Teil 4

Der Fürst der
ökologischen Wende

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4.1 - Vorspiel

 

   Erneut vom Gottesstaat   

325-337

Die Chance, von der ich ausging, als ich die <Axiome eines Rettungsweges> entwarf, ist nicht nur spirituell-kulturell, sie ist auch politisch. Das ist jetzt noch viel klarer als vor einem Jahr, im Sommer 1986, als sie entstanden. Ich hatte einiges Licht über dem östlichen Horizont Europas wahrgenommen, hatte insbe­sondere gesehen, daß Moskau dabei ist, das sowjetische Gesamt­interesse neu zu definieren, nach innen und darum — was natürlich für uns von höchster Bedeutung ist — auch nach außen.

Aber mit diesem Sonnenaufgang hatte ich nicht gerechnet, obwohl ich ihn in meiner <Alternative> ange­kündigt hatte. Es ist ein Sonnenaufgang, weit mehr als ein russisches bzw. sowjetisches Ereignis. In der Geschichte der Sowjetunion steckt die Geschichte Europas seit 1000 Jahren, die Geschichte der Welt seit 1905, 1917, 1941-45.

Michail Gorbatschow ist der erste, der im höchsten Staatsamt (oder mehr als Staatsamt) das Denken des neuen Zeitalters auszusprechen und zu verkörpern sucht. Dort ist einer erschienen, der schon die Hoffnung auf den "Fürsten" einer Rettungspolitik personifiziert, und die Sonne bringt ans Licht: Mit der Kommunist­ischen Partei, die er repräsentiert, war doch jener kollektive Fürst, jener "kollektive Intellektuelle", von dem Antonio Gramsci im Anschluß an Macchiavelli [*1469] sprach, war doch jenes nicht nur intellektuelle Avantgarde-Ensemble gemeint. Er erschien zunächst verlarvt, und jetzt sind wir Zeugen, wie die aufspringenden Schalen die Farbe des Schmetterlings erkennen lassen.    wikipedia  Antonio_Gramsci  1891-1937

Solch ein Kandidat wird auch hier erscheinen, personal wie kollektiv. Unaufgedeckt ist er schon da. Ich wüßte keinen besseren Ort als Deutschland, um dem neuesten Rußland würdig zu antworten, zumal dies neueste Rußland hinter der Elbe mitten im andern deutschen Land steht. 

Mit der begonnenen großen Reformation der Russischen Revolution hat auch die Wieder­vereinigung Europas, somit die Wieder­vereinigung Deutschlands begonnen. Die Glasnostj, die Öffnung der Sowjetunion, wird es ermöglichen, den Vorhang und die Mauer zu überwinden, die aus dem Hitlerkrieg hervor­gegangen sind.  

Wir sollen uns jetzt nicht vexieren lassen durch die Zumutung, für Deutschland eine Kommunistische Partei zu denken: Es wird nämlich keine — keine in dem Sinne zumindest, wie sie in 99 Prozent unserer Hinterköpfe sitzt, wenn wir den Namen vernehmen. Name ist gerade in Fällen höchster Verallge­meinerung meistens "Schall und Rauch". 

Eben gestern abend habe ich Kurt Biedenkopf mit Günther Gaus von jenen politischen Menschen - Frauen und Männern - sprechen hören, die "überparteilich" denken, fühlen und handeln, weil sie fähig sind, sich über ihre jeweiligen besonderen Parteiinteressen (dieser oder jener — mit Verlaub — "Volks­partei" hierzulande) hinaus zu den Interessen der ganzen Gesellschaft zu erheben, wegen der unab­weis­baren Verflochtenheit der heutigen Welt — also tendenziell zu den Interessen der Menschheit.

Die beiden haben noch nicht über eine "Kommunistische Partei" gesprochen (ich sage es gleich noch einmal: Name ist Schall und Rauch — aber ich vermeide die Provokation nicht, weil wir die Vorurteile überwinden müssen, die so verständlicherweise dagegen aufstehn) — aber sie haben es nur aus einem einzigen Grunde verfehlt: weil sie nicht darauf zu kommen wagten, an die tatsächliche Assoziation, die verbindliche Vereinigung dieser Menschen bzw. dieser Bewußtseins­anteile in uns allen zu denken, nicht an ihre (wie auch immer dann näher vorstellbare) Konstituierung zu einem — nennen wir es unter unseren Bedingungen — Großen Ökolog­ischen Kulturrat (Name ist Schall und Rauch), kurzum, zu dem Fürsten einer ökologischen Wende.

Und sie haben bei näherer Überlegung recht getan, das noch auszusparen, weil es sich dabei nicht — jedenfalls heute nicht mehr — um eine rein oder auch nur vornehmlich politische Assoziation im engeren Sinne handeln kann, während ihre Unterhaltung auf dieser unzulänglichen Ebene vereinbart war, so daß das überschüssige Bewußtsein nur zwischen den Zeilen oder vielmehr zwischen den Sätzen, in den Stimmen und Gesten der beiden Männer spürbar war.

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Dieser letzte Teil des Buches läuft zu auf jene schon erwähnte spirituell-politische Idee unserer Hegel, Hölderlin, Schelling und Marx von einer <Unsichtbaren Kirche>, von einer zugleich innerweltlichen, säkularen und auch transzendent gerichteten "Gemein­schaft der Heiligen" weltweit. Diese schöpferische Leistung, das überschüssige Bewußt­sein zu einer sanften sozialen Macht zu organisieren, die alle partikularen Mächte und Interessen überwölbt und begrenzt, ist jetzt von der westlichen Kultur verlangt — kein Double, sondern ein Pendant der durch die Umstände ihrer Entstehung so schwer belasteten alten Kommun­istischen Partei, jedoch der ursprünglichen Idee der Wiederherstellung eines Menschheitsorgans für den Gottesstaat um so näher.

Ohne ein solches "überparteiliches" Organ ist es unmöglich, den Staat aus der Gemengelage mit den ökonom­ischen Sonder­interessen herauszuholen. Seit dem Bankrott der Kirche im päpstlich-kaiserlichen Macht­kampf des hohen Mittelalters hat das Ziel, das Ideal keinen institutionellen Halt mehr. Der individuelle Taschen­kompaß ist zu schwach.

Faßt man die Ordnungsaufgabe, die in der ökologischen Krise steckt, als ein Ganzes, erfordert sie eine derart starke gesamt­gesellschaftliche Autorität, eine so mächtige Rechtssphäre, daß die entsprechende Lösung nicht allein erst gerechtfertigt, sondern auch nur dann möglich und haltbar sein wird, wenn ihre Institutionen mit einem Pol im Lichte einer neuen Civitas Dei stehen (weil sie sonst — vermittelt über die Reproduktion der unmittelbaren Sonderinteressen — unweigerlich in der Megamaschine ihren Schwerpunkt haben werden). Aus sich selbst kann der säkularisierte Staat diese Autorität unmöglich haben.

Mit der Kommunistischen Partei über dem Staat und über allen gesellschaftlichen Sonderinteressen könnte sich in der Leninschen Praxis eine politische Struktur angekündigt haben, die im Prinzip aus der Welt der streitenden Sonderinteressen und der souveränen Staaten hinausführt. Nur eine institutionelle Struktur, in der die fundamentalen, langfristigen und allgemeinen Interessen auch ein tatsächliches leichtes Übergewicht für sich haben, kann überhaupt die Regulative setzen, die unseren Zugriff auf die Natur begrenzen. Es ist ja wahr: Die ökonomischen Sonderinteressen schlagen nicht in jeder Gesellschaftsformation entscheidend durch, es ist also denkbar, ein institutionelles Gegengewicht dazu zu finden. 

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Aber in unseren westlichen Gesell­schaften ist eine Lage gegeben, bei der die privaten und korporativen Profitinteressen sich im Staate selbst festsetzen konnten, so daß er geradezu als Mechanismus der Vermittlung zwischen diesen Sonderinteressen verfaßt ist. Nicht bloß im Vorhof, nein, im Allerheiligsten dürfen die Wechsler schachern.

Nehmen wir die sowjetische Struktur einmal idealtypisch, so daß sie nicht mehr, wie zweifellos praktisch auch jetzt noch, primär Überbürokratie, Überstaats­apparat ist. Dann kann die Kommunistische Partei tendenziell das Organ des vernünftigen Egoismus der Menschheit sein. Der Rest (groß genug — was da zu tun wäre, habe ich im Schlußteil meiner <Alternative> ziemlich umfassend dargestellt, und das sieht jedenfalls für den Moment nicht völlig utopisch aus) hängt bei dieser institutionellen Ausgangslage davon ab, wie die Partei intern und in der Kommunikation mit der Gesellschaft arbeitet. Wird, was sie dort innerparteiliche Demokratie nennen, aus der Phrase zur Wirklichkeit werden?

Innerparteiliche Demokratie meint im wesentlichen Freiheit der Diskussion unter dem Dach eines letztlich spirituellen Konsenses über das Menschenbild. Und sie setzt voraus, worauf Gorbatschows Vorschlag, die Sekretäre zu wählen, abzuzielen scheint: die Entmachtung des Parteiapparats oder besser seine Unterordnung, so daß die Funktionäre nur noch dienend den organisat­orischen Rahmen für die herrschaftsfreie Kommunikation und Kommunion über die höchsten Prinzipien und Ziele sowie über die allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft sichern.

Der Weg wäre dann ein intensiver innerparteilicher Aufklärungsprozeß, der aber zugleich inmitten des Volkes stattfände. Denn die Parteigrenzen wären offen, wären durchlässig für jeglichen Bewußtseinsanteil, der dieser dialektischen Konsensbildung zugehört. Andererseits böte die Glasnostj der Massen­kommunikation dann hinlänglich Garantien, daß durchkommt, was der Mensch auf dem gegenwärtigen Niveau seiner Evolution überhaupt an Mitwirkung am "Plan der Gottheit" zu leisten vermag. "Transparenz" — das ist ein Lichtbegriff. Kommt dies Gemeinte bei der Perestrojka Gorbatschows heraus, so wird sich die Sowjet­gesellschaft auf das Ideal einer Heliopolis zubewegen.

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In der Epoche der (Neu-) Begründung einer Kultur repräsentieren die Institutionen immer ein höheres als das durchschnittliche Bewußtsein ihrer Zeit und ihres Landes, schaffen der massenhaften Entfaltung der von ihr entbundenen subjektiven Kräfte erst freien Raum. Insbesondere hängt ihr Niveau von dem Bewußtseinsrang der Minorität ab, unter deren Führung sie geschaffen werden (natürlich auch noch von anderen Umständen wie etwa dem Konsens für das Prinzip der gegebenen Revolution, dem Widerstand auswärtiger Mächte, usf.). Sie sind kulturschöpferisch, soweit sie das ganze Gemeinwesen befähigen, sich auf eine neue Stufe zu erheben, dem Menschen eine edlere, harmonischere Gestalt erlauben und die Quellen des Genotyps, der conditio humana fließen lassen, um der jeweiligen Herausforderung sozial begegnen zu können.

Wenn auch manchmal gegenläufig und paradox, spiegeln die Institutionen den Aufstieg des Menschen zu höherer Bewußtheit wider. Etwa die athenische Scherbengerichts­demokratie hat — für sich betrachtet — gewiß nicht über der alten Theokratie gestanden, mit der sie Platon zu ihrem Nachteil verglich. Aber sie gab eben der Entfaltung der Individualitäten viel mehr Raum als die Heilige Monarchie. Wenn aber einmal eine neue Individualitätsform allgemein geworden ist, wenn sich zumindest schon sehr viele Menschen geistig auf der Königsebene bewegen, stellt sich das institutionelle Problem wieder anders dar.

Die Menschen können sich dann alle über der ganzen Pyramide der Arbeitsteilung und Verwaltung versammeln, um über den Gesamtkurs zu entscheiden und den Modus des sozialen Zusammenlebens zu bestimmen. Ob sie dann im einzelnen für begrenzte Zeit "oben", "unten" oder "in der Mitte" arbeiten, wird nun sekundär, weil sie diesen Plätzen nicht mehr untergeordnet, d.h. sozial nicht mehr auf Rollen oder gar Kasten reduziert sind. In meiner "Alternative" hatte ich daher direkt geschrieben: "Wie ist die ›Versammlung‹ der ganzen Gesellschaft, aller Individuen über ihrem Reproduktionsprozeß möglich? Das ist die Kardinalfrage der sozialistischen Demokratie."143

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Gegenwärtig legt die "Perestrojka" in der Sowjetunion gerade diesen Gedanken nahe. Wenn auch gewiß nicht gleich die ganze Gesellschaft, so versammelt sich doch eine verhältnismäßig große Zahl fortgeschrittener Individuen unter der Tendenz zu intern herrschaftsfreier Kommunikation über die allgemeinen Angelegenheiten an der Spitze des historischen Prozesses, nachdem der Zugang zu den Medien der Massenkommunikation und der Freiraum für den Austausch der Argumente in den Kollektiven und Verbänden prinzipiell eröffnet worden ist.

Auf einmal erfährt die Struktur, die wir schon als in sich selber falsch anzusehen geneigt waren, eine Neuinterpretation, und es scheint ihr idealer, wie man denken mochte durch eine fürchterliche Inquisition ein für allemal blamierter und ausgelöschter Urtext hindurch, der übrigens auch noch weit hinter modernen Kommunismus (mit und ohne Anführungszeichen) zurückgeht. (Kommunisten haben die Sowjetunion in der Zwischenzeit nie ernstlich für kommunistisch gehalten. Jetzt kommen umgekehrt die Antikommunisten in die Verlegenheit, "Liberalisierung" nennen zu müssen, was in Wirklichkeit die Wiedereröffnung des Tores zur kommunistischen "allgemeinen Emanzipation des Menschen" sein mag.)

Das Vermittlungsproblem — nämlich wie jeder unvernünftige Egoismus der unmittelbaren, kurzfristigen und besonderen Interessen einsichtig überwunden werden kann — liegt bei uns nicht anders als dort. Aber wir haben keine Instanz für die allgemeinen Interessen. Die höchste Legitimation - durch die allgemeinen Wahlen - wird erlangt, indem die prätendierenden Parteien und Politiker schamlos vor eben diesen unmittelbaren, kurzfristigen und besonderen Interessen scharwenzeln. Die Bürger werden selbst noch gegen ihren Willen dahin zurückgezerrt, wo die dunkelsten Punkte in ihrer Seele liegen.  

Angesichts der ökologischen Krise ist es ein Skandal, hauptsächlich die Wahl zwischen diesen beiden "Volksparteien" CDU und SPD zu haben, die auf dem kleinsten Nenner einerseits der materiellen Selbstsucht der Bürger und andererseits der politischen Selbstsucht ihrer Matadore frönen.

Oder irre ich mich und vermisse im Parlamentarismus fälschlich, daß es auch nur die idealtypische Möglich­keit gäbe, etwa in unserem Bundestag das Gemeinwohl der Menschheit, das Gleichgewicht der Gaia zur Richt­schnur zu machen? Die einzige formelle Chance - darauf komme ich zurück - bestünde in der Einrichtung eines Oberhauses, sagen wir - im Unterschied zu einem House of Lords - eines House of The Lord. 

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Die unmittelbaren, kurzfristigen und besonderen Interessen müssen ihre Vertretung haben. Es geht aber nicht länger an, daß diese Interessenvertretung institutionell das Feld beherrscht und daß die fundamentalen, langfristigen und allgemeinen Interessen gar keinen durch­dring­end­en Ausdruck finden und deshalb immer nur erst in zweiter Linie berücksichtigt werden können.

Für mich zeigt die neue Entwicklung in der Sowjetunion auf einer höchsten - nicht mit der Diskussion über "Kommunismus" zu belastenden - Verallgemeinerungs­ebene, wie wenig notwendig es ist, uns mit den Standard-Institutionen der westlichen Demokratie in der besten aller möglichen Welten zu wähnen. Das war schon ohnehin nicht mehr gerechtfertigt, wenn man sich die Folgewirkungen rund um den Erdball vor Augen hielt. Und daß der sowjetische "Osten" auch keine Alternative aufzuweisen hatte, hätte uns eher noch mehr beunruhigen sollen. Nun aber wird die Moskauer Alternative (obwohl natürlich noch furchtbar weit von aller Idealität entfernt) wieder wirksam, und zwar auf der Schnittstelle zwischen rückwärts durchlaufener Theokratie und der wieder glaubhaften Fernperspektive einer herrschaftslosen kommunistischen Gesellschaft.

Wie wir jetzt an der Sowjetunion ablesen können, kommt die neue Ordnung unter Umständen erst in einer verlarvten Gestalt zur Welt. Nur ganz zuinnerst, manchmal selbst von den Trägern der "Erbinformation" nicht mehr hoffnungsvoll geglaubt, blieb etwas wie ein ideeller Genpool wirksam, in dem die Raupe ihre Schmetterlings-Bestimmung weiß. Dabei wuchsen in der Zwischenzeit Millionen und Millionen ganz anders kultivierter und selbstbewußter Menschen heran. Es ist deren Subjektivität, die jetzt das Design, das unter Lenin begründet, unter Stalin festgelegt wurde, von oben oder jedenfalls aus dem sozialen Nervensystem heraus mit Licht erfüllt.

Daß die Russische Revolution so ein blutiger eiserner Strom war, hing nur in letzter Instanz von der bolschewistischen Führung ab, es sei denn, man meint, Lenin und seine Partei hätten die Macht gar nicht erst übernehmen und behaupten sollen. Ressentiment, Sadismus, Kulturlosigkeit oben waren vornehmlich Ausdruck derselben Züge unten: Die Masse der neuen "Kader" kam ja von dort. 

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In seinem letzten, zunächst aussichtslosen Kampf gegen den neozaristischen Sowjetbüro­kratismus hatte Lenin verzweifelt nach kultivierten Menschen ausgeschaut, mit denen man wenigstens die Schlüssel­positionen in Staat, Wirtschaft, Bildungswesen hätte besetzen können. Eine — nur im Hinblick auf ihre numerische und kulturelle Schwäche "putschistisch" zu nennende — Minorität hat zwar das Gerüst der neuen Verfassung hinstellen, kaum aber dafür sorgen können, daß in den neuen Schläuchen nicht — wie Marx sich einmal ausdrückte — "die ganze alte Scheiße" hochsteigt, oder zumindest viel davon.

Jetzt hat es einen Sprung gegeben, die Exkremente beginnen abzufließen, und es wird, bedeutsam für die ganze Menschheit, jene von Platon bis Gramsci immer wieder erwartete Dimension sichtbar: Die Spitze sendet Licht aus.

 

Ich habe in einer Anmerkung zum Kundalini-Thema (109, auf S. 511) das neurologische Tarot von Timothy Leary erwähnt. Kurioser-, aber nicht zufälliger­weise bietet sein "Spiel des Lebens" eine aufschlußreiche Assoziation zu diesem politischen Stoff. Von den 24 Evolutionsstufen gleich 24 Karten seines Spiels sollen die ersten 12 unserem durchschnittlichen Bewußtsein entsprechen, die andern 12 einem höheren Bewußtsein. An der letzten Stelle des ersten Dutzends steht die Tarotkarte "Gerechtigkeit", und die symbolisiert für Leary "zentralisierten religiösen Sozialismus" als typisches soziales Muster des 20. Jahrhunderts, nicht etwa nur in der Sowjetunion. Charakteristisch für die Menschen dieser Phase seien "insektoide Sozialisierung" (er redet von "Amenschen", in welchem Kunstwort er Ameise und Mensch kombiniert) und "Bienenstock­bewußtsein".

Auf die Überwindung dieser Verfassung bezieht sich nun, was Leary zu seiner Karte 17, die dem zweiten Dutzend angehört, also ein höheres Bewußtsein repräsentiert, zu sagen hat und was in gewisser Weise einen Kommentar zu der neuen sowjetischen Entwicklung darstellt. Es handelt sich um die Tarotkarte <Der (vom Blitz getroffene) Turm>. Sie bezieht sich zunächst auf den individuellen Geist, das individuelle Gehirn, aber wir können sie auch auf das Gehirn des sozialen Ensembles, auf den institutionellen Apparat und seine kommunikativen Prozesse beziehen. 

 wikipedia  Timothy_Leary  1920-1996

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Leary teilt mit, zu dem gespaltenen Turm "als Wirklichkeitsregisseur" (d.h. als Kommunikationsprinzip) gehört der hebräische Buchstabe Pe mit der Bedeutung: "Das Eindringen deiner Worte bringt Licht." Das Gehirn übernimmt auf dieser Stufe die Verantwortung für sein eigenes Funktionieren und wird so zu selektiver Neuprogrammierung fähig. Laut Tarotkartenbild sind beide Gehirnhälften freigelegt worden.

Die primitive Tarotkarte zeigt einen stilisierten bewohnten Turm, dessen Spitze abgesprengt worden ist. Die Spitze deutet auf den Kopf, auf die Struktur des Bienenstocks. Ein Blitz ist in den Scheitel des Kopfs eingeschlagen und hat so das Gebäude in Brand gesetzt. Zwei menschliche Gestalten mit erstauntem, leerem Gesichtsausdruck schweben oder fallen herunter. "Es ist bestimmt eine Karte der Verwirrung." ... Der Turm stellt die geistige Struktur des Bienenstocks dar, die von neuroaktiven Substanzen gesprengt wird.144

Soweit Leary

Paßt das nicht tatsächlich auf die Moskauer Atmosphäre von heute, die in diesem Sinn "neuropolitisch" verstanden werden kann? Und die Vorgänge lassen auf einen Geist schließen, der noch eine Stufe höher steht: Tarotkarte 18 "Der Stern". Die assoziiert Leary mit einer "Auswanderer-Avantgarde", mit der Idee eines gemeinschaftlichen Aufbruchs "verschmolzener", freiwillig zusammengekoppelter Gehirne, sozusagen eines Bundes von Gleichgesinnten: "Sie schließen sich zusammen und bereiten sich darauf vor, den alten Bienenstock zu verlassen, um zu einer neuen, offenen ökologischen Nische auszuwandern, wo sie neue Bienenstöcke (höheren Typus) bilden" (daß Leary das platt als megatechnischen Ausflug in den Kosmos versteht, können wir ihm hier schenken). Der zugehörige mythische Titan sei Hyperion, der hebräische Buchstabe Tzaddi: "Ich werde von Einsicht verzehrt; ich arbeite mit reinen Elementen."

Das erinnert an den König Echnaton und an seine Königin Nofretete.145 Dazu gehört auf der darunter­liegenden Stufe 17 (des "vom Blitz getroffenen Turms") die Praxis einer "Zweiten revolutionären Tyrannis" - nach der "Ersten" dunklen, patriarchal aggressiven Tyrannis, die im ersten Kartendutzend, wo es um das durchschnittliche Bewußtsein geht, auf der zur 17. analogen Stufe steht, also auf Stufe 5: "Der Herrscher".

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Es ist natürlich von höchstem Interesse, wie sich die Probleme des sozialen Bienenstocks darstellen und wie sie behandelt werden, wenn die institutionelle Sphäre nicht mehr hauptsächlich der Reflex der durch­schnittlichen, naturwüchs­igen Subjektivität ist, sondern der Ausdruck einer eigentlich menschlichen. Immerhin geht einer Regierung auf der Stufe "Turm" bzw. "Stern" bei Leary die Öffnung des Herzens, die Entwicklung der Liebesfähigkeit voraus.

Ob man nun diesen Exkurs ins neurologische Tarot für mehr oder für weniger erhellend nimmt, was die Moskauer Reform betrifft — jedenfalls sehe ich darin einen weiteren Hinweis auf das, worum es mir in diesem Buch letztendlich geht: daß die einzig vorstellbare Rettungspolitik vornehmlich Bewußtseinspolitik sein wird.

Es genügt natürlich nicht, eine Stufenleiter von Gehirnverfassungen ("Kasten") bzw. Bewußtseins­schalt­kreisen festzustellen, so aufschlußreich dies ist. Das Modell von Leary liefert einen Zugang, um besser Geschichte als Psychodynamik begreifen zu können. Aber nicht Gehirn-Kasten oder -Klassen machen Geschichte, sondern Menschen, von denen potentiell jede(r) an allen Stufen teilhat.

Was die Kommunistische Partei als "Wirklichkeitsregisseur" betrifft, so hatte ich vor allem an ihr kritisiert, daß selbst sie korrupt geworden war, ihre Perspektive preisgab, ihrem Auftrag nicht entsprach, den besonderen Interessen der Funktionäre nachgab, zuließ, und zwar systematisch zuließ, daß die Staats- und Parteifunktionäre Pfründner und — wie es in der chinesischen "Kulturrevolution" hieß — "Kapitalisten der Macht" wurden. Lenin wäre niemals auf den Gedanken gekommen, als erster in den allgemeinen Topf zu greifen, und nach der größeren Portion. Positiv ist diese Frage aber jetzt durch ein Aufgebot lösbar, das die Selbstlosesten für die Partei gewinnt, wenn zugleich die Kontrolle der Öffentlichkeit gesichert wird — von oben allein ist die Korruption in einer zugleich machtausübenden Partei nicht zu besiegen.

Undenkbar ist es nicht, die Kommunistische Partei, und das sozialpolitische System mit ihr, von innen auf eine Verantwortungs­ethik à la Max Weber auszurichten und vor allem — als Bedingung dafür — zu spiritual­isieren. In Wirklichkeit ist die Kommunistische Partei von dem Marxschen und dann dem Leninschen Ansatz her schon in dieser Perspektive geschaffen worden, freilich materialistisch verlarvt und verkürzt, weil die christliche Spiritualität politisch total Bankrott gemacht hatte. 

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Es begann mit dieser Idee des Bundes für die allgemeine Emanzipation des Menschen gerade die Wiedergeburt der Substanz, die in dem Gedanken des Gottesreiches gelegen hatte.

Diese Substanz kommt jetzt durch, ohne daß die Errungenschaften der Säkularisierung — Errungenschaften vor allem der Aufklärung über die Menschenimmanenz des Staates, der Ordnung überhaupt, und der Gottheit — wieder verlorengehen werden. Die Parteimetaphysik — eines Majakowski etwa — wäre unmöglich gewesen ohne dies verborgene Korn Wahrheit. Man kann über Sachen wie Majakowskis Leninpoem denken wie man mag — Lenin ist ein moderner Kulturheros gewesen. Jetzt, wo sein Werk in seinem wahren Wesen zu leuchten beginnt, könnte man ohne Verlust sogar sein Mausoleum auflassen und ihn endlich in Frieden ruhen lassen. Freilich, die Praxis, den ganzen Gesellschaftskörper vom Scheitelpunkt her mit Licht zu durchdringen, beginnt erst.

War das bis hierher sozusagen russisch gesprochen, obgleich um daran die allgemeine Problematik sichtbar zu machen, so will ich die nun noch ins Deutsche übersetzen. Da kann ich allerdings die Essenz zitieren — schöner formuliert, als ich es vermöchte, vor beinahe zweihundert Jahren, 1799, von Novalis. Der hat jenes Jahr in Weißenfels gesessen und im Hinblick auf eine neue politische Spiritualität seinen Aufsatz <Die Christenheit oder Europa> geschrieben.146

"Europa" — wie soeben im Falle der Kommunistischen Partei meine ich auch hier die allgemeine Struktur der Aussage. Wo Novalis "Europa" sagt, müssen wir die ganze Welt ins Auge fassen, und wo er von der Christenheit spricht, müssen wir uns so etwas wie die "Gemeinschaft der Heiligen aller Völker" vorstellen, einen Verbund, der nichts anderes als Ausdruck des aufstrebenden menschlichen Wesens ist. Zugleich sind des Novalis Worte ein deutsches Vermächtnis. Rußland, die Sowjetunion gibt jetzt einen Anstoß, eine Hilfe. 

Aber wir folgen unserem eigenen Traum, wenn wir uns auf diese Denkweise einlassen, die jetzt vielleicht noch aktueller ist als zu der Zeit, da ihr Novalis Ausdruck verlieh, indem er, erst einmal beim Verfall der alten Autoritäten ansetzend, schrieb:

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Der anfängliche Personalhaß gegen den katholischen Glauben ging allmählich in Haß gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. Mehr noch — der Religionshaß dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen als Naturwesen mit Not obenan und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller, und eigentlich ein echtes perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei.

Daß die Zeit der Auferstehung gekommen ist, und gerade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein scheinen und ihren Untergang zu vollenden drohten, die günstigsten Zeichen ihrer Regeneration geworden sind, dieses kann einem historischen Gemüt gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor. Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet, die höhern Organe treten von selbst aus der allgemeinen gleichförmigen Mischung und vollständigen Auflösung aller menschlichen Anlagen und Kräfte als der Urkern der irdischen Gestaltung zuerst heraus ...

Ruhig und unbefangen betrachte der echte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten. Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sisyphus vor? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht, und schon rollt die mächtige Last auf der ändern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält. Alle eure Stützen sind zu schwach, wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behält. Aber knüpft ihn durch eine höhere Sehnsucht an die Höhen des Himmels, gebt ihm eine Beziehung aufs Weltall, dann habt ihr eine nie ermüdende Feder in ihm und werdet eure Bemühungen reichlich belohnt sehn! . . .

Es ist unmöglich, daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. Unter den streitenden Mächten kann kein Friede geschlossen werden, aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand; auf dem Standpunkt der Kabinette, des gemeinen Bewußtseins ist keine Vereinigung denkbar.

Wer weiß, ob des Kriegs genug ist, aber er wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird solange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreis herumtreibt, und, von heiliger Musik getroffen und besänftigt, zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten...

Haben die Nationen alles vom Menschen - nur nicht sein Herz? - sein heiliges Organ? Wo ist jener alte, liebe, alleinseligmachende Glaube an die Regierung Gottes auf Erden, wo ist jenes himmlische Zutrauen der Menschen zueinander ...?

Novalis verlangt eine neue alte 

"Kirche ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ..., die alle nach dem Überirdischen durstige Seelen in ihren Schoß aufnimmt und gern Vermittlerin der alten und neuen Welt wird": "Keiner wird dann mehr protestieren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird echte Freiheit sein, und alle nötigen Reformen werden unter der Leitung derselben als friedliche und förmliche Staats­prozesse betrieben werden."

Ja, wir müssen uns diese rettende Instanz schaffen, weltweit, bei uns aber beginnend. Und die deutsch-russische Verbindung wird dabei höchst bedeutungs­voll sein. Die neue soziale Macht wird zuerst als innerer Entwurf und dann als Geisterbund existieren, ehe die neue deutsche Reformation auch den Staat ergreift, was sie indessen von vornherein auch ins Auge faßt.

An einer Stelle seiner <Neuen Sicht der Dinge> schreibt Biedenkopf einigermaßen unauffällig, und zwar im Hinblick auf das Menschenbild, das sich in den Institutionen ausdrücken soll: "Die freiheitliche Gesellschaft geht von der Einzigartigkeit des Menschen und seiner letztlich personalen Verantwortung einer Instanz gegenüber aus, die außerhalb seiner selbst und außerhalb der menschlichen Gesellschaft liegt."147) Als Phrase steht dergleichen wohl in der Verfassung so manchen "christlichen" Landes.

Es käme auf eine nähere Verständigung an, was der Begriff der Gottheit, der doch offenbar hinter Biedenkopfs Satz steht, heute meint und will (und was dann "außerhalb" bedeutet, was hingegen nicht). Hat man sich einmal darauf eingelassen, in diesem platonischen, urbildlichen Bezuge von ORDO zu reden, ist eine solche Vergegenwärtigung sogar unerläßlich. Wenn unsere Gesellschaft sozusagen eingeboren expansionistisch ist, kann die politische Energie, um sie darin zu begrenzen, aus dem politischen Raum allein unmöglich gewinnbar sein.148) Welche Orientierung aber haben wir für die spirituellen Energien, die wir hereinnehmen wollen? Hier sehen wir uns zurückverwiesen auf eine Diskussion der Subjektivität der Rettung. Auf diesem Vorfeld scheiden oder finden sich die Geister.

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 Rudolf Bahro 1987 #  Logik der Rettung  #  Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik