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   Warum beichten sie Verbrechen, die sie nicht begangen haben?  

 

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1. Januar 1937. Heute nacht begannen beide Sirenen des Tankschiffs, die Luft- und Dampfsirene, zu heulen, die Signal-»Kanone« gab zwei Schüsse ab: die »Ruth« begrüßte das neue Jahr. Niemand antwortete. Während der ganzen Fahrt sind wir, glaube ich, nur zwei Dampfern begegnet. Allerdings, wir halten einen ungewöhnlichen Kurs. Nur der uns begleitende faschistische Polizeioffizier empfing durchs Radio ein Glückwunschtelegramm zum neuen Jahr von seinem sozialistischen Minister Trygve Lie. Es fehlte nur die Gratulation von Jagoda und Wyschinski!

Die einfachste Art der Verteidigung gegen die Moskauer Beschuldigungen wäre für mich: »Es sind nun fast zehn Jahre, daß ich nicht nur keine Verantwortung für Sinowjew und Kamenjew trage; im Gegenteil, ich habe sie wiederholt als Verräter gegeißelt. Ob diese Kapitulanten, in ihren Hoffnungen enttäuscht und in Intrigen verwirrt, tatsächlich zum Terror gekommen waren, kann ich nicht wissen. Es ist aber völlig klar, daß sie dadurch, daß sie mich kompromittierten, sich Gnade erflehen wollten.« In dieser Erklärung wäre kein Wort Lüge. Aber es wäre nur die Hälfte der Wahrheit, folglich die Unwahrheit. Trotzdem mein Bruch mit den Angeklagten weit zurückliegt, zweifle ich keinen Moment, daß jene alten Bolschewiki, die ich während einer Reihe von Jahren gekannt habe (Sinowjew, Kamenjew, Smirnow, Mratschkowski), kein einziges der Verbrechen, die sie »gestanden«, begangen haben noch begangen haben konnten. Uninformierten Menschen erscheint vielleicht eine solche Behauptung paradox, mindestens überflüssig. »Wozu«, sagen sie, »die eigene Verteidigung erschweren durch die Verteidigung seiner bösesten Feinde? Ist das nicht Donquichotterie?« Nein, das ist nicht Donquichotterie. Um der Moskauer Fälschung am laufenden Bande ein Ende zu bereiten, muß man die politische und die psychologische Mechanik der »freiwilligen Geständnisse« entlarven.

Im Jahre 1931 wurde in Moskau der Prozeß der Menschewiki aufgeführt, der völlig auf den Reuebekenntnissen der Angeklagten beruhte. Zwei der Angeklagten, den Historiker Suchanow und den Nationalökonomen Gromann kannte ich persönlich, den ersteren recht gut. Trotzdem die Anklageschrift in einigen ihrer Teile phantastisch klang, konnte ich nicht annehmen, daß alte Politiker, die ich bei aller Unversöhnlichkeit unserer Ansichten als ehrliche und ernste Menschen schätzte, derart über sich und andere zu lügen fähig wären. Gewiß, die GPU hat das Material abgerundet, sagte ich mir, vieles hinzugefügt, vieles erdacht, aber im Kern der Aussagen müssen wirkliche Tatsachen enthalten sein. Ich erinnere mich, daß mein Sohn, der damals in Berlin lebte, mir bei unserer späteren Begegnung in Frankreich sagte: »Der Menschewiki-Prozeß war offenbar durch und durch eine Fälschung.« »Aber die Aussagen Suchanows und Gromanns?«, erwiderte ich ihm, »das sind doch keine Schufte und keine käuflichen Karrieristen!« Zur Erklärung, wenn nicht zur Verteidigung, muß man sagen, daß ich

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die menschewistische Literatur lange nicht verfolgt, und seit Ende 1927 außerhalb jedes politischen Milieus, ohne lebendige, unmittelbare politische Eindrücke in der Türkei gelebt hatte. Mein Irrtum in der Einschätzung des Prozesses der Menschewiki ergab sich keinesfalls aus einem Vertrauen zur GPU (ich habe auch im Jahre 1931 gewußt, daß diese Institution in eine Bande von Lumpen ausgeartet ist), sondern aus dem Vertrauen zur Person einiger der Angeklagten. Ich hatte die weit fortgeschrittene Technik der Demoralisierung und Korrumpierung unterschätzt und die Widerstandsfähigkeit einiger Opfer der GPU überschätzt.

Die weiteren Enthüllungen aus dem Prozeß der Menschewiki und neue Prozesse mit ritualen Reuebekenntnissen hatten, mindestens für denkende Menschen, die Inquisitionsgeheimnisse der GPU noch vor dem Prozeß Sinowjew-Kamenjew aufgedeckt. Im Mai 1936 schrieb ich im »Bulletin der Opposition«: »Eine ganze Serie öffentlicher politischer Prozesse in der USSR hat gezeigt, mit welcher Bereitschaft manche Angeklagte Verbrechen auf sich nehmen, die sie bestimmt nicht begingen. Diese Angeklagten, die vor Gericht gleichsam eine einstudierte Rolle spielen, kommen mit leichten, mitunter offensichtlich fiktiven Strafen davon. Gerade im Austausch gegen diese Milde der Justiz machen sie eben ihre Geständnissen Wozu aber brauchen die Behörden diese falschen >Selbstbezichtigungen<? Manchmal, um eine dritte Person zu treffen, die mit der Sache sichtlich nichts zu tun hat; manchmal, um die eigenen Verbrechen zu verschleiern, in der Art der durch nichts gerechtfertigten blutigen Repressalien; schließlich um eine günstige Atmosphäre für die bonapartistische Diktatur zu schaffen ... Die Erpressung phantastischer, gegen sich selbst gerichteter Geständnisse von einem Angeklagten, um durch Abprallschlag dritte zu treffen, ist schon seit langem zu einem System der GPU, das heißt zu einem System Stalins geworden.« Diese Zeilen waren veröffentlicht zwei Monate vor dem Sinowjew-Kamenjew-Prozeß (August 1936), in dem ich zum erstenmal als der Organisator einer terroristischen Verschwörung genannt worden war.

„ Sämtliche Angeklagten, deren Namen mir bekannt sind, haben früher zur Opposition gehört und dann, aus Angst vor Parteispaltungen oder Verfolgungen, beschlossen, um jeden Preis in die Reinen der Partei zurückzukehren. Die regierende Cli-

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que verlangte von ihnen das laute Bekenntnis, daß ihr Programm falsch sei. Nicht einer von ihnen hatte das geglaubt, im Gegenteil, alle waren überzeugt, daß die Entwicklung die Richtigkeit des Programms der Opposition bestätigt hatte. Nichtsdestoweniger unterschrieben sie Ende 1927 eine Erklärung, in der sie sich fälschlicherweise »Abweichungen«, »Irrtümern« und Sünden gegen die Partei bezichtigten und ihre neuen Führer, für die sie keine Achtung hatten, rühmten. In embryonaler Form sind hier schon die späteren Moskauer Prozesse enthalten.

Es blieb nicht bei der ersten Kapitulation. Das Regime wurde immer totalitärer, der Kampf gegen die Opposition — immer wütender, die Beschuldigungen immer ungeheuerlicher. Politische Diskussionen konnte die Bürokratie nicht zulassen, denn es ging nur noch um ihre Privilegien. Um Gegner ins Gefängnis zu sperren, zu verbannen, zu erschießen genügte die Beschuldigung der »Abweichung« nicht. Man mußte der Opposition das Bestreben nachsagen, die Partei zu spalten, die Armee zu zersetzen, die Sowjetmacht zu stürzen, den Kapitalismus zu restaurieren. Um diese Anklage vor dem Volke zu bekräftigen, zog die Bürokratie jedesmal die früheren Oppositionellen ans Licht, und zwar gleichzeitig in der Eigenschaft von Zeugen und von Angeklagten. So verwandelten sich die Kapitulanten allmählich in professionelle falsche Zeugen gegen die Opposition und gegen sich selbst. In allen reumütigen Erklärungen figurierte unvermeidlich mein Name, als des wichtigsten »Feindes« der USSR, das heißt der Sowjetbürokratie: anders hatte das Dokument keine Kraft. Anfangs handelte es sich nur um meine Abweichungen in die Richtung zur »Sozialdemokratie«, an der nächsten Etappe war die Rede von konterrevolutionären Folgen meiner Politik, noch später von meinem De-facto-, wenn nicht De-jure-Bündnis mit der Bourgeoisie gegen die USSR usw. usw. Der Kapitulant, der den Versuch unternahm, diesen Erpressungen Widerstand zu leisten, stieß stets auf die gleiche Frage: »Also waren Ihre früheren Erklärungen unaufrichtig; Sie sind ein geheimer Feind?« So gestalteten sich die aufeinanderfolgenden Reueerklärungen zu einem Gewicht an den Beinen des Kapitulanten, das ihn in den Abgrund zog*.

* Siehe darüber mein Buch »Verratene Revolution«, geschrieben vor dem Prozeß der sechzehn.

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Sobald politische Schwierigkeiten drohten, wurden die ehemaligen Oppositionellen wieder verhaftet und verbannt, aus nichtigen oder fiktiven Anlässen: die Aufgabe bestand darin, das Nervensystem zu zerstören, die persönliche Würde zu töten, den Willen zu brechen. Nach jeder neuen Repressalie konnte man Amnestie erhalten nur durch eine verdoppelte Erniedrigung. Es wurde gefordert, in der Presse eine Erklärung abzugeben: »Ich gestehe, daß ich in der Vergangenheit die Partei getäuscht, daß ich gegen die Sowjetmacht unehrlich gehandelt habe, daß ich faktisch ein Agent der Bourgeoisie war; ich will von nun an mit den trotzkistischen Konterrevolutionären endgültig brechen ...« usw. So vollzog sich Schritt für Schritt die »Erziehung«, das heißt die Demoralisierung vieler Zehntausender Parteimitglieder und indirekt der gesamten Partei, der Angeklagten wie der Ankläger.

Die Ermordung Kirows (Dezember 1934) hat dem Prozeß der Schändung des Parteigewissens eine früher ungekannte Schärfe verliehen. Nach einer Reihe sich widersprechender und falscher offizieller Erklärungen mußte sich die Bürokratie mit einer halben Maßnahme begnügen, nämlich mit dem »Geständnis« von Sinowjew, Kamenjew und anderen, daß sie für den terroristischen Akt die »moralische Verantwortung« trügen. Diese Erklärung wurde durch ein einfaches Argument entrissen: »Wenn ihr uns nicht helft, die moralische Verantwortung für die terroristischen Akte der Opposition aufzuerlegen, so zeigt ihr damit eure faktische Sympathie mit dem Terror; wir werden mit euch dann entsprechend verfahren.« An jeder neuen Etappe erhob sich vor den Kapitulanten immer die gleiche Alternative: entweder sich lossagen von den früheren »Geständnissen« und sich auf einen hoffnungslosen Konflikt mit der Bürokratie einlassen — ohne Banner, ohne Organisation, ohne persönliche Autorität, — oder einen weiteren Schritt abwärts machen und sich und die anderen mit immer größeren Lumpereien belasten. So sieht die Progression des Absturzes aus! Stellte man ihren ungefähren »Koeffizienten« fest, dann konnte man im voraus den Charakter des »Reuebekenntnisses« an der nächsten Etappe voraussagen. Ich habe mehr als einmal diese Operation in der Presse vorgenommen.

Zur Erreichung ihrer Ziele hat die GPU viele ergänzende Mittel. Nicht alle Revolutionäre haben sich in den zaristischen Gefängnissen würdig benommen: die einen bereuten, die aride-

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ren verrieten, die dritten baten um Gnade. Die alten Archive sind längst untersucht und klassifiziert. Die wertvollsten Dossiers werden in Stalins Sekretariat aufbewahrt. Es genügt, so ein Papierchen herauszuholen, damit ein hoher Würdenträger in den Abgrund stürzt.

Andere, Hunderte heutiger Bürokraten befanden sich in der Epoche der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges im Lager der Weißen. So zum Beispiel die Blüte der Stalinschen Diplomatie: Trojanowski, Majski, Chintschuk, Suritz etc. So die Blüte der Journalistik: Kolzow, Saslawski und viele andere. So der schreckliche Ankläger Wyschinski, die rechte Hand Stalins. Die junge Generation weiß es nicht, die alte tut, als habe sie es vergessen. Es genügt, laut an die Vergangenheit eines Trojanowski zu erinnern, und die Reputation des Diplomaten liegt in Scherben. Stalin ist darum imstande, von Trojanowski jede Erklärung und jedes Zeugnis zu verlangen: die Trojanowskis geben sie ohne Zögern.

Dem Reuebekenntnis einer größeren Figur gehen in der Regel Dutzende falscher Zeugnisse voraus von Personen aus deren Umgebung. Die GPU beginnt mit Verhaftungen der Sekretäre, Stenographen, Schreibmaschinistinnen und verspricht ihnen nicht nur die Freiheit, sondern auch allerhand Privilegien, wenn sie die nötigen Aussagen gegen ihren gestrigen »Patron« machen. Schon im Jahre 1934 hat die GPU meinen Sekretär Glasmann zum Selbstmord getrieben. Im Jahre 1938 beantwortete der Chef meines Sekretariats, Ingenieur Butow, die Versuche der GPU, von ihm falsche Zeugnisse gegen mich zu erlangen, mit dem Hungerstreik und starb am fünfzigsten Tage im Gefängnis. Zwei meiner anderen Sekretäre, Sermux und Posnanski, haben Gefängnis und Verbannung seit 1939 nicht verlassen. Welches ihr Schicksal jetzt ist, ist mir unbekannt. Nicht alle Sekretäre zeichnen sich durch solche Standhaftigkeit aus. Die Mehrzahl von ihnen wird durch die Kapitulationen ihrer Patrone und der gesamten verfaulten Atmosphäre des Regimes demoralisiert. Um Smirnow oder Mratschkowski Aussagen zu entreißen, bewaffnete sich der GPU-Inquisitor zuerst mit falschen Denunziationen ihrer näheren und ferneren Mitarbeiter, ihrer Verwandten und früherer Freunde. Das auserwählte Opfer erweist sich am Ende derart in ein Netz falscher Zeugnisse verstrickt, daß jeder Widerstand zwecklos erscheint.

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Die GPU beobachtet aufmerksam die Familienverhältnisse der hohen Beamten. Der Verhaftung der späteren Angeklagten geht nicht selten die Verhaftung der Ehefrau voraus. Im Prozeß selbst figurieren die Ehefrauen in der Regel nicht; sie helfen aber der GPU während der Untersuchung, den Willen des Mannes zu brechen. In vielen Fällen entschließen sich die Verhafteten zu Geständnissen unter der Drohung mit intimen Enthüllungen, die das Opfer in den Augen der Ehefrau und der Kinder kompromittieren können. Sogar in den offiziellen Berichten kann man Spuren dieses Spieles hinter den Kulissen entdecken!

Ein zahlreiches Menschenmaterial für die Gerichtsamalgame liefern die große Schicht schlechter Administratoren, wirklicher oder angeblicher Schuldiger der wirtschaftlichen Mißerfolge und schließlich die im Umgang mit öffentlichen Geldern nachlässigen Beamten. Die Grenze zwischen Legalem und Illegalem ist in der US SR sehr nebelhaft. Neben dem offiziellen Gehalt existieren zahllose inoffizielle und halblegale Almosen. In normalen Zeiten gehen diese Operationen ungestraft durch. Aber die GPU hat die Möglichkeit, jederzeit ihr Opfer vor die Wahl zu stellen: zugrunde zu gehen als einfacher Defraudant und Dieb oder den Versuch zu machen, sich als Oppositioneller zu retten, der von Trotzki auf den Weg des Landesverrates verlockt wurde.

Doktor Ciliga, ein jugoslawischer Kommunist, der fünf Jahre in Stalins Gefängnissen zugebracht hat, erzählt, wie man die Widerstandleistenden einige Male am Tage aus ihrer Zelle in den Hof führt, wo die Erschießungen stattzufinden pflegen. Das wirkt. Man wendet kein glühendes Eisen an. Wahrscheinlich auch keine spezifischen Medikamente. Es genügt die »moralische« Wirkung solcher Spaziergänge.

Die Einfältigen fragen: Warum aber fürchtet Stalin nicht, daß seine Opfer vor einem öffentlichen Gericht plötzlich zu sich kommen und die Fälschung enthüllen könnten? Dieses Risiko ist ganz minimal. Die Mehrzahl der Angeklagten zittert nicht nur für sich, sondern auch für ihre Angehörigen. Es ist nicht so einfach, sich im Gerichtssaal zu einer effektvollen Geste zu entschließen, wenn Frau, Tochter, Sohn oder alle zusammen als Geiseln in den Händen der GPU sind. Und was heißt es, die Fälschung entlarven? Physische Folter hat es ja nicht gegeben. Die »freiwilligen« Geständnisse jedes einzelnen Angeklagten

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sind die natürliche Fortsetzung seiner vorangegangenen Reueerklärungen. Wie soll er den Gerichtssaal und die Menschheit glauben machen, daß alle Erklärungen und Geständnisse im Laufe von zehn Jahren nur eine Verleumdung seiner selbst waren?

Smirnow hatte den Versuch gemacht, vor Gericht die »Geständnisse«, die er in der Voruntersuchung abgelegt hatte, zurückzunehmen. Sofort wurde ihm als Zeugin seine Frau gegenübergestellt, man hielt ihm seine eigenen früheren Aussagen vor, alle übrigen Angeklagten verleumdeten ihn sofort. Ferner muß man die feindliche Atmosphäre des Saales hinzurechnen. Nach den Telegrammen und Korrespondenzen der diensteifrigen Journalisten scheint die Verhandlung »öffentlich«. In Wirklichkeit ist der Saal angefüllt mit GPU-Agenten, die absichtlich bei den dramatischsten Stellen kichern und den viehischen Ausfällen des Staatsanwalts applaudieren. Ausländer? Gleichgültige Diplomaten, der russischen Sprache nicht mächtig, oder ausländische Journalisten vom Typus Duranti, die eine fertige Meinung in der Tasche mitgebracht haben! Ein französischer Journalist hat sehr bildlich beschrieben, wie Sinowjew mit heißen Blicken den Saal abtastete und, kein einziges mitfühlendes Gesicht findend, hoffnungslos den Kopf sinken ließ. Man füge dem noch hinzu: die Stenotypistinnen, völlig in der Hand der GPU, der Vorsitzende, der jeden Augenblick die Sitzung abbrechen kann, die Agenten der GPU, die Publikum markieren, können jeden Moment ein wütendes Geheul anstimmen. Alles ist vorgesehen. Alle Rollen verteilt. Der Angeklagte, der während der Voruntersuchung sich mit der ihm aufgezwungenen schändlichen Rolle abgefunden hat, findet keinen Anlaß, sie vor Gericht zu ändern: er riskiert nur den letzten Schein einer Hoffnung auf Rettung.

Rettung? Aber Sinowjew und Kamenjew konnten, nach der Meinung der Herren Pritt und Rosenmark, nicht damit rechnen, ihr Leben zu retten durch Bekenntnisse nicht begangener Verbrechen. Warum nicht? Es hat in der Vergangenheit mehrere Prozesse gegeben, wo Angeklagte durch falsche Selbstbezichtigungen ihr Leben retteten. Die erdrückende Mehrzahl der Menschen, die an allen Enden der Welt den Moskauer Prozeß verfolgte, hat auf die Begnadigung der Angeklagten gehofft. Dasselbe wurde auch in der USSR beobachtet. Ein interessantes Zeugnis darüber finden wir in dem Londoner »Daily

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Herald«, einem Organ jener Partei, deren Parlamentsfraktion Herr Pritt schmückt Gleich nach der Hinrichtung der 16 schreibt.der Moskauer Korrespondent des »Daily Herald«: »Bis zum letzten Moment haben die 16 heute Erschossenen auf die Begnadigung gehofft« (Up to the last moment the 16 men shot today had hoped for clemency.) Und er fügt hinzu: »Man vermutete in breiten Kreisen, daß das erst vor fünf Tagen angenommene Sonderdekret das den Angeklagten das Appellationsrecht gibt zum Zwecke ihrer Begnadigung erlassen wurde.« (It had been widely supposed that a special decree passed only five days ago giving them the right to appeal, had been issued in order to spare fhem.) Dieses Zeugnis beweist, daß sogar in Moskau bis zur letzten Stunde die Atmosphäre der Hoffnung auf eine Begnadigung geherrscht hat Diese Hoffnungen wurden mit Absicht von den höchsten Stellen verbreitet und genährt. Das Todesurteil nahmen die Angeklagten, nach den Worten von Augenzeugen, ruhig, als etwas Selbstverständliches auf: sie hatten begriffen, daß ihren theatralischen Reuebekenntnissen nur das Todesurteil Gewicht verleihen konnte. Sie begriffen nicht, oder gaben sich Mühe, nicht zu begreifen, daß das richtige Gewicht dem Todesurteil nur seine Vollstreckung verleihen kann. Kamenjew, der überlegendste und nachdenklichste von allen Angeklagten, hatte offensichtlich die größten Zweifel in bezug auf den Ausgang der ungleichen Abmachung. Aber auch er hat sich wohl hundertmal wiederholen müssen: Wird es Stalin tatsächlich wagen? Stalin hat es gewagt. In den ersten zwei Monaten des Jahres 1923 bereitete sich der kranke Lenin darauf vor, einen entscheidenden Kampf gegen Stalin aufzunehmen. Er fürchtete, daß ich auf Konzessionen eingehen könnte, und warnte mich am 5. März: »Stalin wird ein faules Kompromiß schließen und dann betrügen.« Diese Formel gibt besser als jede andere die politische Methodologie Stalins wieder, auch in bezug auf die 16 Angeklagten: er hat mit ihnen ein »Kompromiß« abgeschlossen — durch den Untersuchungsrichter der GPU — und hat sie dann betrogen — durch den Henker. •

Stalins Methoden waren für die Angeklagten kein Geheimnis, Noch im Jahre 1926, als Sinowjew und Kamenjew offen mit Stalin gebrochen hatten, und in den Reihen der linken Opposition die Frage diskutiert wurde, mit welchem Gegner wir einen Block schließen könnten, sagte Mratschkowski, einer der Hel-

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den des Bürgerkrieges: »Mit keinem: Sinowjew wird davonlaufen, Stalin — betrügen.« Dieser Satz wurde sprichwörtlich. Sinowjew schloß mit uns bald danach einen Block und »lief« bald danach tatsächlich »davon«. Hinterher »lief davon«, neben vielen anderen, allerdings auch Mratschkowski. Die »Davongelaufenen« versuchten einen Block mit Stalin zu bilden. Dieser ging auf ein »faules Kompromiß« ein und betrog später. Die Angeklagten mußten den Kelch der Erniedrigungen bis auf den Grund leeren. Dann stellte man sie an die Wand.

Die Mechanik ist, wie wir sehen, an und für sich nicht kompliziert. Sie erfordert nur das totalitäre Regime, das heißt das Fehlen jeglicher Freiheit der Kritik, militärische Unterwerfung der Angeklagten, Zeugen, Untersuchungsrichter, Sachverständigen, Staatsanwälte, Richter unter einer Person und vollständige Gleichschaltung der Presse, die mit ihrem Wolfsgeheul die Angeklagten einschüchtert und die öffentliche Meinung hypnotisiert.

 

»Machtgier«

 

3. Januar. Nach Wyschinskis Worten (August 1936) hatte das »Vereinigte Zentrum« kein Programm gehabt. Es wurde nur von »nackter Machtgier« geleitet. Ich war selbstverständlich von dieser »Gier« am stärksten geplagt. Das Thema von meiner Herrschsucht haben sich die Söldlinge der Komintern und einige bürgerliche Journalisten wiederholt vorgenommen. In meiner ungeduldigen Sehnsucht, das Staatssteuer an mich zu reißen, versuchten diese Herren den Schlüssel zu finden zu meiner plötzlichen Tätigkeit als Terrorist. Eine solche Erklärung — »Machtgier« — findet im beschränkten Kopfe des Durchschnittsphilisters gut Platz.

Als die »neue Opposition« (Sinowjew, Kamenjew und die anderen) Anfang 1926 mit mir und meinen Freunden in Verhandlungen über ein gemeinsames Vorgehen trat, sagte mir Kamenjew beim ersten Gespräch unter vier Augen: »Der Block läßt sich natürlich nur in dem Falle verwirklichen, wenn Sie bereit sind, den Kampf um die Macht aufzunehmen. Wir haben uns mehreremal die Frage gestellt: Vielleicht ist Trotzki müde und will sich nur auf literarische Kritik beschränken, ohne den Weg des Kampfes um die Macht zu betreten? ...« In jenen Tagen waren nicht nur Sinowjew, der große Agitator, sondern auch Kamenjew, der »kluge Politiker«, nach Lenins Bezeich-

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nung, völlig von der Illusion befangen, man könne die verlorene Macht leicht zurückerobern. »Sobald Sie auf der Tribüne Hand in Hand mit Sinowjew erscheinen werden«, erklärte mir Kamenjew, »wird die Partei sagen: >Hier ist das Zentralkomitee! Hier ist die Regierung!< Die Frage ist nur, ob Sie eine Regierung schaffen wollen?« Nach drei Jahren Oppositionskampfes (1923-1926) teilte ich nicht im geringsten diese optimistischen Erwartungen. Unsere Gruppe (»Trotzkisten«) hatte zu jener Zeit bereits eine ziemlich abgeschlossene Vorstellung vom zweiten thermidorianischen Kapitel der Revolution, von der wachsenden Zwietracht zwischen Bürokratie und Volk, von der nationalkonservativen Entartung der regierenden Schicht und vom tiefen Einfluß der Niederlagen des Weltproletariats auf die Schicksale der USSR. Die Frage der Macht betrachtete ich nicht als eine selbständige Frage, das heißt losgelöst von diesen wichtigsten inneren und internationalen Prozessen. Die Rolle der Opposition für die nächste Periode erhielt notwendigerweise einen vorbereitenden Charakter. Man mußte neue Kader erziehen und die weitere Entwicklung der Ereignisse abwarten. In diesem Sinne antwortete ich Kamenjew: »Ich fühle mich nicht im geringsten >müde<, doch bin ich der Ansicht, daß man sich für eine ganze historische Periode mit Geduld wappnen muß. Es geht jetzt nicht um den Kampf um die Macht, sondern nur um die Vorbereitung geistiger und organisatorischer Mittel für diesen Kampf für den Fall eines neuen revolutionären Aufstiegs. Wann er eintreten wird, weiß ich nicht.« Wer meine »Autobiographie«, »Die Geschichte der Russischen Revolution«, »Kritik der Dritten Internationale« oder mein letztes Buch »Die verratene Revolution« gelesen hat, dem wird dieser Dialog mit Kamenjew nichts Neues sagen. Ich habe ihn hier nur deshalb angeführt, weil er an sich die Unsinnigkeit und Dummheit der mir von den Moskauer Falschmünzern zugeschriebenen »Idee« grell beleuchtet: mit Hilfe einiger Revolverschüsse das Rad der Revolution zurückzudrehen zum Oktober-Ausgangspunkt.

Schon während der nächsten anderthalb Jahre hat der Verlauf des innerparteilichen Kampfes die Illusionen Sinowjews und Kamenjews in bezug auf die schnelle Rückkehr zur Macht zerstreut. Aus dieser Nachprüfung haben sie aber die gerade entgegengesetzte Schlußfolgerung gezogen, wie die, die ich verteidigte. »Wenn die Möglichkeit nicht existiert, der regie-

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renden Gruppe die Macht zu entreißen«, erklärte Kamenjew, »dann bleibt nur, in das allgemeine Geschirr zurückzukehren.« Zur selben Folgerung war, nur nach längerem Hin- und Herschwanken, auch Sinowjew gekommen. Am Vorabend und vielleicht sogar schon während des XV. Parteikongresses, der die Opposition ausschloß, im Dezember 1937, hatte ich mit Sinowjew und Kamenjew die letzte Unterredung. In jenen Tagen mußte jeder von uns sein weiteres Schicksal für eine Reihe von Jahren oder richtiger für den Rest seines Lebens bestimmen. Am Ende des Streites, der in zurückhaltenden, aber im Kern tief »pathetischen« Tönen geführt wurde, sagte mir Sinowjew: »Im Testament hat Wladimir Iljitsch (Lenin) gewarnt, daß die Beziehungen zwischen Trotzki und Stalin die Partei spalten können. Bedenken Sie, welche Verantwortung Sie auf sich nehmen!« »Ist unsere Plattform richtig oder nicht?«, »Im Augenblick ist sie richtiger denn je!« (Nach wenigen Tagen sagten sich beide von der Plattform los.) »Wenn dem so ist, so zeigt die Schärfe des Kampfes seitens des Apparates gegen uns, daß es sich nicht um Konjunktur-Meinungsverschiedenheiten handelt, sondern um soziale Gegensätze. Der gleiche Lenin hat im gleichen >Testament< geschrieben, wenn die Meinungsverschiedenheiten in der Partei mit dem Auseinandergehen der Klassen zusammenfallen, dann wird uns keine Macht vor einer Spaltung retten; aber am wenigsten kann davor retten die Kapitulation!« Ich erinnere mich, daß ich nach einigen Repliken zum »Testament« zurückkehrte, in dem Lenin daran erinnert, daß Sinowjew und Kamenjew im Jahre 1917 »nicht zufällig« vor dem Aufstande zurückwichen. »Der heutige Moment ist in seiner Art nicht weniger verantwortlich, und ihr seid daran, einen neuen Irrtum gleicher Art zu begehen, der sich vielleicht als der größte Irrtum eures Lebens erweisen wird!« Diese Unterhaltung war die letzte. Wir haben danach nicht einen Brief, nicht eine Mitteilung gewechselt, weder direkt noch indirekt. Während der nächsten zehn Jahre habe ich nie aufgehört, die Kapitulation Sinowjews und Kamenjews zu geißeln, die neben dem harten Schlag gegen die Opposition zu viel tragischeren Resultaten für die Kapitulanten selbst geführt hat, als ich Ende 1927 hätte erwarten können.

Am s6. Mai 1928 schrieb ich aus Alma-Ata (Zentralasien) an Freunde: »Nein, die Partei wird uns noch sehr und sehr brauchen. Nur nicht nervös werden, weü >alles ohne uns geschehen

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wird<, nicht unnütz sich und andere zerrütten, lernen, abwarten, prüfen und nicht zulassen, daß sich die eigene politische Linie mit dem Rost persönlicher Gereiztheit bedeckt gegen die Verleumder und Schweinekerle — das muß unser Verhalten sein«

Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, daß der in diesen Zeilen ausgedrückte Gedanke das grundlegende Motiv meiner politischen Tätigkeit ist. Seit meinen jungen Jahren lernte ich in der Schule des Marxismus Verachtung für den oberflächlichen Subjektivismus, der bestrebt ist, mit einer Kinderpeitsche oder einer Klapper die Geschichte anzuspornen. In der scheinrevolutionären Ungeduld sah ich stets die Quelle des Opportunismus wie des Abenteurertums. In Hunderten von Artikeln griff ich jene an, die der »Geschichte vorzeitig eine Rechnung präsentieren« (Mai 1909). Im März 1931 zitierte ich mit besonderer Sympathie die Worte meines verstorbenen Gesinnungsgenossen Kote Zinzadse, der in der Verbannung umgekommen ist: »Es ist ein Unglück mit Menschen, die nicht warten können!« Die Beschuldigung der Ungeduld weise ich ebenso zurück wie viele andere Beschuldigungen. Ich kann warten. Was bedeutet denn auch in diesem Falle »Warten«? Die Zukunft vorzubereiten! Und läuft denn nicht die ganze Tätigkeit eines Revolutionärs darauf hinaus?

Für eine proletarische Partei bedeutet Macht ein Mittel zum sozialistischen Umbau der Gesellschaft. Unbrauchbar wäre der Revolutionär, der nicht danach strebte, den staatlichen Zwangsapparat in den Dienst seines Programms zu stellen. In diesem Sinne bildet der Kampf um die Macht nicht irgendeine selbständige Funktion, sondern er ist ein Teil der revolutionären Arbeit überhaupt: Erziehung und Sammlung der werktätigen Massen. Insofern die Eroberung der Macht sich naturgemäß aus dieser Arbeit ergibt und ihr dient, kann auch die Macht selbst eine persönliche Befriedigung bieten. Doch ist eine ganz besondere Stumpfheit und Vulgarität erforderlich, um die Macht der Macht wegen anzustreben. Dazu sind nur Menschen fähig, die zu nichts Besserem fähig sind.

 

»Haß gegen Stalin«

 

4. Januar. Es bleibt noch, etwas über meinen sogenannten »Haß« gegen Stalin zu sagen. Davon wurde nicht wenig in dem Moskauer Prozeß als von dem bewegenden Motiv meiner

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Politik gesprochen. Im Munde eines Wyschinski, in den Leitartikeln der Moskauer »Prawda« und den Organen der Komintern ist das Gefasel von meinem Haß gegen Stalin die Kehrseite der Erhöhung des »Führers«. Stalin schafft ein »glückliches Leben«. Die gestürzten Gegner sind nur imstande, ihn zu beneiden und zu »hassen«. Das ist die tiefe Psychoanalyse von Lakaien!

Gegen jene Kaste der gierigen Parvenüs, die »im Namen des Sozialismus« dem Volke die Kehle zudrücken, fühle ich unversöhnliche Feindseligkeit und, wenn man will, Haß. Doch ist in diesem Gefühl nicht Personelles. Ich habe zu nahe alle Etappen der Entartung der Revolution und die fast automatische Usurpation ihrer Errungenschaften beobachtet, ich habe zu beharrlich und eingehend Erklärungen für diese Prozesse in den objektiven Bedingungen des sozialen Kampfes gesucht, um meine Ansichten und meine Gefühle auf eine einzelne Person zu konzentrieren. Allein schon der Beobachtungspunkt, den ich innehatte, erlaubte mir nicht, die reale menschliche Figur mit ihrem gigantischen Schatten auf dem Hintergrunde der Bürokratie zu identifizieren. Ich halte mich deshalb für berechtigt zu sagen, daß ich Stalin niemals in meinem Bewußtsein bis zu dem Gefühl des Hasses erhoben habe.

Abgesehen von einer zufälligen, wortlosen Begegnung in Wien um 1911 in der Wohnung Skobelews, des späteren Ministers der Provisorischen Regierung, kam ich mit Stalin zum erstenmal nach meiner Ankunft in Petersburg im Mai 1917 in Berührung, d. h. nach meiner Rückkehr aus dem kanadischen Konzentrationslager. Stalin war für mich damals eines der Mitglieder des bolschewistischen Stabes, unmarkanter als eine Reihe anderer. Er ist kein Redner, schreibt farblos. Seine Polemik ist grob und vulgär. Auf dem Hintergrunde der grandiosen Meetings, Demonstrationen und Zusammenstöße hat er politisch kaum existiert. Aber auch in den Beratungen des bolschewistischen Stabes blieb er im Schatten. Sein langsames Denken kam mit dem Tempo der Ereignisse nicht mit. Nicht nur Sinowjew und Kamenjew, aber auch der junge Swerdlow und sogar Sokolhikow nahmen bei den Debatten einen größeren Platz ein als Stalin, der das ganze Jahr 1917 im Zustande des Abwartens verbrachte. Die nachträglichen Versuche der gedungenen Historiker, Stalin im Jahre 1917 eine beinah führende Rolle zuzuschreiben (vermittels des nie existent gewesenen »Komitees« zur Leitung des Aufstandes), ist eine grobe historische Fälschung.

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Nach der Machteroberung begann Stalin sich etwas sicherer zu fühlen und zu handeln, blieb jedoch weiter eine Figur im Hintergrunde. Ich bemerkte bald, daß Lenin Stalin »vorschiebt«. Ohne dieser Tatsache sonderlich meine Aufmerksamkeit zu widmen, zweifelte ich keinen Augenblick daran, daß Lenin nicht persönliche Parteilichkeit, sondern sachliche Erwägungen leiteten. Allmählich wurden sie mir klar. Lenin schätzte an Stalin dessen Härte, Ausdauer, Beharrlichkeit, teils auch die Schlauheit, als eine im Kampfe erforderliche Eigenschaft. Selbständige Gedanken, politische Initiative, schöpferische Phantasie erwartete und verlangte Lenin von ihm nicht. Ich entsinne mich, daß ich während des Bürgerkrieges das Mitglied des Zentralkomitees, Serebrjakow, der damals mit Stalin im Revolutionären Kriegskomitee der Südfront zusammen arbeitete, fragte, ob dort die Teilnahme beider notwendig sei, ob er, Serebrjakow, im Interesse der Kräfteökonomie nicht auch ohne Stalin fertig werden könne. Serebrjakow überlegte und antwortete: »Nein, so pressen wie Stalin kann ich nicht, das ist nicht meine Spezialität.« Die Fähigkeit, zu »pressen«, hat Lenin an Stalin sehr geschätzt. Stalin fühlte sich um so sicherer, je mehr der Staatsapparat des »Pressens« wuchs und sich festigte. Man muß noch hinzufügen: und je mehr der Geist von 1917 sich aus diesem Apparat verflüchtigte.

Die heutige offizielle Angleichung Stalins an Lenin ist geradezu eine Schamlosigkeit. Geht man von der Größe der Persönlichkeit aus, so kann man Stalin nicht einmal auf ein Brett mit Mussolini oder Hitler stellen. So arm die Ideen des Faschismus auch sind, so haben doch beide siegreichen Führer der Reaktion, der italienischen und der deutschen, vom Anfang begonnen, Initiative gezeigt, Massen auf die Beine gebracht, sind eigene Wege gegangen. Nichts Ähnliches kann man von Stalin behaupten. Er ist aus dem Apparat erwachsen und von ihm untrennbar. Zu den Massen hat er keinen anderen Zugang als durch den Apparat. Erst nachdem die Zuspitzung der sozialen Gegensätze auf der Grundlage der NEP es der Bürokratie ermöglicht hatte, sich über die Gesellschaft zu erheben, begann Stalin sich über die Partei ^u erheben. In der ersten Periode war er selbst über den eigenen Aufstieg überrascht. Er trat unsicher auf, nach rechts und nach links schielend, immer

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zum Rückzug bereit. Als Gegengewicht gegen mich wurde er aber gestützt und gestoßen von Sinowjew und Kamenjew und zum Teil auch von Rykow, Bucharin und Tomski. Keiner von ihnen hat damals gedacht, daß Stalin ihm über den Kopf wachsen könnte. In der Periode der »Troika« verhielt sich Sinowjew zu Stalin vorsichtig-gönnerhaft, Kamenjew — ein wenig ironisch. Ich erinnere mich, wie bei den Debatten im ZK Stalin einmal das Wort »rigoros« ganz unangebracht anwandte (so was geschieht bei ihm häufig); Kamenjew sah mich verschmitzt an, als wollte er sagen: »Nichts zu machen; man muß ihn nehmen, wie er ist.« Bucharin hielt »Koba« (der alte illegale Name Stalins) für einen Menschen mit Charakter (über Bucharin hatte Lenin öffentlich gesagt: weicher als Wachs) und meinte, »wir« brauchten solche, und wenn er ungebildet und kulturlos ist, werden »wir« ihm schon helfen. Auf diesem Gedanken beruhte der Block Stalin-Bucharin nach dem Zerfall der Troika. So haben alle Umstände, die sozialen und die personellen, Stalins Aufstieg gefördert.

Im Jahre 1923 oder 1934 erwiderte mir J. N. Smirnow, der zusammen mit Sinowjew und Kamenjew erschossen wurde, in einem Privatgespräch: »Stalin-Kandidat für den Posten eines Diktators? Das ist doch ein ganz farbloser Mensch, eine Null.« »Farblos — ja, eine Null — nein«, antwortete ich Smirnow. Über das gleiche Thema hatte ich etwa zwei Jahre später einen Streit mit Kamenjew, der entgegen allem Augenschein behauptete, Stalin sei »ein Führer von Kreisstadt-Format«. In dieser sarkastischen Charakteristik war gewiß ein Körnchen Wahrheit, aber nur ein Körnchen. Solche Eigenschaften des Intellekts, wie Schlauheit, Treubruch, Fähigkeit, auf den niedrigsten Instinkten der menschlichen Natur zu spielen, sind bei Stalin außerordentlich entwickelt und bilden bei einem Menschen mit starkem Charakter ein mächtiges Werkzeug im Kampfe. Selbstverständlich nicht in jedem Kampfe. Der Befreiungskampf der Massen erfordert andere Eigenschaften. Wo es jedoch um die Auslese der Privilegierten, der durch Kastengeist Verbundenen, um die Entmachtung und Disziplinierung der Massen geht, dort sind Stalins Eigenschaften wahrhaft unschätzbar, und sie haben ihn mit Recht zum Führer des Thermidors gemacht.

Und doch, alles in allem genommen, bleibt Stalin eine Mittelmäßigkeit. Er ist weder zur Verallgemeinerung noch zur Vor-

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aussieht fähig. Sein Verstand ist nicht nur des Glanzes und des Fluges bar, sondern auch zum logischen Denken unfähig. Jeder Satz seiner Rede verfolgt irgendeinen praktischen Zweck, aber die Rede erhebt sich niemals zu einem logischen Aufbau. In dieser Schwäche liegt Stalins Stärke. Es gibt historische Aufgaben, die man nur durch Verzicht auf Verallgemeinerungen lösen kann; es gibt Epochen, wo Verallgemeinerung und Voraussicht unmittelbare Erfolge ausschließen: das sind Epochen des Hinabgleitens, des Abstieges, der Reaktion. Helvetius hat einmal gesagt, daß jede gesellschaftliche Epoche ihre großen Männer erfordert, und wenn es solche nicht gibt, erfindet sie sie. Über den heute vergessenen französischen General Changarnier schrieb Marx: »Bei dem gänzlichen Mangel an großen Persönlichkeiten sah sich natürlich die Ordnungspartei gedrungen, die ihrer ganzen Klasse fehlende Kraft einem einzelnen Individuum anzudichten und so zum Ungeheuren aufzuschwellen.« Um mit den Zitaten Schluß zu machen, kann man auf Stalin noch die Worte Friedrich Engels über Wellington anwenden: Er sei in seiner Art groß, und zwar gerade so groß, wie man groß sein kann, ohne aufzuhören, eine Mittelmäßigkeit zu sein. Die »individuelle Größe« ist letzten Endes eine soziale Funktion. Wenn Stalin in der Lage gewesen wäre, vorauszusehen, wohin ihn der Kampf gegen den »Trotzkismus« bringen wird, er hätte wahrscheinlich haltgemacht, trotz der Perspektive des Sieges über alle seine Gegner. Aber er hat nichts vorausgesehen. Die Voraussagen der Gegner, er werde ein Führer des Thermidors, ein Totengräber der Partei und der Revolution werden, schienen ihm ein leeres Phantasiespiel. Er glaubte an die Eigenmacht des Apparates, an dessen Fähigkeit, alle Aufgaben zu lösen. Er verstand absolut nicht die historische Funktion, die er erfüllte. Der Mangel an schöpferischer Phantasie, die Unfähigkeit zur Verallgemeinerung und Voraussicht haben Stalin als Revolutionär umgebracht. Aber die gleichen Züge haben ihm erlaubt, mit Hilfe der Autorität des früheren Revolutionärs den Aufstieg der thermidorianischen Bürokratie zu decken.

Stalin hat systematisch den Apparat demoralisiert. Als Antwort hat der Apparat seinem Führer Zügellosigkeü zugestanden. Die Eigenschaften, die es Stalin ermöglichten, die größten Fälschungen und Justizmorde der menschlichen Geschichte zu begehen, waren selbstverständlich in seiner Natur enthal-

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ten. Doch waren Jahre totalitärer Allmacht nötig, um diesen verbrecherischen Eigenschaften wahrhaft apokalyptische Ausmaße zu verleihen. Ich habe schon die Schlauheit und das Fehlen innerer Bremsungselemente erwähnt. Man muß noch hinzufügen: Grausamkeit und Rachsucht. Lenin hat bereits im Jahre 1931 vor der Ernennung Stalins zum Generalsekretär gewarnt: »Dieser Koch wird nur scharfe Gerichte brauen.« Im Jahre 1923 gestand Stalin in einer intimen Unterhaltung mit Kamenjew und Dserschinski, daß der höchste Genuß im Leben für ihn darin bestehe, sich ein Opfer auszusuchen, die Rache vorzubereiten, einen Schlag zu versetzen und dann schlafen zu gehen. »Er ist ein schlechter Mensch«, sagte mir über Stalin Krestinski, »er hat gelbe Augen.« Man liebte Stalin sogar in den Reihen der Bürokratie nicht, solange man kein Bedürfnis nach ihm verspürte.

Je unkontrollierter die Macht der Bürokratie wurde, um so plumper drangen nach außen die verbrecherischen Züge in Stalins Charakter. Krupskaja, die im Jahre 1926 sich für eine Weile der Opposition angeschlossen hatte, erzählte mir von dem tiefen Mißtrauen und der akuten Feindseligkeit, die Lenin in der letztön Periode seines Lebens gegen Stalin hegte und die einen sehr gemilderten Ausdruck in seinem »Testament« gefunden haben. »Wolodja sagte mir: ihm (Stalin) fehlt die elementare Ehrlichkeit, verstehst du, die einfache menschliche Ehrlichkeit ...« Das letzte Dokument, das Lenin hinterlassen hat, ist ein von ihm diktierter Brief, in dem er Stalin den Bruch aller persönlichen und parteigenössischen Beziehungen ankündigt. Man kann sich vorstellen, wieviel der Kranke auf seinem Herzen hatte, wenn er sich zu diesem äußersten Schritt entschloß!... Indes, der wahre »Stalinisifius« hat sich erst nach Lenins Tod entfaltet.

Nein, persönlicher Haß ist ein zu enges, privates, häusliches Gefühl, als daß es eine Einwirkung haben könnte auf die Richtung des historischen Kampfes, der über jeden der Teilnehmer unermeßlich hinauswächst. Selbstverständlich verdient Stalin die härteste Strafe, sowohl als Totengräber der Revolution wie als Organisator unerhörter Verbrechen. Doch ist diese Strafe kein selbständiges Ziel und für sie existieren keine besonderen Methoden. Sie muß sich ergeben — und wird sich ergeben! — aus dem Siege der Arbeiterklasse über die Bürokratie. Damit will ich keinesfalls die auf Stalin lastende persönliche Verant-

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wortung mildern. Im Gegenteil, gerade weil seine Verbrechen so beispiellos sind, kann es keinem ernsten Revolutionär in den Sinn kommen, sie mit einem terroristischen Akt zu beantworten. Nur die historische Katastrophe des Stalinismus, als Resultat des revolutionären Sieges der Massen, wird nicht nur die politische, sondern auch die moralische Genugtuung bringen. Und diese Katastrophe ist unabwendbar.

Um das Kapitel »Haß« und »Machtgier« zu schließen, muß ich hinzufügen, daß ich, trotz den persönlichen Prüfungen der letzten Periode, unendlich weit entfernt bin von jener Psychologie der »Verzweiflung«, die mir die Sowjetpresse, die stalinsche Staatsanwaltschaft und ihre unvorsichtigen oder unklugen »Freunde« im Westen anbinden. Keinen einzigen Tag in diesen dreizehn Jahren habe ich mich gebrochen oder besiegt gefühlt. Nicht für einen Tag habe ich aufgehört, auf die Verleumdung und die Verleumder von oben herabzublicken. In der Schule der großen historischen Erschütterungen habe ich gelernt und ich glaube erlernt, den Gang der Entwicklung mit seinem eigenen inneren Rhythmus und nicht mit dem kurzen Metermaß des persönlichen Schicksals zu messen. Für Menschen, die fähig sind, das Leben in schwarzen Farben zu sehen, nur weil sie den heiligen Ministersessel verloren haben, kann ich nur ironisches Mitleid empfinden. Die Bewegung, der ich diene, ist vor meinen Augen durch Perioden der Aufstiege und Abstiege und Wiederaufstiege gegangen. Im Augenblick ist sie weit zurückgeworfen. Jedoch liegen in den objektiven Bedingungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik auch die Bedingungen eines neuen gigantischen Aufstiegs enthalten, der alle vorangegangenen weit hinter sich lassen wird. Diese Zukunft klar vorauszusehen, durch alle Schwierigkeiten der Gegenwart sich auf sie vorzubereiten, an der Formierung neuer marxistischer Kader mitzuarbeiten — über diese Aufgabe geht mir nichts ... Es bliebe noch, mich bei dem Leser für diese rein persönlichen Geständnisse zu entschuldigen: sie sind durch das Wesen der Justizfälschung erzwungen.

5. Januar, siebzehnter Tag des Weges. Nach der episodischen Niederlage der Arbeiter Petersburgs, im Juli 1917, erklärte Kerenskis Regierung Lenin, mich und eine Reihe anderer Bolschewiki (Stalin geriet damals nur deshalb nicht unter ihre Zahl, weil sich für ihn niemand interessierte) für Agenten des

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deutschen Generalstabes. Die Stütze der Beschuldigungen waren Angaben des Fähnrichs Jermolenko, eines Agenten der zaristischen Konterspionage. In der nach der »Enthüllung« ersten Sitzung der bolschewistischen Fraktion des Sowjets herrschte eine Stimmung der Bedrücktheit, Fassungslosigkeit, ja geradezu des Alpdrucks. Lenin und Sinowjew hielten sich schon verborgen. Kamenjew war verhaftet. »Nichts zu machen«, sagte ich in meinem Referat, »die Petersburger Arbeiter haben Prügel bekommen, die bolschewistische Partei ist in die Illegalität gejagt worden. Das Kräfteverhältnis hat sich jäh verändert. Alles Dunkle, Unwissende kriecht nach oben. Der Fähnrich Jermolenko ist der Inspirator Kerenskis geworden, der selbst nicht viel höher als Jermolenko steht. Wir werden durch dieses unvorhergesehene Kapitel hindurch müssen ... Wenn die Massen aber den Zusammenhang zwischen der Verleumdung und den Interessen der Reaktion begreifen, werden sie sich uns zuwenden.« Ich habe damals nicht vorausgesehen, daß Josef Stalin, Mitglied des ZK der bolschewistischen Partei, nach achtzehn Jahren die Version Kerenski-Jermolenko erneuern wird!

Kein einziger Angeklagter aus der Zahl der alten Bolschewiki hat seine »Verbindung« mit der Gestapo gestanden. Dabei haben sie mit Geständnissen nicht gekargt. Kamenjew, Sinowjew und die anderen haben nicht nur Reste der Selbstachtung daran gehindert, der GPU bis ans Ende zu folgen, sondern auch Bedenken des gesunden Verstandes. Nach ihr'em Dialog mit dem Staatsanwalt in bezug auf die Gestapo ist es nicht schwer, den Handel zu rekonstruieren, der während der Gerichtsuntersuchung hinter den Kulissen geführt wurde. »Ihr wollt Trotzki entehren und vernichten«, sagte wahrscheinlich Kamenjew. »Wir wollen Euch helfen. Wir sind bereit, Trotzki als Organisator terroristischer Akte hinzustellen. Die Bourgeoisie kennt sich schlecht in diesen Fragen aus, und nicht nur die Bourgeoisie allein: Bolschewiki ... Terror ... Morde ... Machtgier ... Rachedurst ... Dem allem kann man glauben .—.. Aber keiner wird glauben, daß Trotzki oder wir, Kamenjew, Sinowjew, Smirnow usw., mit Hitler verbunden sind. Wenn wir alle Grenzen des Wahrscheinlichen übertreten, riskieren wir auch die Anklage wegen Terror zu kompromittieren, die, wie Ihr wohl selbst wißt, auch nicht auf granitenem Fundament errichtet ist. Und außerdem erinnert die Beschuldigung der Ver-

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bindung mit der Gestapo zu sehr an die Verleumdung gegen Lenin und den gleichen Trotzki im Jahre 1917 ...«

Diese vermutliche Argumentation Kamenjews ist überzeugend genug. Sie hat aber Stalin nicht erschüttert; er hat die Gestapo in die Sache hineingezogen. Der erste Eindruck ist: die Wut hat ihn geblendet. Jedoch ist dieser Eindruck wenn auch kein Irrtum, so doch einseitig. Auch Stalin hatte keine Wahl. Die Beschuldigung, Terror angewandt zu haben, würde an sich die Aufgabe nicht lösen. Die Bourgeoisie würde denken: »Die Bolschewiki bringen einander um, warten wir ab, was daraus entstehen wird.« Was die Arbeiter betrifft, so könnte ein großer Teil von ihnen sagen: die Sowjetbürokratie hat den ganzen Reichtum und die ganze Macht sich angeeignet und unterdrückt jedes Wort der Kritik — vielleicht hat Trotzki recht, wenn er zum Terror aufruft? Der temperamentvollere Teil der Sowjetjugend kann, wenn er erfährt, daß hinter dem Terror die Autorität ihr gut bekannter Namen steht, vielleicht diesen noch unerprobten Weg tatsächlich beschreiten. Stalin mußte die gefährlichen Folgen des eigenen Spiels fürchten. Und deshalb übten auf ihn die Einwände Kamenjews und der anderen keine Wirkung aus. Er brauchte, daß die Gegner im Schmutze ertrinken. Nichts Wahrscheinlicheres als die Verbindung mit der Gestapo konnte er ausdenken. Terror in Verbindung mit Hitler! Der Arbeiter, der an dieses Amalgam glaubt, ist für immer gegen »Trotzkismus« geimpft. Die Schwierigkeit ist, ihn daran glauben zu machen...

Das Gewebe des Prozesses bildet, sogar in der geglätteten und falsifizierten Form, die sich aus dem offiziellen »Bericht« (Ausgabe des Volkskommissariats für Justiz) ergibt, eine solche Anhäufung von Widersprüchen, Anachronismen und einfachem Unsinn, daß allein schon die systematische Darstellung des »Berichtes« alle Anklagen vernichtet. Das ist nicht zufällig so: die GPU arbeitet ohne Kontrolle. Keinerlei Reibungen, Enthüllungen oder Überraschungen sind zu erwarten. Die völlige Solidarität der Presse ist gesichert. Die Untersuchungsrichter der GPU verlassen sich viel mehr auf die Einschüchterung als auf die eigene Findigkeit. Sogar als Fälschung ist der Prozeß plump, ungereimt, stellenweise hoffnungslos dumm. Man kann nicht umhin, zu bemerken, daß den letzten Stempel der Dummheit der allmächtige Staatsanwalt Wyschinski, ein früherer Provinzadvokat und Menschewik, ihm aufdrückte.

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Und doch ist der Plan ungeheuerlicher als die Durchführung. Die Tatsache zum Beispiel, daß der wichtigste Zeuge gegen mich, der einzige alte Bolschewik, der mich angeblich im Auslande besucht hat, nämlich Golzmann, das Unglück hat, als Begleiter meinen Sohn zu nennen, der in Kopenhagen nicht war, und als Treffpunkt das Hotel Bristol, das längst nicht mehr existiert, diese und ähnliche Tatsachen sind vom juristischen Standpunkt aus von entscheidender Bedeutung. Aber für einen denkenden Menschen, dem das psychologische und das moralische Gefühl nicht abgeht, sind diese »kleinen« Defekte der großen Fälschung überflüssig. Die Prägung einer falschen Münze kann besser oder schlechter sein. Aber lohnt es sich, die Prägung zu untersuchen, wenn ich die Münze in die Hand nehmen und mit Bestimmtheit sagen kann: sie ist zu leicht, oder wenn ich sie auf den Tisch werfe und sogleich höre: sie hat den dumpfen Klang des »Amalgams«?

Die Behauptung, daß ich mit der Gestapo einen Bund eingehen konnte, um den stalinschen Beamten Kirow zu ermorden, ist an sich derart dumm, daß ein vernünftiger und ehrlicher Mensch die Details der stalinschen Fälschung zu untersuchen gar keine Lust haben wird.

 

Die Entsendung von »Terroristen« aus dem Auslande

 

6. Januar. In der Nacht kamen wir in die Mexikanische Bucht hinein. Die Temperatur des Wassers ist 27 Grad Celsius! In der Kajüte ist es heiß. Der Polizeioffizier und der Kapitän regulieren durchs Radio die Bedingungen unserer Landung (wohl in Tampico und nicht in Vera-Cruz, wie es vor einigen Tagen geplant war).

Mit der Vorbereitung der Prozeßfälschungen ist eines der schändlichsten Kapitel der Sowjetdiplomatie verbunden: Litwinows Initiative in Sachen des internationalen Kampfes gegen Terroristen. Am 9. Oktober 1934 wurden in Frankreich der jugoslawische König Alexander und der französische Minister Barthou ermordet. Der Mord war von kroatischen und bulgarischen Nationalisten organisiert, hinter denen Ungarn und Italien standen. Wenn auch der Marxismus terroristische Kampfmethoden ablehnt, so folgt daraus nicht, daß Marxisten der imperialistischen Polizei die Hand reichen dürfen zum Zweck der gemeinsamen Ausrottung der »Terroristen«. Aber gerade

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so hat sich Litwinow in Genf benommen. Mit Berufung auf Marx hat er die Parole aufgestellt: »Polizisten aller Länder, vereinigt euch!« Es ist nicht möglich, sagte ich damals Freunden, daß diese Scheußlichkeit keinen bestimmten Zweck verfolgt. Um mit den inneren Gegnern abzurechnen, braucht Stalin den Völkerbund nicht. Gegen wen ist dann Litwinows Rede gerichtet? Die Antwort ergab sich von selbst: gegen mich. Was sich vorbereitete, konnte ich natürlich nicht wissen. Doch stand es für mich schon damals außer Zweifel, daß es sich um irgendeine gigantische Fälschung handelt, in die ich auf irgendeine Weise hineingezogen werden muß, wobei die internationale, von Litwinow inspirierte Polizei Stalin helfen sollte, an mich heranzukommen.

Jetzt ist diese ganze Machination völlig klär. Litwinows erste Versuche, eine heilige Allianz gegen »Terroristen« zu schaffen, fallen zusammen mit der Periode der Vorbereitung des ersten Amalgams um Kirow. Entsprechende Instruktionen erteilte Stalin Litwinow vor der Ermordung Kirows, das heißt in jenen heißen Tagen, als die GPU ein Attentat vorbereitete mit der Berechnung, die Opposition darin zu verwickeln. Der Plan erwies sich jedoch als zu kompliziert und stieß auf eine Reihe vori Hindernissen. Nikolajew hatte zu früh geschossen. Der lettische Konsul hatte nicht Zeit gehabt, die Terroristen mit mir zu verbinden. Ein internationales Tribunal gegen Terroristen ist bis jetzt nicht geschaffen worden. Vom großen Plane, an mich vermittels des Völkerbundes heranzukommen, sind bis jetzt nur die skandalösen Reden des Sowjetdiplomaten übriggeblieben, die auf eine Vereinigung der Weltpolizei gegen »Trotzkismus« gemünzt waren.

Die »terroristische« Woche in Kopenhagen (November 1932) ist eng mit der Idee des internationalen Tribunals verbunden. Wenn das terroristische Zentrum existiert und in Moskau handelt, und ich es vom Auslande aus nur durch Briefe »inspiriere«, die niemals dem Staatsanwalt in die Hände fallen, dann ist die Möglichkeit, mich vor dem Tribunal des Völkerbundes anzuklagen, sehr problematisch. Es war unbedingt notwendig, daß ich aus dem Auslande lebendige Terroristen schickte. Aus diesem Grunde haben mich mir unbekannte junge Menschen, Bermann und Fritz David, angeblich in Kopenhagen besucht, wo ich sie im Laufe einer einzigen Unterhaltung in Terroristen, und gleichzeitig auch in Agenten der Gestapo verwandelte. 

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Als ich sie aber in die USSR mit dem Auftrage schickte, möglichst viele »Führer« in einer möglichst kurzen Frist umzubringen, empfahl ich ihnen gleichzeitig, nicht in Beziehungen"zu treten mit dem Moskauer terroristischen Zentrum ... aus konspirativen Gründen: das sicherste Mittel, das »terroristische Zentrum« zu erhalten, besteht nämlich darin, es von der Teilnahme an terroristischen Akten zu befreien ... Mit den gleichen Absichten: die nötigen Zeugenaussagen für das Tribunal des Völkerbundes vorzubereiten, war zu mir nach Kopenhagen auch Golzmann gekommen, der aber das Pech hatte, in dem längst nicht mehr existierenden Hotel sich mit meinem Sohne zu treffen, der zu jener Zeit in Berlin war. Mit Olberg, den beiden Lurje, Moses und Nathan, verhielt sich die Sache noch einfacher: die habe ich, ohne sie je gesehen zu haben, aus der Ferne zu terroristischen Arbeiten beordert. Nein, die Kopenhagener Woche hat den Autoren des großen Planes keine Lorbeeren eingebracht. Aber was konnten sie auch anderes bieten?

Kamenjew hat vor Gericht mit besonderer Beharrlichkeit darauf hingewiesen, daß, solange Trotzki im Auslande bleibt, von dort unvermeidlich Terroristen in die Sowjetunion kommen werden. Die Züge des »klugen Politikers« wahrend, ist Kamenjew auch auf der letzten Stufe der Erniedrigung Stalins Hauptaufgabe: meinen Aufenthalt in jedem ausländischen Staate unmöglich zu machen, entgegengekommen. Trotzki im Auslande — bedeutet terroristische Akte in der USSR! Kamenjew berührte die Frage nicht, aus welcher Mitte ich eigentlich Terroristen würde werben können. Im Auslande gibt es zwei Kreise russischer Menschen; die weiße Emigration und die Sowjetkolonien um die Gesandtschaften herum. Nach meiner Ausweisung in die Türkei hat die GPU durch die Sektionen der Komintern beharrlich versucht, ausländische, insbesondere tschechische »Trotzkisten« mit der weißen Emigration zu »verbinden«. Aber meine ersten, im Auslande veröffentlichten Artikel machten diesen Intrigen ein Ende. In allen ihren Gruppierungen, ausnahmslos, fühlt sich die weiße Emigration, so feindlich sie Stalin auch gegenüberstehen mag, ihm unvergleichlich näher als mir und verheimlicht das nicht im geringsten. Was die ausländischen Sowjetkreise betrifft, so sind sie sehr eng und stehen unter derartiger Aufsicht der GPU, daß von irgendeiner organisatorischen Arbeit unter ihnen nicht die Rede sein kann.

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Es genügt daran zu erinnern, daß Blumkin erschossen wurde wegen eines Besuches bei mir in Konstantinopel: das war meine einzige Begegnung mit einem Sowjetbürger während der ganzen Jahre meiner Verbannung. Auf der Liste der Angeklagten war jedenfalls weder einer von der weißen Emigration, noch von den ausländischen Sowjetangestellten. 

Wer aber sind jene fünf »Terroristen«, die ich aus dem Auslande nach Moskau geschickt habe und die ihre terroristischen Absichten erst im Gerichtssaal entdeckten? Das sind alles jüdische Intellektuelle, und zwar nicht aus der USSR, sondern aus den Nachfolgestaaten, die früher Teile des zaristischen Rußlands waren (Litauen, Lettland usw.). Ihre Familien sind seinerzeit vor der bolschewistischen Revolution geflüchtet, die Vertreter der jüngeren Generation aber haben sich dank ihrer Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit, Sprachenkenntnis, insbesondere des Russischen, nicht schlecht im Apparat der Komintern eingerichtet. Durchweg Abkömmlinge des kleinbürgerlichen Milieus, ohne Verbindung mit der Arbeiterklasse irgendeines Landes, ohne revolutionäre Stählung, ohne ernste theoretische Vorbereitung, wurden diese gesichtslosen Beamten der Komintern, stets dem letzten Zirkular gehorsam, zu einer wahren Geißel der internationalen Arbeiterbewegung. Manche von ihnen kokettierten, nachdem sie auf ihrem Wege irgendeine Havarie erlitten hatten, eine Weile mit der Opposition. In Artikeln und Briefen habe ich wiederholt meine Gesinnungsgenossen vor solchen Herren gewarnt. Und nun stellt sich heraus, daß ich gerade diesen Kommissionären der Komintern, jählings, beim ersten Zusammentreffen oder sogar aus der Ferne meine geheimsten Pläne in bezug auf den Terror, ja sogar meine Verbindungen mit der Gestapo anvertraute. Unsinn.? Darum aber handelt es sich, daß die GPU keine anderen Kreise entdeckt hat, aus denen ich im Auslande »Terroristen« werben konnte. Jedoch ohne Entsendung von Emissären aus dem Auslande hätte meine Teilnahme am Terror einen zu abstrakten Charakter getragen.

Eine Sinnlosigkeit zieht die andere nach sich: 

Als Agenten der Gestapo figurieren ausgerechnet fünf jüdische Intellektuelle (Olberg, Bermann, David und die zwei Lurjes)! Es ist zur Genüge bekannt, daß weite Kreise der jüdischen Intelligenz, darunter auch der deutschen, eine Wendung zur Komintern gemacht haben, nicht aus Interesse für den Marxismus und Kommunismus, sondern auf der Suche nach einem Stützpunkt gegen den aggressiven Antisemitismus

Das kann man begreifen. Aber welche politischen oder psychologischen Motive haben fünf russsisch-jüdische Intellektuelle bewegen können, den Weg des Terrors gegen Stalin ... im Bunde mit Hitler zu beschreiten? 

Die Angeklagten selbst umgingen sorgfältig dieses Rätsel. Auch Wyschinski hat sich seinen Kopf darüber nicht zerbrochen. Indes verdient dieses Rätsel Beachtung. Mich persönlich habe »Machtgier« geleitet. Nehmen wir an! Welche Gefühle aber haben diese fünf Unbekannten geleitet? Sie waren doch auf jeden Fall bereit, ihre Köpfe hinzuhalten. Wofür? Zum Ruhme Hitlers?

Allerdings sind die Motive Trotzkis auch gar nicht so klar, wie es die Pritts, Rosenmarks und die übrigen ausländischen Advokaten des Sowjetstaatsanwalts glauben machen möchten. Es stellt sich ja heraus, daß ich aus »Haß« gegen Stalin gerade das tat, was Stalin am meisten nötig hatte. Seit 1927 habe ich nicht dutzende-, sondern hundertemal gesagt, daß die Logik des Bonapartismus Stalin bewegen werde, der Opposition eine militärische Verschwörung oder einen terroristischen Akt unterzuschieben. Seit dem Augenblick, wo ich nach Konstäntinopel kam, habe ich diese Warnungen in der Presse mehr als einmal wiederholt und politisch begründet. 

Also im voraus wissend, daß Stalin Attentate auf seine »geheiligte Person« dringend braucht, bin ich an die Inszenierung solcher Verschwörungen gegangen; für die Rolle der Exekutoren habe ich zufällige und mir als unzuverlässig bekannte Menschen ausgesucht; als Verbündeten Hitler erwählt; zu Gestapoagenten Juden gemacht; damit meine Zusammenarbeit mit der Gestapo, Gott behüte, nicht geheim bleibe, habe ich darüber nach links und rechts vertraulich erzählt. Mit einem Wort — ich habe das alles getan, was von mir die Phantasie eines simplen Provokateurs der GPU verlangte.

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