähigkeit, ein Privatleben zu führen. Durch seine Gesetze lehrte er sie, daß der einzelne als Wesen für sich im gesellschaftlichen Kontext ohne jede Bedeutung sei, daß er gesellschaftliche Bedeutung erst gewinne, wenn er sich als gesichtsloses Element organisch in die Gemeinschaft einfüge, die Obrigkeit blind achte und von dem Ehrgeiz beseelt sei, alles zu erfüllen, was der Staat von ihm fordere.

Genau hier liegt der Gegensatz zwischen athenischem und spartanischem Denken und den beiden Systemen. In der Einschaft-Gesellschait Athens konnten Piaton und Aristoteles eine Ideologie der Gemeinschaft vertreten und ungescheut deren Vorteile preisen. Nichts ist jedoch davon bekannt, daß sich im Gemem.sc/ia//-orientierten Sparta eine Stimme für die Einschaft erhoben hätte; nirgends finden wir ein Zeugnis, daß irgendein Spartaner auf den Gedanken gekommen wäre oder den Mut aufgebracht hätte, eine Gesellschaft nach dem Vorbild der athenischen zu fordern. In der modernen Massengesellschaft ist das Vorbild Spartas wieder wirksam. Der Teil, sagte Piaton, existiere um des Ganzen willen, nicht aber das Ganze um des Teiles willen. »Du bist nichts, Dein Volk ist alles«, hieß es im Dritten Reich. Dies ist der Kernsatz des Gemeinschafts-Denkens, die Wurzel aller autokratischen Regierungsformen. Der Mensch darf im Kollektiv weder den Willen haben noch kundgeben, über sich selbst zu bestimmen, wenn er nicht zum Außenseiter werden will. Der einzelne muß sich ganz der Führung unterordnen, als bedeutungsloses Element in einer amorphen Masse aufgehen.

Die Gemeinschaft braucht den starken Mann, einen erwählten oder selbsternannten Führer, der mit einer kleinen »Elite« autokratisch herrscht wie Leonidas, Kritias, Caesar, Lenin, Stalin, Hitler. In einem solchen System muß den Menschen von früher Kindheit an durch Erziehung beigebracht werden, andere zu beherrschen und sich dem Herrschenden an der Spitze unterzuordnen. Damit hofft man die Stabilität des Staates sicherzustellen. In der Geschichte war der Einschaft nur eine kurze Lebensspanne vergönnt, die Gemeinschaft hingegen herrscht immer. Athen gab seine Grundsätze preis; Sparta lernte nie, dem Individuum Spielraum zu geben.

Athen schlug sich lange mit dem Problem des Antagonismus von kollektiver Ordnung und Individualität herum. Die Einschaft ist wandlungsfähiger, hat mehr Tiefe, verschafft der Elite ein höheres Bildungsniveau und damit höhere Intelligenz und mehr Erfüllung. Doch persönliche Erfüllung und die Schulung der individuellen Intelligenz allein machen den Menschen noch nicht zu einem funktionsfähigen Glied des gesellschaftlichen Ganzen - ja zuweilen können sie dafür eher hinderlich sein. Das Geheimnis relativer Freiheit in einer Gemeinschaft liegt darin, daß die Übereinstimmung

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der Grundanschauungen und der gesellschaftlichen Institutionen gewahrt bleibt, was diszipliniertes Verhalten der Gemeinschaftsmitglieder erfordert.

Die größte Bedrohung der Einschaft liegt in der Isolierung. Je größer ein gesellschaftliches System wird, um so unbehaglicher fühlt sich der Mensch unter dem Druck widerstreitender Interessen, unter dem er leben muß. Bertrand Russell bemerkt zu diesem Zwiespalt: »In unserem Handeln ... müssen wir uns beständig der Tyrannei äußerer Mächte unterwerfen, aber im Denken, im inneren Wachstum sind wir frei, frei von unseren Mitmenschen, frei von dem kleinen Planeten, auf dem unsere Leiber hilflos umherkriechen, und sogar unser ganzes Leben hindurch frei von der Tyrannei des Todes.« Doch wie viele sind fähig, diesen Gedanken zu erfassen? Wie viele sind imstande, die äußere und die innere Welt miteinander in Einklang zu bringen?

Gefahren für die Freiheit

Es steht keineswegs fest, daß die Menschen wirklich »mehr Freiheit« wollen. Für die Massen hat sie vor allem einen negativen Aspekt: die Bürde, die sie dem einzelnen auferlegt. Diese Belastung ist für viele schwer zu tragen, und noch viel schwerer fällt es ihnen, darin den großen Vorzug zu sehen, der sie für die Einschaft einnehmen sollte. Die klassische Interpretation der Freiheit, in deren Mittelpunkt die Kampfansage gegen die etablierte Autoritätsstruktur steht, ist inkorrekt. Diese Auffassung ignoriert, daß an die Stelle der alten Machtstruktur - falls ihre Beseitigung gelingt - höchstwahrscheinlich eine neue Ordnung tritt, welche die alte geradezu als gemäßigt erscheinen läßt.

Der klassische Liberalismus begriff die Rechte des einzelnen als abstrakte, doch allgemein erstrebenswerte Güter; human war, was dem Individuum entsprach. Für Humboldt, der - wie Goethe, Schiller, Herder - das humanistische Ideal der deutschen Klassik vertrat, bedeuteten Humanität und menschliche Würde, daß jeder seine eigene Individualität in ihrer Eigenart zur Vollkommenheit entwickeln könne. Dieses Ideal lag ganz auf der Linie der sokratischen Einschaft. Aber wie lange konnte es sich behaupten?

Für die deutschen Fürstenstaaten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts war - wie für die athenische Polis - Freiheit von der Einmischung der Zentralgewalt lebensnotwendig. Dies brachte Philosophen und Politiker zu der Ansicht, daß die wahre Bestimmung des Menschen darin bestehe, seine Anlagen zur größten Harmonie zu bringen. Dafür aber war Voraussetzung, daß der Staat sich aller Eingriffe in die Persönlichkeit des einzelnen enthielt. So war es auch in den meisten deutschen Fürstenstaaten, aber

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Preußen ging seinen eigenen Weg. Es gliederte das Individuum in die Maschinerie ein, die der Hohenzollernstaat zur Expansion - »deutsche Einigung« - brauchte.

Die Apotheose des Gemeinschaftsgeda.nke.rn kam mit dem Dritten Reich. Die Deutschen mit ihrer klassischen, an Goethe und Schiller orientierten Bildung hätten vielleicht an der Einschaft festgehalten, aber die Verhältnisse ließen es nicht zu. Dieser Umschwung war geplant und - was die Bedürfnisse des zentralisierten Staates betrifft - notwendig. Eine große Nation läßt sich nur dann planmäßig lenken, wenn die Regeln, nach denen sich die Gesellschaft und damit der einzelne zu richten hat, gestrafft und streng durchgesetzt werden. Sobald dies geschehen ist, sind die Beziehungen zwischen Staat und Bürgern unzweideutig und definitiv festgelegt.

Wie im Fall von Peisistratos und Kritias in Athen, so wurde auch im Dritten Reich der Volksführer zum Führer der Nation, zum Oberhaupt des Staates. Ihm - und nur ihm allein - war es überlassen zu entscheiden, in welcher der beiden Funktionen er handelte. Der Nationalsozialismus, der ursprünglich als eine Sozialrevolutionäre Bewegung begonnen hatte, schlug später eine ganz andere Richtung ein. Soziale Bewegungen fressen immer ihre eigenen Kinder, und dies gilt besonders für populistische, »völkische« Revolutionen. Vom antiken Griechenland bis zum Deutschland, Amerika und Rußland der Neuzeit hat es noch keine Revolution zuwege gebracht, den Menschen vom Menschen zu befreien.

Sozialrevolutionäre Bewegungen, die die Freiheit des Menschen auf ihre Fahnen schrieben, sahen in ihm den Arbeiter, den Bauern, den Unternehmer, den Kapitalisten. Der Mensch an sich hat sie kaum je beschäftigt. Dies war schon in der Antike so. Eine der großen Schwierigkeiten, die wir nicht überwunden haben, liegt darin, daß die Gesellschaft im großen und ganzen nicht nach vorn blickt. Der Mensch will - abgesehen von organisierter Gewalt - Gutes tun; er hat nicht die Absicht, Böses zu bewirken. Allerdings haben gute Absichten nur zu oft üble Folgen. So ist es an und für sich löblich, die Malaria aus der Welt zu schaffen, aber ihre Beseitigung führt auch zu einem Anwachsen der Bevölkerung und zu wachsenden Schwierigkeiten in der Nahrungsmittelversorgung. Welchem Ziel sollte die Gesellschaft Vorrang geben: der Ausmerzung von Krankheiten oder der besseren Ernährung ihrer Bürger?

Nichts bedroht die persönliche Freiheit, ja den Sinn des Lebens mehr als Krieg, Armut und Terror. Aber daneben gibt es indirekte, nur wenig ferner liegende Gefahren. Eine besteht in der Benebelung des Menschen durch die Massenkultur mit der von ihr beabsichtigten oder kommerziell motivierten Senkung des geistigen Niveaus, mit ihrer Betonung seichter Unterhaltung, mit ihrem Zweckdenken und ihrer verdeckten, doch rigorosen Zensur. Eine zweite Gefahr ist die Manipulation einer der größten menschlichen Erfin-

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düngen: des zentral gelenkten Erziehungssystems. Eine exzessive Standardisierung, die sogar den Lehrbetrieb, die Lehrpläne und das Prüfungswesen erfaßt, nimmt dem Menschen die Vorstellung, daß persönliche Freiheit überhaupt einen Wert besitzt.

Ein dritter Faktor, der den Gedanken der Einschaft und der persönlichen Freiheit bedroht, ist der bedenkenlose Umgang mit staatlichen Sondervollmachten. In Gesellschaften, in denen die Gemeinschaft-Ideologie vorherrscht, kommt es nur allzu leicht zu »Ausnahmesituationen«, die nach allgemeiner Ansicht die Regierung berechtigten, ja verpflichten, unter dem Deckmantel von »Notstandsmaßnahmen« die Rechte der Bürger zu beschneiden. Piaton und Machiavelli haben in ihren Werken - und ihre Anhänger in Taten -den Ausnahmezustand zur normalen Regel für den Politiker erhoben. Nicht ohne Wirkung ist auch geblieben, daß angesehene Männer aus dem religiösen Bereich, wie Paulus und Luther, auf ihre Weise der Tyrannei und der Unterdrückung der Freiheit unter außergewöhnlichen Umständen das Wort geredet haben.

Die Gemeinschaft herrscht

Aus naheliegenden Gründen ist eine analytische und objektive Einstellung zum Recht des Individuums auf Freiheit all denen ein Dorn im Auge, welche die Gemeinschaft nach ihren eigenen Absichten manipulieren wollen. Dafür gibt es eine Fülle von Beispielen. Der Kampf gegen den Kommunismus gab dem nationalsozialistischen Staat die Gelegenheit, Rechtsschranken niederzureißen, die ihm lästig waren. Der Nationalsozialismus verkündete als sein gesellschaftliches Ziel die Verwirklichung der wahren »Volksgemeinschaft« und damit die Beseitigung aller sozialen Konflikte und Spannungen.

Daher mußte die Bekundung abweichender Meinungen unterbunden werden. Der Staat brauchte, so erklärten die Nationalsozialisten, Sondervollmachten, um die Nation vor ihren Feinden zu schützen. Das Berliner Kammergericht präzisierte diese Einstellung in einem Urteil. Die Betonung bestehender Meinungsunterschiede, so hieß es darin, trage den »Keim der Auflösung des deutschen Volkes« in sich und sei nur den kommunistischen Zielsetzungen dienlich.

Die Erkenntnis aus der Vergangenheit, daß die Herrschaft der Gemeinschaft zum Zwang führt, ging irgendwie verloren. Schon im Dreißigjährigen Krieg hatte Wallenstein ähnliche Gedanken geäußert. Und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, also zu Wallensteins Zeit, wurde in England ein Versuch unternommen, einen scheinbaren Notstand zu konstruieren, um

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ein absolutistisches Regime zu rechtfertigen. Karl I., der elf Jahre ohne Parlament regierte, führte ein »Schiffsgeld« ein und begründete diese Maßnahme mit der Behauptung, der Friede sei gefährdet durch »gewisse Diebe, Piraten und Seeräuber, sowie die Türken, die Feinde des christlichen Namens ...«

Karl Joseph Anton Mittermaier (1787-1867), der angesehenste liberale Jurist im Deutschland seiner Zeit, stellte fest, die herrschende Partei könne selbst eine Rebellion provozieren, begünstigen oder inszenieren, um einen Vorwand zu schaffen, den Rechtsstaat zu suspendieren. Auch übertriebene Furcht, die überall das drohende Gespenst der Anarchie zu sehen glaube, sei manchmal für die Regierenden Anlaß, durch »Notstandsmaßnahmen« die angebliche Revolte zu unterdrücken - möglicherweise sogar in gutem Glauben. Diese Einstellung findet sich nicht nur bei gekrönten Häuptern und politischen Parteien, sondern reicht sogar in die friedlichen Gefilde christlicher Denkart. Luther mahnte zur Hinnahme von Unterdrückung und Unrecht, denn so sei nun einmal die Welt beschaffen. Jeder müsse Christi Schicksal auf sich nehmen. Wer unter den Wölfen leben wolle, müsse mit ihnen heulen. Und immer wieder predigt er Gehorsam gegenüber dem weltlichen Regiment - »seid Untertan der Obrigkeit«.

War Luther, wie Piaton, ein Hoherpriester der absoluten Herrschaft? Welchen Einfluß hatte er auf die Entwicklung der Gemem.se/ia/Mdeologie der dreißiger Jahre in Deutschland? Ernst Fränkel* meint, der Konflikt zwischen Nationalsozialismus und katholischer und protestantischer Kirche erkläre sich vielleicht zum Teil daraus, daß die Doktrin des Dritten Reiches (Deutschland war bis 1938 ein überwiegend protestantisches Land) großenteils von abtrünnigen Katholiken formuliert wurde. Martin Heidegger, der Jurist Carl Schmitt, der Propagandist Goebbels und viele andere führende NS-Intellektuelle taten das Ihre, um die solide Struktur des Katholizismus, der ihre geistige Entwicklung geformt hatte, zu schwächen. Sie übernahmen die preußische Staatsauffassung, die weitgehend von protestantischen Denkern entwickelt worden war. Aber diese ehemaligen Katholiken waren nicht imstande, die spezifisch lutherische Einschränkung der Staatsgewalt zu würdigen: die Freiheit des Gewissens.

Die Ungleichheit der Menschen

Die Vorstellung des Menschen von der Welt, von der er ein Teil ist, und seine abstrakte Auffassung von Struktur und Verhalten gesellschaftlicher

* The Dual State, New York 1941.

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Systeme entwickelten sich einerseits durch die Verbindung mit dem animalischen Leben in früherer Zeit und andererseits durch die intellektuellen Leistungen bedeutender Denker der vergangenen Jahrhunderte.

Die primitive Einfachheit oder Natürlichkeit, die das innere und soziale Leben des Menschen ursprünglich bestimmte, hat sich bis heute kaum verändert. Die wenigen, die sich von dieser Einfachheit befreiten, nahmen die Erfahrungen ihres Lebens ohne übertriebene Freude oder Trauer, ohne Verzweiflung oder auch blinde Zuversicht hin. Sie sahen eben in der Freiheit ein zweischneidiges Schwert.

Die eine Schneide bildete der Mythos der Gleichheit. Die Menschen sind, was ihre Gaben und Möglichkeiten betrifft, nicht gleich geschaffen, und ein großer Teil des Fortschritts rührt gerade von dieser Ungleichheit her. Die Menschen sind ungleich, und die Vielfalt hervorragender Geister, nicht etwa Konformismus, Normalität oder vollständige Anpassung, bildet das Fundament erfolgreicher Gesellschaften. Aber die Menschen glauben gern, sie seien den höchststehenden ihrer Artgenossen gleich (während niemand sich der untersten Kategorie gleichstellen würde). Und dieser verborgene, lächerliche Wunsch wird immer wieder von Demagogen ausgebeutet.

Der Gleichheitsmythos hat böse Folgen gezeitigt. Idealisten übersahen, daß gesellschaftliche Stabilität immer verlangt, daß man sich mit notwendiger Ungleichheit abfindet, während Demagogen das sehr wohl wußten, aber das Gegenteil verhießen, ohne jemals ihre Versprechungen zu halten. Gleichheit unter den Menschen ist ein leerer Traum, eine Illusion wie keine andere, und alle, die das nicht wahrhaben wollten, haben bitter dafür gebüßt. Wie jeder, dem die Führung von Menschen anvertraut ist, aus gründlicher Erfahrung weiß, bringt der eine in zehn Jahren so gut wie nichts zustande, während der andere im zehnten Teil dieser Zeit ganz Erhebliches leistet. Wie also steht es um die »Gleichheit« und was bedeutet sie eigentlich?

Soweit wir wissen, waren Piaton und Aristoteles die ersten, die die Theorie der biologischen und ethischen Ungleichheit des Menschen vortrugen. Jener faßte seine Antwort an die Gleichmacher in dem Satz zusammen, die gleiche Behandlung Ungleicher müsse Ungerechtigkeit hervorbringen. Aristoteles ergänzte: »Gleichheit für Gleiche, Ungleichheit für Ungleiche.« Und Calvin vertrat die Auffassung, die Menschen seien ungleich geschaffen und alles Gerede von Gleichheit sei nichts als Lug und Trug.

Gleichheit wäre etwas Großartiges, wenn die Menschen gleich wären, aber so ist die Vorstellung absurd, denn sie sind nicht nur ungleich geboren, sondern auch durch ihre Umwelt ungleich geformt. Max Planck kam auf dieses fundamentale Problem zu sprechen, als er über die Arbeit des Naturwissenschaftlers sagte, es gebe Forscher, welche die Tore der Natur aufschlössen, und andere, die überhaupt nichts zustande brächten. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man zu dem Schluß kommen, die Natur verteile ihre Gaben ungerecht. In Wirklichkeit aber liege der Unterschied in den Menschen selbst. Nicht jeder wisse eben seine Fragen richtig zu stellen.

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Die andere Schneide des zweischneidigen Begriffs Freiheit ist die Illusion menschlicher Würde, eine Illusion, die eine reale und eine irreale Basis hat. Die Realität der Würde liegt darin, daß sie als Sklaventreiber fungiert, durch den sich der Mensch selbst vorwärtstreibt. Sie bringt ihn dazu, Dinge zu tun, von denen er wähnt, sie stärkten seine Individualität und verliehen ihm etwas Besonderes, das ihn von der Masse abhebe. Aber die menschliche Würde - und dies ist der irreale Aspekt - ist nicht, wie man gern glaubt, eine dem Gott Freiheit entsprossene Halbgöttin. Die Würde treibt den Menschen rücksichtslos, ja oft erbarmungslos an; sie erhöht nicht, sondern versagt ihm die Freiheit zu, die glücklichen Freuden an Dingen, die andere - mit weniger oder überhaupt ohne Würde - genießen dürfen. Die negative Verbindung zwischen Freiheit zu und dem Begriff der Würde zeigt sich daran, daß es an dieser mangelt, wo jene reichlich vorhanden ist, und daß das Vorhandensein letzterer die erstere stark vermindert.

Die Würde beschränkt also die menschliche Freiheit zu, spielt jedoch eine willkommene Rolle als Regulator im gesellschaftlichen Bereich. Sie ist die notwendige Bremse, die die Neigung des Menschen hemmt, allen möglichen Verlockungen nachzugeben. Wenn er erst Stolz und Würde verloren hat, gerät er in die psychische Verfassung, seine individuellen Züge zu verlieren, und akzeptiert damit das Los eines machtlosen Elements in der amorphen Masse der Gesellschaft.

Religiöse, politische und soziale Bewegungen haben sich die Wechselbeziehung zwischen den Gefühlen der Freiheit und der Würde zunutze gemacht. Die großen Glaubens- und politischen Bewegungen artikulierten die Hoffnungen und Erwartungen der Menschen und beuteten sie zugleich aus. Insoweit als Luther und Lenin die Autorität (des Papsttums beziehungsweise des Zarismus) angriffen und das Wort des Evangeliums beziehungs­weise die Marxsche Bibel in den Mittelpunkt ihrer »Revolution« stellten, wandten sie sich an die unruhigen Massen, die ihnen folgten. Doch Luther wie Lenin forderten bedingungslose Gefolgschaft - nur unter dieser Voraus­setzung waren sie bereit, ihre Anhänger zum Heil zu führen, sobald ihnen, als den Führern, die Zeit dafür gekommen schien. Dies ist das Grundprinzip vieler Philosophen, Gewaltherrscher und auch Revolutionäre.

Aus der Sicht der psychologischen Praxis definiert den reifen Menschen die Fähigkeit, seine Probleme zu erkennen, objektiv zu bewerten und situationsgerechten Lösungen zuzuführen. Genauso sollte eine reife Gesellschaft beschaffen sein. Reife verlangt Toleranz, aber Duldsamkeit kann die Gesellschaft im ganzen weder verstehen noch praktizieren oder gar als Wert schätzen. Toleranz ist für manche nichts anderes als Gleichgültigkeit oder Schwäche. Sogar Lessing wurde der Sorglosigkeit geziehen, weil er für Toleranz eintrat, in der Erkenntnis, daß alle Wahrheit relativ ist, ob es sich nun um Glaubens- oder gesellschaftliche Fragen handelt.

Eine erstaunliche Auslegung des Toleranzbegriffs gab Herbert Marcuse. Er meinte, Duldsamkeit sei gefahrlos nur unter aufgeklärten Menschen zu praktizieren, deren Haltung völlig rational bestimmt sei. In einer Gemeinschaft-Gesellschaft, die den einzelnen manipulieren will, ist Toleranz undenkbar. Wenn wir Duldsamkeit als Achtung vor dem anderen, seinen Wünschen und Anschauungen definieren, dann ist Marcuses These reine Intoleranz; und Intoleranz ist das Grundgebot der Gemeinschaft.

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