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»Du hast dich sexuell an mir erregt«

 

  Steffen Freyberg  

Ich bin 56 Jahre alt, von Beruf war ich bis jetzt Lehrer. Ich habe zwei erwachsene Kinder, eine Tochter und einen Stiefsohn. Zu meiner neun Jahre älteren Schwester und meinem drei Jahre älteren Bruder besteht kaum Kontakt. Meine Mutter war ihr Leben lang Pfarrfrau und ist neben dem sehr dominanten Vater immer eine blasse Erscheinung geblieben.

 

Mutter!

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Ich will mich von dir verabschieden, damit ich nicht weiter wie ein verstörtes Kind durchs Leben laufe. Ich habe dich nicht in den Tod begleitet, nicht an dem Abschiedsritual deiner Beerdigung teilgenommen. Das ist jetzt fünf Jahre her. 

Ich war verletzt, fühlte mich betäubt, hatte keine Distanz zu dir, wollte mich endlich finden ... Wie ein verirrtes, alleine gelassenes Kind habe ich mich gefühlt, habe Wut auf dich gehabt, immer wieder Wut, aber kein irgendwie geartetes Gefühl von Nähe.

Mutter, wo warst du? Warum hast du mich alleine gelassen, schon als ganz kleines Kind? Schon als Säugling vom ersten Atemzug an? Wo war dein Herz, als du mich alle drei Stunden nach der Uhr stilltest und mich anschließend in meinem Kinderbett vergeblich nach dir und deiner Geborgenheit schreien ließest? Wo in meinem zweiten Lebensjahr? Ich erinnere mich, dass ich aus meinem Kinderbett im Krankenhaus verzweifelt meine Ärmchen nach dir ausstreckte, als du mich vor und nach meiner Drüsenoperation alleine ließest. »Mutti, Mutti«, habe ich in meiner Angst hinter dir hergerufen.

Hat dir denn nicht dein Herz geblutet? Hast du deinen kleinen Sohn so wenig geliebt? Hast du meine Panik denn nicht verstanden? Ich fasse es einfach nicht. Oder - wir machten zusammen Urlaub im Krieg, 1942, in Rauschen an der Ostsee. Du bist mit deinem Mann im Boot weggepaddelt, ich verstand das nicht. Ich hatte solche panische Angst, dass du mich verläßt, dass ich schreiend ins Wasser gelaufen bin. Oder - du erzähltest mir viele Jahre später völlig ohne Rührung, dass du mich im Kinderwagen einmal im Garten im Regen hättest stehen lassen. Ich selbst fühle heute noch die Panik und Verlassenheit des kleinen Jungen von damals in mir und bin empört über deine Herzlosigkeit. Dieses frühe Gefühl, verlassen worden zu sein, hat mich immer wieder gequält. Ich selbst habe in meinem Leben unzählig viele Menschen verlassen und habe nie verstanden, warum. Es schmerzt mich heute unendlich, dass ich meine Kinder ebenfalls so häufig verlassen und im Stich gelassen habe, dass ich mit der gleichen Gefühls- und Herzlosigkeit liebe Freunde und Frauen einfach verlassen und mich selbst dadurch immer wieder in tiefste Einsamkeit verbannt habe.

Heute, mit fünfundfünfzig Jahren, versuche ich unter vielen Mühen, meine Kontakte zu Menschen wieder aufzubauen oder neu anzuknüpfen und werde mir erst des Wertes bewusst, den diese Menschen für mein Leben haben. Natürlich hast du trotzdem von Anfang an für mich gesorgt, so gut du konntest. Ich bin am 19. Januar 1940 auf die Welt gekommen. ... Es war Krieg, dein Mann war nicht da. Du hast sicher in ständiger Angst und Sorge gelebt. Du hast mich später in dem Bombeninferno von Dresden am 13. Februar 1945 beschützt und gehalten.... Auch weiterhin hast du stets für mich gesorgt. ... Ich weiß, ich habe dich damals sehr geliebt. Du warst die Nummer Eins in meinem Leben. Aber du warst schroff, häufig abweisend und hast meine zarten Gefühle zu dir nicht bemerkt oder ernstgenommen. Das hat mich oft tief beschämt und gekränkt.

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Ich habe immer wieder die Nähe zu dir gesucht. Du hast es gemocht, wenn ich in dein Bett kam. Ich bin mir sicher, dass du meine kindlichen Zärtlichkeitsbedürfnisse nicht so beantwortet hast, wie sie gemeint waren, sondern mich wie einen Erwachsenen, also wie einen Ersatzliebhaber, gebraucht hast. So hast du mich in einer Weise an dich gebunden, dass ich später große Schwierigkeiten hatte, zu Mädchen erotischen oder sexuellen Kontakt aufzunehmen.

Noch schwieriger wurde es für mich, als 1945 mein Vater wieder auftauchte, ein für mich fast fremder Mann, von dem ich mich sehr oft bedroht fühlte. Ich selbst war inzwischen zu deinem kleinen Mann geworden, mit dem du ja häufig dein Bett teiltest. Ich wärmte dich und hing an dir. ... Meinen Vater lehnte ich mehr und mehr ab. Ich fürchtete seine unnahbare Strenge und Härte. Die Beziehung zwischen euch Erwachsenen wurde schwierig. Im Elternhaus breitete sich Kälte und Distanz aus. Ich suchte mir meine Zärtlichkeit bei den warmherzigen Bauersfrauen auf dem Dorf, wo Vater inzwischen Pfarrer war. Ich habe mich in dieser Zeit, circa im sechsten Lebensjahr, dir gegenüber verschlossen. Oder bist du es gewesen, die sich von mir abgewendet hat? Hast du dir nie die Frage gestellt: Was bin ich für eine Mutter, die von ihrem Kind nicht gesucht, freundlich angeschaut und berührt wird? Was bin ich für eine Frau, dass mein Junge mir nichts Wesentliches mehr von sich erzählt, der sein Herz und Gemüt mir nicht öffnet, der meine Nähe, Wärme und Geborgenheit nicht sucht? Was bin ich für eine Mutter, die ihren Jungen nicht herzt und küsst, deren Junge nicht fröhlich zu ihr hinstrebt? Welche Kälte muss ich für mein Kind ausstrahlen, dass es sich nicht mehr bei mir wärmt? Liegt es vielleicht an mir, dass mein Kind sich immer mehr in seine Einsamkeit zurückzieht?

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Damals verfestigten sich in mir tiefe Minderwertigkeitsgefühle, Ängste und Schamgefühle, die mich bis heute im Kontakt mit Menschen immer wieder einholen. Ich fühlte und fühle mich bis heute häufig immer wieder grundlegend wertlos, unzulänglich, fehlerhaft und, in letzter Konsequenz, nicht liebenswert. Das alles hast du aber gar nicht mitbekommen, denn ich lernte sehr rasch, vorbildlich zu funktionieren, so wie du und dein Mann es wollten. Allerdings mit Groll im Herzen, denn jeder Widerstand wurde geahndet. Ihr habt meine Sprache, die Sprache des kleinen Jungen einfach nicht verstanden. Euch allerdings auch nicht bemüht, sie zu verstehen. Denn Kinder hatten zu gehorchen, basta! Und wenn sie das nicht taten, wurden sie bestraft. Mutter, du hast mir meine Gefühle von Widerstand, Verärgerung und Wehrhaftigkeit genommen. Du hast dich einfach über mich hinweggesetzt und mich mit meinen kindlichen Gefühlsäußerungen nicht ernst genommen, hast sie belächelt, lächerlich gemacht, hast mich beschämt, mir zu verstehen gegeben, dass ich mit solchen Gefühlen gar nicht ernst zu nehmen bin. Du hast mir meine Wut genommen. Einmal, als ich sehr wütend war, mit sechs Jahren, sagtest du, wobei du ziemlich ironisch und herablassend warst: »Komm, wir werfen deinen Bock ins Klo!«

Ich war dein Eigentum, und du hast über mich nach deinem Belieben verfügt. Was mich besonders schmerzt und geschmerzt hat: Wenn ihr ein Hausfest feiertet, hast du mich ganz früh ins Bett gesteckt. Ich habe euch von nebenan tanzen und singen gehört, durfte nicht dabei sein. Ich habe mich gegrämt, war ausgeschlossen aus der Gemeinschaft nur weil ich ein Kind war. »Warum hast du mich so im Stich gelassen und vergessen?« frage ich dich noch heute. Du kannst gar nicht ermessen, wie tief ich damals gekränkt war. Mutter, deine Macht über mich war grenzenlos in dieser Zeit der Vorpubertät. Allerdings blieb mir aber auch die Fragwürdigkeit dieser Macht nicht verborgen. Deine Macht bestand aus Herrschaft über uns Kinder und aus Ohnmacht und Unterwerfung deinem Mann gegenüber. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum du nicht für mich oder meine Geschwister eingetreten bist, wenn dein Mann brutal und gewalttätig wurde.

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Du erinnerst dich sicher nicht mehr an die Szene im Arbeitszimmer deines Mannes, wo dieser Berserker meinen Bruder wegen eines Kratzers an einem Ölbild, ich weiß noch, es hieß »Der Schäfer«, brutal zusammengeschlagen und misshandelt hat. Wir, das heißt, du und ich, hielten uns im Zimmer darunter auf und hörten das furchtbare Schreien von ihm. Es ging mir durch Mark und Bein, ich musste weinen. Du selbst wurdest zwar unruhig, aber tatest gar nichts. Warum? Warum bist du nicht eingeschritten? Es war doch dein Kind, das da um Hilfe schrie. Auch später gab es immer wieder Szenen, wo du uns Kinder der Gewalttätigkeit deines Mannes ausgeliefert hast. Das alles empört mich noch heute. Du wurdest zur Mittäterin und damit für mich ein schlechtes Frauenvorbild. Wie kann ich vor einer Mutter Achtung haben, die ihre Kinder dermaßen im Stich lässt?

Ich weiß, das sind sehr harte Vorwürfe, ich kann und will sie dir aber nicht ersparen. Du selbst warst feige, hast aber von mir Männlichkeit und Härte verlangt. Wie soll das ein Kind begreifen, ohne irgendwann verrückt zu werden? Ich muß noch mal auf das Thema »Körpererleben« und »Sexualität« zurückkommen. Es war die Zeit zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr, der noch unbewussten Sexualität. Wie häufig hast du mich in dieser Zeit beschämt, wenn ich etwas tat, was in deinen Augen sündig war? Auf der einen Seite hast du meine Zärtlichkeitsbedürfnisse schamlos für dich ausgenutzt, hast dich sexuell an mir erregt, mich mit in dein Bett genommen. Auf der anderen Seite waren Nacktsein, Zärtlichkeit und Sexualität uns Kindern verboten. Du warst eifersüchtig auf unsere kindlichen Körpererkundungen. Ich erinnere mich an eine sehr fröhliche Nacktszene mit meinem Bruder und einem Mädchen. Du stürztest durch die Tür mit den Worten: »Pfui, so etwas tut man nicht! 

Was macht ihr da für Schweinereien!« und hast uns auseinander gerissen, als ob wir eine Todsünde begangen hätten. Mit vierzehn Jahren habe ich meine Sexualität bewusst entdeckt. Ich weiß, dass du in den darauffolgenden Jahren meiner Pubertät häufig zu mir kamst, wenn du dir ein neues Kleid gekauft hattest. Warum bist du damit zu mir gekommen? War ich dein heimlicher Mann, an dessen aufkeimender Sexualität du dich bedient hast? Bei dem du dir Zuspruch und Aufmerksamkeit gesucht hast? Warum bei mir? Du hast mich bewundert und zugleich abgewertet, wo du konntest. Du hast mich verwöhnt, indem du mir meine Lieblingsspeisen gekocht hast und warst stolz auf mich, aber nur, wenn es dir gerade in den Kram passte. Mutter, mich als Person mit eigenem Wert hast du nicht gesehen und geachtet. Mutter, du hast mich nicht geliebt.

Steffen

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»Mein Vater war ein unzulänglicher Ersatz für mich,

 deinen eigentlichen unfreien Liebespartner«

  Wilfried Wieck  

Mutter,

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mich stört diese vorauseilende mütterliche Jämmerlichkeit.

Ich habe Angst um die Mutter. Ich habe keine Wut auf die Mutter. Wie wurde mir die Wut ausgetrieben? Wie wurde mir die Angst eingebleut? Kannst du mir das beantworten? Ich schreibe leichter über dich als an dich! Was das bedeuten soll?

Na, wieso kostet es mich denn Kraft zu schreiben: »Mich stört deine vorauseilende jämmerliche Mütterlichkeit]« Das liegt sicher nicht nur daran, dass ich dir gegenüber männlich distanziert bin; ich denke, dass ich Abstand brauche, weil allzu große Nähe zu dir mein Kindheitsschicksal war und ich diese Symbiose jetzt verhindern will, um nicht in Verwirrung zu geraten, in Verwirrung als Aufregung, Schuldgefühl und Schmerz. Mir ist immer bewusster geworden, dass ich eine gewisse Entfernung nicht nur zu dir, sondern ganz allgemein zu Frauen brauche. Um mich nicht zu verlieren und zu vergessen, vor allem, um meine Bedürfnisse zu spüren. Du hast diesen Charakterzug der Verschmelzung bei mir hervorgerufen, mich voll besetzt. Ich fühle mich von dieser Gesellschaft, die mir Mutterliebe versprochen hat, zutiefst getäuscht, und deshalb spreche ich in diesem Brief zum ersten Mal von Muttergewalt.

Mutter, ich habe zuweilen Sehnsucht nach deinen positiven Charakterzügen, nach deinem Trost, deinem Verständnis und deiner Parteinahme für mich, die mir in Konflikten mit Frauen meistens sicher war. Auf der anderen Seite sollte ich dich retten, während ich total auf dich angewiesen, von dir abhängig war. Ich kann dich nicht anklagen, obwohl ich das will. 

In der Beziehung zu dir liegen alle Wurzeln meines Mannseins, alle meine »männlichen« Haltungen. Ich habe mich durch die komplizierte Beziehung zu dir zu einem »richtigen« Mann entwickelt, musste alles Weibliche fliehen, weil es belastend war, so zu werden wie du. Statt dessen habe ich mich an das Bild des abwesenden Vaters gehalten, deines Mannes, mit dessen von dir entworfenem Bild ich mich identifiziert habe. Du hast dich verleugnet, hast dich selbst nicht genügend geliebt. Du hattest offenbar keine Chance, dich lieben zu lernen. Die Möglichkeiten, die wir heute haben, uns selbst kennenzulernen, stabile Freundschaften aufzubauen, uns Hilfe zu holen, gab es zu deiner Zeit noch nicht.

Du hast mich häufig gemaßregelt und moralisch geknebelt, so dass wir nie eine richtige Auseinandersetzung hatten. Ich litt immer unter Verpflichtungsgefühlen dir gegenüber. Ich hatte große Angst vor dir und deiner Moral. Du hast uns Kinder manchmal wie Teufel erlebt und mir das auch vorgehalten: das angeblich Böse in mir. Andererseits hast du mich verwöhnt. Ich musste deshalb eine ganze Portion Frauensucht entwickeln; weil die Symbiose mit dir mein Gefängnis war, habe ich gelernt, Kontakte zu anderen Menschen zu meiden.

So abgeschirmt gegen den Einfluß anderer konntest du dir Übergriffe mir gegenüber leisten, hast zum Beispiel dem Pfarrer eingeredet, dass ich zu Hause nie etwas erzähle. Ich fühlte mich sehr unverstanden und gedemütigt. Auch noch in anderer Weise wurde ich von dir nicht richtig auf mein Leben vorbereitet. Du hast von meinem Vater immer klagend und anklagend gesprochen, ohne mir das Gespräch mit ihm zu ermöglichen.

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Du warst nie nur passives Opfer. Du warst auch gewalttätig, hast die beginnende Beziehung zwischen meinem Vater und mir zerstört. Das war Gewalt. Du tatest so, als ob »wir beide« zusammenstehen müssen gegen die böse Welt, also vor allem gegen meinen Vater. Ich schreibe das ohne Wutgefühle und frage mich, warum ich auf dich nicht wütend sein kann. Mir fällt dazu ein, dass ich mich bereits seit vierzehn Jahren mit deiner Person auseinandersetze. Vielleicht war diese Trauer- und Wutarbeit ausreichend, so dass ich heute gelassen und endlich von deiner Beeinflussung frei sein kann. Für dich war ich der einzige Mann, vor dem du keine Angst hattest. Du musstest mich nicht verdächtigen, du konntest mir alles erzählen, hast mich überfordert mit »Geheimnissen«, mit Andeutungen über Vaters Seitensprünge, die für mich zu inneren Konflikten wurden. Du hast überall gewittert, dass Menschen gemein zu dir waren. In der Beziehung zu mir wirkte das wie eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Ich ließ dich im Stich. Das war Notwehr. Das erscheint mir wie eine Zusammenfassung des weiblichen Prinzips in dieser Gesellschaft: Die Frau, die sich fälschlicherweise für gewaltlos hält, behauptet, gewaltlos zu sein, reagiert so, dass der Mann gewalttätig wird. Sie führt ihn zur Gewalt, prophezeit, dass er gewalttätig ist, provoziert ihn und führt seine Gewalt herbei. Sie delegiert Gewalt. Du hattest keine Freude am Leben, hast gelitten, die Gewalt gegen dich selbst gerichtet. Diese Gewalt habe ich mir von dir abgeguckt: den gegen sich selbst gerichteten Hass, dein hemmungslos gewalttätiges Weinen und Schreien hinter der Tür hat deine Depression in meinen Körper gestoßen wie ein scharfes Messer. Ich habe panische Angst ausgestanden, du könntest dich aus dem Fenster stürzen, du hast mir zugemutet, immer Angst um dich zu haben, indem du von Selbstmord sprachst, von Gewalt gegen dich. Diese wurde zur Gewalt gegen mich, ich war oft voll wahnsinnigen Entsetzens, du hast dich immer skeptisch über meine Freundinnen geäußert, Mißtrauen in mich gesät, allen Frauen gegenüber. Das war gewalttätig. 

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Angeblich war ich es, der dir immer Sorgen machte. Darin warst du unaufrichtig, hast mich zu einem menschlichen Versager gestempelt. Dein unvorsichtiges, erbarmungsloses »Über-alle-deine-Nöte-Sprechen« hat mich zum Schweiger gemacht. In deiner sogenannten Offenheit hast du dich brutal über meine unvermeidlichen Schmerzen hinweggesetzt. Wenn du auf mich wütend wurdest, ging es mir besser. Mit deiner Aggression konnte ich besser umgehen als mit deiner Depression. Wut war mir selbst allerdings nicht erlaubt. Du hast immer vermocht, mir Angst einzujagen, wahrscheinlich, um mich gefügig zu halten. Aber deine Wut hat mir deinen Rest an Lebenswillen gezeigt. Wut war Kraft und Unabhängigkeit, die ich mir auch zu eigen gemacht habe, erst nach deinem Tod allerdings. 

Deine fürchterlichen Suiziddrohungen waren das schlimmste. Gewalt war aber auch, dass du mitunter tagelang beleidigt geschwiegen hast, mich »erziehen« wolltest, angeblich, mir aber Liebe durch »Nicht-mit-mir-Sprechen« entzogen hast. Gerade merke ich, dass ich statt »Liebe entzogen« besser »Gewalt angetan« schreiben will. Deine Verwöhnung war keine produktive Kompensation der Verzögerung meines seelischen Wachstums durch deine Gewalt. Du hast mir nicht gezeigt, dass ein Erwachsener glücklich sein kann. Deshalb wollte ich nicht erwachsen werden. Du hast zum Beispiel, als ich in der zwölften Klasse war, meine Lehrer aufgesucht und ihnen nahegelegt, mich nicht zu versetzen, weil ich noch nicht reif genug sei. Da hatte ich kein Mitspracherecht. Du gingst einfach über mich hinweg. Diese nochmals durchlaufene zwölfte Klasse wurde Symbol für meine Angst vor dem erwachsen werden, für meine Angst vor dem Erfolg, Symbol für den Misserfolg, der mein Leben lange Zeit kennzeichnete. Du allein hast mich geprägt. Mein Vater nahm an meiner Erziehung keinen Anteil. Dennoch bin ich so geworden wie er. Weil du das so wolltest.

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Durch meine Beziehung zu dir war mir eine Emanzipation von der elterlichen Autorität nicht möglich. Ich hatte es zeitlebens schwer, mir die Abhängigkeit von dir auch nur einzugestehen. Ich musste sie verdrängen, weil ein entsprechendes Bewusstsein unsere Beziehung gefährdet hätte und ich auf dich angewiesen war. Ich konnte deinem Einfluß auch deshalb nicht entrinnen, weil ich immer dachte, für dich da sein zu müssen. Weil der Vater für mich unerreichbar war, blieb ich zeitlebens an dich gebunden. 

In meiner so genannten Therapie ist das im Grunde nie aufgedeckt worden. Ich musste es selbst aufdecken, in einer meiner Lebenskrisen, in denen ich Phantasien um die Themen Tod und Gewalt entwickelte. Wer so abhängig ist, wie ich es war, wurde abhängig gemacht, dressiert. Dafür trägst du die Schuld, jedenfalls überwiegend. Du hast mich an dich gebunden, weil du nicht in der Lage warst dich von mir zu lösen. Dein Liebespartner war ich. Mein Vater war ein unzulänglicher Partnerersatz. Du wolltest deine Bedürfnisse an und mit mir befriedigen. Du hast dich weder von meinem Vater getrennt noch bist du tragende Bindungen zu anderen erwachsenen Männern eingegangen. Du hast dich nur an mich gewendet. Du wolltest die Liebe, die du von meinem Vater nicht mehr bekommen hast, von mir haben. Das war egoistisch und eben gewalttätig. Weil ich aus dem Gefängnis, in dem ich mit dir zusammen eingesperrt war, nicht ausbrechen konnte, wurde meine seelische Entwicklung aufs stärkste behindert. 

Wenn ich mich heute darum bemühe, das Wort »Gewalt« zu definieren, leuchtet mir am ehesten ein, dass Gewalt ausgeübt wird, wenn jemand an seiner seelischen Entwicklung gehindert wird. Durch die desolate und exaltierte Art, in der du gelebt und gefühlt hast, war es mir nicht möglich, mich mit deinen weiblichen Anteilen positiv zu identifizieren. 

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Deshalb konnte ich die an sich lebensnotwendigen weiblichen Werte nicht erwerben, wurde der typische kraftlose, chauvinistische Mann. Weil du deine Bedürfnisse nach Expansion nur an mir befriedigt hast, hast du mich überfordert, überschätzt und größenwahnsinnig gemacht, gleichzeitig aber geschwächt.

Meine Männlichkeit bestand nur aus dem, was übrig bleibt, wenn man weibliche Werte nicht verinnerlichen und leben darf. Ich kann nicht wütend auf dich sein und bedauere das. Ich empfinde die Not nicht, die du an mich weitergabst. Mein Schicksal war, von dir angeklagt zu werden, gefördert als dein Retter, geschmäht als der Versager. Ich konnte meine eigene Not nicht äußern, weil du soviel Kummer und Irrsinn verbreitet hast, mit dem ich nicht umgehen konnte. Ich konnte mein Leiden nicht anderen Menschen mitteilen. Das hängt mir heute noch an. Fast alle Frauen, die ich kenne, können ihre Bedürfnisse sehr viel besser ausdrücken, als ich das kann. Sie klagen und klagen an. Manche nennen mich gewalttätig. Einfach nur, weil ich manchmal deswegen wütend bin. Sie selbst gestatten sich Wut immer, preisen das als ihre notwendige Entwicklung als Frau im Patriarchat. Du warst in der Familie mit uns Kindern absolut und konkurrenzlos mächtig, weil mein Vater fast nie anwesend war. Du bist eine ausbeuterische Beziehung zu mir eingegangen, hast diese heuchlerisch als Liebe ausgegeben. Es war eine gewalttätige, verwöhnende, verschlingende Beziehung, aus der ich nicht entfliehen konnte.

Wie bist du mit der sexuellen Attraktivität umgegangen, die ich für dich verkörperte, weil ich dem anderen Geschlecht angehörte? Wie oft hast du die Macht, die du zu Hause hattest, missbraucht? Hast du mir wirklich Zärtlichkeit gegeben? Oder hat dich deine Not dazu getrieben, dir an mir Nähe und Befriedigung zu verschaffen, die mir nicht gut tat? Ich weiß nicht, wie meine Gefühle dir gegenüber wirklich waren, denn ich durfte sie nicht wahrnehmen, auch wenn du mich verletzt hast. 

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Angeblich hattest du die besten Absichten in der Erziehung. Die erste Sprache, die ich gelernt habe, vor der deutschen Sprache, vor der Männersprache, war die Sprache deiner Gefühlsäußerungen. In den emotionalen Signalisierungen warst du schamlos. Diese Gefühle, die mich lebensgeschichtlich vor allen Worten erreicht haben, standen im Widerspruch zu dem, was du gesagt hast. Deine Depression stand im Widerspruch zu dem Optimismus, den du vorgabst, mir vermitteln zu wollen. Meine depressiven Anteile habe ich also von dir erworben durch deine »Unterstützung«. Deine Lebensweise hat meinem Lebensmut entgegengewirkt. Du hast deine wirkliche Verantwortung für mich nicht erkannt, hast unverantwortlich gehandelt, indem du mir Schuld zugewiesen und von mir Gehorsam verlangt hast. Du hast nicht die Verantwortung für unsere Beziehung übernommen.

Durch dich lernte ich, die männliche Ideologie der Kraftlosigkeit als die der scheinbaren Stärke zu favorisieren. Ich durfte nicht hilflos sein, meine Verletzlichkeit nicht zeigen. Ich war hilflos und verletzlich. Das ist die männliche Wesensart im Patriarchat. Die Tatsache, dass du vermocht hast, mich für dich verantwortlich zu machen, hat meinen Selbstwert und meine Entwicklung in unheimlicher Weise beeinträchtigt und es mir unmöglich gemacht, Trauerarbeit zu leisten. Du hast dich sehr häufig mit dem Thema »Tod« beschäftigt, meine ganze Kindheit war von verdrängten Todesgedanken beeinträchtigt. Das war das Gegenteil von »Bemuttern«, von fürsorglicher und liebevoller Zuwendung. Unbewusst hat sich bei mir die Fiktion von Unsterblichkeit festgesetzt; weil du Todesbotin und meine Mutter warst, gesellten sich Angst und Abwehr, Feindseligkeit gegenüber jeder Frau hinzu. Heute leide ich darunter, dass ich meine Wut in den Beziehungen zu Frauen nicht leben kann. Frauen sind nicht aggressionslos und nicht gewaltlos. Sie lavieren, bemänteln ihre typisch weiblichen Aggressionen, so, wie du das gemacht hast. Insofern bist du die typische Frau in der Männergesellschaft.

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Auch bin ich von dir und meinem Vater nicht als unverwechselbarer Mensch anerkannt worden. Meine Gefühle wurden nicht wahrgenommen. Das war Gewalt. Wenn Gefühle eines Menschen nicht wahrgenommen werden, erlebt er es so, wie wenn er nicht existieren darf, nicht erwünscht ist als lebendiges Wesen.

Ich musste als Kind meine Gefühle von Wut unterdrücken. Ich hatte Gefühle von Wut und Trauer und durfte sie nicht zeigen. Dadurch geriet ich in Lebensgefahr, richtete Wut und Aggression gegen mich selbst. Deshalb muss ich heute so energisch darauf bestehen, dass in einer Beziehung zur Frau meine Wut nicht verboten, sondern akzeptiert wird, dass die Frau versteht, was in mir vorgeht, und sie mir meine Wut nicht ausreden will. Sie darf nicht so tun, als sei Wut partout ein pathologischer Affekt. Sie darf nicht so tun, als sei Wut schon Gewalt gegen einen Mitmenschen. Meine Wut ist meistens anders ausgedrückte Hilflosigkeit, und ich will mit dieser wahrgenommen werden. Ich will Hilfe, auch wenn ich sie manchmal nur als Wut ausdrücken kann. Ich muss mit meiner Wut angenommen werden, um die Berechtigung zu behalten, in einer Welt zu leben, in der ich mit meiner Wut umgehen kann, in der sie von anderen erlebt wird, in der wir sie gemeinsam verarbeiten können.

Ich will alle meine spontanen Gefühle wahrnehmen und wahrgenommen wissen. Heute leide ich darunter, dass ich mit meinen aggressiven Impulsen, die aus Schwäche resultieren, von vielen Frauen nicht wahrgenommen werde. Den Grundstein für die Bereitschaft, mich in dieser Weise von Frauen behandeln zu lassen, hast du gelegt. Du hast den Kontakt mit meinen Gefühlen egozentrisch vernachlässigt. Du hast mir nicht genügend Möglichkeit gegeben, meine Gefühle zu leben, weil du zu stark mit deinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen beschäftigt wärst. Weil du mich mit deinen Suizidanwandlungen belemmert hast, fühle ich mich in manchen Auseinandersetzungen mit meiner Partne-

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rin heute wie von einer übermächtigen Kraft ins Grab gedrückt. Ich kann dennoch keine Wut empfinden gegen dich. Ich habe immer noch Mitleid mit dir. Du warst gewalttätig, kamst aus einer Familie, in der Gewalt an der Tagesordnung war. Dort kursierten Sprüche wie »Ich verfluche dich« oder »du sollst bei lebendigem Leibe verfaulen.«

Ich habe eine Gewaltszene in Erinnerung:

Du hattest mit meinem Großvater eine Auseinandersetzung. Ich sah, dass er dich prügelte, verstand nicht, was geschah, es hat mich geschmerzt. Ich habe die Gewalt sofort verdrängt, konnte nichts gegen sie unternehmen. Ich konnte, unglücklicherweise nicht erleben, dass du dich in irgendeiner entscheidenden Weise gewehrt hast. Dagegen erinnere ich mich sehr gut daran, dass du mich mit in dein Bett genommen hast, wenn dein Partnerersatz nicht da war, nur, wenn er nicht da war. Ich frage mich, wozu du das gemacht hast. Was wolltest du? Wolltest du Sexualität? Zärtlichkeit? Ich habe dich mit gemischten Gefühlen erlebt, fand es zwar in deinem Bett schön warm, weiß aber nicht, was im einzelnen passierte, kam nicht von mir aus zu dir. Ich kann mir vorstellen, dass du mich berührt hast, mich aber nicht direkt daran erinnern. Zu unseren Bettszenen gehörte Geborgenheit, aber auch Angst. Du hast mich häufig geohrfeigt. Ich erinnere, dass du mich an den Ohren gezogen hast, dass mein Vater intervenierte und dir sagte, du solltest mich nicht an den Ohren ziehen, das sei zu gefährlich. Du solltest mich allenfalls an den Haaren ziehen. Da hast den Ausklopfer benutzt, mit dem ich die Teppiche reinigen musste, und mich damit geschlagen. Als der Teppichklopfer kaputtgegangen war, hast du dir dafür einen Rohrstock besorgt. Erst im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren habe ich diesen zerbrochen. Danach hast du mich wohl nicht mehr geschlagen. Als ich aber noch viel kleiner war, vielleicht fünf oder sechs Jahre, und noch wütend auf dich sein konnte, habe ich einmal eine Haarbürste nach dir geworfen, die dich am Fuß traf. 

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Dein Kommentar: »du hast deine Mutter verletzt. Die Hand wird dir aus dem Grab wachsen. Jeder wird wissen, dass du deiner Mutter weh getan hast.« Bei solchen Gelegenheiten reagiertest du hysterisch und mit lautem Schreien. Dein Gesicht hat sich dabei total verändert. Es wurde zu einer Hexenfratze. Ich habe dich bisweilen tatsächlich als gefährliche Hexe erlebt und meine Wut aufgegeben, um dich nicht zur Raserei zu reizen. Hexe war ein geläufiges Wort in der Familie: die ganz schlimme Frau, die Wahnsinnige, vor der ein Mann sich nicht retten kann. Wenn du krank warst, hatte ich furchtbare Angst, im wahren Wortsinn Todesangst: Angst, dass, wenn du sterben würdest, ich mit dir zusammen in den Tod gehen müsste. Du hast häufig Ausdrücke benutzt wie »Ich werde verrückt« oder »du machst mich verrückt.«

Das hat mir das Gefühl gegeben, dass auch ich ein mächtiger, schlechter Mensch bin, ein Teufel. Ich bekam Angst vor mir wie vor einem psychischen Monstrum, in dessen Macht es steht, seine Mutter verrückt zu machen. Du erzähltest mir, dass du im Anzug meines Vaters Präservative gefunden hättest, und wolltest mir damit beweisen, dass er mit anderen Frauen sexuellen Kontakt hat, du darüber unglücklich bist und er der Schuldige ist. Ich war damals etwa zwölf Jahre alt. Du hast verhindert, dass ich mit meinem Vater darüber ins Gespräch gekommen bin. Der Vater wurde der Schuldige, der sich nie verteidigen durfte. Ich habe die Absicht, dich anzuklagen. Ich will dich verurteilen, aber ich kann es nicht. Mir fehlen entsprechende Emotionen. Du hast sicherlich »dein Bestes« gegeben. Aber du hast mir auch »dein Schlechtestes« gegeben - deine Gemeinheiten, deine Bosheiten und deine Psychose.

Die schlimmste Gewalt, die ich von dir erfahren habe, blieb etwa vierzig Jahre in mir verschüttet. 1987 war mein Buch fertig geworden. Ich hatte es beim Verlag abgeliefert, zwei Monate lang äußerst hart gearbeitet, weil ich einen Termin einhalten musste.

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Dann fiel ich in eine Erschöpfungsdepression. Ein Jahr lang war ich in einer schweren Lage. Ich habe mich damals zurückziehen müssen, von allen Menschen, weil ich glaubte, niemandem meine Phantasien, die sich um Gewalt drehten, zumuten zu können. Auch meine Partnerin schien mir damit überfordert. Ich lebte drei Monate allein, musste die Krise alleine durchstehen. Während dieser Monate habe ich mich ununterbrochen gefragt: Was ist eigentlich los mit mir? Warum reagiere ich so? Was war entsprechendes in meiner Kindheit? Ich war fieberhaft auf der Suche nach einer Erklärung. Mich beschäftigten Gewaltphantasien.

Dann kam plötzlich diese Kindheitserinnerung: 1944 war der Vater noch eingezogen worden. Du warst mit uns Kindern zusammen im Keller. Russische Soldaten waren in Berlin. Es gab kaum noch Bombenangriffe, aber die Invasion der Roten Armee stand unmittelbar bevor. Straßenkämpfe tobten allenthalben. Du hast dich an uns gewandt, an meine Schwester und mich. Ich war sechs Jahre alt, meine Schwester zwei. Sie hat nichts verstanden. Du hast gebetet und mir gesagt: »Vielleicht müssen wir uns umbringen, bevor die Russen kommen.« Das war eine entsetzliche Bedrohung. Ich entwickelte eine sofort verdrängte Angst, von dir umgebracht zu werden, von der mir am nächsten stehenden Person. Du wurdest die unheimlichste Bedrohung für mich, die es hätte geben können. Die Bedrohung war real, denn hinter unserem Haus, im Löschwasserbecken, hatten ganze Familien gelegen, die sich umgebracht hatten. Ich hatte die Leichen im Wasser liegen sehen. Nun kamst du mit deiner Morddrohung! Selbst das kann ich jetzt nicht als Anklage gegen dich formulieren. Nur wurde deine Not zur grausamen Gewalt gegen mich, den sechsjährigen Jungen. Als ich fast fünfzig Jahre alt war, erinnerte ich mich: Die mir am nächsten stehende Person, die Person, die ich liebe, wird plötzlich gefährlich, besonders, wenn ich mich in labilen oder schwierigen Situationen befinde. 

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Ich fühle Angst, von dieser Person gewalttätig attackiert zu werden. Ich habe keine Hoffnung mehr, dass mir irgend jemand hilft. Und plötzlich schlägt diese Todesangst um, sie wird zu einer Angst vor mir selbst. Ich reagiere auf die äußere Bedrohung mit psychotischen Ängsten. Ich muss diese Todesangst, die Angst vor mir, dem vermeintlichen Gewalttäter, alleine durchstehen. Auch für diesen deinen Übergriff ist Gewalt der einzig angemessene Ausdruck. Es gab in dieser Krise Zeiten, an denen ich ganze Nächte vor mir selbst Angst hatte, fürchtete, Menschen zu verletzen, Zeiten, an denen ich mir nachts zuredete: Ich bin sanft, harmlos, friedlich, Zeiten, an denen ich das in mein Tagebuch schrieb, es kindlich erleichtert wieder und wieder las. Es war eine Art Hölle.

Mir fallen aber auch harmlosere Übergriffe ein. Ich musste deinen Nacken massieren, wenn du Migräne hattest. Ich habe das gemacht, war ja dein unentbehrlicher Helfer. Ich habe aber auch Ekel dabei empfunden, den ich überwinden musste, um dir etwas Gutes zu tun. Als ich noch sehr klein war, musste ich Unterwäsche tragen, die sehr kratzig war. Ich durfte sie nicht wechseln. Das habe ich als Gewalt empfunden, tagelang herumzulaufen und mich extrem unbehaglich dabei zu fühlen. Ich habe unter deinem mangelnden Einfühlungsvermögen sehr gelitten. 

Du hast auch Angstmacherei betrieben, als du mir erzählt hast, dass, wenn jemand stottert und dann die Uhr schlägt, derjenige stumm wird. Ich habe als Kind bisweilen gestottert. Solche mystische Geistermentalität ist Gewalt. Du hast Geisterglauben auch in der Weise praktiziert, dass du mir einreden wolltest, man könne durch Pendeln oder ähnliche magische Quatsch-Rituale die Zukunft voraussagen. Auch das ist Gewalt, Gewalt gegen die Seele. Der Liebesentzug, wenn du nicht mehr mit mir gesprochen hast, war nicht ganz so schlimm wie die Gewalt, die du mir zugefügt hast, wenn du dich in dein Zimmer eingeschlossen und auf mein Klopfen hin nicht mehr geantwortet hast.

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Ich war informiert, dass du an Suizid denkst. Flehentlich habe ich dich immer wieder gebeten, die Tür zu öffnen, etwas zu mir zu sagen. Ich bekam keine Antwort. Absolute Stille, von Schluchzen unterbrochen. Ich rannte zwischen Tür und Straße hin und her, stand unter deinem Fenster und guckte hoch: »Stürzt du dich aus dem Fenster?« Ich dachte, ohne dich nicht leben zu können. So habe ich mich gefühlt. Auf der anderen Seite warst du an »Wahrheit« interessiert. Ich sollte dir immer jedenfalls die »Wahrheit« sagen. Du hast mir deine ja schließlich auch aufgezwungen. Sie hat mich erschreckt und verängstigt. Manchmal denke ich heute, dass eine Lüge der erste Schritt zur eigenen Autonomie sein kann. Du hast behauptet, du sähest es mir an der Nasenspitze an, wenn ich gelogen habe. Wieder diese Geistermystik.

Zum Schluss muss ich noch eine deiner Gewalttaten erwähnen, die du begangen hast, als meine Tochter Katja drei Jahre alt war. Du hattest mir erzählt, dass du Katja schlagen musstest. Du wolltest wie immer die »Wahrheit« sagen. Als ich empört entgegnete, dass dieses nicht in Frage käme, dass wir auf gar keinen Fall schlagen dürfen, hast du gesagt: »Wenn ich deine Tochter nicht erziehen darf, wie ich dich erzogen habe (nämlich mit Schlägen), dann will ich nichts mehr mit ihr zu tun haben.« Ich entwickle auch angesichts dieser Grausamkeit keine dauernde Wut auf dich, nicht einmal ansatzweise. Deinen Kontakt zu Katja allerdings musste ich unterbinden. 

Wieso keinen Zorn? Auf meinen Vater war ich doch wütend. Meinen Vater aber kannte ich nicht. Die Wut, die ich hätte gegen dich richten sollen, wurde zur Wut gegen mich selbst, zu einem Gemisch aus Depression und Trauer und natürlich Wut auf andere. Warum habe ich keine Wut gegen dich entwickelt? Weil ich von deinem Kummer, deinen Leiden und deiner Not wusste und ständig ein Jammerbild von Mutter im Herzen trug. Weil du mir in quälender Weise ständig von deiner Misere erzählt hast.

Weil ich mich in dich einfühlte. Männer können sich gut einfühlen, Männer fühlen und fühlen sich ein. Sie leiden, aber sie zeigen ihr Leiden nicht, machen es nicht öffentlich. Mein Vater hat es nicht getan. Ich habe es nicht getan. Deshalb ist klar, dass ich mich mit meinem Vater und nicht vor allem mit dir identifiziert habe. Weil ich von dir »alles« wusste, konnte keine Wut gegen dich aufkommen. Mein Mitleid war zu groß. Ich weiß, dass ich mein eigenes Leiden aussprechen muss, um Mitgefühl zu erleben. 

Das ist eine der Hauptstärken von Frauen. Das war auch eine deiner Stärken: Klage als Anklage. Ich habe also gewisse Aufschlüsse darüber, warum ich auf dich nicht wütend werden kann und noch immer eher Sehnsucht entwickle. Ich bin damit zwar nicht zufrieden, denke aber, dass ich mich allmählich damit abfinden muss. Eine angemessene Wut auf dich gehört nicht mehr zu meinen Gefühlsmöglichkeiten. Ich bin einer wichtigen Selbstbehauptungstendenz beraubt und muss in fataler Weise heute manche Gelegenheit wahrnehmen, meine Wut gegen Personen zu richten, die sie nicht verdienen und die ich mit Sicherheit anders besser erreichen könnte.

Mutter, ich habe auch nach dem Schreiben noch Angst vor dir. Ich habe immer noch keine Wut auf dich. Dieser Brief hier erscheint mir noch nicht uneingeschränkt wie ein Brief, der wirklich von mir ist, dem sanftmütigen Mann. Ich erlebe ihn zum Teil wie einen bösen Brief, für den ich sehr viel Kritik bekommen könnte. Mit dieser werde ich selbst-bewusst und mannhaft umgehen, weil ich heute auch den Wert von Männlichkeit kenne und beherzt vertreten werde.

Dein Sohn Wilfried

174-175

 

 

Ende

 

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