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11  Sigmar Schollak: Untersuchung einer Ausreise

 

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Es war der 10. August 1982, als ich mitsamt Familie den Grenzübergang Heinrich-Heine-Str. von Ost- nach Westberlin passierte. Eine aus Westdeutschland eigens angereiste Verwandte knipste auf der weißen Trennlinie das privathistorische Foto. Minuten später standen wir im Atelier der Berliner Handpresse, wo schon die Fahnen für ein Buch hingen, und blickten hinüber über das Monster aus Beton auf das Haus, das wir kurz zuvor verlassen hatten.

Wir hatten unseren Willen trotz erheblicher Widerstände durchgesetzt. Egal, wie andere ausgereiste Autoren ihren Schritt begründen, ihre Entscheidung wurde von mir, wurde von vielen nie anders denn als Protest gewertet. Es war ein Protest gegen das reglementierte Wort, aber ebensosehr gegen den argen Wirklichkeitszustand, ohne den, das verstand sich, keine Zensur hätte geschehen müssen. 

In meinem an den Ideologiechef des ZK der SED, Kurt Hager, gerichteten 1. Antrag auf Ausreise schrieb ich darum sehr klar, daß ich mich zerrieben fühlte zwischen dem von mir erlebten Alltag und einer ganz anderen Wirklichkeitsvorgabe durch die Medien. Daß ich unter diesen Umständen nicht mehr schreiben könne.

Die DDR wird nach ihrem Verschwinden oft allzu psychologisierend zum Thema gemacht, Verhaltensweisen werden mit der Goldwaage gewogen. Mir, der ich diese DDR seit ihrer Entstehung kannte, scheint, eine der früher üblichen Kohlenwaagen würde günstiger sein für eine erste Betrachtung. Die DDR war eine Diktatur und besaß das Instrumentarium einer solchen, das sie benutzte oder - und das allein macht einen wichtigen graduellen Unterschied aus - das sie nicht benutzte.

Verhalten konnte sich jeder auch in ihr nach seinem Gewissen: er konnte sich andienen und aufsteigen oder sich unbeliebt machen und fallen oder gar nicht erst herankommen an die Leitersprossen. Er konnte schuldig werden oder nicht. Von ihm hing es ab.

Vor mir liegt eine Akte, eine dürre Akte. Es ist noch nicht die der Gauck-Behörde. Ein Abschnittsbevollmächtigter (wie das so hieß), ein Polizist hatte sie zusammen mit seinem Hauptmann verfaßt, später, als ich einen zweiten Ausreiseantrag stellen mußte. Denn, das fällt mir wieder ein, ich war wohl der einzige Buchautor des ganz realen Unrechtsstaates, dessen Antrag vom Kulturministerium abgeschmettert wurde.

Die Akte: Klatsch, Getratsch über viele Ecken hinweg. Vergröberungen bis hin zu Entstellungen. Die Auskunftspersonen (APs), bis auf eine im Haus, dem Stasi-Mann, mir sämtlich nicht einmal vom Sehen bekannt, Parteigruppenvorsitzender im Wohnbezirk und ähnliche Leute.

Das Lesen wird zum Puzzle. Erneut fällt auf, es gibt Angaben, die darauf schließen lassen, daß noch anderes Material über meine Frau und mich vorlag, als das nun vom abschnittsbevollmächtigten Unterleutnant gesammelte. Wann war es entstanden und woraufhin ?

Ich puzzle. Ich rekonstruiere die Vorgeschichte dieser Akte. Ich sehe mich den Antrag schreiben. Ich bin kein Held. Ich will vorsichtig sein. Ich kenne die DDR, heißt, ich kenne ihre Methoden. Jeder kennt sie. Jeder weiß. Ich weiß es recht gut. Einmal, in den sehr frühen fünfziger Jahren, hatte mein Vater, vorher von den Nationalsozialisten verfolgt, geäußert, es gäbe in der DDR keine freien Wahlen. Man hatte ihm die Verfolgtenrente entzogen und ihn mit Verhaftung bedroht. Um sich zu retten, war er in den Westen gezogen (wo man ihm die bisher gehabte östliche Rente, versteht sich oder versteht sich nicht, von der Wiedergutmachung 1:1 abzog). Mir, im Osten, wurde damals ein Studienplatz verweigert.

Ich kenne die DDR. Kannte ich die DDR wirklich? Wir können auch anders, hatte ein mir vom Schriftstellerverband unter Kant zugesandter Stasi-Mann gesagt, leichthin, so daß ich glauben konnte, er meine nicht mich. 

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Später, im Westen, im Auffanglager, hörte ich Berichte von einfachen, viel zu wenig interviewten Leuten, die mir erzählten, was so alles verübt wurde: wie man Ehen, wie man Gesundheit, wie man Gemüter zerstörte, einfach aus einem Machtwillen heraus, der keinen Widerspruch duldete. Was ich vernehme, erinnert an die Schäbigkeit übler Groschenhefte

Kurz darauf beobachtete ich die Ankunft einer Gruppe Spastiker, die man gleich anderen Behindertengruppen vorher zum Umzug in den Westen überredet hatte. Warum? Um in der Weltstatistik als Land guter Gesundheit dazustehen.

Kannte ich diesen Staat wirklich? Hatte ich nicht genau hingesehen? So ungenau wie viele Westjournalisten? So wie manche bundesrepublikanischen Politiker, die die schwierige Balance auf dem schmalen Grat der notwendigen Verständigung nicht hielten und mit ihren sich häufenden Pilgerfahrten zum DDR-Staatsrat hin einem Ohnmachtsgefühl förderlich wurden? -

Nein, das nun nicht. Ich überprüfe mich. Von meiner Hoffnung nach der Nazizeit bis zu meinem Bruch mit dem unfriedlichen Friedensstaat gab es eine Entwicklung von Erkenntnissen bis zur Abneigung, bis zu dem Wissen: Die DDR war ein zum Westen hin umgänglich erscheinender Vorposten des Gulag.

«Schollak», lese ich in dem Ermittlungsbericht, «wird als freundlicher, jedoch zurückhaltender Typ charakterisiert.» Das betrifft das Private. Ich frage mich dennoch: Und darüber hinaus?

Die DDR, das wird klar, schuf sich die Verärgerten selbst. Ein abgelehntes Studium, ein zum Druck nicht zugelassenes (gar nicht einmal schlimmes) Buch, grobe Angriffe auf andere in der Presse zwangen zum Protest. Dann das Aufbegehren gegen die Aussperrung Biermanns (in dessen Folge ich eine Buchauszeichnung nicht annahm).

Freundlich warst du nicht, sage ich mir, aber du warst dennoch zu freundlich. Ich halte für mich fest, ich bin manchem Ärger ausgewichen. Der Tropfen, der das Faß dann zum Überlaufen brachte, war das Ausschlußverfahren gegen Kollegen aus dem Schriftstellerverband, das darin enthaltene, unausgesprochene Berufsverbot. Es war eine dreiste, beschämende Inszenierung. Der Druck auf die Versammelten, die triumphierende Lüge - für mich gab es nur eine Antwort. Nach Regelung von Privatem schrieb ich das Ausreisegesuch. Es war meine Form des Protests.

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I

Sie machte mich frei von Gewissensbissen wie Zwängen.

Kannte ich die DDR ?

 

Nur Erfahrung, glaube ich, führt zu wirklicher Kenntnis. Vom Grobinstrumentarium hatte ich gehört, von der Verfeinerung nicht. Ich wurde nicht verhaftet. Es geschah nur nichts. Ich. schrieb zwingender an das ZK-Büro, telefonierte. Ich schrieb: «Über meinen Rücken nicht noch mal die deutsche Geschichte.» Ich sandte den Brief ab. Keiner kam zurück. Ein halbes Jahr geschah nichts, ein sehr lang währendes halbes Jahr. Zeit genug, um Informationen zu sammeln. Dann kam Bescheid: Der Chefideologe des ZK der Partei gab meinen Antrag an den für Autoren zuständigen Teil des Kulturministeriums weiter, dem Klaus Höpcke vorstand, der stellvertretende Minister und jetzige Landtagsabgeordnete Thüringens. Umgehend erhielt ich einen Gesprächstermin. Ein Mann empfing mich, der Mitarbeiter Höpckes, Dr. Richard M.

«Zum Motiv der Antragstellung», lese ich in diesem späten Ermittlungsbericht, «wurde direkt nichts bekannt.» Ebenfalls lese ich die Vermutung, daß meine Frau «der treibende Keil» meines Ersuchens ist. Zwei ganz normale, berichtende Sätze. Beim zweiten fällt eine Schuldzuweisung auf und das sich hier seltsam ausnehmende Wort «Keil». Beim ersten Satz wäre über das Wort «direkt» zu stolpern. Von beiden Sätzen weiß ich nichts, als ich das Kulturministerium, Hauptverwaltung Buchhandel und Verlage betrete. (Die eigentlich treffende Bezeichnung «und Zensur» ist ausgespart.) 

Ich kenne den Dr. M. von mehrmaligem Sehen. Die Begrüßung ist freundlich. Eine Unterhaltung läßt sich an. Mein Antrag scheint relativ geringgewichtig, ähnlich dem Ersuchen mancher vor mir gegangener Autoren. Plötzlich dann die Frage nach dem Grund, die, wird gesagt, auch der Minister Höpcke gern beantwortet wüßte. Die Freundlichkeit enttarnt sich. Intuitiv weiche ich ins sehr Allgemeine aus. 

Da mein Ausreiseantrag hierher überwiesen war, war die Begründung es auch. Wieso da die Frage? Was bezweckte sie? Nach Möglichkeit wollte ich keine Diskussion über die Staatsverlogenheit. Im Detail lag der Teufel der Staatsverleumdung, verbargen sich die üblen Paragraphenschlingen. Einem, der den Begriff Gestapo nicht erst aus Geschichtsbüchern kennt, haftet die Vorsicht im Hinterkopf. Ich redete das, was ich danach Slalom nannte.

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«Sie und Ihre Frau erhalten die Ausreise», sagte nach einer Weile der wissenschaftliche Mitarbeiter des Ministers Höpcke. «Wegen Ihrem achtjährigen Sohn müssen Sie sich an das Volksbildungsministerium von Margot Honecker wenden.»

Das Gespräch war beendet. Ich war verblüfft. Ich suchte nach dem Haken. Das alles ging mir plötzlich zu einfach.

Allein, der Haken war mir gewiesen worden. Meine Frau und ich hatten die Ausreise versprochen erhalten, unser Sohn hatte sie nicht. Ich wollte nicht glauben, daß man mir, einem, wie Höpcke ja wußte, bereits vom NS-Regime Geschädigten, mit der möglichen Kindesentziehung drohte.

Das Volksbildungsministerium meldete sich nicht. Wieder das Wartespiel.

Irre ich mich, wenn ich gewisse Inhalte der späten, dürren Akte einer anderen früheren zuordne, die entstanden sein muß, während mein Ausreiseersuchen bei Kurt Hager lag? Ich stoße auf mein Psychogramm und auf das meiner Frau. Die Charakterisierungen sind extrem, auf Differenzierungen wurde keine Mühe verwandt.

Ich würde mich nicht so sehen, ich würde meine Frau so nicht sehen. Zum Beispiel hat meine Freundlichkeit durchaus ihre Grenzen, und das meiner Frau attestierte klare Durchsetzungsvermögen leider auch. Maßlos übertrieben, ja, ins Tratschhafte gebracht, will uns der Bericht über unser Verhalten zu unserem Kind erscheinen. Und warum, frage ich mich, da Schlimmes nicht zu berichten war, hat man sich so eingehend damit befaßt ?

Ich lese: «Die Frau legt bei der Erziehung des Kindes besondere Strenge an den Tag, während der Vater seinem Jungen jeden Willen erfüllen will. Er soll abgöttisch in ihn vernarrt sein und versucht, ihn zu einem Musterknaben zu erziehen.»

Etwas ist meist an allem, auch an der Verzerrung. Wir hingen an dem Kind und versuchten, es weder mit besonderer Strenge noch mit närrischer Zuneigung zu erziehen (wobei, altes Rollenverhalten, die eine mehr, der andere weniger erzog). Aber wir hingen an dem Kind. Das war registriert. Es war dieser Strang, der von Höpckes Literaturministerium bedient wurde.

Ich schrieb, ich telefonierte, uns wurde bange. Wir hatten keine Arbeit und kaum noch Geld. Ich schrieb an höchste Stellen. Antwort blieb aus. «Es bleibt bei dem, was gesagt wurde», erklärte Dr. M., Höpckes Mitarbeiter. «Sie müssen warten.»

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Es war klar, ich sollte aufgeben. Ich war in die Ecke gedrängt. Lese ich mein Psychogramm, so merke ich, daß ich mehrere Angriffspunkte bot. Sie werden in der Akte durch in Möglichkeitsform gebrachte Unterstellungen erkennbar, selbst durch die freundlich ausweichenden Auskünfte von Hausbewohnern, daß man ja kaum Gelegenheit bekam, unsere Wohnung zu betreten. Wie benutzbar jeder Hinweis ist, hätte ich nie gedacht. Jetzt erst lernte ich die DDR kennen, den ihr innewohnenden Geist, die enge Verwandtschaft mit totalitären Methoden, wie ich sie schon einmal kennengelernt hatte. Ich bedauerte jeden Kompromiß, den ich je geschlossen hatte. Ich schrieb an ausgewählte Kollegen. Ihnen schilderte ich meinen Fall. «Der Minister möchte wissen», fragte Dr. M., «was Sie damit bezwecken ?» Der Minister im Hintergrund, der an den Fäden zog.

Wer immer diesen Strang der Beziehung zwischen Eltern und Kind zu benutzen vorgeschlagen hatte, hatte sich auf das Gedankengleis von Faschisten begeben. Aber er hatte auch zu sehr auf die im Psychogramm geschilderte Freundlichkeit und «Weichheit» meines Naturells gebaut.

Ich ging zu den Korrespondenten von ZDF und dpa. «Ihr Fall ist politisch», höre ich Dr. M., dessen Name seitenweise das Telefonbuch füllt, «damit haben wir nichts zu tun.» Er hing den Telefonhörer ein.

Einmal, zwischendurch, hatte ich Hoffnung auf baldigen Fortgang. Obwohl also noch auf dem Boden der DDR, versuchte ich in einem Schreiben an den damaligen Minister - und heutigen Landtagsabgeordneten in Thüringen -, die Möglichkeit einer späteren besuchsweisen Wiedereinreise zu sichern, um nahe Verwandte sehen zu können. Und Höpcke antwortete, Höpcke schrieb:

«Bitte verschonen Sie uns mit neuen Sonderwünschen. Wer der sozialistischen Gesellschaft - sachlich unbegründet - vorwirft, daß er in ihr nicht mehr schöpferisch arbeiten könnte... dem sollte, wenn er das wirklich selber glaubt, die zugesagte Regelung genügen.»

Es gab keine Regelung. Sie war eine Lüge. Ich vergegenwärtige mir den Zeitpunkt, zu dem das alles geschah: Die DDR hatte eine Anzahl von Autoren aus dem Staat entlassen und ungewollt einen Anklang an 1933 evoziert. 

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Nun sollte Beruhigung eintreten, Ruhe, Stille. In diesen Zeitpunkt hinein war mein Antrag gefallen. Sollte ein Exempel statuiert, ein Zeichen gesetzt werden? Es gab auch ein einziges Telefonat mit Klaus Höpcke. «Das Volksbildungsministerium», sagte er, « hat geschrieben, wir entscheiden nicht. - Wir haben darunter gesetzt: Wir auch nicht.»

«Heißt das Nein für die Ausreise?» - «Ich würde das so nehmen.» - «Dann schreiben Sie es», sagte ich.

Aber er schrieb es nicht.

Wir hätten uns trennen müssen von unserem Sohn, trennen oder bleiben, jetzt als Gegner bekannt.

Wenig später gingen wir zu dem Anwalt Vogel, der uns unseren Antrag zeigte, die angeblich unbekannte Begründung mit vielen Rotstrichen am Rand. «Da haben Sie sich allerhand geleistet», sagte er. Sagte: «Stellen Sie einen neuen Antrag an den Rat Ihres Stadtbezirks. Stellen Sie ihn unprovokativ. Weisen Sie darauf hin, daß Sie beide die Ausreise schon haben. Ersuchen Sie um Entlassung aus der Staatsbürgerschaft.» Was geschah.

«Demonstrativ provokatorische Handlungen sind bei beiden Ehepartnern im Falle einer Ablehnung im Augenblick wahrscheinlich nicht zu erwarten», lese ich in der daraufhin entstandenen dürren Polizeiakte. «Möglich wäre die Aufnahme von Kontakten über Dritte zu Organisationen in der BRD/Berlin (West), um so Druck ausüben zu wollen.»

Aber da war ich längst schon und ostentativ oft zu den westlichen Korrespondentenbüros gegangen, die gegenüber dem Höpcke-Mini-sterium ihren Sitz hatten. Schon um gesehen zu werden, um zu zeigen, daß ich nicht einlenken würde.

Nach nunmehr nur noch sechs Monaten reibungslosen Verlaufs der Dinge geschah das Bürokratisch-Kuriose: Auf dem Boden der DDR fand ein Kompromiß, fand gewissermaßen die vorauseilende Zusammenführung von Eltern mit dem Kinde mit Bezug auf die beid-staatlich vereinbarte Familienzusammenführung statt.

Zurück blieb die Akte mit Tratsch und Klatsch, zurück blieb der Schreibtischtäter Klaus Höpcke samt Paladin. Ich, mit Familie, durfte jedoch gehen. Gefragt warum, müßte ich zur Vermutung greifen. Die DDR, wo es nur anging, scheute Öffentlichkeit. Man vermied kein Unrecht, aber die Kunde davon. Die Partei war traditionell konspirativ geblieben. Weitere Unruhe um Autoren sollte vermieden werden. Ich störte die Absicht. Darum, und bürokratisch-trickreich, ließ man mich - wenn auch nicht über das Kulturministerium - schließlich ziehen. 

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