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Teil 1. Einleitung: Dich zu erreichen wäre schön!

 Teil 2

 

 

 Brief an Katja, die ich drei Jahre nicht gesehen habe

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Ich bin mir heute — anders als damals — bewußt, daß ich dich im Stich gelassen habe, als du drei Jahre alt warst und ich mich von deiner Mutter trennen mußte. Du hast unter der Trennung gelitten und wahrscheinlich nicht genügend darüber trauern können. Auch ich habe unter der Trennung gelitten und sicher noch weniger trauern können; meine Verdrängungsleistung war größer als deine. Dann hat es zehn Jahre gegeben, in denen wir kaum Beziehung zueinander hatten. Stattdessen hat deine Mutter ihren Unmut über mich nicht zurückgehalten, und auch deine Familie hat dazu beigetragen, ein sehr schlechtes Bild von mir anzufertigen und dir dauernd vor Augen zu führen, was für ein furchtbarer Vater ich bin. Durch die räumliche Distanz und durch diese Familien­atmosphäre, die stark gegen mich gerichtet war, haben wir uns beide auseinandergelebt. Leider.

Mein wichtigstes Anliegen ist heute, den emotionalen Distanzen und Versäumnissen nachzuspüren, die ich als Vater zu verantworten habe. Das ist sehr schmerzlich, und bei unserem letzten Telefonat hast du mir vorgehalten, daß ich mich überhaupt nicht um dich gekümmert, nicht für dich interessiert habe. Dem kann ich nicht zustimmen. Ich habe immer großes Interesse an dir gehabt. Sicherlich habe ich mich zuwenig gekümmert. Die Kontakte aber, die wir miteinander hatten, und unsere Gespräche waren mir immer sehr wertvoll. Sicher habe ich vieles falsch gemacht in der Beziehung. Bei dir ist der Eindruck entstanden, daß ich ein Schuft bin, der seine Frau und sein Kind verläßt. Ich weiß nicht, wie ich gegen diese Vorstellung ankommen soll.

Ich habe immer unter dem Mangel gelitten, mit dir nicht genug zu tun zu haben. In den letzten drei Monaten bekam ich sehr große Sehnsucht, weil ich in dieser Zeit intensiv begonnen habe, mich mit dir zu beschäftigen. Mein Buch ist in erster Linie ein Versöhnungsversuch. Ich wollte dir zunächst eine Freude machen, etwa so, daß du irgendwann das Buch in einer Buchhandlung entdeckst, siehst, daß es sich um dich handelt, und dich freust. Das war naiv. Natürlich war es nötig, daß ich vorher mit dir in Beziehung trete. Inzwischen ist es zu einer schönen kooperativen Zusammenarbeit an diesem Buch gekommen — ein sehr ermutigender Kontakt ist entstanden.

Mir tut die kleine Katja leid, die ich verlassen habe. Ihr Unglück zerreißt mir manchmal fast das Herz. Du hast mir einmal gesagt, daß du nicht mehr die »kleine Katja« bist, daß du jetzt erwachsen bist. Daß du dein Leben gut meisterst. Daß es dir nicht ausreicht, wenn mir nur die kleine Katja leid tut. Und das schmerzt mich auch, denn im tiefsten Innern weiß ich, daß auch die kleine Katja noch lebt, daß sie noch in dir ist. Daß Kindheitsgefühle lebendig sind, du dich immer noch verlassen und im Stich gelassen fühlst. Die Gefühle der kleinen Katja, die in dir als erwachsene Person noch sind, berühren mich tief.

In den Lebenserinnerungen einer Frau fand ich die Äußerung, daß sie immer nach einem Vater Sehnsucht gehabt hat. Ich kann das so pauschal nicht bestätigen, kann nicht sagen, daß ich nach irgendeiner Tochter Sehnsucht hatte und habe: Sehnsucht nach dir, nach genau dieser Tochter, nach meiner einzigen Tochter.

Dabei habe ich ein bestimmtes Bild von dir. Ich sehe dich als eine Frau, die stark sein, auf keinen Fall schwach sein möchte. In manchen Situationen unserer gemeinsamen Geschichte habe ich erlebt, daß du Mühe damit hattest, wenn ich Schwäche zeigte.

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Außerdem habe ich den Eindruck, daß du dir nie gestattet hast, die Zuwendung, die du dir insgeheim wünschtest, wirklich zu erobern, indem du zum Beispiel an mich herantrittst und sagst: Kümmere dich doch einmal mehr um mich. Als ich in den vergangenen Monaten unsere gemeinsame Lebensgeschichte aufarbeitete, stellte ich fest, daß das gar nicht stimmt. Du hast manchmal sehr deutlich deine Bedürfhisse zum Ausdruck gebracht, aber ich habe sie nicht wahrnehmen können. Vielleicht glaubte ich sie nicht befriedigen zu können und habe sie deshalb nicht wahrnehmen wollen.

Andererseits habe ich oft gehört, daß du dich sehr kritisch über mich geäußert, deine Trauer über die schwierige Beziehung zu deinem Vater in Aggressionen gekleidet hast. Darunter habe ich sehr gelitten. Das hat auch dazu beigetragen, daß ich mich dir nicht angemessen zuwenden konnte. Oft hatte ich den Eindruck: Sobald du dich wirklich einmal verletzlich und hilfsbedürftig »anvertraut« hast (du hast es einmal »angekuschelt« genannt), mußtest du es hinterher durch besonders robuste Schimpfereien wieder ausgleichen, fast wie »ungeschehen« machen.

In all diesen Charakterisierungen, die ich natürlich als Betroffener nicht objektiv beurteilen kann, scheinst du mir doch sehr viel von dem zu haben, was auch ich lebe. Viele Menschen, die ich gefragt habe, wie sie dich erleben, bestätigten mir, daß das Sanfte von dir oft nicht gezeigt worden ist, daß dir Schwäche und Hilflosigkeit wohl nie »normal« erschienen sind. Wenn du dich einsam und nicht einbezogen, manchmal auch elend fühlst, habe ich den Eindruck, daß du Hilfsangebote zurückweist. Jedenfalls von den Menschen, die dir nicht stark genug erscheinen. Offenbar habe ich in einem gewissen Sinn auch dazugehört.

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Zwischen deiner Mutter und mir hat in deinen frühen Kindheitsjahren eine Art von Kampf stattgefunden, der schließlich zur Trennung führte. Deine Mutter konnte nicht anders, als sich für die Trennung an mir zu rächen. Das hat sie in der Weise getan, daß sie sich zwischen dich und mich stellte. Mir ist klar, daß deine Mutter an der Schwierigkeit unserer Beziehung nicht alleine Schuld hat, aber sie hat daran doch ihren Anteil (den anderen trage ich, der abwesende Vater). Ich hoffe, daß es noch nicht zu spät ist, meine frühere Abwesenheit durch eine neue Anwesenheit zu mildern.

Nicht genau bin ich mir darüber im klaren, wie deine Beziehung zu deiner Mutter ausgesehen hat. Meiner Erinnerung nach war die Mutter für dich vielleicht auch insofern ein Vorbild, als sie immer nur kurz ihre Schwäche zeigte und hinterher wieder verleugnete. Daß man sich immer sehr langsam an sie heranbewegen mußte, weil sie zögernd auftaute, beim nächsten Mal sofort wieder Distanz, manchmal eisige Distanz gezeigt hat. Almuth wollte stark sein, fühlte sich aber schwach. Sie war krank und wollte keine Trauer zeigen. Und genau diese Krankheit hat wahrscheinlich bewirkt, daß du nicht so werden wolltest wie Almuth. Du wolltest stark sein und willst es noch. Manchmal vermute ich, daß du in früheren Zeiten deinen Vater stärker erlebst hast als deine Mutter, und daß du dir deshalb vieles von mir abgeguckt hast, was du dir vielleicht besser nicht hättest abgucken sollen.

Als ich mich im letzten halben Jahr in zunehmendem Maße um die Aufarbeitung unserer gemeinsamen Beziehungsgeschichte bemühte, stellte ich fest, wie unterschiedlich Väter und Töchter zu ihren Beziehungen Stellung nehmen. Ich habe viele Geschichten gelesen, in denen sich Frauen über ihre Väter äußern, oft sehr persönlich, mit großen Schmerzen, manchmal auch mit Sehnsucht. Aber ich fand nirgendwo Väter, die sich in entsprechender Weise über ihre Töchter geäußert haben. Äußerungen von Vätern sind zudem meist sehr abstrakt und allgemein. 

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Ich möchte aufhören, ein Vater zu sein, der über seine Fehler, Unsicherheiten, Ungeschicklichkeiten und Unbeholfenheiten nicht spricht. Ich will anfangen zu reden, über meine Sehnsucht, meine zeitweilige Wut auf dich, den Wunsch, dich freizulassen und dennoch in meiner Nähe zu behalten. Ich wünsche mir eine liebevolle Distanz zu dir, die so viel Nähe ermöglicht, daß wir beide etwas von unserer Beziehung haben und durch das Verständnis für diese Beziehung jeweils etwas über uns und über den anderen lernen können.

Nun möchte ich auf die Gründe eingehen, die mich bewogen haben, dieses Buch zu schreiben. Der Hauptgrund ist der, daß ich erneut um dich werben möchte. Ich will dir beweisen, daß ich mich um dich kümmere. Das bedeutet gleichzeitig, daß ich mich weder groß-, noch kleinmache. 

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Ich darf meine Gefühle nicht verändern, muß ehrlich Auskunft über meine Einschätzungen, Stimmungen und Wünsche in der Beziehung zu dir geben. Das macht die Anstrengung nochmals schwieriger, als sie ohnehin schon ist. Ich möchte meine Gefühle von Empörung über deine Distanz und meine Trauer über deine Aggressionen gegen mich nicht verleugnen — und will dich trotzdem wieder näher an mich heranholen. Ich wäre froh, wenn es mir gelingen würde. Warum erst heute?

Ein weiterer wichtiger Grund, dieses Buch zu schreiben, ist für mich der Versuch, dich besser zu verstehen. Deine Beziehung zu mir, deine Gefühle mir gegenüber sind mir nicht klar, erscheinen mir manchmal belastet. Wenn ich dich besser verstehe, könntest du auch, was ich hoffe, zu einer noch intensiveren Auseinandersetzung mit deiner Vergangenheit ermuntert werden. Ich bin mir bewußt, daß ich bisweilen nicht einfach ermutige, sondern provoziere. Das macht die Sache nochmals schwieriger für uns beide, aber auch für mich allein.

Egoistisch bin ich auch, will mich selber besser verstehen, will begreifen, was in mir vorgegangen ist, wie ich mit dir umgegangen bin. Wie ich dich behandelt habe, warum ich dich manchmal nicht verstanden habe. Warum ich mich so wenig in dich einfühlen konnte. Es geht dabei auch um meine Charakterzüge, Haltungen, Gefühle und Werte. Dieses Buch ist also nicht nur ein Buch zur Werbung um dich, sondern auch ein Beitrag zur Selbsterkenntnis deines Vaters.

Ein ganz wichtiges, wenn nicht vielleicht das größte Ziel bei meiner Anstrengung ist die Wiederbegegnung, die freundschafdiche, freundliche Wiederbegegnung zwischen uns.

Schließlich soll es mir um andere Väter und andere Töchter gehen, die dieses Buch möglicherweise in die Hand nehmen, etwas daraus lernen, auf verschiedene Möglichkeiten des Austausches aufmerksam werden könnten.

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In den letzten Monaten ging es mir immer wieder um die Frage: Was empfinde ich für meine Tochter Katja? Ich versuche, dahinterzukommen, auch damit du nicht immer nur etwas über mich erfährst, sondern auch etwas hörst, was dir außer mir keiner sagen kann.

Mir blieb im letzten halben Jahr wenig anderes übrig, als meine Erinnerungen an dich durchzuarbeiten. Wir hatten ja keinen Umgang miteinander. Diese Übung im Wiedererinnern war mir sehr wertvoll. Denn ich weiß, daß ich noch eine Zukunft habe, die sich auf dich bezieht. Ich weiß, daß wir noch eine Zukunft haben, die es zu gestalten gilt.

Ich bin mir bei alldem der Gefahr bewußt, daß ich mit dieser Niederschrift ein Bild von dir entwerfen könnte, das ganz meiner Vorstellung, meinen Wünschen entspricht, was du für mich sein solltest, also ein falsches Bild. Aber auch dieses falsche Bild würde noch etwas über mich aussagen, über meine Sehnsüchte. In der Vergangenheit habe ich mich häufig nicht getraut, von Sehnsucht zu sprechen, weil ich mir dieses Scheitern, dieses »meine Tochter nicht mehr erreichen können« nicht nur übelnehme, sondern weil ich darunter leide. Nicht nur, weil es nicht zu meinem Selbstbild, meinem Ich-Ideal paßt, sondern auch, weil die Gefühle zu schwer zu ertragen sind. Dazu kommt die Frage, ob ich ein Vater bin wie alle Väter, nur ein Mann wie andere Männer, was ich für dich bin, für meine Tochter, und was ich für dich sein könnte, was du möchtest, daß ich für dich bin.

Im Lauf der vergangenen Monate gingen mir immer wieder Gedanken durch den Kopf wie »Ich werde wieder auf dich zugehen«. Oder ich nahm in meiner Phantasie Gespräche mit dir vorweg, stellte mir vor, daß ich dir sage: »Ich Iinteressiere mich für dich« — wenn auch sehr unbeholfen, wie ich hinzufügen muß. Es geht hier tatsächlich um das unbeholfene Interesse eines Vaters an seiner Tochter. Eines Vaters, der oft nicht auf seine Tochter zugehen konnte und doch wieder auf sie zugehen möchte. Eines Vaters, der seine Tochter verlassen hat und jetzt wiederkommt. Der eine Trennung nicht überwinden kann, nicht hinnehmen will. Dich zu erreichen wäre schön...

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Zu meinen persönlichen Motiven, die zu dieser Auseinandersetzung geführt haben, kommen Überlegungen, wie ein solches Buch wohl auf Leserinnen und Leser wirken mag. Ich kann es mir nicht leisten, dem Irrtum zu verfallen, alles, was für Katja und Wilfried relevant ist, wäre objektivierbar oder für andere verbindlich. Aber ich wünsche mir sehr, daß sich viele Väter mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigen, und daß es ihnen und ihren Töchtern gelingt, ihre Beziehung auf eine bessere und humanere Bahn zu bringen.

Um zu veranschaulichen, worum es mir dabei geht, möchte ich zwei Beispiele für Auseinandersetzungen zwischen Vätern und Töchtern erwähnen.

 

Das erste betrifft den deutschen Schriftsteller Martin Walser und seine Tochter Alissa. Im Spiegel 28/1992 fand ich einen Artikel über die Beziehung zwischen diesen beiden. Alissa Walser überraschte die Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt mit einem Text über die Beziehung zu ihrem Vater, den die Süddeutsche Zeitung eine »ironisch distanzierte Liebeserklärung an den eigenen Vater« nannte. Ich kann mich dieser Einschätzung in gar keiner Weise anschließen. Mich schreckt ab, was ich im Spiegel gelesen habe, und mich stößt auch ab, wie die Medien mit dem Buch von Alissa Walser in einer sehr brutalen Weise umgegangen sind, wenn sie darüber spekulieren, »wo die Vaterliebe endet und der Inzest anfängt«.

Alissa Walser schreibt davon, daß sie Angst hatte, ihr Vater könnte weinen. Sie erwähnt, daß er ihr nie geglaubt hat, wenn es um Männer ging, und daß sie sich für ihre kleinen Brüste schämte. Und sie berichtet davon, daß sie sich für Geld, das ihr Vater ihr hatte zukommen lassen, einen Strichjungen gekauft hat: »Er muß mich hinnehmen. Ich kann ihn berühren, wo ich will. Seine Brust soll mir dieser Junge zeigen, und er soll mich bitten, ihm die meine zu zeigen.«

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Am Abend nach diesem Treffen hat Martin Walser seine Tochter angerufen und wollte wissen, was sie alles gemacht hatte. Ihr fallen Fragen ein, die der Vater ihr nie gestellt hat: »Wer liebt Dich? Wieviel ist er Dir wert? Wer glaubt an Dich? Wer ist reingefallen? Wer hängt an Deinem Haken? Wer zahlt für Dich? Wie reich ist er? Wie stark ist er? Wer holt uns aus unserer Scheiße? Was hast Du getan? Bist Du wie ich? Warum bist Du wie ich? Wer rettet uns jetzt? Wie geht es Deiner Fotze? Lohnt es sich? Wird sie gut bezahlt? Warum machst Du keine Kinder? Wo bleibt Dein Messias?«

Diese Sprache stößt mich ab. Vielleicht bin ich prüde, vielleicht altmodisch. Aber eine solche Art von Auseinandersetzung würde ich mir mit dir, Katja, nicht wünschen.

Eine andere Stellungnahme, die mir sehr gut gefallen hat und mit der ich mich über die Walsersche Distanzlosigkeit hinwegzutrösten versuche, stammt von Ingrid Strobl aus dem Buch »Väter unser«. Die Autorin erzählt von ihrem Vater, zum Beispiel, daß er sie nie geschlagen hat, daß er sie mit allem, was er tat, geprägt hat, mit seinen Erzählungen von der Arbeit, seinen Bemerkungen zur Tagespolitik, seinen Kommentaren zu ihren Geschichten aus der Schule. Sie erzählt davon, daß ihr Vater ihr einen Sinn für Gerechtigkeit beigebracht hat, weil er eine starke Ablehnung gegen Hierarchien, gegen militärischen Drill und Kommandoton hat, gegen Unterwerfung und Duckmäuserei. Ich spüre Anerkennung für diesen Vater bei seiner Tochter, wenn sie schreibt: »Seine tiefste Überzeugung war und ist: Man kann sich immer wehren. Man muß sich nicht beugen.«

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Ingrid Strobl erzählt, daß ihr Vater sie immer vor anderen verteidigt hat, niemand in der Verwandtschaft es wagte, in seiner Hörweite ein schlechtes Wort über seine Tochter zu verlieren. Und sie nimmt die naheliegende Frage »Wo bleibt die Kritik?« vorweg. Als Feministin kann sie doch nicht einfach ihren Vater loben! »Doch. Sie kann. Nicht, daß es keine (gegenseitige) Kritik gebe. Nicht, daß er mir nicht schon einmal wehgetan hätte (und ich ihm). Aber das geht nur uns etwas an. Natürlich gab es Zeiten, da habe ich ihn gehaßt.«

Diese Ansicht habe ich allerdings nicht: daß das, was wir beide, Katja und Wilfried, zusammen erlebt haben, nur uns etwas angeht. Auch weil ich mir bewußt bin, daß ich dem von Ingrid Strobl mitgeteilten Vaterbild nicht entspreche, schon gar nicht in deiner Vorstellung, fühle ich mich von dieser Einschätzung einer Tochter-Vater-Beziehung angesprochen.

Dieses Buch hat vier Teile. Im ersten und zweiten Teil stelle ich die Geschichte unserer Beziehung so dar, wie ich sie in Erinnerung habe, greife dabei auf Aufzeichnungen zurück, die ich tagebuchartig gemacht habe, auf Briefe von dir und mir, auf Gespräche, die wir mit Freunden zusammen hatten, und allem, was ich in den Jahrzehnten gesammelt habe.

Der dritte Teil gründet auf einigen Vorträgen, die ich in der Hochschule gehalten habe, ergänzt durch Gedanken über die verschiedenen Charakterstrukturen von Töchtern, die mir zum Teil geholfen haben, über die Distanz, die zwischen uns in den vergangenen Jahren eingetreten ist, etwas hinwegzukommen.

Im vierten Teil des Manuskripts werden Gespräche wiedergegeben, die wir im Laufe der Jahre miteinander geführt und mit dem Tonband aufgezeichnet haben. Ich bin dir dankbar, daß du deine Zustimmung für die Veröffentlichung gegeben hast. In diesen Gesprächen kommst du persönlich zu Wort.

Beim Schreiben dieses Buches bin ich während monatelanger Arbeit tief in die Vergangenheit eingetaucht, in unsere gemeinsame Vergangenheit. Ich bin wieder in Situationen hineingegangen, die wir zusammen erlebt haben, mußte dabei Schmerzen neu erleben, aber auch Freude über deine Entwicklung. Letzteres hat schließlich überwogen. Ich hoffe, daß mich das fähig gemacht hat, künftig in einer Weise auf dich zuzugehen, die unsere Beziehung stabilisiert. Während des Schreibens habe ich mich dir ungeheuer verbunden und sehr nahe gefühlt, habe alles noch einmal und manches im Grunde intensiver als damals erlebt.

Ich hoffe sehr, daß du eines Tages wieder bereit bist, mit mir Konflikte zu besprechen und nicht nur Small talk zu machen. Vieles ist noch unklar, unsicher oder bedroht, was ich empfinde und schreibe, vieles erscheint zersplittert. Gespräche sind immer geeigneter als Briefe und Manuskripte, um eine Beziehung wiederherzustellen und zu gestalten. Damit haben wir jetzt begonnen. Dich zu erreichen ist schön.

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Teil 2.  Erinnerungen an Katjas Kindheit

 

 

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  1. Deine Geburt   

 

Almuth, deine Mutter, und ich, dein Vater, lagen zusammen im Bett. Almuth war hochschwanger und brauchte Ruhe. Wir hörten beide, als wir ruhig und zärtlich aneinandergeschmiegt lagen, das leise »Ping«, einen Ton, der uns zunächst unerklärlich war, sich später als das Platzen der Fruchtblase herausstellte.

Weil Feuchtigkeit im Bett zu spüren war, wurden wir aufmerksam, waren sofort hellwach, bestellten ein Taxi, das uns ins Krankenhaus fuhr. Ich mußte meine Frau den Ärzten und Krankenschwestern überlassen und fuhr wieder heim. Ich ging spazieren, wartete zu Hause auf einen Anruf, rief schließlich selber wieder im Krankenhaus an. Nach acht Stunden Warten wurde mir mitgeteilt, daß die Geburt stattgefunden hätte, Mutter und Kind wohlauf seien. Unser Wunschkind war zur Welt gebracht. 1966 bist du in unser Leben getreten. 1963 hatten wir geheiratet und von 1965 an auf Verhütungsmittel verzichtet, weil wir dich wollten.

Die Geburt war für deine Mutter sehr schwer; Almuth mußte noch vier Wochen im Krankenhaus bleiben, in denen es ihr sehr schlechtging. Ich sah dich nur selten und bangte um deine Mutter. Die Ärzte hatten die große Ungeschicklichkeit begangen, in einem Gespräch am Krankenbett vom sogenannten Letalfaktor zu sprechen, so daß Almuth sehr besorgt war, deine Geburt nicht zu überleben, und ich hatte Angst um Almuth.

 

  2. Dein ängstlicher Vater  

 

Im Dezember 1966 kam deine Mutter mit dir zu uns nach Hause. Wir wohnten im oberen Stockwerk eines Zweifamilienhauses. Die Familie hatte insofern vorgesorgt, als deine Tante Gisela eine antike Wiege bereitgestellt hatte, die einen gewissen Wert darstellte. Sie war nur geliehen, und du lagst auch nur zwei oder dreimal in dieser Wiege. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem ihr beide nach Hause kamt. Ich war sehr ängstlich, wußte nicht, wie ich mit dir umgehen sollte, hielt dich das erste Mal in meinen Händen, in meinen großen »ungeschickten« Händen. Ich hatte zwar Angst, dich fallen zu lassen, aber ich hielt dich gern im Arm. Du warst unglaublich klein, bist mir aber nicht niedlich vorgekommen, wie man es so oft von Eltern hört, sondern warst für mich schon im Alter von vier Wochen ein ernstzunehmender Mensch.

Weil Almuth und ich uns geeinigt hatten, daß es ihrer Gesundheit nicht zuträglich sei, dauernd in der Nacht aufstehen zu müssen, und weil sie so geschwächt war, daß es ihr von Anfang an verboten worden war, dir die Brust zu geben, mußtest du eine Flasche bekommen. Wir teilten uns diese Aufgabe, so daß ich in der Nacht oder auch am frühen Morgen häufig aufstand, dir die Flasche gab und dich trocken legte. Almuth brauchte für diese Prozedur etwa eine halbe Stunde, ich mindestens eine Stunde, und manchmal auch länger. Aber es war eine schöne Zeit, die wir beide dann zusammen hatten. Du brauchtest lange, um die Flasche auszutrinken. Ich sprach mit dir, lachte dich an, und ich erinnere mich auch, daß du sehr häufig zurückgelacht hast.

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    3. Das kleine Mädchen   

Auf sehr vielen Bildern, die aus deinen ersten Lebensjahren stammen, bist du ein unglaublich fröhliches Kind. Auf einem der Bilder sitzt du in einem Gartenstuhl, eingebettet in Kissen, und hast deine beiden Beine auf dem Tisch, lachst uns verschmitzt und fröhlich an. Auf anderen Bildern sehe ich dich mit einem Bären, einem kleinen Teddy, oder du läufst mit deiner Puppe im Arm, mit weit ausladenden Schritten auf einer Wiese.

Dann sehe ich dich mit mir zusammen, wir haben Spaziergänge gemacht, du trägst einen Overall, schaust neugierig, offen, fröhlich aus. Heute, wo ich dich sehr selten sehe, sind mir diese Bilder umso wichtiger. Deine ersten drei Lebensjahre waren sehr angenehm für mich. Viele Bilder zeugen von einer gewissen väterlichen Bemühung. Unter einem Foto steht, daß diese manchmal von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr dreißig dauerte. Aber auch hier sind deine Augen wach, lebendig, fast schmunzelnd.

Die Bilder habe ich bei meiner Mutter zu Hause gefunden und sie irgendwann einfach mitgenommen. Schließlich ist es ja meine Tochter, dachte ich damals.

Fotos von dir habe ich aus allen Lebensphasen. Ich sehe dich fast immer lachend.

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    4. Möffel im Kindergarten   

In dieser Zeit hatten wir eine ganze Menge Namen für unser kleines Katja-Mäuschen. Möffel war einer davon, Schäbchen der andere. Katscheck-Rabatscheck hatte ich mir für sie ausgedacht. Ich war als Assistent an der Universität tätig und hatte um neun Uhr am Arbeitsplatz zu erscheinen. Almuth war im Institut für Pflanzenphysiologie beschäftigt und mußte auch zur Arbeit gehen. Es ging nicht anders: Mit einem Jahr und zehn Monaten mußtest du in einen Kindergarten gebracht werden.

Weil Almuth früher mit der Arbeit begann, habe ich dich immer in den Kindergarten gebracht; zwei Kilometer war der Weg lang. Ich sehe dich immer noch dort in deinem kleinen Overall laufen. Ich nahm dich an die Hand, und wir beide gingen die Straße entlang. Die Strecke, die du alleine liefst, im Winter mit deinen kleinen Schühchen durch den Schnee stapfend, wurde immer länger.

Ich versuchte, nicht immer sofort zu reagieren, wenn du dann zu deinem zwei Meter und vier Zentimeter großen Vater nach oben gucktest und traurig sagtest: »Papa, Arm nehm«. Du warst sehr gern bei mir auf dem Arm. Natürlich, es war angenehm, sich tragen zu lassen und geborgen zu fühlen. Ich trug dich dann bis zum Kindergarten.

In der ersten Zeit war es ein großer Schmerz für mich, dich im Kindergarten zurückzulassen. Du wolltest zunächst auch nicht dort bleiben, warst dann aber doch recht tapfer. Es gab keine großen Trennungsschmerzen, jedenfalls hast du dir die nicht anmerken lassen.

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     5. Die Enkelin bei ihrer Großmutter     

 

Wie bei allen Eltern war es bei uns auch: Wir hatten manchmal wenig Zeit und waren bisweilen auf fremde Hilfe angewiesen. Dann und wann, zum Beispiel wenn wir Besorgungen machen mußten, haben wir dich zu Oma Wieck gebracht. Damals fühlten wir uns ganz und gar der linken, »antiautoritären« Ideologie verpflichtet, und das hieß, das Kind auf keinen Fall autoritär behandeln zu dürfen, es anzubrüllen oder gar zu schlagen. Diese Weltanschauung, die ich heute noch voll und ganz akzeptiere, war natürlich für deine Großmutter nicht so leicht zu verstehen.

Wir hatten unsere Eltern über unsere neue Möchtegernsozialistische Lebensperspektive aufgeklärt, auch sehr viel Autoritäres an ihnen kritisiert. Aber eines Tages kam ich und wollte dich wieder abholen, und meine Mutter erzählte mir, sie hätte dich geschlagen, du seist ungezogen gewesen. Ich war entsetzt und habe meiner Mutter gegenüber sehr deutlich vertreten, sie dürfe dich auf keinen Fall schlagen, sonst könnten wir dich nicht bei ihr lassen.

Meine Mutter antwortete: »Wenn ich die Sache mit Katja nicht so machen darf, wie ich es will, wie ich es kenne und wie es immer war, dann will ich mit Katja nichts zu tun haben.« Meine Mutter war sehr konsequent. Und wir konnten dich kaum noch zu ihr bringen. Sie war zu einem anderen Verhalten nicht zu bewegen. Sie blieb dabei, daß ein paar kleine Schläge einem Kind nicht schaden würden.

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    6. Die Bücher deines Vaters    

 

In den Jahren ab 1967 füllte sich mein Bücherschrank. Ich war inzwischen wissenschaftlicher Assistent, beschäftigt am Institut für Betriebswirtschaftliches Steuerwesen an der Freien Universität Berlin. Meine Bücher reichten im Schrank bis auf die Erde. Und als du herumkrabbeln konntest, waren die Bücher unten für dich schon zugänglich. Anfangs hast du den Bücherschrank nicht zur Kenntnis genommen, er war nicht interessant. Aber eines Tages sah ich dich ein Buch aus dem Schrank ziehen. Du konntest damit natürlich nicht viel anfangen, es fiel auf den Boden, blieb da liegen. Und ich entschloß mich, zuzusehen, was mit den Büchern passieren würde, wenn ich dir einfach freien Lauf ließe.

Du warst sehr geduldig, hast ein Buch nach dem anderen aus dem Schrank gezogen, ein bißchen darin geblättert. In einem hast du auch mit meinem Kugelschreiber herumgekrakelt. Ich erinnere mich, es war das Buch »Die Kunst des Liebens« von Erich Fromm. Ich ließ dich gewähren. Nach einer Weile waren einige Bücher etwas eingerissen, bei einem fehlte eine Seite.

Es dauerte vielleicht eine Stunde, da lagen ungefähr zweihundert bis dreihundert Bücher auf dem Teppich. Dann hat dein Interesse an den Büchern nachgelassen. Später, nachdem ich alle in Ruhe wieder zurückgeräumt hatte, bist du nie wieder an diesen Bücherschrank gegangen. Einmal auszuprobieren, was damit los war, hatte offenbar genügt. Ich war ruhig geblieben, hatte mich in gar keiner Weise ungehalten oder ärgerlich gezeigt. Und so war die Sache für dich erledigt gewesen.

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    7. Tabak im Kinderladen    

In den Kreisen der Studenten, der Genossen, der Kinderladen-Leute war selbstverständlich bekannt, daß Zigaretten für Kleinkinder gefährlich sind. Die meisten räumten die Zigaretten beiseite, wenn Kinder in der Nähe waren. Einmal, wir führten psychologische Gespräche über Erziehung mit Hans und Barbara, lag auf dem Tisch eine Schachtel mit Zigaretten. Du entwickeltest Interesse dafür, machtest sie auf und zogst eine heraus. Hans war dafür, die Zigarettenschachtel vor dir in Sicherheit zu bringen. Ich war anderer Meinung, schließlich saßen wir ja dabei, nichts konnte passieren.

Ich empfahl, dich mit der Schachtel machen zu lassen, was du wolltest. Hans war einverstanden. Wir beobachteten, wie du aus dieser Schachtel eine Zigarette nach der anderen herausholtest, sie dann zerkrümeltest, bis die Schachtel leer war und auf dem Tisch ein Tabakhaufen lag. Wir hatten zwanzig Zigaretten verloren, dein Interesse war befriedigt. Du bist niemals wieder an irgendeine Schachtel Zigaretten gegangen, die Sache war für dich erledigt.

Leider nicht für immer. Mit 16 Jahren hast du wieder angefangen, Zigaretten aus der Schachtel zu ziehen und sie planmäßig zu zerstören. Jetzt aber mit Hilfe eines Feuerzeugs und mit Genuß.

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    8. Beim Lehrer deines Vaters   

 

Deine Mutter Almuth hatte im September 1969 mit der Arbeit beim Psychoanalytiker Josef Rattner begonnen. Ich glaubte, diese nicht nötig zu haben, fühlte mich stark. Erst ab Januar 1970, als es mir sehr schlecht ging, ich einsam zu Hause war, mit meiner Dissertation nicht fertig wurde, meine Arbeitsstörungen überhand nahmen, bin auch ich zu Rattner gegangen. In der folgenden Zeit hat er dich natürlich auch kennengelernt.

Schon damals gab es eine Initiative von ihm, eine sogenannte Kindergruppe aufzumachen. Du warst daran nicht sehr interessiert, bist bei den Sitzungen oft eingeschlafen. Jedenfalls hat Josef Rattner mir eines Tages mit vor Empörung zitternder Stimme entgegengehalten: »Die Katja ist ja trotzig«. Seine Diagnose hat mich nicht sehr erschüttert. Ich hatte inzwischen bemerkt, daß er mit Kritik und Widerspruch nur sehr schlecht umgehen konnte, und meinte, er hätte sich wahrscheinlich auch in deinem Fall geirrt.

Inzwischen bin ich durch die Entwicklung, vor allem der letzten drei Jahre, eines Besseren belehrt worden und weiß, daß er recht hatte. Du kannst sehr trotzig sein, aber genau wie damals bleibe ich relativ gelassen. Warum sollst du nicht trotzig sein? Warum sollst du keinen Widerstand leisten? In dieser Kultur ist es sehr wichtig, Trotz zu entwickeln, Kraft zu haben, Widerstand zu leisten.

Die Diagnose des Lehrers, meine Tochter betreffend, hat sich also als stimmig herausgestellt. Aber sie hat für mich nie einen Anlaß geboten, irgendeine »erzieherische« Tendenz zu entwickeln, diesen Trotz zu brechen.

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    9. Erste kindliche Expansionen    

 

Ich war sehr stolz darauf, mich mit dir auf den Weg zu begeben. Der Kinderwagen war überflüssig geworden, du konntest gut laufen. In der U-Bahn saßest du neben mir, stelltest dich manchmal auf den Sitz, wenn du aus dem Fenster gucken wolltest. Dann wieder hast du auf meinem Schoß gesessen, oft dabei geschlafen. Ich habe diese U-Bahn-Fahrten sehr genossen. Eine der interessantesten Tätigkeiten für dich war, wenn ich dich hochhob und du dich an irgendeine der Stangen hängen konntest. Es war toll zu beobachten, wie du dich angestrengt hast, dort oben hängen zu bleiben und auf keinen Fall herunterzufallen.

Öfter nahm ich dich zum Mittagessen mit in die Mensa. Wir saßen dann, nachdem wir unser Essen geholt hatten, zusammen am Tisch. Du hattest bei weitem nicht so viel Geduld beim Essen wie ich, bist dann aufgestanden und zum nächsten Tisch gegangen, hast dir in Ruhe die Leute angeschaut. Ohne jede Angst, offenbar auch schelmisch, denn die Kommilitonen lachten oft mit dir. Ich sah dann gar keinen Anlaß, hinterherzulaufen oder dich zurückzuholen. Beziehung mit anderen Menschen aufzunehmen, ist dir immer sehr gut gelungen. Du hast dich unerschrocken, wißbegierig und kontaktfreudig gezeigt.

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    10. Begrüßungen und Abschiede    

 

Almuth und ich waren seit Mai 1969 getrennt. Du bist bei deiner Mutter geblieben, das war überhaupt keine Frage. Aber ab und zu schien es mir angebracht, dafür zu sorgen, daß wir beide miteinander Kontakt hatten. Almuth wollte nicht, daß ich in ihre Wohnung kam und dich abholte. Da ich inzwischen schon mit Irmgard zusammen war, wollte sie auch nicht in meine Wohnung kommen

Ich weiß noch heute, daß du, wenn du den Bus verlassen hast, dich von Almuth schnell losgemacht hast und dann fünfzig Meter die Straße entlanggelaufen bist, mit einer ungeheuren Freude jubelnd. Ich breitete dann die Arme aus, fing dich auf und hob dich hoch, und du warst glücklich. Beim Abschied war alles anders. Du wurdest still, auch traurig, hast mich oder auch Irmgard einfach stehenlassen, dich überhaupt nicht verabschieden wollen, bis Almuth dich in Empfang nahm.

Aus diesen Erlebnissen kann ich heute schließen, daß du sehr gerne bei mir warst und mich sehr ungern verlassen hast. Dann wird mir wieder bewußt, daß ich als Vater versagt habe. Ich entwickle keine Schuldgefühle deswegen, mache mir auch keine Vorwürfe. Aber ich werde, wenn ich daran denke, traurig, weil ich weiß, daß der Grundstein für die Entwicklung unserer Beziehung damals gelegt worden ist.

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  11. IN LEBENSGEFAHR   

 

Im August 1969 warst du einmal bei mir. Es ging dir offenbar nicht gut. Du hattest Schmerzen im Bauch. Schnell entschlossen brachte ich dich zu unserer Kinderärztin, die nach einer kurzen Untersuchung dafür sorgte, daß wir ins Krankenhaus gingen. Dort wurdest du gründlich untersucht. Die Diagnose lautete »akute Blinddarmentzündung mit Perforation«; du mußtest sofort operiert werden.

Almuth war inzwischen informiert worden. Wir führten beide ein Gespräch mit den Ärzten, die sagten, wenn du die erste Woche überstanden hättest, bestünde keine Lebensgefahr mehr. Wir gerieten in große Angst, und das hat uns noch einmal für einen Monat zusammengeführt. Almuth zog wieder zu mir, und wir standen die Woche gemeinsam durch. Nach vier Wochen waren wir wieder zerstritten.

Du hast die akute Vergiftung überstanden, und ich habe dich sehr oft im Krankenhaus besucht, weiß noch genau, wie traurig du warst, daß du dort immer wieder allein zurückbleiben mußtest. Ich erinnere mich auch noch, wie schmerzlich es für mich war, deine Trauer mitzuerleben. Wir haben mit einer Plüschkatze gespielt, die ich dir mitgebracht hatte, und du hast gelacht, wenn ich dieser kleinen Katze an ihren Schnurrbarthaaren krabbelte und zu dir sagte: »Killi, killi an Kätzis Schnurrbarthaar«. Es ist verständlich, daß ich sehr häufig »Killi, killi« machte, um dich zum Lachen zu bringen. Es machte mich immer froh, wenn es mir gelang.

 

   12. Irmgard   

 

Ich habe Irmgard im Februar 1970 kennengelernt. Du warst drei Jahre und vier Monate alt. Selbstverständlich war Irmgard sehr daran interessiert, dich kennenzulernen. Sie erinnert sich noch genau an diese Situation. Ich saß mit ihr zusammen auf dem Bett. Du hattest in einem anderen Zimmer geschlafen und kamst dann zu uns. Irmgard war dir unbekannt, da war auf einmal eine andere Frau. Du standest im Zimmer und gucktest uns beide erstaunt an. Fünf Minuten lang hast du Irmgard angesehen, stumm und distanziert. Du hattest ein Tuch in der Hand, eine vom Nuckeln halbnasse Windel, und den Daumen im Mund.

Dann bist du zu mir gekommen. Ich nahm dich auf den Arm. Nach einer Weile setzte ich dich auch bei Irmgard auf den Arm. Das erste Eis war gebrochen.

Irmgard weiß noch genau, daß du immer von mir getragen werden wolltest, zum Beispiel, wenn wir dich, nachdem du bei uns warst, zu Almuth zurückbrachten. Sie erinnert sich, wie oft wir mit dir in den Grunewald gefahren sind, um dich zu deiner Mutter zu bringen. Du wolltest im Bus nicht einschlafen, obwohl du schon total müde warst. Du wolltest partout wachbleiben, hast die Augen krampfhaft offengehalten, mit ihnen vor lauter Müdigkeit gerollt, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Das Zusammensein mit uns war dir offenbar angenehm. Du bist nie eingeschlafen. Bis zur letzten Sekunde wolltest du den Kontakt mit uns aufrechterhalten.

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