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  (5)  Erinnerungsskizze bis zum 1. Friedensgebet am 16. Oktober 1989 im Dom  

 

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   Montag, 9. Oktober 

An diesem Tag durfte ich mit in der Nikolaikirche Leipzig sein und das historische Friedensgebet um 17.00 Uhr mit der anschließenden friedlichen Demonstration miterleben. Schon als ich mit meinem Trabi gegen 14.00 Uhr in die Stadt hineinfuhr, spürte ich, dass Gewalt in der Luft lag. Überall standen NVA-Soldaten, Polizisten mit Schild, Kampfgruppen, Hundestaffeln, Wasserwerfern und Mannschaftswagen zum Abtransport von Verhafteten. Die Uniformierten waren für den Einsatz zur Auflösung der „feindlich-negativen Kräfte" gerüstet und warteten auf den Befehl. 

Ich konnte ungehindert zur Nikolaikirche gelangen. Am Kirchturm hing ein Plakat: "Leute, keine sinnlose Gewalt, reißt euch zusammen, lasst die Steine liegen." Am Fenstergitter hingen Blumen zum Gedenken an die Verhafteten und Verletzten früherer Demonstrationen. Dieses Symbol sprach in der angespannten Situation für sich. Man hat sich daran gehalten. Gewaltfrei war dieser Tag und der ganze Herbst 1989. Deshalb sei allen Verantwortlichen und Akteuren Lob und Dank!

Die Kirche war voll besetzt und wegen Überfüllung geschlossen. Es waren größtenteils vom Staat geschickte Leute, die zwei bis drei Stunden geduldig ausharrten. Mit Pfarrer Christian Führer (OV „Igel") war abgesprochen, dass ich über eine Seitentür hineinkam. Während des Friedensgebetes merkte ich, dass um die Kirche herum eine große Menge Menschen stand und auf das Ende des Friedensgebetes wartete. Die Rufe sind mir unvergesslich: „Gorbi, Gorbi"; „Wir bleiben hier"; „Keine Gewalt"; „Schließt euch an"; „Neues Forum zulassen"; „Wir sind das Volk"; „Freiheit" ... Man hörte auch den Aufruf der Sechs über den Stadtfunk.

Nach dem Friedensgebet formierte sich auf dem Karl-Marx-Platz der Demonstrationszug um den Leipziger Ring. Es war ein beglückendes Gefühl, schweigend und innerlich erregt am Runden Eck vorbeizuziehen. Dort standen die Soldaten aufgereiht mit Helm, Schild und Schlagstöcken, um das Gebäude der Stasi-Bezirksverwaltung zu schützen. Nichts passierte. Von beiden Seiten erfolgten keine Übergriffe. Erleichterung trat bei allen ein, als das neue Rathaus erreicht war und die Straßenbahn mit ihren Bimmelgeräuschen vorbeifuhr. Aus der Bahn winkten jubelnde Fahrgäste. - Ich will nicht verheimlichen, dass bei mir die Angst dominierte. Ich habe immer darauf geachtet, schnell fliehen zu können, wenn die Sicherheitsorgane zuschlagen sollten. Ich wollte keinen Schlagstock über den Kopf bekommen.18)


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  Dienstag, 10. Oktober 

In der überfüllten Friedensbibliothek Zwickau berichtete ich von den friedlichen Leipziger Ereignissen. Sie war eine Einrichtung des Konziliaren Prozesses19) in der Ossietzkystraße. Nach meinem Augenzeugenbericht wurde beschlossen, synchron zu dem Leipziger Friedensgebet ein ähnliches in Zwickau durchzuführen, um so Solidarität auszudrücken, die Leipziger Situation zu entlasten und eigene Akzente zu setzen. Dafür bildete sich ein Vorbereitungsteam mit Pfarrer Thomas Storl (OV „Kammer II") und Uwe Wendt (OV „Gehilfe"), der Puppenspielerin Susanne Trauer (OV „Konzept"), der Gemeindehelferin Ulrike Dressel-Backofen (OV „Konfrontation"), dem Dirk Schöwe, Maja Berger aus Dresden und mir.

An diesem Abend beschlossen wir, uns am Freitag in der Wohnung von Pfarrer Storl zu treffen, um das Friedensgebet für den kommenden Montag vorzubereiten. Bis dahin sollte in Erfahrung gebracht werden, in welcher Kirche von Zwickau dieses Friedensgebet stattfinden könnte. Gedacht war an den zentral gelegenen Dom. Wir machten aus, ständig in telefonischer Verbindung zu bleiben, um über die wechselnde Situation informiert zu sein.

18)  Im Frühjahr 1989 bin ich zweimal am Kopf wegen eines subduralen Hämatoms operiert worden und war zu diesem Zeitpunkt immer noch krank geschrieben.

19)  Erwin Killat begann im September 1987 die einzelnen alternativen Basisgruppen in Zwickau zu sammeln und führte sie im Konziliaren Prozess zusammen. Ein Jahr später, am 1. September 1988, wurde die Friedensbibliothek im Gemeindesaal der evangelischen Kirchgemeinde Neuplanitz eröffnet.


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  Mittwoch, 11. Oktober 

Pfarrer Storl brachte in Erfahrung, dass der Kirchenvorstand des Doms am kommenden Freitag tagen werde. Bis dahin sollte er dem Vorsitzenden des Kirchenvorstandes, Pfarrer Hübler, den Antrag auf Genehmigung und die Konzeption des Friedensgebetes vorlegen. Da offen war, ob der Kirchenvorstand dem Anliegen zustimmen würde, sprach Pfarrer Storl mit den Pfarrern der Paulusgemeinde. Sie erteilten sofort eine Zusage, da sie bereits montags um 18.00 Uhr eine Andacht angesetzt hatten. Pfarrer Storl kam mit den Pauluspfarrern überein, dass, falls im Dom kein Friedensgebet stattfinden dürfe, man es um 18.00 Uhr in der Pauluskirche abhalte werde.20)

Nach dem Mittagsgebet um 13.00 Uhr befestigten Susanne Trauer und ich einen Aushang an einem Fenstergitter des Domes: "Freiheit für die Inhaftierten". An Blumensträußen, die wir ans Plakat banden, hingen kleine Zettel mit Bibelsprüchen. Sie erinnerten an die Verletzen und Verhafteten bei den letzten Demonstrationen in Leipzig, Dresden und Plauen.

 

  Donnerstag, 12. Oktober 

Ich ging ins Rathaus und sprach beim Stellvertreter des Bürgermeisters und Vorsitzenden der Abteilung Inneres, Rolf Stowasser, vor. Ich berichtete ihm von der explosiven Situation in der Bevölkerung und schlug vor, mich für einen Dialog zwischen der Zwickauer Stadtführung und dem Konziliaren Prozess einzusetzen. Herr Stowasser lehnte jedoch dieses Ansinnen ab. Am nächsten Tag sei bereits ein kurzfristig anberaumtes Gespräch mit Oberbürgermeister Fischer, das von den beiden Super­intendenten Mieth und Walther sowie von Dekan Hoffmann gewünscht wurde, geplant. Die Basisgruppen und die Bevölkerung erfuhren davon, als der Bericht von der Begegnung am Sonnabend in der Zeitung „Freie Presse" stand.

20)  In der Paulusgemeinde wirkten die Pfarrer Wolfgang Banert und Jochen Zimmermann. Banerts Motto war: „Wir haben die Not des Volkes. Es muss gebetet werden, dass es im Himmel klingelt."


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   Freitag, 13. Oktober 

Am Vormittag kam das Vorbereitungsteam für das Friedensgebet in der Wohnung von Pfarrer Storl, Domhof 9, zusammen. Da jeder Erfahrungen mit Gottesdiensten und Friedensandachten hatte, war der Ablaufplan und die Verantwortlichkeiten rasch festgelegt. Gewählt wurde das Thema „Gewalt und Gewaltlosigkeit" und als Ort der Dom favorisiert. Um 17.00 Uhr sollte das Friedensgebet sein. Falls der Kirchenvorstand des Doms keine Zustimmung erteilte, sollte für 18.00 Uhr nach Paulus eingeladen werden.

Pfarrer Storl bemühte sich nach 12.00 Uhr zweimal telefonisch, mit Pfarrer Hübler über das Ergebnis des Vorbereitungsteams zu reden. Pfarrer Hübler war jedoch nicht bereit, ihn anzuhören und legte den Hörer auf. Das Team ging auseinander. Ich versprach zu versuchen, das Anliegen des Konziliaren Prozesses vor den Kirchenvorstand zu bringen, einen Organisten für das Orgelspiel zu gewinnen und entsprechende Tontechnik zu organisieren. Jeder sollte auf seine Weise das Ergebnis des Vorbereitungsteams weitersagen: Am Montag treffen wir uns 17.00 Uhr vor dem Dom. Falls er geöffnet wird, findet das Friedensgebet dort statt. Sonst werden wir zu der drei Kilometer entfernten Pauluskirche gehen, in der wir zum Friedensgebet herzlich willkommen sind.

Nach einer Mittagspause rief ich Pfarrer Hübler an. Er war empört und aufgeregt über meine Aktivitäten, die ich trotz meiner Krankschreibung unternahm. So etwas dürfe nicht sein. Von Kantor Kreisel habe er bereits gehört, dass das Friedensgebet im Dom stattfinden solle. Es sei eine Unverfrorenheit und Erpressung, ihn unter Druck zu setzten. 


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Deshalb werde er alles unternehmen, das Friedensgebet nicht stattfinden zu lassen — nur über seine Leiche! Er sei außerdem am letzten Sonntag erneut wieder in den Dom "eingewiesen" worden. Ein Anruf von ihm genüge, und alles könne rückgängig gemacht werden. Dann legte er den Hörer auf.21) Ich hatte keine Gelegenheit, die konkreten Umstände detailliert zu erklären.

Ich setzte mich mit Kantor Kreisel wegen des Organistendienstes in Verbindung. Er weigerte sich, zum Friedensgebet zu spielen, aber er hatte nichts dagegen, einen anderen Orgelspieler dafür zu bitten. Darauf rief ich den Verfahrenstechnik-Ingenieur Arnim Boitz an, einen Hilfskantor, ob er spielen könne. Er sagte sofort zu. Beim Jugendpfarramt, das eine entsprechende Tontechnik besaß, fragte ich nach, ob wir sie für das Friedensgebet ausleihen könnten. Ich erhielt eine Absage, da das Friedensgebet eine politische Sache sei. Dafür stehe ihre Technik nicht zur Verfügung. Daraufhin wurde die Beschallung bereitwillig und kostenlos von engagierten Bürgern aus der Stadt installiert.

Wie sollte der Antrag in den Kirchenvorstand kommen? Ich telefonierte mehrmals mit dem Stellvertreter des Kirchenvorstandes, Alfred Brunner. Er erklärte sich bereit, das Anliegen des Konziliaren Prozesses einzubringen. Zusätzlich schrieb ich dem Kirchenvorstand einen Brief. Darin legte ich die biblisch-theologische Notwendigkeit eines Friedensgebetes dar und sprach die dringende Bitte aus, in der angespannten Situation dem Konziliaren Prozess zu erlauben, im Dom ein Gebet abzuhalten und Gott um Frieden zu bitten. Dem Brief fügte ich die erstellte Verlaufsskizze und die Aufstellung der Verantwort­lichkeiten hinzu. Die Schriftstücke übergab ich Herrn Brunner, und er ging damit in die Sitzung des Kirchen­vorstandes.

21)  Pfarrer Hübler wollte vor Ablauf der festgeschriebenen fünf Jahre die Domgemeinde wegen der laufenden Auseinander­setzungen verlassen. Er war bereits als Pfarrer in der Gemeinde Zöblitz gewählt und dorthin abgeordnet worden. Auf konspiratives Betreiben der Staatsorgane, der Stasi und des Kirchenvorstandes machte er dann seinen Weggang rückgängig. Hinzu kam, dass ich seit dem Frühjahr erkrankt war. Von der Neueinweisung Pfarrer Hüblers an den Dom habe ich nichts gewusst.


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Den Kirchenvorstand bewegte die Angst, dass nach dem Friedensgebet eine Demonstration stattfinden und die Staatsorgane mit Gewalt gegen die sich versammelten Bürger vorgehen könnten — wie im Sommer in Peking oder vor einigen Tagen in Dresden, Leipzig und Flauen. Der Einsatz der bewaffneten Kräfte könnte eskalieren und zu Blutvergießen führen. Die Kirchenvorsteher spürten ihre Verantwortung. Sie sahen sich als Zünglein an der Waage der Geschichte. Die Diskussionen und Entscheidungen waren von tiefer Sorge um die Zukunft bestimmt. Sie wollten eine Konfrontation verhindern und rangen um Erhalt des Status quo.

Superintendent Mieth hatte am Vormittag im Gespräch beim Oberbürgermeister versprochen, eine Demonstration zu verhindern. Er wollte nicht wortbrüchig werden. Die Basisgruppen hatten längst die Ängstlichkeit abgelegt, denn die Zeit war reif, sich der totalitären Staatsmacht mit friedlichen Mitteln entgegen zu stellen. Sie drängten auf Reformen, forderten Veränderungen und wagten öffentlichen Protest.

Die Debatte im Kirchenvorstand ging über vier Stunden. Im Protokollbuch sind nur magere Stichpunkte festgehalten, die die heiße Diskussion erahnen lassen:


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   Sonnabend, 14. Oktober 

Da sich Herr Brunner nicht meldete, rief ich ihn zur Mittagszeit an. Er war entrüstet, stinksauer und von mir enttäuscht, da ich mit unlauteren Mittel arbeite. Er sei missbraucht worden, denn ich hätte ihm die Hintergründe verschwiegen. Ich war erleichtert zu hören, dass der Kirchenvorstand die einmalige Zustimmung für das Friedensgebet erteilt hatte, aber ohne Plakatierung. Diese erfreuliche Nachricht gab ich sofort telefonisch weiter.

Jahre später erfuhr ich aus den Stasi-Akten, dass Pfarrer Hübler und Herr Brunner am Vormittag ein Gespräch mit Oberbürger­meister Fischer und seinem Stellvertreter Stowasser hatten. Dabei unterrichteten die beiden Kirchenvorsteher die Staatsorgane über die Sitzung des Kirchenvorstands und das geplante Friedensgebet. Der Konziliare Prozess habe den Kirchen­vorstand vor vollendete Tatsache gestellt. Damit es nicht zu einem Demonstrationszug zu einer anderen Kirche käme, sei dieses Friedensgebet im Dom genehmigt worden. Dadurch hätten sie die Möglichkeit, auf die Veranstaltung einzuwirken und sie in Ruhe und Ordnung durchzuführen. In dem Gespräch wurden auch die weitere gemeinsame Vorgehensweise und die gegenseitige Information besprochen. Superintendent Mieth weilte an diesem Tag in Dresden. Ihm sollte nach seiner Rückkehr nochmals gesagt werden, dass er alles tun solle, um Konfrontationen zu verhindern und beruhigend einzuwirken.


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  Sonntag, 15. Oktober 

Nach dem Gottesdienst stand der Superintendent vor meiner Tür und wollte mich unbedingt sprechen. Obwohl beide Wohnungen im Pfarrhauskomplex Wand an Wand liegen, hatte er mich in den letzten fünf Monaten während meiner Krankheit nicht besucht. Er kam nicht als Pfarrer und Seelsorger, was die ureigenste Aufgabe eines Superintendenten sein sollte, sondern im Auftrag des Kirchenvorstandes, um mir dessen Missbilligung auszusprechen. Meine Unverantwortlichkeit schade der Gemeinde und der Kirche. Er hielt mir das unbrüderliche Verhalten gegenüber dem Kirchenvorstand und die Unverantwortlichkeit meines politischen Handelns vor. Er teilte mir ferner mit, ich müsse mich damit abfinden, die Domgemeinde zu verlassen, falls es zu einer Abstimmung über das Verbleiben im Amt am Dom zwischen Pfarrer Hübler und mir kommen sollte. Sie hätten schon zuviel mit mir durchgemacht. Er werde alles unternehmen, dass es nach dem Friedensgebet zu keiner Demonstration und keiner gewalttätigen Auseinandersetzung komme.

 

  Montag, 16. Oktober 

Nachdem Superintendent Mieth in den Morgenstunden ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Rolf Saalfrank, hatte, trat aufgrund einer Schnelleinladung des Superintendenten die „Konferenz des ökumenischen Stadtkonventes" in der Superintendentur zusammen. Es sei der Wunsch des Landesbischofs Johannes Hempel, ein Friedensgebet im Dom stattfinden zu lassen. Es sollte verhindert werden, dass Bürger nach Leipzig fahren und es dort zu einem massiven Auflauf komme. Die Laien und Basisgruppen, die die Initiatoren des Konziliaren Prozesses und des Friedensgebetes waren, sind zu dieser Besprechung nicht eingeladen worden. Sie haben erst später von der Zusammenkunft und den einschneidenden Beschlüssen der Amtsträger erfahren:


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22)  Über die „Ökumenischen Friedensgebete" hat der CDU-Pfarrer Theodor Polster im Mai 1990 eine Dokumentation angefertigt (Kopie im Privatarchiv Käbisch). Nach der Schilderung Polsters waren an diesem Montag (16.10.1989) Pfarrer der evangelisch-lutherischen, der evangelisch-methodistischen und der römisch-katholischen Kirche zusammengekommen, die ihre Bereitschaft signalisierten, sich angesichts der kritischen innenpolitischen Situation für den Gedanken eines Bittgottesdienstes zu öffnen. In dieser Besprechung wurde festgelegt, dass das zweite Friedensgebet am 23. Oktober in der Lutherkirche stattfinden solle, in der Polster selbst Pfarrer war. Aus Angst vor Abhör­maßnahmen fand die Vorbesprechung dieses Friedensgebetes am 19. Oktober in der Sakristei der Lutherkirche statt. 

Susanne Trauer, Ulrike Dressel, Dirk Schöwe und ich sind ohne Einladung dorthin gegangen und protestierten wegen der kirchlichen Vereinnahmung des Friedensgebetes. In der Dokumentation ist zu lesen, dass wir vom Konziliaren Prozess aufmuckten und uns gegen die Absprache des Pfarrerkreises stellten. Es wurde auch geäußert, der Pfarrerschaft sei das Friedensgebet von der Situation aufgenötigt worden. Nach einer Diskussion sahen wir ein, dass es kirchenrechtlich keine andere Möglichkeit gab, und waren der Ansicht, ein Schulterschluss sei entstanden. Am nächsten Tag ging Polster auf Wunsch des Dompfarrers Hübler ebenfalls ins Rathaus und unterrichtete den Stellvertreter des Oberbürger­meisters Stowasser im Beisein von Abteilungsleiter Jürgen Willig über den Ablauf des Friedensgebetes. Dabei erklärte Polster, dass er mit dem Kirchenvorstand als Veranstalter dafür Sorge tragen werde, dass das „Friedensgebet in Ruhe und ohne Vorkommnisse ablaufe". Vgl. Partei-Information 618/89; BStU ASt Chemnitz, AKG 406, Bd. l, Bl. 145 f.


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Mit diesem Beschluss waren die Basisgruppen und der Konziliare Prozess kirchenjuristisch aus dem Friedensgebet herausgenommen und trugen keine Verantwortung. Die Laien wurden zur Informations­beschaffung gebraucht und zu Statisten degradiert. Damit hatte die Institution Kirche das Friedensgebet okkupiert. Das Friedensgebet am 16. Oktober 1989 war das einzige, das von der Basis gewollt, vorbereitet, organisiert, getragen und verantwortet wurde – trotz der nachträglichen Schirm­herrschaft des Superintendenten. Es war ein Friedensgebet von unten. Während des ersten Friedensgebetes im Dom war auch das Symbol der brennenden Kerze hinter Stacheldraht aufgestellt worden. Es hat die Phase der friedlichen Revolution in Zwickau eingeleitet.

Von nun an öffneten Pfarrer und Kirchenvorstände, die den Status quo und das gute Staat-Kirche-Verhältnis eigentlich erhalten wollten, ihre Kirchen für die Friedensgebete. Es standen auch solche Pfarrer auf der Kanzel, die sich nie mit den Gedanken des Konziliaren Prozesses auseinander gesetzt hatten. Die Amtskirche hat das Friedensgebet nach ihren Vorstellungen verwaltet. Die Pfarrer waren von Amts wegen zur Predigt verpflichtet, aber ihre Verkündigung war oft nicht stimmig und kam nicht von Herzen. Was sie sagten, das deckten sie mit ihrem eigenen Leben nicht ab. Trotzdem sind diese „kirchlichen Würdenträger" (staatliche Bezeichnung für Pfarrer) ungewollt zu Gehilfen der anbrechenden Demokratie geworden. Die Struktur der Institution Kirche konnte auf den friedlichen Verlauf einwirken. Die Kirche wurde zu einer Art Katalysator. Das war für die weitere Entwicklung wichtig.

Ich sehe in diesem Beschluss der Pfarrer den Anfang einer Bewegung, an deren Ende die Basisgruppen der Kirche den Rücken kehrten. Sie wurden entmündigt. Sie hatten immer das Gefühl, in der Kirche nur geduldet zu sein; jedoch brauchten sie damals noch das schützende Dach der Kirche.

Nach der Sitzung des Stadtkonventes kam der Superintendent auf mich zu und untersagte mir, am Friedens­gebet teilzunehmen. Als Grund gab er an, meine Anwesenheit würde die Staatsorgane reizen. Ich solle den Kirchenvorstand nicht weiter provozieren, denn was er aufbaue, würde ich kaputt machen. Der Superintendent erteilte mir damit Hausverbot an dem Ort, an dem ich als Pfarrer berufen und eingesetzt worden war. Ich durfte am Gottesdienst, der zu den ureigensten Aufgaben eines Pfarrers gehört, nicht teilnehmen. Ich befolgte seine Anordnung und fuhr mit meinem Sohn David zum Friedensgebet nach Leipzig. Meine Frau bat ich, an meinerstatt in den Dom zu gehen.

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Ich möchte hier an die vielen mutigen Leute erinnern, die sich in Basisgruppen zusammen schlossen und ihren historischen Platz einnahmen. Von Michail Gorbatschows Glasnost und Perestroika ermutigt, drängten sie auf Veränderung und Demokratisierung. Ich lernte keinen kennen, der die DDR abschaffen wollte. Ihr beharrliches Kämpfen führte mit zur Staatskrise und löste die umfassende Verwandlung der Gesellschaft aus, die nicht erst mit den Massendemonstrationen im Oktober 1989 begann. In der neuen Gesellschaft jedoch wurden diese Leute nicht mehr gebraucht. Ein Bild soll das verdeutlichen. 

Die Basisgruppen waren vergleichbar der Hefe bei der Weinherstellung. Die Hefe bringt die Maische zum Gären. Damit tritt der Prozess einer Umwandlung ein. Zuerst verläuft er stürmisch, aufwallend und überschäumend. Dann wird er ruhiger und gärt gleichmäßig, bis der gesamte Fruchtsaft zu Wein verwandelt ist und zu gären aufhört. Damit es ein edler Wein wird, muss der ganze Trüb (Hefe) beseitigt werden. Dabei werden mehrfach die Verfahren des Durchseiens und des Umstiches angewandt, bis der Wein blank ist und mundet. Die Hefe der Wende waren die Laien, die Basisgruppen und der Konziliare Prozess, die wie unruhige Geister die Gesellschaft durchsetzten. Der Einsatz, der Mut und das Risiko dieser Leute haben mit dazu geführt, dass die sozialistische DDR, die eine Diktatur und ein totalitärer Staat war, friedlich und gewaltfrei verändert wurde. Sie haben mehr als ihre Pflicht getan. Sie haben Geschichte gemacht.

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