Clemens Vollnhals
Jürgen Weber, Herausgeber

 

Der Schein der
Normalität

 

 

Alltag und Herrschaft
in der SED-Diktatur 

 

 

2002 im Olzog-Verlag
München olzog.de  

Vollhals, Weber, Käbisch, geipel - Schein der Normalität - Alltag und Herrschaft in der SED-Diktatur  

2002  450 Seiten 

DNB Buch    Bing Buch    Goog Buch

detopia:

Pankowbuch   V.htm

Aretz-Stock-1997 

Wolle-Stefan-1999

Edmund Käbisch 

Ines Geipel    Joachim Walther 

Bernd Eisenfeld    Clemens Villinger

 

Inhalt

Vorwort von Heinrich Oberreuter (5)

  • wikipedia  Oberreuter  *1942 in Breslau - "Er war von 1980 bis 2010 Inhaber eines Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Universität Passau und von 1993 bis 2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Zudem ist er Direktor des Instituts für Journalistenausbildung Passau."

Einleitung von VolInhals und Weber (9)

  • Wikipedia Vollnhals  *1956 in München  - Clemens Vollnhals ist stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-lnstituts für Totalitarismusforschung in Dresden.

  • wikipedia  Jürgen_Weber  *1944 in Kaiserslautern. - ... ist Dozent an der Akademie für Politische Bildung Tutzing

 Lesebericht-Bauerkämper-pdf 

 

(Verlag) - Seit dem Ende der DDR kann die Zeitgeschichtsforschung durch die Auswertung der nunmehr frei zugäng­lichen Quellen ein umfassendes Bild des Herrschafts­apparates und der Herrschaftspraxis des SED-Regimes zeichnen. Das Ergebnis überrascht nicht — und ist dennoch zum Teil Atem beraubend, vor allem dann, wenn die Schicksale der politisch Verfolgten, der Dissidenten und Abweichler, der Anders­denkenden und Regime­kritiker, aber auch der vielen normalen Bürger aufgezeigt werden — jenen, die sich dem vormundschaftlichen Staat nicht beugen wollten. Natürlich traf die Parteidiktatur im alltäglichen Leben auch auf den gesellschaftlichen Eigensinn, auf Bürger, die sich deren Zumutungen entzogen und ihren persönlichen Lebensbereich gegenüber den Macht­habern abzugrenzen versuchten.

  1. Stefan Wolle: Sehnsucht nach der Diktatur? - Die heile Welt des Sozialismus als Erinnerung und Wirklichkeit  (17)

  2. Peter Skyba: Sozialpolitik als Herrschaftssicherung (39)  Entscheidungsprozesse und Folgen in der DDR der siebziger Jahre 

  3. Annette Kaminsky: Konsumpolitik in der Mangelwirtschaft  (81) 

  4. Clemens Vollnhals: Denunziation und Strafverfolgung im Auftrag der "Partei"  (113) Das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR 

  5. Achim Beyer: Die „Werdauer Oberschüler"  (157)  Widerstand und Verfolgung von Jugendlichen zu Beginn der fünfziger Jahre. Ein Zeitzeugenbericht

  6. Thomas Auerbach:  Jugend im Blickfeld der Staatssicherheit (201)

  7. Annegret und Hans-Hermann Dirksen: Kinder der Zeugen Jehovas - Staatliche Ausgrenzung und soziale Repression (218)

  8. Joachim Walther: Die alltägliche Zensur und der Alltag in der Literatur  (287) 

  9. Baldur Haase: Volkskunst und Stasi – am Beispiel des Bezirkes Gera  (305) 

  10. Bernd Eisenfeld: Flucht und Ausreise – Erkenntnisse und Erfahrungen  (341) 

  11. Edmund Käbisch: Die letzten Jahre der DDR. Mein Alltag als evangelischer Pfarrer in Zwickau (373)

  12. Ines Geipel: Das "Sportwunder" DDR und die andere Seite seiner Medaillen (417)

Vorwort von Heinrich Oberreuter 

5-7

Erinnerung fällt nicht immer leicht. Verdrängung, Verklärung und Reaktivierung überlagern des öfteren historische Tatsachen. Schon nach dem Ende der ersten Diktatur des vergangenen Jahr­hunderts haben die Deutschen – bei aller Erinnerungs­arbeit und „Bewältigung" – diese Erfahrung gemacht. Die Frontgeneration z.B. neigte dazu, ihre traumatischen Erfahrungen durch die Anrufung der – trotz allem – auch männer­bünd­ische Heiterkeit erregenden Erlebnisse in Schützengraben und Gefangenenlagern in den Hintergrund treten zu lassen.

Im Volk wurde der „deutschen Katastrophe" (Meinecke) vielfach Autobahnbau und Kriminalitäts­bekämpfung des NS-Regimes beigesellt. Niemand lebt offenbar gern in Zeiten exklusiver trostloser Erbärm­lichkeiten. Auch wenn die Dimensionen ungleich andere sind – die Mechanismen des Entfliehens präziser Erinnerung sind nach der zweiten Diktatur ganz ähnlich. Es verklärt sich, was sich positiv interpretieren lässt, und es verblasst das Erbärmliche.

Natürlich ist diese Erscheinung kritikbedürftig. Sie motiviert nebenbei historische Forschung und Aufklärung. Da aber über die Periode von 1933 bis 1989 die deutsche Gesellschaft insgesamt im Glashaus sitzt, gibt es für niemanden ein Recht, mit Steinen zu werfen. Dennoch besteht eine Pflicht zu wahrheitsgemäßer Darstellung der Geschichte.

Die gegenseitige Wahrnehmung der Deutschen kann man nicht vom Ende der Teilung her beurteilen. Besonders im Westen waren die Kenntnisse über die politischen, ökonomischen und gesell­schaftlichen Alltags- und Lebensbedingungen im Osten verschwommen. Umgekehrt galt, dass das Fernsehbild von der Wirklichkeit mit der realen Wirklichkeit des Westens keineswegs übereinstimmte.

Gerade den Zusammenhang von Herrschaft und Alltag aufzuklären, verlangte intellektuelle Operationen, für welche weder im Allgemeinen die Vorbildung und im Besonderen das Interesse zu allen Zeiten bestand. Am präzisesten war der Wissensstand sicher zu Beginn der Teilung, als Gründungsintentionen und Zielvorgaben beider Systeme evident erschienen. Die Zuweisung der BRD zum Lager des Klassenfeindes entfaltete im Osten keine Glaubwürdigkeit. Im Westen galt die DDR bis in die sechziger Jahre unzweifelhaft als Diktatur mit totalitärem Anspruch, im Kern gekenn­zeichnet durch das Weltanschauungs- und Politikmonopol der Partei, woraus sich die Alltagspraxis der Herrschaft ableitete.

Doch schon Mitte der sechziger Jahre nahm jedoch im Westen die Neigung zu, von den rechtstaats- und freiheitswidrigen Konstruktions­prinzipien der DDR und der ihnen folgenden Praxis zu abstrahieren. Stabilisierung galt als Voraussetzung für Liberalisierung – eine bitter enttäuschte Hoffnung. Währenddessen nahm im Osten nach dem Mauerbau die Anpassung zu, obgleich die offenkundige Repression nachließ. Die Instrumente der Diktatur wurden differenzierter, griffen aber nach wie vor nachhaltig in die Lebenschancen des Einzelnen ein.

Den Bürgern blieb wenig übrig, als sich im Grunde alltäglich – internalisiert – auf die Logik des Faktischen einzulassen: Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeiten. Joachim Gauck spricht von einer Selbstent­mächtigung durch höhere Einsicht, beruhend auf Ohnmacht und Ausweglosigkeit durch die historische Situation. Selektive Wahrnehmung griff um sich. Manches wollte man gar nicht so genau wissen – ein Phänomen, das nach Hannah Arendt typisch für das Leben unter Diktaturen ist.

In selektiver Erinnerung setzt sich diese Haltung bis heute fort – und in der Befürchtung, der geschichtliche Wandel und die Geltung neuer, konträrer Legitimitätsideen griffen nach der eigenen Biografie – ein Irrtum, der in letzter Konsequenz eine nachträgliche Identifikation von Person und System herstellen würde, die es damals im Alltag für die allermeisten nicht gegeben hatte.

Denn sich in unentrinnbare Strukturen nolens volens einzupassen kann keineswegs mit einer solchen Identifikation gleichgesetzt werden. Das Leben ist unter den gegebenen Bedingungen zu leben. Sich zu arrangieren oder sich in alltäglichen Widerständigkeiten zu engagieren ist eine ganz unechte Alternative. Sie als alltägliche Lebensweise zu unterstellen oder gar einzufordern, bezeugt nichts anderes als Unverstand. Wo im Alltag Diktatur herrscht, müssen die meisten Biografien zwangsläufig gebrochen sein. Über Unvermeidliches müsste man sich nicht genieren. Erst recht ist es kein Anlass und keine Rechtfertigung für Vorwürfe von außen. Entsprechende Vorwürfe bezeugten nur die Fortexistenz der über Jahrzehnte in die westdeutsche Gesellschaft eingesunkenen Desinformation über Alltag und Herrschaft in der DDR.

7

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Nolens (aut) volens
„Nicht wollend oder wollend“ – Im Sinne von „gewollt oder ungewollt“, „unfreiwillig“, „wohl oder übel“, „notgedrungen“, „zwangsläufig“ verwendet.

 

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Clemens Vollnhals &  Jürgen Weber - 2002