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  § 3 

Ich habe nie ein moralisches Problem darin gesehen, daß Teenager in Jugoslawien oder in Polen sich nach Levis sehnen.
Aber Anhänger zentraler Planung sehen dies offenbar so.
Sie scheinen das Gefühl zu haben, daß zentral entworfene, schlecht sitzende Hosen für Sozialisten angemessener sind als Levis. 
Bogdan Denitch

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Es ist letztlich die unausweichliche Tragödie jeder Utopie", schreibt der Würzburger Soziologe und Politikwissenschaftler Lothar Bossle, »daß sie im Zustand der Unschuld eines romantischen Denkens beginnt, um in einem Inferno totalitärer Exzesse zu enden.«17     wikipedia  Lothar_Bossle  1929-2000

Der Gedanke ist nicht neu. Schon Anfang der 50er Jahre hatte sich der russische Philosoph Nikolai Berdjajew ähnlich geäußert: »Die Utopie ist immer totalitär, und der Totalitarismus ist immer utopisch in den Bedingungen unserer Welt.«18

Wenn der Zusammenhang zwischen Utopie und Totalitarismus in der Tat so eindeutig wäre, wie hier behauptet wird, dann läge es nahe, den Menschen im Namen der Freiheit die Träume vom besseren Leben auszutreiben, zumindest aber dafür zu sorgen, daß Menschen mit solchen Träumen keinen Einfluß auf die Politik erhalten. Utopien wären dann nicht nur, wie es verbreitete Ansicht ist, auf geradezu lächerliche Weise realitätsfern und damit praktisch folgenlos, sondern seltsamerweise zugleich sehr gefährlich.

Den Zusammenhang von Utopie und Gewalt betont auch Karl Raimund Popper.19 Er versteht in diesem Zusammenhang unter Utopie nicht wie an anderer Stelle eine Hilfskonstruktion politisch-sozialer Technik, sondern ein ganzheitliches, bis in die Details ausgearbeitetes, starres Gesellschaftsmodell, das, da es das Ziel des gesellschaftlichen Veränderungsprozesses im vorhinein fixiert, mit einem ergebnisoffenen demokratischen Willensbildungsprozeß kaum vereinbar ist und, einmal verwirklicht, für sich den Status eines geschichtlichen Endzustands beanspruchen würde, also letztlich ein Sonderfall jener <geschlossenen Gesellschaft> wäre, der er die lernfähige, sich im steten Wandel fortentwickelnde demokratische <offene Gesellschaft> entgegenstellt.

Ganz offensichtlich ist es diese Vorstellung von Utopie, die diejenigen im Sinn haben, die die Utopie pauschal als >totalitär< denunzieren. Nun könnte man zwar unter Berufung auf die Geschichte des Begriffs und des utopischen Denkens selbst relativ leicht zeigen, daß es sich hier um eine Verengung und Vereinseitigung des Begriffs der Utopie handelt.20 Aber damit wäre das sachliche Problem, das hier angesprochen wird, keineswegs vom Tisch.

Es ist nämlich nicht zu leugnen, daß der in der Geschichte des Abendlandes dominierende Utopietypus von rationalistischen Ordnungsvorstellungen geprägt ist, die der Komplexität des Lebens nicht angemessen sind, die den Eigensinn der Menschen, ihre Subjektivität nicht in Rechnung stellen und daher, wenn nicht offen, so doch in der Tendenz undemokratisch, autoritär, vielleicht gar totalitär sind. Die großen Staatsutopien von Morus' <Utopia> über Campanellas <Sonnenstaat> bis Francis Bacons <Nova Atlantis>, aber auch viele der späteren Entwürfe einer idealen sozialistischen Gesellschaft oder des sozialistischen <Zukunftstaats> sind utopisch-holistische Gesellschaftskonzeptionen, in denen die Menschen nur als Objekte, als Material, als zu berechnende und zu behandelnde Kräfte und Faktoren, nicht aber als selbständige Akteure vorkommen.

Wo Politik sich an einem solchen Bild der Zukunft orientiert und alles daran setzt, den vermeintlichen Idealzustand herbeizuführen, wird sie dazu neigen, Kritik und Widerspruch als Anschlag auf das Wohl der Menschheit und Trägheit und Desinteresse als Sabotage aufzufassen. Von hierher ist es dann in der Tat nicht mehr weit bis zu paternalistischer Bevormundung oder gar blutiger Unterdrückung.

20 Vgl. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde, Frankfurt/M. 1959, 6. Aufl. 1979; Arnhelm Neusüss (Hg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Neuwied/Berlin 1968; Yona Friedmann, Machbare Utopien. Frankfurt/M. 1977, besonders seine Unterscheidung von »paternalistischen« und »nichtpaternalistischen« Utopien, S. 12 f.

  Utopia Morus     Sonnenstaata    Neu-Atlantis 

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Es kann also nicht einfach darum gehen, das utopische Denken en bloc gegen jede Kritik abzuschirmen und einem unzulässig verallgemeinerten Verdamm­ungs­urteil einen pauschalen Freispruch entgegenzusetzen. Wie alle anderen Ideen hat auch die Idee der Utopie im Laufe der Geschichte ihre Unschuld verloren. Und da auch Sozialisten, auch gerade dann, wenn sie sich im Gegensatz zu den frühen <utopischen> Sozialisten wissenschaftliche Sozialisten nannten, häufig Idealvorstellungen von Staat und Gesellschaft anhingen, die in ihrem Ordnungswahn, ihrer Schematisierung menschlicher Verhältnisse, ihrer Angst vor dem Risiko offener Situationen durchaus dem Geist der klassischen Staatsutopien entsprachen, ist auch in dieser Hinsicht die Idee des Sozialismus in Mitleidenschaft gezogen.

Von der Unduldsamkeit und Grausamkeit jener religiösen Eiferer, die sich im Besitz der offenbarten Wahrheit glaubten und daraus das Recht ableiteten, andere Menschen im Sinne des berüchtigten <compelle intrare> zu ihrem Seelenheil zwingen zu dürfen, bis zu den alten Männern im Politbüro der SED, die noch vor kurzem das Recht für sich in Anspruch nahmen, den »planmäßigen Aufbau des Sozialismus« an Menschen zu vollziehen, die eben diesen Sozialismus in ihrer großen Mehrheit ablehnten, gibt es eine unübersehbare Kontinuität.

Horst Wernicke hat in seiner Studie über Albert Camus gezeigt, wie sich bei Camus und seinem Freund, dem französischen Dichter Rene Char, der Begriff der <Utopie> mit dem der <Revolte> verbindet. »... immer wenn man uns zwingen will«, zitiert er Char, »mit unseren besten Möglichkeiten, mit unserer Moral zu brechen und uns in ein vereinfachendes Schema zu fügen, mahnt uns das, was dem Menschen nichts schuldet, aber uns wohlwill: Aufruhr, Aufruhr, Aufruhr.«21

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Erst wo das utopische Denken aus einer Überlebenstechnik und Widerstandsleistung der Mühseligen und Beladenen zur Paradedisziplin von <Meisterdenkern> wird, entstehen jene umfassenden Systementwürfe aus dem Blickwinkel himmelhoch thronender Gesellschaftsstrategen, inspiriert vom Geist der Geometrie oder einer sich achtlos über Einzelschicksale hinwegsetzenden Geschichtsdialektik, denen eine latente Gewaltättigkeit auch dann anhaftet, wenn sie in bester humanistischer Absicht ersonnen wurden.

Weil sie fern von den Niederungen des Lebens konzipiert wurden, wissen sie zumeist wenig von den wirklichen Bedürfnissen der Menschen, ihren prosaischen Sehnsüchten, ihrem irdischen Glück. Ihre Schöpfer lieben in der Regel das Systematische, hassen die komplexere Ordnung des Lebens, die ihnen als bedrohliche Anarchie erscheint und mißachten die eigentliche Quelle aller schöpferischen Veränderung in der Geschichte, nämlich die unberechenbare, eigensinnige, widerspenstige Selbsttätigkeit der Menschen.

Solche Utopien sind durch und durch elitär. Das Volk kommt in ihnen nur als zu formende Masse vor, deren spontane Reaktionen von vornherein verdächtig sind, die erzogen, manipuliert und notfalls mit Gewalt auf den richtigen Weg gezwungen werden muß. Das Medium der Verwirklichung dieser Art von Utopie ist die Erziehungsdiktatur. Aber wie die Geschichte an zahllosen Beispielen, zuletzt an der deprimierenden Geschichte der Sowjetunion, zeigt, ist dieses Unternehmen auf geradezu groteske Weise erfolglos. Nicht nur, daß der Eigensinn des Volkes, die Hartnäckigkeit der Menschen bei der Verfolgung ihres privaten Glücks immer wieder über verordneten Idealismus und Heroismus triumphieren; auch die erziehende Elite vermag auf Dauer den strapaziösen Idealen nicht zu genügen, wird zynisch, korrupt, machtbesessen.

21   Vgl. Horst Wernicke: <Albert Camus: Aufklärer-Skeptiker-Sozialist.> Hildesheim 1984, S. 50      wikipedia  Horst Wernicke  *1935    A.Camus bei detopia

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Nach all den schrecklichen und tragikomischen Erfahrungen, die die Menschheit mit ihnen gemacht hat, darf es nicht verwundern, daß die großen Staats- und Gesellschaftsutopien, die genialen Pläne zur Verbesserung der Welt heute die Herzen nicht mehr erwärmen, die Phantasie der Menschen nicht mehr entzünden.

Die Lebensfremdheit und Lebensfeindlichkeit solcher Modelle ist allzu offensichtlich. Es ist kein Zufall, daß die Schöpfer der frühen Staatsutopien sich die Realisierung ihrer Träume gern auf einer Insel, fernab vom Getriebe der übrigen Welt, dachten. Künstliche Projekte dieser Art können gewissermaßen nur unter Laborbedingungen unternommen werden. Aber auch die gibt es auf der Erde nicht, heute weniger denn je.

Die Insel Atlantis ist endgültig untergegangen — und mit ihr auch Nova Atlantis. Überall auf der Welt haben die Menschen es satt, zu Gegenständen gesellschaftsstrategischer Experimente gemacht zu werden. Und wo immer eine Elite — und sei sie noch so selbstlos und durch den Widerstand gegen staatliche Machtanmaßung geadelt — von den Menschen erwartet, daß sie einem Idealbild höheren Menschseins entsprechen, gerät sie ins Abseits, isoliert sie sich selbst.

In gewisser Weise haben dies auch jene erfahren müssen, die über Jahre hinweg unter großen Opfern den Widerstand in der DDR organisierten, die bei den ersten Demonstrationen in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin den Kopf hinhielten, dann aber von der Entwicklung überrollt wurden und bei den ersten freien Wahlen so enttäuschend schlecht abschnitten.

Dabei ist es ja richtig, daß die Menschen in der DDR für einen hisrorischen Moment über sich hinauswuchsen, Zivilcourage und praktische Solidarität bewiesen, die ihnen wohl kaum jemand auf der Welt in diesem Maße zugetraut hätte.

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Und als dann am 9. November 1989 in Berlin die Mauer fiel, reichte die Geschichte für einen Augenblick tatsächlich ins Utopische hinein, standen die Menschen fassungslos vor Glück vor ihren besseren Möglichkeiten. Aber schon bald zeigte sich, daß sie ganz normale Menschen geblieben waren. Die Enttäuschung darüber, die manche Intellektuelle empfanden, mag verständlich sein. Aber dort, wo sie in Verachtung des niederen Volkes umschlug, scheint sie mir doch noch aus jenem elitären Geist der Utopie gespeist zu sein, der die klassischen Staatsutopien durchweht.

 

Natürlich ist Stefan Heym ein demokratischer Sozialist, der auch in schweren Zeiten bewiesen hat, daß er aufrecht gehen kann. Dennoch hat er sich, als die Menschen aus der DDR nach dem Fall der Mauer in den Westen strömten und sich auf die lang entbehrten Konsumgüter stürzten, in einer Weise geäußert, die schlaglichtartig deutlich macht, daß Reste des elitären Utopismus auch noch bei jenen Linken wirksam sein können, die sich ihr Leben lang den selbsternannten Volkserziehern widersetzt haben.

Stefan Heym, der mutige und kluge Stefan Heym, schrieb damals im SPIEGEL: »Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch edlen Blickes einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie mit kannibalischer Lust in den Grabbeltischen von westlichen Krämern, ihnen absichtsvoll in den Weg plaziert, wühlten ...«

In der Sprache verrät sich das unbewältigte Erbe eines utopischen Idealismus. Es sind eben doch noch jene bis zur Unkenntlichkeit heroisierten Proletarier, die da »edlen Blicks einer verheißungsvollen Zukunft« zuzustreben haben, statt in »kannibalischer Lust« dem Konsum zu frönen. Aber die realen Arbeiter haben keine Lust, ständig den Helden zu spielen, sie wollen leben, ihre irdischen Wünsche erfüllen und sich nicht einem asketischen Ideal unterwerfen, das andere sich für sie ausgedacht haben. 

* (d-2014:)  Stefan Heym bei detopia

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Um nicht mißverstanden zu werden:

Jeder hat das Recht, zu widersprechen, ohne Rücksicht auf die Volksmeinung seine Wahrheit kundzutun. Und daß ein Intellektueller allein gegen viele steht, ist nicht ehrenrührig, sondern normal. Nur wenn es darum geht, einen besseren Zustand der Gesellschaft einzufordern, in dem die Menschen freier und glücklicher leben können, kann ich dies nicht über die Köpfe der Mehrheit hinweg tun, ohne Rücksicht auf ihre wirklichen Sehnsüchte und Glücks­vorstellungen oder gar im Gegensatz zu ihnen, denn der bessere Zustand der Gesellschaft soll ja gerade die Sehnsüchte der Mehrheit erfüllen, soll sie freier und glücklicher machen.

Zwar kommt es vor, daß sich die Menschen über ihre eigenen Bedürfnisse täuschen, so daß Aufklärung und Selbstaufklärung auch hier nötig ist, ein Prozeß, bei dem auch Intellektuelle eine wichtige Rolle einnehmen können. Aber niemals kann es darum gehen, Aufklärung zu verordnen, die Masse darüber zu belehren, was ihr wahres Glück ausmacht, worin ihre wahre Freiheit besteht, da Glück und Freiheit nicht objektiv bestimmbar, sondern Momente der jeweiligen Subjektivität sind.

Aber gerade mit der Subjektivität hat sich die weitgehend rationalistisch gestimmte Linke schon immer besonders schwer getan, und wo sie besonders deutsch, vielleicht auch besonders deutsch-protestantisch geprägt war, hegte sie nicht selten ein tiefes Mißtrauen gegen die spontanen Regungen des Volkes, gegen das ganz normale Streben nach Glück, jenen <pursuit of happiness>, den die amerikanische Verfassung zum Menschenrecht erhob. Ihre Utopien von Freiheit, von der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit hatten fast immer einen stark bildungsbürgerlichen Einschlag, oft einen unübersehbaren asketischen Zug, auch hierin dem rationalistischen Geist der großen Staatsutopien verhaftet.

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Darum blieb Paul Lafargues Buch <Das Recht auf Faulheit>, obwohl vorsichtshalber vom deutschen Herausgeber als Satire avisiert, in der deutschen Arbeiterbewegung bis heute ein peinlich verschwiegener Skandal. Daß jemand die Heroisierung der Arbeit verlachte und die Faulheit als »Mutter der Künste und der edlen Tugenden« pries,22 das war für die ein wenig bigotte deutsche Linke nun wirklich zu viel.

Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, stand offenbar in einer anderen Utopietradition als die Mehrheit der Sozialisten. Seine Zukunftsvisionen entstammten eher den Träumen vom Schlaraffenland, jener sinnenfreudigen, anarchischen Utopie des Überflusses, die aus der Not der kleinen Leute geboren war. Diesen Utopietyp finden wir in vielen Volksmärchen, so in dem Mythos vom Goldenen Zeitalter unter der Herrschaft des Kronos, von dem schon Platon in den <Gesetzen> berichtet; er kommt hier und da in anarchistischen Strömungen des Sozialismus zum Vorschein, blitzt mitunter bei Marx, vor allem in den Frühschriften, auf, geistert auch noch durch Ernst Tollers <Revolution der Liebe>.

Was ihn unterscheidet von den rationalistischen Ordnungsutopien, ist, daß er nicht nur von dem allen Menschen Gemeinsamen handelt, sondern von dem jeweils Besonderen, von Sinnlichkeit, Lust, Liebe, dem Nichtrationalisierbaren, daß er die Menschen als ganze ernst nimmt und sie nicht zu einem Ensemble Staats- und bildungsbürgerlicher Tugenden stilisiert. Die weitgehende Verdrängung dieses Utopietyps in der Linken, ganz besonders der deutschen, ist einer der Gründe, weshalb es der Linken, auch dort, wo sie subjektiv ehrlich für das Glück und die Freiheit der kleinen Leute streitet, so schwer fällt, populär zu sein.

22    Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit. Berlin 1891, S. 28  
*  (d-2014:)   P.Lafargue bei detopia      E.Toller bei detopia

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Dabei hatte Karl Marx, in diesem Punkte realistischer und lebensnäher als viele Marxisten, den Zusammenhang von Freiheit und Überfluß durchaus klar gesehen. Die Entfaltung der Produktivkräfte, die Schaffung von Reichtum und die Entlastung von der Mühsal der Arbeit, nicht Entsagung, Disziplin und der höhere Ehrgeiz des Bildungsbürgers galten ihm als die entscheidenden Voraussetzungen für Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen. Die Vision einer Gesellschaft, in der »jedem nach seinen Bedürfnissen« gegeben werden könnte, in der alle relevanten Knappheitsrelationen und damit die wichtigsten Quellen von Not, Mißgunst, Unterdrückung und Krieg außer Kraft gesetzt wären, in der deshalb »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller« sein könnte23, in der sogar die Arbeitsteilung gelockert, die lebenslange Berufsfixierung aufgehoben werden könnte, diese großzügige, der individuellen Vielfalt und der Selbsttätigkeit Raum lassende Vision ist ein Stück jener anderen Utopietradition, die von den rationalistischen und ordnungsbesessenen Erben von Karl Marx fast vollständig verdrängt wurde.

Wenn der Sozialismus, wie es ja einst seine deklarierte Absicht war, den Liberalismus wirklich beerben, das heißt sein Freiheitsversprechen umfassend verwirklichen will, dann muß er sich aus dem Bannkreis jener rationalistischen Utopien der Ordnung und der geometrischen Gleichheit lösen, die »unter dem Diktat einer Ökonomie des Mangels« stehend, »fast durchgängig ... von einer asketischen Lebensweise geprägt« sind24, um alsdann den besseren Zustand mit Adorno zu denken »als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann«. Freiheit kann für Sozialisten nur heißen: das gleiche Recht aller, ihre je unverwechselbare Individualität zu entfalten.

23  Manifest der Kommunistischen Partei, a.a.O., S. 59
24  Oskar Negt, Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Frankfurt/New York 1984, S. 215

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Darum braucht der Sozialismus Utopien der Vielfalt und der Offenheit, in denen Gleichheit nicht das Ziel, sondern nur die Voraussetzung dafür ist, daß alle Menschen ihr Recht auf Freiheit tatsächlich wahrnehmen können, Utopien des Reichtums und der Fülle, in denen jene Großzügigkeit und Toleranz gedeihen kann, die es jedem gestatten, nach seiner eigenen Faqon glücklich zu werden.

Den Menschen als Gemeinschaftswesen verstehen heißt ja keineswegs seine Individualität und Personalität leugnen, seine Bestimmung darin sehen, daß er im Ganzen, in der Gemeinschaft, im Kollektiv aufzugehen habe. Es bedeutet nur, daß man im Gegensatz zum Liberalismus der Lebenstatsache angemessene Beachtung schenkt, daß der einzelne sich nur im Austausch mit anderen, in Kommunikation und Interaktion mit seinen Mitmenschen entfalten kann, daß er als Person in seiner Würde unantastbar und als Individuum nicht ersetzbar, dennoch aber angewiesen auf andere ist, nicht Atom, sondern selbständiges Mitglied einer Lebensgemeinschaft, die als Gemeinschaft nur dadurch funktioniert, daß sie nicht aus gleichen, sondern sehr verschiedenen >Elementen< besteht.

Die kollektivistische Verirrung des Sozialismus macht es in der Tat notwendig, das Phänomen menschlicher Verschiedenheit neu zu bewerten, es »nicht mehr als Hindernis, sondern als Band der Gemeinschaft zu verstehen.«25 Freilich heißt dies zugleich, daß man sich der Aufgabe stellt, die politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sich alle Menschen in ihrer Verschiedenheit tatsächlich entfalten können. Genau vor dieser Aufgabe versagt zunehmend auch der krasse Individualismus, der die <westliche> Zivilisation dominiert.

Nicht nur, daß die kapitalistische Ellenbogenmentalität viele Menschen ihrer Chance beraubt, ihr Leben in Würde und Selbständigkeit zu leben, daß die Starken sich auf Kosten der Schwächeren und weniger Leistungsfähigen ausleben, die individualistische Rechnung geht auch für diejenigen nicht auf, die den Individualismus zu ihrer eigenen Lebensphilosophie gemacht haben.

25  Hans Sachsse, Was ist Sozialismus? a.a.O. S. 142      wikipedia  Hans Sachsse  1906-1992

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Weder der utilitaristische Individualismus, der im Kampf aller gegen alle nur den eigenen Vorteil, die eigene Lustmaximierung im Auge hat, noch der romantische Individualismus, der durch die ausschließliche Konzentration auf das je Eigene, durch die paranoische Beschäftigung mit den Tiefen des eigenen Ich, sich der Auseinandersetzung mit der Welt und mit anderen Menschen entzieht, sind Wege zu einem reichen und erfüllten Leben.

Wie die individualistisch-utilitaristische Fixierung auf die Befriedigung der eigenen Wünsche und Begierden nicht selten die paradoxe Erscheinung des kreuzunglücklichen Hedonisten hervorbringt, so scheint auch die romantisch-individualistische Präokkupation mit dem eigenen Ich in der Regel nicht mehr Selbstgewißheit, mehr Ich-Stärke und ein erfüllteres Leben zur Folge zu haben, sondern eine permanente Identitätskrise mit der latenten Bereitschaft, die eigene Identität durch den Sprung in ein größeres Ganzes auszulöschen.

Gerade sich emphatisch individualistisch gebärdende Menschen sind nicht selten erstaunlich konformistisch, suchen Schutz in der Uniformierung, in einem standardisierten Gruppenjargon, hinter Konsumsymbolen und Szene-Ritualen. Was in der Innenperspektive als radikaler Individualismus erscheint, stellt sich, von außen betrachtet, oft als Konformität dar. Am auffälligsten ist dies am modernen Konsumindividualismus, den uns manche heute als Gipfel der Freiheit und der Selbstbestimmung verkaufen wollen.

Je hysterischer die Menschen versuchen, ihre Individualität durch die Befriedigung immer neuer Konsumwünsche zu entfalten, um so mehr gleichen sie sich in ihrer Lebensweise, in ihren Vorlieben und Abneigungen, ihrer Sprache und ihrem Denken an. Dies ist auch der Grund dafür, daß Soziologen seit längerem gleichzeitig einen säkularen Trend zur Individualisierung und eine ebenso offensichtliche Tendenz zur Vermassung ausmachen.26

Ein Sozialismus, der sein Freiheitsversprechen einlösen will, darf also weder in den Kollektivismus abgleiten noch sich im Individualismus verlieren. Er muß den Menschen in all seinen Lebensäußerungen ernst nehmen, darf ihn nicht idealistisch überfordern, darf sich aber auch nicht individualistische Zerrbilder vom Menschen einreden lassen wie das vom homo oeconomicus, der in all seinem Tun und Lassen nur von egoistischen Vorteilskalkülen motiviert ist und der seinen Lebenssinn ausschließlich aus ökonomischem Erfolg und der Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse gewinnt.

Eine sozialistische Gesellschaft kann, wenn sie den Menschen als Subjekt ernst nimmt, nur eine offene Gesellschaft sein, in der die Individualität jedes einzelnen zugleich eine Herausforderung und eine Bereicherung für alle anderen darstellt, in der die Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, weil sie wissen, daß sie nur im Zusammenspiel mit anderen Glück und Erfüllung finden können, eine Gesellschaft, die — wie Garaudy zurecht gesagt hat — »weder individualistisch noch totalitär wäre«, die aber gerade nicht — wie derselbe Autor es fordert — ganz »auf die Zukunft gerichtet« sein darf, weil es zum unveräußerlichen Recht der Menschen gehört, ihr Glück im Hier und Jetzt zu suchen.27

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17  Lothar Bossle, Zur Soziologie des utopischen Denkens in Europa. Würzburg 1988, S. 65

18  Nikolai Berdjajew, Das Reich des Geistes und das Reich des Cäsar. Darmstadt/Genf 1952, S. 201

19  K. R. Popper, Utopie und Gewalt. In: G. Lührs u.a. (Hg.), Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie. Bonn 1975; ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bern 1973

26 Vgl. Robert Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft. Köln 1987;  Christoph Hennig, Die Entfesselung der Seele. Romantischer Individualismus in den deutschen Alternativkulturen. Frankfurt/New York 1989

27 Roger Garaudy, Revolution als Akt des Glaubens. In: Evangelische Kommentare 6 (1973), nachgedruckt in: Willi Oelmüller (Hg.), Weiterentwicklungen des Marxismus. Darmstadt 1977, S. 274

 

 

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