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Auf dem Meere

 

  

  Abreise aus Norwegen 

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28. Dezember 1936. Diese Zeilen werden an Bord des norwegischen Petroleumdampfers <Ruth> geschrieben, der von Oslo aus sich in einen der mexikanischen Häfen begibt, in welchen, ist noch unbekannt. Gestern sind wir an den Azoren-Inseln vorbeigefahren. Die ersten Tage war die See bewegt, es war schwierig, zu schreiben. Ich las gierig Bücher über Mexiko: unser Planet ist so klein, und doch kennen wir ihn so wenig! 

Nachdem die »Ruth« die Meerengen passierte und Kurs auf Südwest genommen hatte, wurde der Ozean immer ruhiger; ich konnte daran gehen, die Aufzeichnungen über den Aufenthalt in Norwegen und über meine Aussagen vor Gericht zu ordnen. So vergingen die ersten acht Tage in angestrengter Arbeit und Rätselraten über das geheimnisvolle Mexiko. Nicht weniger als zwölf mal vierundzwanzig Stunden Weges stehen noch bevor. 

Uns begleitet der norwegische Polizeioffizier Jonas Lie, der eine Zeitlang im Dienste des Völkerbundes im Saargebiet tätig war. Am Tische sitzen wir zu vieren: der Kapitän, der Polizeioffizier und wir, meine Frau und ich. Andere Passagiere gibt es nicht. Das Meer ist für diese Jahreszeit ausnehmend günstig. Hinter uns liegen vier Monate Gefangenschaft. Vor uns — Ozean und Ungewißheit. An Bord des Schiffes bleiben wir jedoch noch immer unter dem »Schutz« der norwegischen Flagge, das heißt in der Lage von Gefangenen. Wir haben nicht das Recht, den Radiotelegraphen zu benutzen. Unsere Revolver bleiben beim Polizeioffizier, unserem Nachbar an der Table d'höte. Die Bedingungen der Landung in Mexiko werden per Radio ohne uns ausgemacht. Die sozialistische Regierung liebt nicht zu spaßen, wenn es um Prinzipien der... Internierung geht!

Bei der kurz vor unserer Abreise stattgefundenen Wahl hat die Arbeiterpartei einen bedeutenden Stimmenzuwachs erhalten. Konrad Knudsen, gegen den als gegen meinen »Komplizen« sich alle bürgerlichen Parteien zusammengeschlossen hatten, und den die eigene Partei vor den Angriffen fast nicht in Schutz nahm, wurde mit einer imposanten Mehrheit gewählt. Darin lag ein indirektes Vertrauensvotum für mich ... 

Unterstützt von der Bevölkerung, die gegen die reaktionären Attacken und für das Asylrecht gestimmt hatte, beschloß die Regierung, wie es sich gehört, dieses Recht, der Reaktion zu Gefallen, völlig zu zertreten. Die Mechanik des Parlamentarismus ist durchweg auf solchen qui pro quo zwischen Wählern und Gewählten aufgebaut! 

Die Norweger sind mit Recht auf Ibsen, ihren Nationaldichter, stolz. Vor 25 Jahren war Ibsen meine literarische Liebe. Ihm hatte ich einen meiner ersten Artikel gewidmet. Im demokratischen Gefängnis, der Heimat des Dichters, las ich seine Dramen wieder. Vieles scheint mir heute naiv und altmodisch. Aber haben denn viele Vorkriegsdichter die Prüfung der Zeit bestanden? Die gesamte Geschichte bis 1914 erscheint heute etwas simpel und provinziell. Im allgemeinen kam mir Ibsen noch frisch vor und in seiner nordischen Frische anziehend. Mit besonderem Vergnügen las ich wieder »Der Volksfeind«. Ibsens Haß gegen protestantisches Muckertum, Krähwinkelstumpfheit und engherzige Heuchelei wurde mir verständlicher und näher nach der Bekanntschaft mit der ersten sozialistischen Regierung in der Heimat des Dichters. »Ibsen kann man auf verschiedene Weise deuten«, verteidigte sich der Justizminister während seines unerwarteten Besuches bei mir in Sundby. »Wie man ihn auch deuten mag, er wird stets gegen Sie sein. Erinnern Sie sich an den Bürgermeister Stockmann« ... »Sie glauben, daß ich es bin?« »Bestenfalls, Herr Minister: Ihre Regierung besitzt alle Laster der bürgerlichen Regierungen, ohne deren Vorzüge.« 

Trotz der literarischen Färbung zeichneten sich unsere Gespräche nicht durch besondere Courtoisie aus. Als Doktor Stockmann, der Bruder des Bürgermeisters*, zu der Schlußfolgerung gekommen war, der Wohlstand seiner Heimatstadt beruhe auf vergifteten Mineralquellen, wurde er vom Bürgermeister aus dem Dienste gejagt, die Zeitungen schlossen sich vor ihm, die £ey bürger erklärten ihn für einen Volksfeind. 

»Wir werden „4erih sehen« — rief der Doktor aus —, »ob Niedertracht und Feigheit so stark sind, um einem freien, ehrlichen Menschen den Mund zu stopfen!« Ich hatte meine Gründe, mich gegen meine sozialistischen Gefängniswärter auf dieses Zitat zu berufen.

»Wir haben eine Dummheit begangen, als wir Ihnen das Visum gaben«, sagte mir Mitte Dezember ungeniert der Justizminister. »Und diese Dummheit wollen Sie durch ein Verbrechen gutmachen?«, antwortete ich mit Offenheit auf die Offenheit. »Sie benehmen sich gegen mich wie Noske und Scheidemann sich gegen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg benommen haben. 

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Sie bahnen dem Faschismus den Weg. Wenn die Arbeiter Frankreichs und Spaniens Euch nicht retten werden, werden Sie und Ihre Kollegen in einigen Jahren Emigranten sein, wie heute Ihre Vorgänger, die deutschen Sozialdemokraten.« 

Das war alles richtig. Doch der Schlüssel zu meinem Gefängnis blieb in den Händen des Bürgermeisters Stockmann.

Hinsichtlich der Möglichkeit, in irgendeinem anderen Lande Asyl zu finden, hegte ich keine großen Hoffnungen. Die demokratischen Länder schützen sich vor der Gefahr einer Diktatur dadurch, daß sie deren schlimmste Seiten sich aneignen. Für Revolutionäre hat sich das sogenannte »Recht« auf Asyl schon längst aus einer Rechts- in eine Gnadenfrage verwandelt. Es ist noch hinzugekommen: der Moskauer Prozeß und die Internierung in Norwegen! Man wird unschwer begreifen können, welch wohltuende Nachricht das Telegramm aus der Neuen Welt für uns war, daß die Regierung des fernen Mexiko uns Gastfreundschaft gewähren wollte. Es zeigte sich ein Ausweg — aus Norwegen und aus der Sackgasse. Auf dem Rückweg vom Gericht sagte ich zu dem mich begleitenden Polizeioffizier: »Bestellen Sie der Regierung, daß ich und meine Frau bereit sind, Norwegen so schnell wie möglich zu verlassen. Bevor ich aber um das mexikanische Visum ansuche, will ich die Bedingungen für eine gefahrlose Überfahrt sichern. Ich muß mich darüber mit meinen Freunden und die Unversehrtheit meiner Archive sichern.« 

Der Justizminister, der tags darauf in Begleitung dreier hoher Polizeibeamten nach Sundby kam, war durch die Radikalität meiner Forderungen sichtbar erschüttert. »Sogar in den zaristischen Gefängnissen«, sagte ich ihm, »pib man den Verbannten die Möglichkeit, zur Ordnung ihrer ,*° sönlichen Angelegenheiten Verwandte oder Freunde zu s|l %chen.« »Ja, ja«, erwiderte philosophisch der sozialistische Minister, »jetzt sind aber andere Zeiten ...« Einer genaueren Charakterisierung der Zeitunterschiede enthielt er sich freilich.

Am 18. Dezember erschien der Minister wieder, aber nur, um mir zu erklären, daß meine Forderung, Freunde zu sprechen, abgelehnt sei, daß das mexikanische Visum ohne mein Zutun eingetroffen sei (auf welche Weise ist mir auch jetzt noch unklar) und daß ich und meine Frau »morgen« auf den Frachtdampfer »Ruth« verladen werden würden, wo man uns eine Kajüte für Kranke angewiesen habe. Ich will es nicht verheimlichen, daß ich dem Herrn Minister zum Abschied die Hand nicht gereicht habe...

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Es wäre ungerecht, nicht zu betonen, daß es der Regierungspartei nur durch Vergewaltigung des Denkens und des Gewissens gelang, ihren Kurs durchzuführen. Sie geriet dabei in Konflikt mit den liberalen oder einfach den gewissenhaften Beamten der Administration und der Magistratur und war gezwungen, sich auf den reaktionären Teil der Bürokratie zu stützen. Bei den Arbeitern rief die Polizeienergie Nygaardsvolds jedenfalls keinen Enthusiasmus hervor. Mit Achtung und Dankbarkeit vermerke ich die Bemühungen der verdienstvollen Führer der Arbeiterbewegung, wie Olav Cheflo, Konrad Knudsen, Haakon Meyer, eine Änderung der Regierungspolitik zu erreichen. Es muß auch wieder Helge Krohg genannt werden, der Worte leidenschaftlicher Empörung fand, um die Handlungsweise der norwegischen Regierung zu brandmarken.

Für das Einpacken der Sachen und Papiere blieben uns unter Abzug der unruhigen Nacht nur wenige Stunden. Noch keine unserer zahlreichen Übersiedlungen hatte sich in einer solchen Atmosphäre von fieberhafter Hast, völliger Isoliertheit, Ungewißheit und tief niederdrückender Empörung vollzogen. Im Hinundhergehen sahen wir uns manchmal an: was soll es bedeuten? wodurch ist es hervorgerufen? — und jeder von uns lief mit Bündel oder Papiermappe weiter. »Ist es nicht eine Falle seitens der Regierung?« fragte meine Frau. »Ich glaube nicht«, antwortete ich, nicht sehr sicher. Auf der Veranda nagelten Polizisten mit Pfeifen im Munde die Kisten zu. Über dem Fjord kreisten Nebel.

Die Abfahrt war vom strengsten Geheimnis umgeben. Die Zeitungen erhielten falsche Nachrichten über unsere angeblich in nächster Zeit bevorstehende Abreise, um die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken. Die Regierung fürchtete sich sowohl davor, daß ich mich weigern könnte, abzureisen, als auch, daß die GPU Zeit finden könnte, eine Höllenmaschine auf dem Dampfer anzubringen. Ich und meine Frau konnten keinesfalls die letztere Befürchtung als völlig unbegründet betrachten. Unsere Sicherheit traf in diesem Falle zusammen mit der Sicherheit des norwegischen Schiffes und seiner Besatzung. Wir wurden auf der »Ruth« mit Neugierde, aber ohne die geringste Feindseligkeit empfangen. Es erschien auch der Schiffsbesitzer, ein alter Mann. Auf seine liebenswürdige Initiative hin

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wurden wir nicht in der halbdunklen Krankenkajüte mit drei Pritschen, ohne Tisch, untergebracht, wie es aus irgendeinem Grunde die wachsame Regierung verfügt hatte, sondern in der bequemen Kajüte des Schiffsbesitzers, neben der Kabine des Kapitäns. Auf diese Weise erhielt ich die Möglichkeit, unterwegs zu arbeiten ... Trotz allem haben wir warme Erinnerungen bewahrt an das herrliche Land der Wälder und Fjorde, des Schnees unter der Januarsonne, des Skis und des Schlittens, der blonden, blauäugigen Kinder, des etwas düsteren und schwerfälligen, aber ernsten und ehrlichen Volkes. Lebe wohl, Norwegen!

 

Eine lehrreiche Episode

 

30. Dezember. Die größere Hälfte des Weges liegt hinter uns. Der Kapitän glaubt, daß wir am 8. Januar in Vera Cruz sein werden, wenn das Meer uns weiter sein Wohlwollen erhält.. Am 8. oder am 10., ist es nicht gleich? Auf dem Schiff herrscht Ruhe. Keine Moskauer Telegramme, — und die Luft scheint doppelt so rein. Wir haben es nicht eilig. Doch zurück zum Prozeß ...

Es ist erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit Sinowjew, Kamenjew mitreißend, jahrelang sein eigenes tragisches Finale vorbereitet hat. Ohne Sinowjews Initiative wäre Stalin kaum Generalsekretär geworden. Sinowjew hatte die episodische Diskussion über die Gewerkschaften im Winter 1920/31 ausnutzen wollen für den weiteren Kampf gegen mich. Stalin schien ihm, und nicht ohne Grund, der geeignetste Mann für die Arbeit hinter den Kulissen. Gerade in jenen Tagen hatte Lenin, gegen die Ernennung Stalins zum Generalsekretär opponierend, seinen berühmten Satz geprägt: »Ich empfehle es nicht — dieser Koch wird nur scharfe Gerichte bereiten.« Welch yrophetische Worte! Es siegte jedoch auf dem Kongreß die von Sinowjew geführte Petrograder Delegation. Der Sieg fiel ihr um so leichter, als Lenin den Kampf nicht aufnahm. Seiner Warnung wollte er keine übertriebene Bedeutung beimessen: solange das alte Politbüro an der Macht blieb, konnte der Generalsekretär nur eine untergeordnete Figur sein.

Nach Lenins Erkrankung nahm Sinowjew den offenen Kampf gegen mich auf. Er hatte damit gerechnet, daß der schwerfällige Stalin sein Stabschef bleiben würde. Der Generalsekretär schob sich damals sehr behutsam vor. Die Massen kannten ihn absolut nicht. Autorität genoß er nur bei einem

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Teil des Apparates, aber auch dort war er nicht beliebt. Im Jahre 1924 schwankte Stalin noch stark. Sinowjew stieß ihn vorwärts. Zur politischen Verschleierung seiner Tätigkeit hinter den Kulissen brauchte Stalin Sinowjew und Kamenjew: darauf beruhte die Mechanik der »Troika«. Den größten Eifer entwickelte immer Sinowjew; er zog seinen künftigen Henker im Schlepptau hinter sich her.

Im Jahre 1936, als Sinowjew und Kamenjew, nach mehr als drei Jahren gemeinsamer Verschwörung mit Stalin gegen mich, sich in Opposition zum Apparat stellten, erhielt ich von ihnen eine Reihe sehr lehrreicher Mitteilungen und Warnungen:

»Sie glauben«, sagte Kamenjew, »daß Stalin darüber nachdenkt, was er Ihnen auf Ihre letzte Kritik erwidern soll? Sie irren. Er denkt darüber nach, wie er Sie vernichten kann ... Zuerst moralisch, und dann womöglich auch physisch. Verleumden, eine Provokation organisieren, eine militärische Verschwörung unterschieben, einen terroristischen Akt inszenieren. Glauben Sie mir, das ist keine Hypothese: innerhalb der >Troika< mußte man mitunter offen miteinander sein, obwohl die persönlichen Beziehungen auch damals mehr als einmal zu explodieren drohten. Stalin führt den Kampf auf einer ganz anderen Ebene als Sie. Sie kennen diesen Asiaten nicht...«

Kamenjew selbst hat Stalin gut gekannt. Beide haben in ihren jungen Jahren, zu Beginn des Jahrhunderts, ihre revolutionäre Tätigkeit in der kaukasischen Organisation begonnen, waren, zusammen in Verbannung gewesen, kehrten zusammen im März 1917 nach Petersburg zurück und gaben zusammen dem Zentralorgan der Partei eine opportunistische Richtung, die bis zu Lenins Ankunft erhalten blieb.

»Erinnern Sie sich an die Verhaftung von Sultan Galiew, dem ehemaligen Vorsitzenden des tatarischen Sowjets der Volkskommissare im Jahre 1933?« fuhr Kamenjew fort. »Das war die erste Verhaftung eines angesehenen Parteimitglieds, die auf Stalins Initiative erfolgte. Ich und Sinowjew hatten unglücklicherweise unsere Zustimmung gegeben. Seit dieser Zeit hatte Stalin Blut geleckt... Sobald wir mit ihm gebrochen hatten, verfaßten wir eine Art Testament, in welchem wir sagten, wenn uns >zufällig< etwas zustoßen sollte, möge man in Stalin den Schuldigen sehen. Dieses Dokument wird an sicherem Ort aufbewahrt. Ich empfehle auch Ihnen, das gleiche zu tun: von diesem Asiaten kann man alles erwarten ...

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Sinowjew sagte mir in den ersten Wochen unseres kurzlebigen Blocks (1936-1927): »Glauben Sie, Stalin hat nicht die Frage Ihrer physischen Beseitigung erwogen? Er hat es, und mehr als einmal. Es hielt ihn davon stets der gleiche Gedanke zurück: die Jugend würde die Verantwortung der >Troika< oder ihm persönlich zuschieben und könnte zu terroristischen Akten greifen. Deshalb hielt es Stalin für notwendig, zuerst die Oppositionskader der Jugend zu zertrümmern. Dann wird man schon sehen ... Sein Haß gegen uns, besonders gegen Kamenjew, beruht darauf, daß wir über ihn zuviel wissen.«

Überspringen wir einen Zeitraum von fünf Jahren. Am 31. Oktober 1931 veröffentlichte das Zentralorgan der deutschen kommunistischen Partei, »Die Rote Fahne«, die Nachricht, der weiße General Turkul bereite in der Türkei ein Attentat auf Trotzki vor. Solche Mitteilungen konnten nur von der GPU kommen. Da ich in die Türkei von Stalin ausgewiesen worden war, so sah die Warnung der »Roten Fahne« sehr nach einem Versuch aus, für den Fall, daß Turkuls Absicht erfolgreich enden sollte, ein moralisches Alibi für Stalin vorzubereiten. Am 4. Januar 1932 wandte ich mich mit einem Brief an das Politbüro in Moskau, in dem ich ausführte, daß es Stalin nicht gelingen werde, sich mit solch billigen Mitteln weißzuwaschen: die GPU sei fähig, mit der einen Hand durch ihre Agents-Provokateure die Weißgardisten zu einem Attentat anzustiften und mit der andern, durch die Organe der Komintern, für jeden Fall sie zu entlarven. »Stalin ist zu der Schlußfolgerung gekommen«, schrieb ich, »daß die Ausweisung Trotzkis ein Irrtum war. Er hat gehofft, wie aus seiner damaligen Erklärung im Politbüro bekannt ist, daß ohne Sekretariat und ohne Mittel Trotzki ein wehrloses Opfer der im Weltmaßstabe organisierten bürokratischen Verleumdung werden würde. Der Bürokrat hatte sich getäuscht. Entgegen seinen Erwartungen hat sich gezeigt, daß Ideen ihre eigene Kraft besitzen, auch ohne Apparat und ohne Mittel... Stalin begreift sehr wohl die ernste Gefahr, die ihm persönlich, seiner aufgeblasenen Autorität, seiner bonapartistischen Allmacht aus der geistigen Unversöhnlichkeit und dem ständigen Wachsen der internationalen linken Opposition droht. Stalin denkt: >man muß den Irrtum gutmachen<. Selbstverständlich nicht mit ideologischen Maß-

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nahmen: Stalin führt den Kampf auf einer anderen Ebene. Er will nicht an die Ideen des Gegners, sondern an dessen Schädel herankommen.« Bereits im Jahre 1924 erwog Stalin alle pro und contra meiner physischen Liquidierung. »Ich habe seinerzeit diese Mitteilungen von Sinowjew und Kamenjew erhalten«, schrieb ich, »in der Periode ihres Überschwenkens zur Opposition, und zwar unter solchen Umständen und mit solchen Einzelheiten, daß es keinen Zweifel an der Richtigkeit dieser Mitteilungen geben kann... Wenn Stalin Sinowjew und Kamenjew zwingen sollte, ihre früheren Erklärungen abzuleugnen, wird niemand ihnen glauben.« Schon damals stand in Moskau das System falscher Geständnisse und Ableugnungen auf Bestellung in voller Blüte.

Zehn Tage nachdem ich meinen Brief aus der Türkei abgesandt hatte, wandte sich eine Delegation meiner französischen Gesinnungsgenossen, geführt von Naville und Frank, an den damaligen Sowjetgesandten in Paris, Dowgalewski, mit einer schriftlichen Erklärung: »Die >Rote Fahne< veröffentlicht eine Nachricht über die Vorbereitung eines Attentats auf Trotzki... Somit bestätigt die Sowjetregierung formell, daß sie über die Gefahren unterrichtet ist, die Trotzki drohen.« Und da nach der gleichen offiziösen Mitteilung der Plan des General Turkul »sich auf die schlecht organisierte Bewachung seitens der türkischen Behörden stützt«, machte die Erklärung Naville-Frank die Sowjetregierung für etwaige Folgen verantwortlich und forderte sofortige Ergreifung entsprechender praktischer Maßnahmen.

Diese Schritte scheuchten Moskau auf. Am 2. März versandte das Zentralkomitee der Französischen kommunistischen Partei an die verantwortlichen Mitglieder ein vertrauliches Dokument mit der Antwort des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei der USSR. Stalin bestritt nicht nur, daß die Nachricht der »Roten Fahne« von ihm ausgegangen sei, sondern rechnete sich die Warnung als besonderes Verdienst an und beschuldigte mich... der Undankbarkeit. Die Frage der Sicherheit übergehend, behauptete das Rundschreiben, ich bereite durch meine Angriffe auf das Zentralkomitee ein »Bündnis mit den Sozialfaschisten« (das heißt den Sozialdemokraten) vor. Auf die Beschuldigung des Bündnisses mit dem Faschismus war Stalin damals noch nicht gekommen, und sein eigenes Bündnis mit den »Sozialfaschisten« gegen mich hat er da-

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mals noch nicht vorausgesehen. Der Antwort Stalins war eine Erklärung von Sinowjew und Kamenjew vom 13. Februar 1933 beigelegt, verfaßt, wie unvorsichtigerweise in der Erklärung selbst steht, auf Verlangen Jaroslawskis und Schkirjatows, Mitglieder der Zentral-Kontrollkommission, die damals die wichtigsten Inquisitoren im Kampfe gegen die Opposition waren. In dem für solche Dokumente üblichen Stil schrieben Kamenjew und Sinowjew, Trotzkis Mitteilung sei »eine ehrlose Lüge, dem einzigen Zweck dienend, unsere Partei zu kompromittieren. Es ist selbstverständlich, daß von der Beratung einer solchen Frage niemals die Rede sein konnte ... wir haben mit Trotzki von etwas Ähnlichem nie gesprochen«. Das Dementi schloß mit einer noch höheren Note: »Trotzkis Erklärung, man könne uns in der Partei der Bolschewiki zwingen, falsche Mitteilungen zu machen, ist ein bewußter Erpressertrick.«

Diese ganze Episode, die auf den ersten Blick dem Prozeß fernsteht, ist bei aufmerksamer Betrachtung von außerordentlichem Interesse. Laut der Anklageschrift habe ich bereits im Jahre 1931 und dann 193s durch meinen Sohn Leo Sedow und durch Lurij Gaven Smirnow die Instruktion erteilt: zur terroristischen Kampfmethode überzugehen und auf dieser Basis mit den Sinowjewisten einen Block zu bilden. Wie wir noch häufig sehen werden, wurden alle meine »Instruktionen« sofort von den Kapitulanten ausgeführt, das heißt von Menschen, die längst mit mir gebrochen hatten und gegen mich im offenen Kampf standen. Nach der offiziellen Deutung waren die Kapitulationen Sinowjews, Kamenjews und anderer einfache Kriegslist, die den Zweck hatte, in das Allerheiligste der Bürokratie einzudringen. Schenkt man einen Moment dieser Version Glauben, die, wie aus dem weiteren hervorgeht, an tausend Tatsachen zerschellt, so erscheint mein Brief vom 4. Januar 1932 an das Politbüro als ein vollkommenes Rätsel. Wenn ich in den Jahren 1931-1932 die Organisation eines terroristischen »Blocks« mit Kamenjew und Sinowjew tatsächlich geleitet haben würde, würde ich selbstverständlich meine Verbündeten vor der Bürokratie nicht so hoffnungslos kompromittieren. Das plumpe Dementi Sinowjew-Kamenjews, bestimmt zur Täuschung der Nichteingeweihten, konnte natürlich keinen Moment Stalin täuschen: er wußte jedenfalls, daß seine früheren Verbündeten mir die volle Wahrheit gesagt hatten! Diese Tatsa-

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che aliein hat genügt, um Sinowjew und Kamenjew für immer die Möglichkeit zu nehmen, sich das Vertrauen der regierenden Spitze wiederzuerringen. Was bleibt da von der »Kriegslist«? Ich hätte ja unzurechnungsfähig sein müssen, um auf solche Weise die Chancen des »terroristischen Zentrums« selbst zu untergratJen.

Anderseits zeugt das Dementi Kamenjew-Sinowjew, im Inhalt und Ton, von allem, nur nicht von Mitarbeit. Außerdem steht dieses Dokument nicht isoliert da. Wir werden noch sehen, besonders an dem Beispiel Radek, daß die Hauptfunktion der Kapitulanten darin bestand, mich von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat vor der Sowjet- und der Weltmeinung zu beschimpfen und zu verleumden. Wie diese Menschen glauben sollten, unter der Leitung eines von ihnen kompromittierten Führers zum Siege zu kommen, ist völlig unerklärlich. Hier verwandelt sich die Kriegslist schon offen in ihr Gegenteil. Im Grunde ist das Dementi Sinowjew-Kamenjew vom 13. Februar 1932, das an alle Sektionen der Komintern versandt wurde, einer der zahlreichen Entwürfe für ihre Aussagen im August 1936: dasselbe Geschimpfe gegen mich als den Gegner des Bolschewismus und insbesondere als den Feind des »Genossen Stalin«; derselbe Hinweis auf meine Absicht, der »Konterrevolution« zu dienen, und schließlich dieselben Versicherungen, sie, Sinowjew und Kamenjew, machten ihre Aussagen aus freiem Willen, ohne jeglichen Zwang. Wie könnte es auch anders sein: auch nur die Möglichkeit eines Zwanges in Stalins »Demokratie« anzunehmen, könnten nur »Erpresser«. Schon die Exzesse des Stils zeigen unverkennbar die Quelle der Inspiration. Wahrhaftig, ein wertvolles Dokument! Es zerstört nicht nur die Dichtung vom »trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrum« im Jahre 1932, sondern erlaubt auch in jenes Laboratorium hineinzublicken, wo sich die künftigen Prozesse mit Geständnissen auf Bestellung vorbereiteten.

 

Sinowjew und Kamenjew

31. Dezember. 
Ein Jahr geht zu Ende, das in die Geschichte eingehen wird als das Kainsjahr... Im Zusammenhang mit der Warnung von Sinowjew und Kamenjew vor den geheimen Plänen und Spekulationen Stalins kann die Frage auftauchen, ob nicht die selben Absichten bei Kamenjew und Sinowjew in bezug auf Stalin entstanden, nachdem alle anderen Wege des Kampfes ihnen abgeschnitten waren.

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Beide haben sie in der letzten Periode ihres Lebens nicht wenig Wendungen gemacht und nicht wenig Prinzipien verloren. Warum soll man also nicht annehmen, daß sie, verzweifelt über die Folgen ihrer eigenen Kapitulationen, in einem gegebenen Augenblick sich auf den Weg des Terrors gestürzt haben? Und dann, als letzte Kapitulation, den Wünschen der GPU entgegenkommend, sich bereit erklärten, mich in ihre unglückseligen Pläne hineinzuziehen, um sich und dem Regime, mit dem sie sich wieder aussöhnen wollten, einen Dienst zu erweisen? 

Eine solche Hypothese war einigen meiner Freunde in den Sinn gekommen. Ich habe sie von allen Seiten erwogen, ohne die geringste Voreingenommenheit oder persönliches Interesse. Und jedesmal bin ich mir über die völlige Unzulänglichkeit dieser Hypothese klar geworden. Sinowjew und Kamenjew sind grundverschiedene Naturen. Sinowjew ist Agitator, Kamenjew Propagandist. Sinowjew leitete hauptsächlich ein feiner politischer Instinkt. Kamenjew überlegte und analysierte. Sinowjew neigte stets zu Übertreibungen. Kamenjew kann man eher übertriebene Vorsicht zum Vorwurf machen. Sinowjew ging völlig in der Politik auf, ohne andere Interessen und Neigungen. In Kamenjew saß ein Sybarit und Ästhet. Sinowjew war rachsüchtig. Kamenjew eher gutmütig. 

Ich weiß nicht, wie ihre Beziehungen in der Emigration gewesen waren. Im Jahre 1917 verband sie vorübergehend ihre Opposition gegen die Oktoberrevolution. In den ersten Jahren nach dem Siege verhielt sich Kamenjew zu Sinowjew etwas ironisch. Später näherte sie einander die Opposition gegen mich, danach die gegen Stalin. Die letzten dreizehn Jahre ihres Lebens gingen sie in einer Reihe, ihre Namen wurden stets zusammen genannt. Bei all ihren individuellen Verschiedenheiten hatten sie gemeinsam, außer der in der Emigration unter Lenins unmittelbarer Leitung durchgemachten Schule, einen ungefähr gleichen Umfang des Denkens und des Willens. Kamenjews Analyse wurde durch Sinowjews Instinkt ergänzt; zusammen tasteten sie sich zu gemeinsamen Entschlüssen durch. Der vorsichtigere Kamenjew ließ sich manchmal gegen seinen Willen von Sinowjew mitreißen, aber am Ende standen sie auf der gleichen Rückzugslihie. Sie waren einander nah durch die gleichen Dimensionen ihrer Persönlichkeit und ergänzten einander durch ihre Verschiedenheiten. Beide waren tief und restlos dem Sozialismus ergeben. Darin besteht die Erklärung ihres tragischen Bundes.

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Eine politische oder moralische Verantwortung für Sinowjew und Kamenjew auf mich zu nehmen, habe ich gar keine Veranlassung. Mit Abzug einer kleinen Pause (1926-1927) waren sie stets meine erbitterten Gegner. Persönlich hatte ich zu ihnen kein großes Vertrauen. Intellektuell stand jeder von ihnen allerdings höher als Stalin. Aber es mangelte ihnen an Charakter. Gerade diese ihre Eigenschaft hatte Lenin gemeint, als er im »Testament« schrieb, Sinowjew und Kamenjew erwiesen sich »nicht zufällig« im Herbst 1917 als Gegner des Aufstandes: sie hielten dem Ansturm der bürgerlichen öffentlichen Meinung nicht stand. 

Als sich in der Sowjetunion tiefe soziale Verschiebungen, verbunden mit der Formierung der privilegierten Bürokratie, herauskristallisierten, ließen sich Sinowjew und Kamenjew »nicht zufällig« in das Lager des Thermidors hineinziehen (1922-1926). Durch das theoretische Verständnis für die sich abspielenden Prozesse waren sie ihren damaligen Verbündeten, darunter auch Stalin, weit überlegen. Dies erklärt auch ihren Versuch, sich von der Bürokratie loszureißen und sich ihr entgegenzustellen. Im Juli 1926 erklärte Sinowjew im Plenum des ZK: »In der Frage der bürokratischen Apparatschraube hat Trotzki gegen uns Recht behalten.« Er gestand damals, daß sein Irrtum im Kampfe gegen mich sogar »gefährlicher« war als sein Irrtum von 1917! Aber der Druck der privilegierten Schicht nahm unüberwindliche Dimensionen an. Sinowjew und Kamenjew haben »nicht zufällig« Ende des Jahres 1927 vor Stalin kapituliert und die Jüngeren, weniger Autoritären mitgerissen. 

Sie haben sich dann nicht wenig Mühe gegeben, um die Opposition anzuschwärzen. Aber in den Jahren 1931-1932, als der gesamte Organismus des Landes unter den schrecklichen Folgen der gewaltsamen und schrankenlosen Kollektivisierung erschüttert war, erhoben Sinowjew und Kamenjew wie viele andere Kapitulanten besorgt den Kopf und begannen über die Gefahren der neuen Regierungspolitik zu tuscheln. Sie wurden gefaßt bei der Lektüre eines kritischen Dokumentes, das aus den Reihen der rechten Opposition kam, und für dieses schreckliche Verbrechen — keine andere Beschuldigung lag gegen sie vor! — aus der Partei ausgeschlossen und — verbannt. Im Jahre 1933 legten Sinowjew und Kamenjew nicht nur wiederum ein Reuebekenntnis ab, sondern warfen sich vor Stalin völlig auf den Bauch.

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Es gab keinen Schimpf, den sie gegen die Opposition nicht ausgestoßen hätten und besonders — gegen mich persönlich. Ihre Selbstentwaffnung machte sie völlig wehrlos und die Bürokratie konnte von nun an jedes Geständnis von ihnen verlangen. Ihr weiteres Schicksal war die Folge dieser progressiven Kapitulationen und Selbsterniedrigungen. Ja, es mangelte ihnen an Charakter. Jedoch darf man diese Worte nicht zu simpel verstehen. Der Widerstand des Materials läßt sich ermessen durch die es beeinflussenden Vernichtungskräfte. In den Tagen zwischen dem Prozeßbeginn und meiner Internierung hatte ich Gelegenheit, von friedlichen Bürgern zu hören: »Es ist unmöglich, Sinowjew zu begreifen ... Diese Charakterlosigkeit!« Ich antwortete ihnen: »Haben Sie an sich den Druck erfahren, dem er eine Reihe von Jahren ausgesetzt war?« Sehr unklug sind die in intellektuellen Kreisen verbreiteten Vergleiche mit der Haltung Dantons, Robespierres und anderer vor Gericht, bort gerieten die revolutionären Tribunen unter das Messer der Justiz unmittelbar von der Kampfarena, in ihrer höchsten Kraftentfaltung, mit fast unberührten Nerven und gleichzeitig ohne die geringste. Hoffnung auf Rettung. Noch unangebrachter sind die Vergleiche mit der Haltung Dimitrows vor dem Leipziger Gericht. Gewiß, neben .Torgier hob sich Dimitrow günstig durch Entschlossenheit und Mut ab. Doch haben,Revolutionäre verschiedener Länder und insbesondere des zaristischen Rußlands unter viel schwierigeren Umständen nicht weniger Standhaftigkeit bewiesen. Dimitrow stand von Angesicht zu Angesicht mit dem grimmigsten Klassenfeinde. Keine Indizien hat es gegen ihn gegeben und geben können. Der Staatsapparat der Nazi war erst in Bildung und zu totalitären Fälschungen noch unfähig. Dimitrow wurde vom gigantischen Apparat des Sowjetstaates und der Komintern gestützt. Es drangen zu ihm von überall die Sympathien der Volksmassen. Freunde saßen im Gerichtssaal. Es hat nur ein durchschnittlicher menschlicher Mut dazu gehört, um »Held« zu werden. War denn die Lage Sinowjews und Kamenjews vor dem Gesicht der GPU und vor dem Gericht dieser ähnlich? Zehn Jahre waren sie umgeben von mit schwerem Gold bezahlten Wolken der Verleumdung. Zehn Jahre schaukelten sie zwischen Leben und Tod, anfangs im politischen Sinne, dann im moralischen und endlich im physischen. Kann man im Verlauf der gesamten Geschichte

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viele Beispiele solcher systematischen, raffinierten, teuflischen Demolierung des Rückgrats, der Nerven, aller Fiber der Seele finden? Die Charaktere Sinowjews und Kamenjews würden für eine friedliche Periode vollauf ausgereicht haben. Jedoch erforderte die Periode grandioser sozialer und politischer Erschütterungen von diesen Menschen, deren Begabung ihnen einen führenden Platz in der Revolution zugewiesen hatte, ganz besondere Standhaftigkeit. Die Disproportion zwischen Begabung und Willen hat zu den tragischen Resultaten geführt.

Die Geschichte meiner Beziehungen zu Sinowjew und Kamenjew läßt sich mühelos nach Dokumenten, Artikeln und Büchern verfolgen. Allein das »Bulletin der Opposition« (1929-1937) bezeichnet zur Genüge den Abgrund, der uns seit der Zeit ihrer Kapitulation völlig getrennt hat. Es gab zwischen uns keine Verbindungen, keinerlei Beziehungen, keinerlei Briefwechsel, nicht einmal Versuche in dieser Richtung — es hat keine gegeben und konnte keine geben. In Briefen und Artikeln empfahl ich den Oppositionellen stets, im Interesse der politischen und moralischen Selbsterhaltung, mit den Kapitulanten rücksichtslos zu brechen. Was ich also über die Ansichten und Pläne Sinowjews-Kamenjews in den letzten acht Jahren ihres Lebens berichten kann, kann keinesfalls als Zeugenaussage gelten. Es befindet sich jedoch in meinen Händen eine genügende Zahl von Dokumenten und Tatsachen, die sich nachprüfen lassen; ich kenne die Beteiligten gut, ihre Charaktere, ihre gegenseitigen Beziehungen, die gesamte Situation, um mit absoluter Sicherheit zu sagen: die Beschuldigung gegen Sinowjew und Kamenjew wegen Terror ist gemeine Polizeifälschung von Anfang bis zu Ende, ohne ein Körnchen Wahrheit.

Allein schon die Lektüre des Prozeßberichtes stellt einen denkenden Menschen vor das Rätsel: wer sind denn eigentlich diese seltsamen Angeklagten? Alte, erfahrene Politiker, die im Namen eines bestimmten Programms kämpfen und fähig sind, Mittel und Zweck in Übereinstimmung zu bringen? oder aber Inquisitionsopfer, deren Benehmen nicht von der eigenen Vernunft und dem eigenen Willen bestimmt ist, sondern von den Interessen der Inquisitoren? Haben wir es mit normalen Menschen zu tun, deren Psychologie eine innere Einheit darstellt, die sich in Worten und Handlungen äußert, oder mit klinischen

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Subjekten, die die vernunftwidrigsten Wege wählen und diese Wahl mit sinnlosesten Argumenten motivieren? Diese Fragen beziehen sich in erster Linie auf Sinowjew und Kamenjew. Welche Motive — und es mußten doch Motive von außerordentlicher Kraft sein — haben sie bei ihrem vermeintlichen Terror geleitet? Im ersten Prozeß, im Januar 1935, haben Sinowjew und Kamenjew, ihre Beteiligung an der Ermordung Kirows leugnend, als Kompensation ihre »moralische Verantwortung« für die terroristischen Tendenzen zugegeben, wobei sie als bewegendes Motiv für ihre oppositionelle Arbeit das Bestreben nannten, ... den »Kapitalismus wieder herzustellen«. Wenn es nichts anderes gegeben hätte als dieses widernatürliche politische »Geständnis«, die Lüge der stalinschen Justiz wäre genügend entlarvt. Wer wird in der Tat glauben, Kamenjew und Sinowjew hätten .so fanatisch zu dem von ihnen gestürzten Kapitalismus hingestrebt, daß sie bereit waren, für dieses Ziel ihre eigenen und fremde Köpfe zu opfern? Die Beichte der Angeklagten im Januar 1936 enthüllte Stalins Auftrag so plump, daß sogar die weniger anspruchsvollen »Freunde« sich betroffen fühlten.

Im Prozeß der 16 (August 1936) wird die »Restauration des Kapitalismus« völlig ignoriert. Als Beweggrund für den Terror erscheint die nackte »Machtgier«. Die Anklage verzichtet auf die eine Version zugunsten einer anderen, als handle es sich um Lösungen von Schachaufgaben, wobei die Änderung der Entschlüsse schweigend, ohne Kommentare geschieht. Nach dem Staatsanwalt wiederholen die Angeklagten jetzt, sie hätten kein Programm mehr gehabt, sondern nur den unüberwindlichen Wunsch, die Kommandohöhen des Staates um jeden Preis an sich zu reißen. Man fragt sich jedoch: Wie hätte die Ermordung der »Führer« Menschen an die Macht bringen können, die durch eine Reihe von Reuebekenntnissen das Vertrauen zu sich untergraben, sich selbst erniedrigt, beschmutzt und damit für immer der Möglichkeit beraubt hatten, in der Zukunft eine führende politische Rolle zu spielen?

Ist Sinowjews und Kamehjews Ziel unwahrscheinlich, so sind ihre Mittel noch sinnloser. In den am meisten überlegten Aussagen Kamenjews wird besonders nachdrücklich betont, daß die Opposition sich von den Massen völlig losgetrennt, ihre Prinzipien aufgegeben und damit die Hoffnung verloren hatte, in der Zukunft Einfluß zu gewinnen, und daß sie gerade

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deshalb zum Gedanken des Terrors gekommen wäre. Nicht schwer zu begreifen, wie sehr eine solche Selbstcharakteristik für Stalin von Nutzen ist: sein Auftrag ist ganz offensichtlich. Aber wenn Kamenjews Aussagen sich eignen, die Opposition zu erniedrigen, so eignen sie sich absolut nicht zur Begründung des Terrors. Gerade unter den Bedingungen politischer Isoliertheit bedeutet der terroristische Kampf für eine revolutionäre Fraktion ein schnelles Verbrennen ihrer selbst auf dem Scheiterhaufen. Wir, Russen, kennen dies zu gut aus dem Beispiel der Narodnaja Wolja (1879-1883), wie auch aus dem Beispiel der Sozialrevolutionäre in der Periode der Reaktion (1907-1909). Sinowjew und Kamenjew sind nicht nur an der Erfahrung dieser Lehren aufgewachsen, sondern sie haben sie auch wiederholt in der Parteipresse kommentiert. Konnten sie, alte Bolschewiki, die Abc-Wahrheiten der russischen revolutionären Bewegung nur darum vergessen und verwerfen, weil es sie so sehr nach der Macht gelüstete? Dies zu glauben, ist völlig unmöglich.

Nehmen wir aber für einen Augenblick an, in den Köpfen Sinowjews und Kamenjews sei tatsächlich die Hoffnung entstanden, auf dem Wege offener Selbstbespeiung, durch anonymen Terror ergänzt, zur Macht zu kommen (eine solche Annahme bedeutet ja im wesentlichen, Sinowjew und Kamenjew als Psychopathen zu bezeichnen!). Was aber waren dann in diesem Falle die Triebfedern der terroristischen Exekutoren — nicht der sich hinter den Kulissen versteckt haltenden Führer, sondern der in Reih und Glied stehenden Kämpfer, jener, die unentrinnbar für den fremden Kopf mit ihrem eigenen zahlen sollten? Ohne Ideal und tiefen Glauben an sein Banner ist ein gedungener Mörder denkbar, dem man von vornherein Straflosigkeit zusichert, aber undenkbar der sich selbst aufopfernde Terrorist. Im Prozeß der 16 wurde die Ermordung Kirows als kleiner Teil eines Planes geschildert, der auf die Ausrottung der gesamten regierenden Spitze berechnet war. Es handelte sich um einen systematischen Terror in grandiosem Maßstabe. Für die unmittelbare Ausführung der Attentate wären viele Dutzende, wenn nicht Hunderte fanatischer, aufopferungsfähiger, eiserner Kämpfer notwendig gewesen. Sie fallen nicht vom Himmel. Man muß sie auswählen, erziehen, organisieren. Man muß sie durch und durch mit der Überzeugung erfüllen, daß es außer dem Terror keine Rettung gibt. Ne-

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ben den aktiven Terroristen braucht man Reserven. Auf diese kann man nur in dem Falle rechnen, wenn breite Kreise der jungen Generation von terroristischen Sympathien erfüllt sind. Solche Stimmungen wären nur zu schaffen durch die Propagierung des Terrorismus, die einen um so leidenschaftlicheren und intensiveren Charakter tragen müßte, als die gesamte Tradition des russischen Marxismus gegen den Terrorismus gerichtet war. Diese Tradition zu brechen, wäre unbedingt notwendig. Ihr mußte man eine neue Doktrin entgegenstellen. Wenn Sinowjew und Kamenjewsich nicht stillschweigend von ihrer antiterroristischen Vergangenheit hätten lossagen können, um so weniger wären sie imstande gewesen, ihre Anhänger nach Golgatha zu schicken — ohne Kritik, ohne Polemik, ohne Konflikte, ohne Spaltungen und ohne ... Denunziationen. Eine so radikale geistige Umrüstung, Hunderte und Tausende Revolutionäre erfassend, müßte wiederum zahllose materielle Spuren hinterlassen (Dokumente, Briefe usw.). Wo ist das alles? Wo die Propaganda? Wo die Terror-Literatur? Wo der Widerhall der Diskussionen und des inneren Kampfes? Im Prozeßmaterial findet sich davon nicht die Spur.

Für Wyschinski wie für Stalin existieren die Angeklagten als menschliche Wesen überhaupt nicht. Damit verschwinden auch die Fragen nach ihrer politischen Psychologie. Auf den Versuch eines der Angeklagten, sich auf seine »Gefühle« zu berufen, die ihn angeblich gehindert hätten, auf Stalin zu schießen, antwortete Wyschinski mit dem Hinweis auf angebliche physische Hindernisse: »das ist ... ein sichtbarer Grund, ein objektiver, alles andere ist Psychologie«. »Psychologie!« Welch vernichtende Verachtung! Die Angeklagten haben keine Psychologie, das heißt, sie dürfen nicht wagen, sie zu haben. Ihre Geständnisse ergeben sich nicht aus normalen menschlichen Motiven. Die Psychologie der regierenden Clique unterwirft sich, mit Hilfe der Inquisitionsmechanik, restlos die Psychologie der Angeklagten. Der Prozeß ist nach dem Muster der tragischen Puppentheater aufgebaut. Die Angeklagten werden an Fäden gezogen, oder an Stricken, die man ihnen um den Hals gelegt hat. Für »Psychologie« gibt es keinen Platz. Ohne die terroristische Psychologie ist aber die terroristische Tätigkeit undenkbar!

Akzeptieren wir aber einmal die absurde Version der Anklage in ihrer Gesamtheit. Gejagt von »Machtgier« werden Führer-Kapitulanten zu Terroristen. Hunderte von Menschen werden ihrerseits derart von der »Machtgier« Kamenjew-Sinowjews erfaßt, daß sie ihre Köpfe gehorsam zum Henkerblock tragen. Das alles ... im Bunde mit Hitler! Die verbrecherische, dem bloßen Auge allerdings unsichtbare Arbeit nimmt ungeahnte Dimensionen an: Organisierung von Attentaten auf alle »Führer«, universelle Sabotage und Spionage. Und dies nicht etwa einen Tag, einen Monat, nein, fast fünf Jahre lang! Und das alles unter der Maske der Parteitreue! Undenkbar, sich wütendere, kühlere, gestähltere Verbrecher auszudenken. Und nun? Ende Juli 1936 sagen sich plötzlich alle diese Monstren von ihrer Vergangenheit und von sich selbst los und legen jämmerlich, einer nach dem anderen, Beichten ab. Kein einziger verteidigt seine Ideen, Ziele oder Kampfmethoden. Alle sind bestrebt, um die Wette sich und die anderen anzuschwärzen. Der Staatsanwalt hat keine Beweise außer den Geständnissen der Angeklagten! Die gestrigen Terroristen, Saboteure und Faschisten liegen im Staub vor Stalin und schwören ihm heiße Liebe. Wer sind sie nun, diese phantastischen Angeklagten: Verbrecher? Psychopathen? beides zusammen? Nein, sie sind Klienten von Wyschinski-Jagoda. So sehen Menschen aus, die durch eine längere Bearbeitung der GPU hindurchgegangen sind. In den Erzählungen Sinowjews und Kamenjews über ihre vergangene verbrecherische Tätigkeit ist ebenso viel Wahrheit wie in ihren Liebesbeteuerungen für Stalin. Sie sind Opfer des totalitären Systems, das nichts anderes verdient als den Fluch!

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