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Wenn Mütter grenzenlos lieben

 

 Andreas   Harry    Joachim   Felix  

 

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Ein Teil des »Mutter-Mythos« ist der Glaube, Mütter verstünden ihre Söhne immer am besten. Tatsächlich können sich Frauen aufgrund ihrer Erziehung häufig eher und besser als Männer in die Gefühlswelt anderer Menschen hineinversetzen und deren Befindlichkeit erfassen. 

Diese Fähigkeit ist mitunter stark getrübt, wenn es darum geht, sich in die Gefühlswelt eines kleinen Sohnes hineinzuversetzen, seine geschlechtstypischen Bedürfnisse und Wünsche zu erspüren, seine Ängste und Schmerzen zu respektieren.  

Immer wieder berichten Männer davon, dass die Mütter nicht nur das Geschehen in der Familie bestimmten, sondern stets auch »wussten«, was der Sohn fühlen, denken und tun sollte, und genaue Vorstellungen davon hatten, was und wie er werden sollte.

Der Dichter Rainer Maria Rilke, der von seiner Mutter zunächst als Mädchen erzogen worden war, musste lebenslänglich mit einem Grauen angesichts ihrer symbiotischen Beziehung und der schwierigen Loslösung kämpfen. Er formulierte künstlerisch, was viele Söhne als Erlebnis von Unverstandensein mit ihm teilen: »Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein...«

Das vollständige Gedicht ist am Anfang dieses Buches abgedruckt. Die letzten beiden Verse beziehen sich auf die eigensinnige und bigotte Frömmigkeit Phia Rilkes, von der sich der Sohn, je älter er wurde, desto leidenschaftlicher entfernte, obwohl einst seine kindliche Phantasie unschätzbar viel an Belehrung, Mythos und Legende durch sie empfangen hatte (vgl. Rilke, Werke in 4 Bänden, Insel-Verlag, Gedichte 1910-1926, Bd. 2, S. 135).

    


»Ich weiß besser als du, was mir gut tut«

  Andreas Goosses   

Ich bin am 6. Juli 1962 als jüngstes von vier Kindern geboren. Meine Eltern führten lange ein Einzelhandelsgeschäft in meiner Heimatstadt Duisburg. 1986 wurde ich selbst Vater. Meinen Sohn Tiago kann ich jedoch leider seit vielen Jahren nicht sehen. Nach verschiedenen Tätigkeiten studiere und arbeite ich nun an der Freien Universität in Berlin.

 

Mutter,

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in diesem Brief geht es um uns. Ich will dir schreiben, wie ich dich erlebt habe und erlebe, wie es mir früher als Kind mit dir ergangen ist und wie ich dich heute als erwachsener Mann sehe. Es liegt an dir, ob du mir antwortest, ob du diesen Brief also als Chance für unsere Beziehung ansiehst und als den möglichen Beginn einer Auseinandersetzung oder ob du ihn beispielsweise als ungerechten, undankbaren Vorwurf abtust. 

Mutter, ja, das, was du darunter verstehst, versuchst du mir gegenüber immer noch viel zu sehr zu sein. Genau aus diesem Grund stelle ich oft Distanz zwischen uns her. Ich bin mittlerweile ein erwachsener Mann und habe trotz einiger Rückschläge gelernt, gut für mich selbst zu sorgen. Doch scheinbar traust du mir immer noch nicht zu, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Oft möchtest du am liebsten heute noch bestimmen, was ich tun soll, und mir sagen, was das Beste für mich ist. Mein Leben lang hast du versucht, mir hineinzureden. Wenn du heute etwas mitbekommst, versuchst du es immer noch; du wolltest immer alles wissen. 

Aber wirkliches Interesse daran, wie es mir geht, was ich mir wünsche, was mir Sorgen macht und was ich denke, habe ich bei dir nicht gespürt. Im Gegenteil, schon früh wolltest du mir meinen Willen nehmen. Du hattest genaue Vorstellungen, was und wie ich werden sollte: Vor allem brav, nett und artig. »Wenn Erwachsene reden, haben Kinder still zu sein.«

Meine Bedürfnisse spielten dabei keine Rolle. Als Baby wurde ich kaum von dir gestillt. Im Krankenhaus bin ich, wie alle Säuglinge damals, gleich nach der Geburt von der Mutter getrennt worden. Nur alle vier Stunden wurde ich zu dir gebracht. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit diesem Rhythmus abzufinden. Wann ich wirklich Hunger hatte oder deine Nähe brauchte, interessierte nicht. Diese jahrzehntelang in deutschen Krankenhäusern praktizierten Methoden sind zutiefst inhuman, ja, brutal. Sie zeigen, wie kinderfeindlich dieses Land ist und dass die Bedürfnisse von Kindern überhaupt nicht ernstgenommen wurden und werden. 

Aber zu Hause hast du mich auch schreien lassen. Das Stillen war dort für dich kaum möglich, meine Geschwister ließen dir nicht die Ruhe dazu. Vor allem aber wäre ein langes und ausgiebiges Stillen in deinen Augen Verwöhnung gewesen. »Später könnt ihr ja auch nicht alles kriegen«, war deine Devise. Und angeblich scherzhaft hieß es: »Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen.« 

Du hast mir gleich nach der Geburt abgewöhnt, etwas anderes als du zu wollen und dies womöglich lautstark einzufordern. Wichtiger war, dass ich dir nicht zur Last fiel und durchschlief, denn du brauchtest deinen Schlaf. Deshalb durfte ich mich nachts nicht bemerkbar machen. Und auch tagsüber konnte und sollte ich nicht mit meinen Anliegen zu dir kommen.

Oft hast du begeistert davon berichtet, wie ich als Kind stundenlang ganz für mich allein leise gespielt und mich brav mit mir selbst beschäftigt hätte. Dir hat auch gefallen, wie ich als kleiner Junge morgens, statt dich zu wecken, in meinem Gitterbettchen gewartet habe, bis du die Augen aufmachtest.

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Manchmal stelltest du dich noch schlafend: »Psst, Mama schläft noch«, flüsterte ich dann deiner Erzählung zufolge und legte mich, wenn du nicht reagiertest, wieder hin, um weiter abzuwarten. Ich war der Dumme in diesen Situationen. Die mir antrainierte Rücksichtnahme hatte für mich einen hohen Preis: mehr als leise zu flüstern, traute ich mich nicht und blieb deshalb allein. Noch heute kann ich mich an den Blick durch die Gitterstäbe auf euer Ehebett erinnere. Damals habe ich mich unwahrscheinlich einsam gefühlt. 

Auf vielen Fotos aus meiner Kindheit blicke ich mit weit geöffneten Augen scheinbar unbeteiligt ins Leere. Beim Anschauen dieser Aufnahmen werde ich traurig. Doch das deutlichere Gefühl ist Wut, wenn ich mich als Einjährigen im Laufställchen oder als Zweijährigen im Gitterbettchen wie in einem Käfig eingesperrt sehe. Du hast mich eingeengt und festgehalten, statt mich frei in die Welt hinauslaufen zu lassen. Für mich wurde es für lange Zeit normal, nicht auf Leute zuzugehen, schüchtern und still zu sein, wenn ich nicht etwas gefragt wurde. So wurde ich erzogen. Ich wurde sehr verschlossen und gehemmt, erzählte nichts und zog mich in mich selbst zurück. Die anderen Kinder spielten auf der Straße. Auch meine Geschwister fuhren dort Rollschuh, aber weil ich das nicht konnte, fehlte mir die »Legitimation«, dort zu sein.

»Du kannst dir ja einen Freund in den Garten einladen«, antwortetest du mir, wenn ich auf die Nalenzstraße wollte. Doch die Freunde, die ich einlud, waren dir längst nicht alle recht. So beschäftigte ich mich stundenlang für mich allein. In deinen Augen waren wir etwas Besseres. Am liebsten hättest du es gesehen, wenn ich wie dein Bruder Musiker geworden wäre. Also sollte ich früh Instrumente spielen lernen. Es war dir sehr wichtig, dass ich gute Lehrer hatte, und du brachtest mich anfangs immer zu ihnen hin. Für mich wurden deine Erwartungen immer mehr zur Belastung. 

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Nachmittags musste ich üben oder hatte Musikunterricht, damit ich bald ins Orchester gehen könne. Dort, so stelltest du dir vor, würde ich die »richtigen« Freunde finden. Ich hätte aber viel lieber draußen auf der Straße gespielt, wäre gern mit den Gleichaltrigen herumgetobt und einer von ihnen gewesen. Du warst überfordert mit den vier Kindern und mit den Ansprüchen, die du selbst an dich stelltest. Konsequent zu Ende gedacht heißt das, spätestens das vierte Kind, also ich, war eins zuviel. Der Gedanke zerreißt mich fast, macht mich traurig und stellt meine Existenzberechtigung in Frage. Darf ich also überhaupt dir gegenüber kritisch sein? Schon allein deshalb fällt es mir schwer, meinen Kindheitserinnerungen nachzuspüren. Lange fiel mir nichts davon ein, wie es früher bei uns war, meine Erinnerung war völlig blockiert. Offensichtlich wollte ich nicht die damaligen Gefühle wiederbeleben. Ja, es gab auch schöne Momente, aber die allermeisten Kindheitsstimmungen sind mir äußerst unangenehm. Ich mag nicht daran denken, wie klein, schwach und einsam ich war.

In diesem Brief geht es mir darum, welche Rolle du für mich dabei gespielt hast. Soweit ich mich zurückerinnern kann, hast du dich immer beklagt und gestöhnt, wieviel du in Haushalt und Geschäft zu tun hast. Um dich zu entlasten, haben wir als Kinder viel helfen müssen. Jeden Tag war eins von uns an der Reihe und musste den Mittagstisch decken und nach dem Essen wieder abdecken, alles in die Küche tragen, die Spülmaschine einräumen und anstellen, die Töpfe spülen, die Küche aufräumen, Badezimmer, Flur und Küche fegen sowie Treppenhaus und Wohnzimmer staubsaugen. Und dann war viel im Geschäft zu tun: Ware auspacken und auszeichnen, Lieferscheine kontrollieren und abhaken, Prospekte stempeln und verteilen, Inventur machen und mit dem Fahrrad Rechnungen ausfahren. Im Garten war Laub zu fegen, Unkraut zu jäten und der Rasen zu mähen. Schlimm dabei war nicht in erster Linie, dass wir viel helfen sollten, ich habe dadurch auch viel Nützliches gelernt, sondern dass immer alles perfekt sein musste.

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Alles sollte hundertprozentig funktionieren, und fast nie genügte ich deinen Anforderungen. Ich konnte mich anstrengen, soviel ich wollte, immer war irgend etwas doch noch nicht richtig. Sprichwörtlich geworden ist für mich in diesem Zusammenhang der Erdbeerkuchen: Du hast oft und viel gebacken, und auch dabei habe ich dir geholfen. Dein Erdbeerkuchen unterschied sich von anderen dadurch, dass die Beeren nicht nur »irgendwie« auf den Mürbeteigboden gelegt wurden. Du brachtest mir bei, mit der dicksten in der Mitte anzufangen und die anderen Früchte spiralförmig und dabei der Größe nach geordnet mit der Spitze nach oben auf dem Boden zu drapieren. 

War ich fertig, kamst du meine Arbeit begutachten. Immer tauschtest du dabei noch einige Erdbeeren aus, die sich deiner Meinung nach nicht in der richtigen Reihenfolge befanden. Dir gehörte der letzte Handgriff. Heute kann ich mich auch über dieses Beispiel amüsieren. Damals demonstriertest du mir aber bei dieser und vielen anderen Gelegenheiten jedesmal eindrücklich, dass ich es doch noch nicht richtig kann und dass du dich in letzter Konsequenz eben nicht auf mich verlassen konntest. Dein Perfektionismus ... hat bei mir seine Spuren hinterlassen und macht mir oft heute noch zu schaffen. Ich traute lange Zeit mir selbst, meinen Wahrnehmungen, Gefühlen und Fähigkeiten nicht über den Weg. Dir ging es nicht darum, wie ich mich als kleiner Junge fühlte, was ich wollte beziehungsweise brauchte. Ziel war nicht, dass ich mich erprobe, dabei wachse und eigenständig werde, dass ich Unterstützung und Anerkennung bekomme. Wolltest du mich überhaupt als Jungen? Auf vielen Kinderfotos sehe ich aus wie ein Mädchen. Meine schulterlangen blonden Locken werden von einer Haarspange aus dem Gesicht gehalten, passend dazu trage ich Pluderhosen oder Kleidchen. Später lernte ich Kochen, Backen, Nähen, Putzen. Alles durchaus brauchbare Fähigkeiten, auf die ich nicht verzichten möchte. 

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Doch auf die als männlich geltenden Eigenschaften und die Vermittlung eines positiven Männlichkeitsbildes legtest du keinen Wert. ... Ich war von dir abhängig, und du bestimmtest das gesamte Familienleben.

Auch heute interessierst du dich eigentlich gar nicht dafür, wie es mir geht und was ich mache. Am Telefon willst du vor allem von dir erzählen und bist dabei kaum zu stoppen. Lange Zeit ist mir das überhaupt nicht aufgefallen. Ich wusste nur, dass ich nicht gerne mit dir telefonierte und immer sehr wortkarg und kurz angebunden war. Du hast immer das Gefühl, selbst zu kurz zu kommen und jammerst, wieviel du doch zu tun hast. ... Der vorwurfsvolle Tenor ist dabei immer: »Seht nur, wie tüchtig ich bin und wieviel ich mache, obwohl mir keiner richtig hilft.«

Wenn ich zu euch Eltern nach Duisburg komme, ist es für mich wie eine Reise in die Kindheit. Ich stelle mir vor, wie es früher war. Und doch sehe ich heute vieles mit anderen Augen, beispielsweise, wie ihr beide, Vater und du, miteinander umgeht. Mit Erschrecken stellte ich bei meinem letzten Besuch fest, wie wenig Vater redet und wie schwer es ihm fällt sich auszudrücken und sich verständlich zu machen. Oft war es so, dass er einen Satz anfing, langsam sprach und nach Worten suchte. Du sprangst ein und beendetest den Satz für ihn. Das zu erleben, macht mich ärgerlich. Ärgerlich auf Vater, dass er nichts dafür tut, sich besser auszudrücken, aber wütend auf dich. Du lässt ihm gar nicht erst die Zeit, nimmst alles gleich in die Hand und scheinst immer zu wissen, .was er sagen will. Sogar wenn ich mit ihm telefoniere, hörst du mit und sprichst dazwischen. Vater wird von dir nicht nur mit Essen, Kleidung und Gesprächen versorgt. Du »kümmerst« dich auch um seine Angelegenheiten und um seine sozialen Kontakte. Du bestimmst, was er sonst noch tun soll, machst ihm das Essen und legst es auf seinen Teller. 

Wahrscheinlich suchst du ihm immer noch seine Kleidung heraus, und neuerdings sprichst du sogar die Sätze für ihn fertig, als wäre er ein dreijähriger Junge. Sicherlich, er lässt es auch mit sich machen. Vater hat dir meines Wissens nie ernsthaft widersprochen. Als er letztens hörte, ich sei mit meiner Freundin zerstritten, empfahl er auch mir gleich, ohne näher nachzufragen: »Man muss doch Kompromisse machen.« Er hatte früher und hat auch heute dir nichts entgegenzusetzen. Von euch Eltern konnte ich also nicht lernen, wie Konflikte ausgetragen werden können und wie man sich im gegenseitigem Respekt voreinander die Eigenständigkeit bewahrt.

Mir gefällt es überhaupt nicht, wie du Vater entmündigst. So möchte ich nicht leben. Mich erinnert es daran, wie du mit mir umgegangen bist. Ich konnte mich als Kind noch weniger als Vater dagegen behaupten. Die so in meiner Kindheit erlernte Gangart war, nicht für die eigenen Bedürfnisse und Belange einzutreten, aber dir, der Mutter, zu helfen. Lange haben meine Beziehungen zu Frauen ähnlichen Charakter gehabt, bis ich lernte, mich selbst besser zu vertreten. Johanna, das ist dein eigentlicher Name. Bisher habe ich dich nie so genannt. Nur die Post an euch Eltern adressiere ich an Johanna und Johannes Goosses. Mutter, so habe ich dich in den letzten Jahren angesprochen. Doch auch das schien dir anfangs nicht zu gefallen, als wäre dir lieber, wenn ich immer noch Mama oder Mutti zu dir sagen würde. Warum benutzt du nicht selbst deinen richtigen Namen, nennst dich mir gegenüber Mutti und anderen gegenüber verniedlichend Hanneli? Jetzt, wo du nicht mehr arbeiten musst, hast du viele Möglichkeiten, dir andere Lebensziele zu suchen und zu verwirklichen, als Ehefrau, Mutter oder Oma zu sein. Stark genug dazu bist du.

Andreas

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»Mit deinen kranken Gedanken hast du mich manipuliert«

  Harry Hirsch  

Ich bin 43 Jahre alt, führe eine langjährige Beziehung und habe eine 15jährige Tochter. Mein erster Beruf war Elektromechaniker. Über einen Weiterbildungsweg schloss ich Ende der achtziger Jahre die Technische Fachhochschule als Nachrichtentechniker ab.

 

Helga,

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wenn ich den Namen Helga benutze, weiß ich, dass du es nicht willst, dass du es nicht hören möchtest. Ich soll dich und Ernst immer noch mit Mutter und Vater ansprechen. 

Du hast es immer gut verstanden, eine »Ihr-da-oben-« und »Wir-da-unten-Beziehung« zwischen uns Kindern und euch aufzubauen. Wir Kinder sollten keine eigene Meinung haben, wir Kinder müssten den Eltern dankbar sein, wir Kinder müssten nach eurem Willen leben. Dies ist mir auch erst aufgefallen, seitdem ich ein eigenes Kind, eine Tochter, habe und sah, wie du mit ihr umgingst. Deshalb noch einmal: Helga, ich will dir diesen Inhalt meines Briefes zumuten, obwohl ich Angst davor habe, aber viele Situationen sind bisher unausgesprochen, und meine Empfindungen habe ich dir bisher nicht mitgeteilt. Mein Gefühl sagt mir auch, dass ich dich gar nicht so schonen muss. Du bist viel stärker und robuster, als ich mir eingestehen will. Du hast mich tatsächlich dazu gebracht, das zu glauben. Hier hast du dich sehr gut aus den Anforderungen an dich durch deine Krankheit herausgestohlen. 

Ich werfe dir nicht vor, dass du dir die offenen Beine (Thrombose, Organminderwertigkeit) mit Absicht zugelegt hast, es ist sicher so, dass du damit auch überfordert warst, es hat mich jedoch fast zehn Jahre meines Lebens mit dir gehindert, dich mit meinen Bedürfnissen und Wünschen zu konfrontieren. Du konntest dich hinter Schmerzen und deine berüchtigte Migräne zurückziehen. Du warst schmerztablettenabhängig und für uns nicht erreichbar. Dies ging sogar bis zur Ankündigung, dich umzubringen. 

Du weißt sicher nicht mehr, welche Angst du damit verbreitet hast. Du hast uns ausgezeichnet zurückhalten können, wenn wir Anforderungen an dich hatten; da hast du uns signalisiert, du kannst nicht, du hast Schmerzen, du hast Migräne, wir müssten Rücksicht nehmen. Es ging sogar so weit, dass ich selber entschieden hatte, was ich dir zumute und was nicht. Ich habe mich oft schuldig gefühlt, wenn meine Wünsche und Bedürfnisse stärker waren. Meine innere Stimme sagte mir: Ich kann es ihr nicht zumuten, ich muss Rücksicht nehmen. Heute noch passiert es mir mit Menschen, dass ich ihnen erst ins Gesicht schaue und danach entscheide, ob ich ihnen meine Wünsche und Bedürfnisse mitteilen kann oder nicht. 

Ich verstehe auch nicht, warum du von mir Zärtlichkeit und Anerkennung haben wolltest. Warum hast du es nicht an deinen Mann herangetragen und mit ihm ausgelebt?... Was denkst du, was ich für ein Frauenbild von dir gelernt habe? Wenn ich sehe, wie du mit Ernst umgegangen bist beziehungsweise heute noch umgehst, wenn du etwas haben wolltest, vielleicht etwas für die Wohnung oder für uns Kinder, oder wenn du bestimmte Vorstellungen hattest, welches Hobby Ernst ausüben sollte, dann hast du gegen seinen Willen und seine Widerstände opponiert. Du hast ihn jederzeit manipuliert. Du hast ihn oft vor vollendete Tatsachen gestellt. Hast zum Beispiel ein Möbelstück einfach anliefern lassen oder hast etwas gekauft. Ich hörte von dir häufig: »Ich muss Vater erst noch bearbeiten«, oder »Er muss erst noch überzeugt werden.« 

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Du hast ihn nie ernstgenommen und du nimmst ihn heute noch nicht ernst. Eigentlich hieß es für mich: Sei bloß vorsichtig mit Frauen, lass dich nicht zu sehr ein, behalte immer die Kontrolle. Die Frauen könnten dich, wie deine Mutter, manipulieren.

Auch mich hast du nicht beachtet. Du beteuerst zwar, dass du nur mein Bestes wolltest beziehungsweise willst, aber ich weiß gar nicht, warum ich beschnitten (!) werden musste. Du hast daraus ein Problem gemacht. Du wolltest beim Waschen, dass ich meine Vorhaut zurückziehe. Mir war es unangenehm, vielleicht tat es mir auch weh, jedenfalls hast du nicht locker gelassen. Du hast jedenfalls dafür gesorgt, dass wir zum Arzt gingen. Du hast einen operativen Eingriff vorangetrieben. Dieser Eingriff war nicht notwendig, der Arzt hatte mich in sein Sprechzimmer geholt und mich gefragt, ob ich mit dieser Operation einverstanden wäre und welcher Religion wir angehörten. Es war also überhaupt nicht notwendig! Aber der neunjährige Junge, der ich war, konnte doch nicht gegen seine Mutter agieren. Meine Bravheit, die du mir schon früh anerzogen hattest, ließ nur die Zustimmung. Die Wunde, die du mir damit beibrachtest, wiegt auf der körperlichen Seite nicht so schwer, aber der seelische Schaden ist viel größer. Die Minderwertigkeitsgefühle, die dadurch hervorgerufen wurden, kein richtiger Junge zu sein, haben mich von der Pubertät bis zum heutigen Tag verfolgt.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig es zum Beispiel in der Schule war. Das gemeinsame Duschen nach dem Sportunterricht war. erniedrigend. Die anderen Jungen lachten mich aus und zogen mir die Unterhose herunter. Ich kam mir wie ein Monstrum vor. Auch der Umgang mit Mädchen war zu dieser Zeit besonders problematisch. Ich empfinde dieses Vorgehen von dir als einen Übergriff, fühle mich missbraucht und gedemütigt. Ich fühle mich auch von meinem Vater verlassen, er war nicht da.

Ich verstehe auch nicht was dir eingefallen ist, seinerzeit diesen Brief zu schreiben. Im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren hatte ich mich in eine Freundin von Silvia verliebt, wagte es aber nicht, sie anzusprechen. Eines Tages fand ich im Briefkasten einen Brief, worin dieses Mädchen mir schrieb, dass sie mich nett finde und dass sie mich treffen wolle. Ich war sehr aufgeregt und freute mich über das unerwartete Interesse an mir. Ich war schon auf dem Weg zu diesem Treffen, da rücktest du mit der Wahrheit heraus. Du hattest diesen Brief mit meiner Schwester zusammen geschrieben. Ich verstand es erst gar nicht, was du meintest. Du hattest diesen Brief geschrieben. Du hattest mich an der Nase herumgeführt.

Was sind das nur für kranke Gedanken, wie kamst du nur auf diese Idee? Sagt man doch: »Mütter können sich in die Gefühle und Empfindungen von Kindern (Jungen) sehr gut einfühlen.« Was ging denn da bloß in dir vor? Ich kann es jedenfalls nicht verstehen. Ich hatte es sehr lange Zeit verdrängen müssen, weil diese Situation eigentlich nicht auszuhalten war. Du hattest diesen Punkt irgendwann selbst angesprochen und dich dafür entschuldigt. Es war die Zeit, als ich schon einige Jahre Therapie machte und mich um meine Entwicklung bemühte und du anscheinend ein schlechtes Gewissen bekamst. Ich kann es heute noch nicht verstehen, was dich dazu gebracht hatte, mit mir so umzugehen. Ich will und werde deine Entschuldigung jedenfalls nicht annehmen.

Harry

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»Du hast kein Recht auf mich, ich bin nicht dein Eigentum«

  Joachim Vogeler  

Ich bin 34 Jahre alt, unterrichte Latein an der Louisiana State University in Baton Rouge (USA) und bin Kandidat zur Erlangung des Doktorgrades in Vergleichender Literaturwissenschaft. Meine Mutter ist 69 Jahre alt und lebt als Rentnerin mit ihrem Mann.

 

Liebe Mutter,

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es hat lange gedauert, bis ich dich wieder guten Gewissens in dieser Form ansprechen kann — und manchmal habe ich dabei auch heute noch etwas gemischte Gefühle. 

Warum dieser Brief? Was will ich heute (noch) von dir? Ich will dir mitteilen, wie es mir in meiner Entwicklung mit dir gegangen ist, wie ich dich früher und heute empfunden habe und was ich mir heute von dir wünsche — kurz, dich auffordern, dich mit unserem Verhältnis endlich einmal kritisch auseinanderzusetzen, und dir erneut die Gelegenheit geben, lesend nachvollziehen zu können, wie ich einige Situationen zwischen uns empfinde und warum ich den Lebensweg eingeschlagen habe, an dem ich jetzt bin, warum ich heute das Leben lebe, das ich lebe.

Vieles, was ich mit dir erlebt habe, war gut, aber wenn du eine bessere Beziehung zu mir haben willst, dürfen einige Dinge nicht länger unter den Tisch gekehrt werden, vielmehr ist das Verstehen meiner Sichtweise eine Grundvoraussetzung dafür. Ich bin (immer noch) sehr an einer Verbesserung unserer Familienverhältnisse interessiert und wünsche mir deshalb, dass du diesen Brief ernst nimmst und schließlich auch schriftlich beantwortest. Seit ich denken kann, auf jeden Fall, seit ich mit vierzehn Jahren das erste Mal in England war, war mir klar: Ich muss hier raus, unsere von dir immer als harmonisch beschworene Familie tut mir nicht gut.

Im Sommer in England ging es mir immer besser, dort war ich nicht von dieser Enge umgeben, die ich zu Hause gespürt habe und die mich erdrückt hat. Ein Lehrer zum Beispiel bescheinigte mir noch am Gymnasium ein Übermaß an kindlicher Motorik. Du fandest diese indirekte Kritik an deiner Erziehung völlig abwegig - aber er hatte recht. Im Klassenzimmer (und beim Sport) habe ich mich ausgetobt, konnte ich mich von der heimischen Enge kurzfristig lösen! 

Während meiner relativen Unabhängigkeit in England ging es mir gut. Ich war dann fast jeden Sommer in England, weg vom Elternhaus. Ich habe diese kleinen Fluchten gebraucht, um überhaupt Eigenständigkeit entwickeln zu können. ... Wann immer ich deine Regeln zu überschreiten wagte, gab es Arrest oder Schläge. Deine Gewalttätigkeit, zum Beispiel, als du mich aus dem Auto gesetzt hast, weil ich dich genervt hatte, hat mir Angst gemacht. Deine Zuneigung und Anerkennung waren für mich damals (lebens)wichtiger als meine Freiheit, die Angst vor weiteren Schlägen und Liebesentzug so groß, dass ich mich lieber an deine Gesetze hielt. Du hast mich behütet, um mehr von mir für dich zu haben.

Deine rechthaberischen Parolen wie »du wirst immer mein Sohn bleiben!« machen es mir auch heute noch schwer, offen und freundlich auf dich zuzugehen. Bei deinen Abschieds- und Begrüßungsumarmungen haben sich mir früher alle Nackenhaare gesträubt, heute kann ich es bisweilen zulassen, aber manchmal habe ich dabei auch noch zwiespältige Gefühle, denn ich empfinde dabei weniger ein Ausdrücken von Zuneigung, die mir auch Raum lassen würde, als vielmehr Festhalten an einem »Stück von dir«.

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Du hast kein Recht auf diese Umarmungen, bei denen ich mich nahezu erdrückt fühle. Ich bin nicht dein Eigentum, begreife es endlich! Zeitweilig habe ich mich benutzt, das heißt, narzisstisch besetzt, gefühlt. Dieses Besitzgefühl, das mich früher zu deinem »Schmusehasen« machte, schwingt immer noch mit, wenn du mich heute mit »Jürgen« (dem Namen deines Mannes) ansprichst. Ich bin nicht dein Mann oder Liebespartner. Früher warst du körperlich stärker und hast mich kontrolliert, heute lasse ich das nicht mehr zu.

Als das Abitur näher rückte, hatte ich diese ganz starke Sehnsucht, nach England auszuwandern, ja, sogar britischer Staatsbürger zu werden. Das war mein erklärtes Ziel, was von dir sofort als eine »fixe Idee« abgewertet wurde. Ich wollte unbedingt in England anfangen zu studieren. Bloß weg, weit weg! Du hast ja immer hartnäckig abgestritten, dass du mich in meiner Freiheit einengen würdest. Wann immer ich auch nur die leiseste Kritik äußerte, bekam ich dein selbstgefälliges »Na, du kannst doch nun wirklich nicht behaupten, dass wir dir nicht deine Freiheit lassen würden« zu hören. Ein paar Freiheiten vielleicht, aber keine Entwicklung zu selbständiger Freiheit. Lies es hier noch einmal. Ich behaupte genau dies: du hast immer wieder versucht, mein Leben zu kontrollieren, und hast mich massiv in meiner Freiheit eingeschränkt und in meiner Entwicklung behindert. Wahrscheinlich hast du dir das Gegenteil so lange eingeredet (und tust es ja immer noch), bis du es selbst geglaubt hast. Aber nimm einmal das Beispiel Freundinnen. Als ich in die Pubertät kam, ich entsinne mich noch genau, brüstetest du dich vor einer anderen Mutter damit, dass ich solchen Unsinn ja noch nicht »im Kopf hätte«. Was sollte das? Du hast einiges getan, um mir den Kontakt zu Mädchen zu vermiesen. Zum Beispiel hast du mir eingeredet, dass ich ein »Spätentwickler« sei - so lange, bis ich es selbst geglaubt habe.  ...

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Deinem unbewussten Wunsch entsprechend entwickelte ich dann solche Aversionen gegenüber Mädchen in meinem Alter, pflegte meine Pickel und mein Einzelgängertum, dass ich mich irgendwann überhaupt nicht mehr um Mädchen kümmerte.

Du hattest dein Ziel erreicht, was blieb, war meine Traurigkeit. Von dir konnte ich nichts über Haut- und Körperpflege oder gutes Körpergefühl lernen. Dein Spruch war: »Naja, ich hatte bis zu meiner Schwangerschaft auch Pickel, daran kann man nichts ändern.« Was für ein Trost für mich! Die halbherzigen Versuche, mich auch einmal zum Hautarzt zu schicken, haben meine alltägliche Verzweiflung am Aussehen meines Gesichts unwesentlich gelindert. Ich brach mir dann zweimal das Bein, ließ mich von dir versorgen und onanierte schamvoll unter der Bettdecke.

Mein Vater hat an dieser Stelle leider auch kein produktives Gegengewicht gebildet. An ihm als Vorbild konnte ich mich nicht orientieren, wie man ein selbständiger Mann wird. Du hast mich im Rahmen deiner Kontrollgesetze behütet und verwöhnt wie ein Kleinkind, um mehr von mir für dich zu haben. Heute leide ich in der Sexualität bisweilen unter Hingabeschwierigkeiten. Als ich meine erste Freundin kennenlernte, war ich dreiundzwanzig Jahre alt. Der erste richtige Kuss mit dreiundzwanzig Jahren - das Ergebnis deiner Kontrolle und Einengungen, auf die du stolz warst. Ich mußte mich erst 600 Kilometer von dir entfernen, um mir den Rahmen für eine normale Entwicklung zu schaffen. Als du die totale Kontrolle nicht mehr aufrechterhalten konntest, hast du es trotzdem immer wieder versucht und auch tatsächlich in mein Leben eingegriffen. Als ich später mit meiner Freundin zusammenwohnte, musste ich erleben, wie du immer wieder in meine Privatsphäre eingedrungen bist. ... Du hast überhaupt kein Gefühl für Nähe und Distanz, wahrscheinlich weißt du überhaupt nicht, was ich damit meine - Nähe und Distanz! Es wundert mich auch

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nicht, da diese Unterscheidung so früh und so traumatisch für dich durch die von dir erlebte Vergewaltigung verwischt wurde. Für mich war es sehr schwer, mit den Konsequenzen dieses Ereignisses und deinem übergreifenden Verhalten klarzukommen. Ich habe deine »Fürsorge« nicht ausgehalten, bin immer wieder von zu Hause weggezogen. 1982 nach London, 1985 nach Bonn, 1986 in die USA, 1991 nach Charlottenburg. Die Abstände waren regelmäßig, und die Entfernungen wurden größer. Seit ich 1993 wieder in die USA gegangen bin, habe ich mich auch weiterhin mit unserem Verhältnis beschäftigt.

Worum es auch immer ging, mein Grundgefühl ist auch heute oft noch, dass mir sowieso selten richtig zugehört wird und dass ich nicht wirklich ernst genommen werde. Mit dem nötigen räumlichen Abstand war es mir Weihnachten 1994 wieder einmal, aber vielleicht zum ersten Mal wirklich freiwillig möglich, auf dich zuzugehen. Die sichere Entfernung in den USA und das Wissen, auch erst einmal eine ganze Weile weiter in dieser sicheren Entfernung bleiben zu können, hatten es mir möglich gemacht; mich dir gegenüber öffnen zu können. Du fühltest dich bestätigt, aber zeigtest dich wieder einmal unfähig, die von mir geäußerten Schwierigkeiten mit dir überhaupt wahrzunehmen.

Zum Thema »Narzissmus« meiner Doktorarbeit bin ich nicht zufällig gekommen. Die Geschichte von Narziss und Echo hat auch mit meinem Leben zu tun. In der literarischen Version von Ovid wird Narziss gezeugt, als seine Mutter vergewaltigt wird. Zwar bin ich unter anderen Umständen zur Welt gekommen, aber eine gewisse Parallele besteht darin, dass die Vergewaltigung, die du erlitten hast, nicht nur dein, sondern auch mein Leben entscheidend geprägt hat. Die negativen Auswirkungen dieses für dich überwältigenden Erlebnisses habe ich zu einem guten Stück abbekommen. Ich habe nicht verliebt in mein Spiegelbild

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am See gesessen, sondern an meinem Schreibtisch. Auch ich konnte meine Identität nicht richtig entwickeln, aber glücklicherweise habe ich mich nicht umgebracht. Du hast doch dieses für dich schreckliche Ereignis der Vergewaltigung nie richtig verarbeitet. Was liegt also näher als anzunehmen, dass die Auswirkungen dieses Ereignisses auf irgendeine andere Weise rauskommen? Du hast öfter gesagt, dass ich eine Mauer zwischen euch und mir aufbauen würde. Ja, kann ich heute sagen, ich habe diese Mauer bisweilen zum Selbstschutz gebraucht, um überleben und mich gegen deine Bevormundungen abgrenzen zu können. In der Vergangenheit hast du mir ja doch nicht zugehört, mich einfach nicht ernst genommen, warst nicht wirklich um mein Wohl bemüht und hast kritische Briefe von mir als spätpubertäre Verir-rungen mitleidig belächelt.

Ich wünsche mir, dass du diesen Brief ernst nehmen kannst und dass er zum ersten Mal Nachdenken auslöst. Heute wie früher wünsche ich mir ein besseres Verhältnis zu dir. Der Unterschied ist, dass ich heute nicht mehr auf deine Anerkennung angewiesen bin, die ich früher nur bedingt bekommen habe. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, als ich merkte, dass mir der gefühlsmäßige Rückhalt der Familie und echte Freunde fehlten. In dieser Hinsicht konnte ich mir von dir wenig absehen. Außerhalb der Familie hattet ihr keine echten Freunde, höchstens Bekannte. Du hast mir nicht gezeigt, wie man mit anderen Menschen, geschweige denn mit Mädchen freundlich, verbindlich und werbend umgeht. In den letzten vier Jahren hatte ich keine längere feste Beziehung. Auch heute fällt es mir bisweilen schwer, die Initiative zu ergreifen, um auf Frauen zuzugehen. Das hast du (und auch mein Vater) mir nicht beigebracht. Im Gegenteil, du hast alles drangesetzt, mich nicht an eine andere Frau zu verlieren, um mehr von »deinem Kind« zu haben.

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Als sich meine erste Freundin von mir trennte, warst du richtig erleichtert. Seit einiger Zeit habe ich jedoch hart daran gearbeitet, mir einen Freundeskreis aufzubauen und meine Freundschaften zu pflegen. Das Wissen um diese Kontakte gibt mir heute die gefühlsmäßige Unterstützung, die ich mir immer von euch gewünscht, aber bisher nicht bekommen habe. Um dies auch noch einmal klarzustellen: Ihr habt materiell immer gut für mich gesorgt, finanziell habe ich mich von euch besonders im Studium hervorragend unterstützt gefühlt. Aber mein Gefühl ist eben nicht mit eurem identisch - dass Geld die Welt regiert. Was ich mir früher wie heute wünsche, ist ein Austausch über Gefühle, nicht über Banalitäten. Was du mir vor einiger Zeit über das Leben während des Kriegsendes erzählt hast, hat mich mehr interessiert und bewegt als irgendwelche belanglosen Unterhaltungen um der Unterhaltung willen, wie ich sie bei uns zu Hause zu oft miterleben musste. ... Es sollte mir mal (materiell?) besser gehen als dir. Materiell geht es mir sicher besser als dir zur vergleichbaren Zeit. Warum bin ich also nicht überschwenglich glücklich und zufrieden und dankbar?

Auch mit meiner Ausbildung geht es mir sicherlich besser als dir. Du konntest nicht relativ sorglos studieren. Es sollte mir besser gehen, damit ich dir dann dafür dankbar sein konnte. Ein anderes Problem ist, dass du immer um meine Karriere besorgt warst, ohne an deine eigene Weiterentwicklung zu denken. Schon mit zwölf Jahren bekam ich zu hören, dass ihr mir nun auch nicht mehr mit meinen schulischen Dingen weiterhelfen könntet. Diese Mischung aus höchsten Erwartungen und eingeschränkter Unterstützung aus eigener Bequemlichkeit und vorgefertigten Meinungen, die du verbreitet hast, ist nicht besonders hilfreich und förderlich gewesen. ... Du hast sicherlich im Krieg einiges mitgemacht, weshalb du vielleicht zu geistiger und körperlicher Bequemlichkeit neigst, aber ich wünsche mir, dass du dich geistig wie körperlich weiterhin ein wenig bemühst.

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Gesunde Ernährung und Aktivität haben auch nichts mit dem viel beschworenen Generationsunterschied zu tun, wie mir andere Leute in eurem Alter beweisen. Es ist an der Zeit, dass du deine eigenen, aber auch meine Bedürfnisse ernst nimmst. Von nichts kommt nichts, auch ich muss etwas für mein Wohl und meine Freundschaften tun. Deine Erwartung, dass ich auf dich zugehe und dir für all deine Fürsorge dankbar bin, ist riesig. Aber die Enttäuschung ist deine, wenn es nicht (immer) passiert. Ich wünschte, ich hätte zum Beispiel die Zeit, dir öfter zu schreiben, aber mein Leben ist ziemlich ausgefüllt.

Ich habe aber auch nicht Lust, mich moralisch verpflichtet zu fühlen, dir regelmäßig zu schreiben und für Abwechslung in deinem Leben zu sorgen. Und dann erinnere ich mich eben immer wieder an vergangene Situationen, die mich zweifeln lassen, ob ich überhaupt ernst genommen werde, wenn ich mich mitteile oder ob ich nur deine kind-lich-narzisstischen Wünsche erfülle. Ich habe mich, wie gesagt, in der Vergangenheit von dir benutzt gefühlt. Ich wünsche mir eine gefühlsmäßige Verbundenheit zu dir, aber das setzt auch voraus, dass du von deiner größenwahnsinnigen Vorstellung runterkommst, dass dies alles nur an mir läge. Es war deine Entscheidung, mich in die Welt zu setzen, nicht meine. Ich denke, es war eine gute Entscheidung, aber zu erwarten, dass ich dir dafür vorbehaltlos ewig dankbar sein werde, ist doch wohl etwas viel verlangt, eure Vorstellung, dass Kinder für ihre Eltern da sind, macht keinen Sinn. Umgekehrt wird, wenn überhaupt, ein Schuh daraus. In meiner finanziellen und emotionalen Abhängigkeit habe ich früher meistens widerwillig gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Hast du es nicht gemerkt oder wolltest du es nicht wahrhaben? Nicht ich bin für dein Glück verantwortlich, sondern du selbst solltest dafür sorgen. Du bist für einen erwachsenen Menschen derart bedürftig, dass dir nicht einmal deine unmittelbare Umgebung, deine Familie die ganze Unterstützung geben kann, die du brauchen könntest. 

Ich habe dich - nach deiner Aussage - durch unser Gespräch bei unserem Spaziergang im Januar dieses Jahres ein wenig aufbauen können, aber mich hat es mehr Kraft gekostet, als ich eigentlich habe. Ich habe nicht soviel Kraft, nicht heute und früher schon gar nicht. Meine Bitte, dir soviel gefühlsmäßige Unterstützung wie möglich von anderer Seite zu suchen, ist sehr ernst gemeint. Dafür bist du nicht zu alt. Ich sage dies vor allem, weil ich weiß, dass es mich und wahrscheinlich auch meinen Vater ungemein entlasten und dass es für unsere Beziehung besser sein würde. Und daran bin ich nach allem immer noch interessiert: eine bessere Beziehung zu dir zu haben. Dazu gehört, dass du mir aufmerksam zuhörst, mich ernst nimmst und mir antwortest.

Joachim

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»Erst die Distanz macht die Auseinandersetzung mit dir, Mutter, möglich!«

  Felix Rode  

Ich bin 32 Jahre alt und Einzelkind. Nach Abitur und Zivildienst habe ich Energie- und Verfahrenstechnik an der TU Berlin studiert und bin nun im kaufmännischen Vertrieb eines größeren Industrieunternehmens tätig. Mein Vater starb vor meiner Geburt. Ich wuchs bei meiner Mutter und deren Großmutter auf. Meine Großmutter starb Anfang 1995, zu meiner Mutter habe ich seit einem Jahr keinen Kontakt.

 

Mutter,

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allmählich verspüre ich meine Angst. Die Angst vor dem, was tief in mir verborgen zu sein scheint und verhindert, dass mir meine Jahre als Kind, gemeinsame Jahre mit dir und deiner Mutter, meiner Großmutter, bewusst werden. Noch heute, einunddreißigjährig, versuche ich, meine Gefühle, Erinnerungen und Erlebnisse vor mir selbst zu verbergen. 

Behutsam und mit kleinen Schritten beginne ich, mich meiner eigenen Kindheit zu nähern, von der ich doch lange Zeit nur ein heiles Bild in Erinnerung hatte. Ein unbewusstes moralisches Verbot ist in mir, behindert mich und verhindert damit eine Kontaktaufnahme mit dem zarten und verletzlichen Teil in mir, dem kleinen Jungen, der ich einmal war. Ein unauslöschlich scheinendes Gebot beherrscht mein Denken und Fühlen: »Du sollst deine Eltern ehren bis über den Tod hinaus!« Es ist beinahe wie eine Sperre, die mich fast hindert, anders zu empfinden. Ich fühle mich in diesen Momenten vollkommen leer. 

Ich finde keine Worte, und die gefühlsmäßige Erinnerung an meine Kindheit bleibt mir verborgen. Eine Reise in meine Kindheit scheint mir unmöglich. Ich soll nicht einmal heute spüren, wie es mir als Kind erging. Welche Stimmung herrschte in den ersten Jahren zu Hause zwischen dir, deiner Mutter und mir? ... An die täglichen massiven Streitereien, als ich mittlerweile älter war, erinnere ich mich hingegen noch sehr gut. Meine Empfindungen und Gefühle an meine Kindheit sind vordergründig geprägt durch deine tiefe Liebe und Zuneigung zu mir, deinem einzigen Kind. Mich überkommt aber dennoch eine leise Wehmut, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke. Es sind speziell Augenblicke, kurze, aber sehr intensive Verbindungen zu meinen Gefühlen, die ich als kleiner Junge hatte. Warum musste ich mich jahrelang verschließen und mich so vor meiner eigenen Kindheit bewahren? Dass ich nur ein diffuses Empfinden habe, erschreckt mich zutiefst und erzeugt in mir ein in dieser Hinsicht bis dahin unbekanntes Gefühl der Trauer.

Mutter, es ist Mai 1996, und seit fast einem Jahr haben wir keinen Kontakt mehr miteinander. Es ist das erste Mal in unserer dreißig Jahre währenden Beziehung, dass unsere äußere Verbindung gänzlich abgebrochen ist. Erst jetzt fühle ich mich in der Lage, einen Brief an dich zu schreiben, der sich mit unseren gemeinsamen Jahren auseinander setzt. Ein Stück von meinem Innersten. Ich möchte mir meine Kindheitserinnerungen bewusster und lebendiger machen, um sie mehr in mein jetziges Leben zu integrieren. Ich beginne mühsam zu lernen, auf meine eigene Stimme zu hören, eigene Erwartungen an mein Leben und meine Ziele zu stellen, ohne moralischen Druck, Gehorsam und Pflichtgefühl. Als ich im heftigen Streit damals den Hörer auf die Gabel geknallt habe, weil mir meine Sinne schwanden, ich entnervt und kraftlos vor lauter Erklärungen war, hatte ich Angst, Angst vor Einsamkeit und Alleinsein. Noch nie in ftieinem Leben fühlte ich mich so einsam und verlassen. 

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Ich hatte unsagbare Angst, plötzlich ganz ohne einen Menschen auf dieser Weit zu sein, alles selbstverant­wortlich entscheiden zu müssen und mich zu niemandem zurückziehen zu können, der an mich glaubt und mir Kraft und Mut zuspricht.

Alleine kann ich mir diesen Zuspruch nicht geben, da ich viel zu selbstkritisch mit mir umgehe und meine Fähigkeiten nicht einzuschätzen gelernt habe. Ich möchte endlich ich sein dürfen, ich will mich befreien. Ich will nicht länger dein Lebensinhalt, dein Leibeigener sein, was mir die Luft zum eigenständigen Leben nimmt. Mit welchem moralischen Druck du auf mich damals zugingst und nach wie vor zugehst, ist dir gar nicht bewusst. Ich spüre, wie sich mein Hals verschließt, ich nach Luft ringe und mir jeder Atemzug unter dieser Last schwerfällt. Gerade in diesen Momenten regt sich in mir eine Stimme, die nach emotionaler Freiheit und Unabhängigkeit schier verlangt, die beinahe eruptiv aus mir hervorbricht und für einen Augenblick mich übermannt. 

Mit zitternder, weinend-flehender Stimme sprichst du mir auf den Anrufbeantworter. Ich könne dir das doch nicht antun, dass du mit den Nerven am Ende bist, nicht mehr kannst. Das könne ich doch nicht wollen, dass es dir so schlecht geht. Ich soll mich bei dir melden, um dir deine Verzweiflung zu nehmen und wieder ein braver, gehorsamer Junge, dein Junge zu sein. Der all das verkörpert, was du dir jahrelang zurechtphantasiert hast und was schon lange Zeit nicht mehr mir entspricht. Unter deinen Erwartungen stand ich ein Leben lang, auch wenn du immer beteuerst, keine Erwartungen zu besitzen. Manipuliert seit meiner Geburt! Jedweder Eigenständigkeit beraubt. Ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft, mich dem Konflikt zu stellen. In dieser Art muss ich wohl auch als Kind reagiert haben, ich habe mich in bestimmter Hinsicht ausgeliefert, mich nicht mehr gewehrt und mich innerlich aufgegeben. Der Mikrokosmos warst du und ich. Wir drehten uns umeinander in trauter symbiotischer Eintracht.

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Abhängig war ich von dir und bin es teilweise immer noch. Du hast mich von dir abhängig gemacht, und das nicht nur durch die allzeitige Verwöhnung. Mir ist es nur allmählich möglich, mich aus der unbewussten Umklammerung von dir zu befreien, mich abzugrenzen und mich als unabhängige Person zu begreifen. Mich zu spüren mit meinen eigenen inneren Wünschen und Bedürfnissen und mit meiner eigenen Stimme. Nach dem Tod meines Vaters, wenige Monate vor meiner Geburt, war nur noch ich dein alleiniger Lebensinhalt und Lebenszweck. Du wolltest später dir dieses einzigartige Glück durch niemanden mehr streitig machen lassen. 

So blieben wir zu dritt, du, deine Mutter und ich. Ich war somit damals dein Lebenspartner, der einzige Mann nach dem Tode meines Vaters. Dein auch erotisches Ersatzobjekt für deine einsamen Jahre als junge, attraktive Mutter. Hast du nicht deinen Durst nach Zärtlichkeit und Zuwendung an mir gestillt? Hast du nicht Hoffnung und Zuflucht nach dem Tod meines Vaters in mir gesucht und gefunden? Und spendete ich nicht Trost und linderte ich nicht deine Schmerzen und deine grenzenlose Einsamkeit? Ich muss maßlos überfordert gewesen sein. Früh habe ich gelernt, deine Bedürfnisse und die meiner Umwelt zu erspüren und mich nach ihnen auszurichten. Gleichzeitig aber musste ich meine sich entwickelnden Bedürfnisse den äußeren Umständen anpassen, und das konnte nur funktionieren, indem ich mich selbst mit meinen ureigenen Bedürfnissen und Wünschen überhörte. Als Gegenleistung für meine Selbstverleugnung wurde ich maßlos verwöhnt, wurde mir, wie es bei uns hieß, Zucker in den Hintern geblasen. Wie nur sollte ich in dieser Situation ein Eigenleben entwickeln können und dürfen? Wie sollte ich lernen, selbständig meine Wünsche nach Nähe und Distanz auszudrücken, die aber auch Gehör bei dir hätten finden müssen? * 

*(d-2015:) * ?

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Nicht einmal in unserem Konflikt erlaubst du mir, mich von dir abzugrenzen, geschweige denn, dass ich ohne Gefühle der Schuld in der Lage dazu wäre. Für dich bin ich grenzenlos gewesen und bin es nach wie vor. Ich bin verzweifelt. Ich möchte schreien, möchte weinen und toben, aber nach dreißig Jahren Selbstverleugnung habe ich nur ein diffuses Empfinden von dem inneren Gefühl der Unabhängigkeit und emotionalen Freiheit. Ich fühle gar nicht, was Unabhängigkeit und Selbständigkeit sein kann. Zu sehr erlebe ich mich getrieben und von außen bestimmt. Welche Bedürfnisse und Wünsche sich in mir regen, bleibt mir oft im Nebulösen verborgen; insbesondere in den Situationen, wenn ich in alte Kindheitsgefühle zurückfalle und mich für Situationen im Übermaß verantwortlich fühle bis zu dem Punkt, wo ich den Selbstverrat nicht mehr aushalte und mich, wie schon damals zu Hause, nur noch mit Streitsucht distanzieren kann. Meist ist es mir nicht möglich, mich in einem freundlichen Ton verbal zu distanzieren. Zu sehr fühle ich mich hilflos, mit dem Rücken an der Wand stehend. Mit viel Energie sprudelt es aus mir heraus, meist plötzlich und heftig.

Mich schmerzt mein ungerechtes Verhalten selbst. Aus diesem Grunde versuche ich, schon im Vorfeld die Kontrolle nicht zu verlieren, um für mich bedrängende Nähewünsche frühzeitig abzuwehren und zu unterdrücken. Auch sind mir die Grenzen meiner Partnerin ebensowenig bewusst wie deine Grenzen. Ich ängstige mich vor ihnen, da sie für mich Zurückweisung und Ablehnung, gar Liebesentzug bedeuten. Gerade das war das Verwickelte mit dir, die damalige grenzauflösende Symbiose zwischen uns! Als Kind konnte ich es nicht lernen, meine Distanzwünsche zu äußern, wenn ich sie denn überhaupt wahrnahm. Ich war nicht in der Lage zu sagen, dass mir manche Umarmung, die mich beinahe verschlang, zuviel, Küsse auf den Mund mir zu dicht waren und eklig nach Speichel und Lippenstift schmeckten. Ständig waren Hände um mich, die mich festhielten, übergroße Körper, die mich an sich pressten, denen ich entkommen wollte, es aber nicht schaffte.

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Nicht ohne Grund begann ich seitdem zu toben, regelrecht wild und ungestüm zu werden, wenn mich jemand gegen meinen Willen festhält und mich in meiner körperlichen Bewegungsfreiheit einschränkt, wie ich mich auch gegen Einschränkungen in meiner emotionalen Freiheit wehre. Als Kind stand ich meist im Mittelpunkt, und es schien sich alles nur um mich zu drehen. Ich saß auf Schößen, wurde auf Armen herumgereicht und bestaunt, du immer im Hintergrund mit strahlend-funkelnden Augen, voller Stolz auf dein sogenanntes Goldstück, auf dein »Ein-und-Alles«. Ich spürte damals, dass ich mit Artigkeit und Gehorsam dir eine unmäßige Freude bereiten konnte.

Du hast mich in jeder Hinsicht festgehalten. Du hattest immer schon eine feste Vorstellung davon, wie ich sein sollte. Jedem meiner Versuche, meine Einzigartigkeit zu leben und mich abzugrenzen, hast du dich erst einmal mit größtem Zweifel in den Weg gestellt; sei es hinsichtlich meiner damaligen eigenwilligen Kleiderwahl, meiner radikalen politischen Ansicht, meiner damaligen Partnerinnen, meines Patenonkels, dass ich nach Berlin umzog und schließlich mit einer Gruppentherapie begann. Nie hast du mich freudig unterstützt und ermuntert, nie mich in meinem eigenen Willen und in meinem Anderssein bestärkt. »Muss das denn sein?« waren oft deine Worte. Hierbei hatte immer die vermeintliche Meinung anderer Menschen über uns eine übergroße Bedeutung gespielt. Du wolltest mich nie gehen lassen, das ist der eigentliche Grund! Ich teilte, bis ich ungefähr vierzehn Jahre alt war, mit dir oft dein Bett und wärmte dir in so mancher Nacht deine kalten Füße, die du an die meinen presstest. Ich glaube, mich daran zu erinnern, dass wir uns in den ersten Jahren noch geküsst haben und dann aneinander geschmiegt eingeschlafen sind. Gerne hätte ich bei dir geschlafen, wie du mir bestimmt verzweifelt versichern würdest. Gewiss, ich bin gerne zu dir ins Bett gekrochen, auch über den Zeitpunkt hinaus, da ich mit dem Onanieren begann und mir dich dabei nackt vorstellte.

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In den ersten Jahren meines Lebens konnte ich mich nicht wehren, habe ich gelernt, deine Ziele zu den meinigen zu machen und deinen Ehrgeiz zu befriedigen. Du wolltest immer, dass aus mir »etwas wird«. Ich sollte einmal ein erfolgreicher Mann werden, zu dem du aufsehen kannst. Du hast mir während meiner ganzen Schulzeit Nachhilfelehrer zur Seite gestellt, in Deutsch, Englisch, Französisch, Mathematik - überall taten sich Lücken auf, die jahrelang teuer gestopft wurden, mich schließlich sogar durch das Abitur führten, das von Anbeginn dein erklärtes Ziel war und das du sogar gegen den Rat meiner damaligen Klassenlehrerin verfolgt hast. ... Mehr oder weniger unbewusst versuche ich heute noch, deinen verinnerlichten Vorstellungen zu entsprechen, im Beruf Karriere zu machen, eine gestandene Autorität darzustellen - wenn auch innerlich zerbrochen -auf die du stolz sein kannst. Wieder geht es nicht um mich, sondern nur um den Schein meiner Person.

Ich denke heute, dass ich sehr früh die Grundhaltung erlernt habe, »dir zuliebe« Dinge zu tun, da ich mich sonst als nicht richtig fühlen konnte. Dieses sich »Nicht-richtig-füh-len-können« ist in seiner ganzen Doppeldeutigkeit ein mir heute noch sehr vertrautes Gefühl. Unsicherheit und das Gefühl der Minderwertigkeit durchziehen weite Teile meines Lebens. Das erschwert mir Beziehungen zu Männern und Frauen und lässt mich nie so sein, wie ich wirklich empfinde und bin. Ich ruhe nicht in mir, sondern mein Gefühl des Richtigseins wird mir von außen gegeben, entsteht erst durch die Bestätigung meines Gegenübers. 

Ich kann in diesen Augenblicken mein Selbstwertgefühl nicht umklammern und mit den Händen festhalten, bei mir behalten, um es vor der raumgreifenden Unsicherheit, die mich über-

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kommt, zu bewahren. Hilflosigkeit und panische Angst vor den Aufgaben des Lebens nehmen mich in Besitz. Ich brauche manchmal Tage, mich wieder aufzurichten, um den Mut und das Selbstvertrauen wiederzugewinnen.

Mutter, ich glaube, du wirst diese Zeilen mit Kopfschütteln und größtem Widerstand quittieren, dich nicht in mich einfühlen wollen und können. Vermutlich wirst du so manche bittere Träne über meine Undankbarkeit vergießen und dabei Berlin, die Männergruppe, alles und jeden verdammen, der dein Mutterglück so entzweite. Dich werden vielleicht Schuldgefühle plagen und Wünsche ereilen, mir am liebsten alles auszureden, alles ungeschehen zu machen. Und wieder wirst du mich und mein Anliegen nicht verstehen, wird dir der tiefere Sinn und Zweck dieses Briefes verschlossen bleiben. ...

Du wolltest nur mein Bestes, wie es sich jede Mutter wünscht. ... Aber es geht nicht nur um deine gut gemeinte Absicht, es geht auch darum, dass trotz deiner mütterlichen Fürsorge mit mir etwas geschah, was mein heutiges Leben beeinflusst. ... Für dich waren es schöne Jahre, meine Kindheit, meine Gefühlserinnerungen möchtest du am liebsten ungeschehen machen. Du versuchst, mir meine Gefühle auszureden und zu beschwichtigen, um mich damit wieder zu beherrschen. Sie passen nicht in dein Bild des unkomplizierten Familienidylls. Du erträgst meine Sicht der Vergangenheit überhaupt nicht, weil sie dir viel zu nahe kommt und sie dich an deine eigenen Wunden und Schmerzen aus deiner eigenen Kindheit erinnert, die alles andere als harmonisch und friedvoll war. Sind wir denn nicht beide von dem gleichen Menschen erzogen worden?

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Du hast dich, wie ich, nie befreien dürfen und befreien können. ... Hättest du sonst fast dein ganzes Leben mit dieser herrschsüchtigen, gefühllosen und rigiden Frau auf engstem Räume zusammenleben können, nur weil du es versäumt hast, dich gegen deine Mutter aufzulehnen, dich zur Wehr zu setzen und abzugrenzen gegen die vielen subtilen Gebote, sie glücklich und auf dich stolz machen zu müssen?

Ich muss nicht auch noch diesen Lebensweg gehen, Mutter. Du bist gleichzeitig Opfer wie Täter, und ich will an dieser Stelle diese Erziehungstradition durchbrechen, indem ich meine Kindheit nicht mehr länger verdränge. Ich habe brutale Gewalt von deiner Mutter erlebt. Schläge, die ich immer angeblich auch verdiente, haben mich unter Tischen, Stühlen und unserem Treppenabsatz Schutz suchen lassen. Ich hatte damals unheimliche Angst. Gebettelt habe ich, sie möge doch mit dem Schlagen aufhören. Mit den Worten »ich schlage dich windelweich« oder »du sollst dein blaues Wunder erleben« ist sie wie eine Furie über mich hergefallen, bis ich Jahre später körperlich schneller war und mit einem freudigen Lachen durch unsere Haustür auf die Straße entkam. 

Lange Zeit überdeckte die Erinnerung des Weglaufenkönnens die vielen Jahre zuvor, in denen dies nicht möglich war. So habe ich als Kind mit permanenter Gewaltandrohung zu leben gelernt und auch hierbei geglaubt, es sei nur zu meinem Besten. Es musste eben sein. Für jedes damalige Widerwort, das so genannte letzte Wort, wie es immer bei uns genannt wurde, habe ich ein ums andere Mal ihren Jähzorn erfahren. Mich mit spitzen Fingernägeln packend, stand sie drohend, Zeigefinger erhebend, vor mir und lehrte mich Ordnung und Achtung. Sie hat mich immer wieder kleingemacht, mir meinen Stolz und meine Selbstachtung gebrochen, systematisch!

Ich glaube mich daran erinnern zu können, dass ich eines Abends, völlig erschöpft von dem vielen Weinen, im Bett liegend, mir schwor, keine Gefühle mehr zu zeigen. Du warst im Vergleich hierzu fast rücksichtsvoll in der Tracht Prügel, die ich von dir bezog. Du wolltest meine Schilderungen dieser Erlebnisse nicht wahrhaben, sagtest, ich bilde mir alles nur ein. Deine eigene Erinnerung an die unmenschliche Brutalität deiner Mutter hast du verdrängt, um meinen Erfahrungen nicht Glauben schenken zu müssen. Vielleicht hättest du mich ihr nicht schutzlos ausgeliefert, wenn du dich deiner Erziehung erinnert hättest. Ich wünschte mir, dass du mich mit meinen in diesem Brief geschilderten Gefühlen sehen und annehmen könntest.

Felix

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