Start   Weiter

12  Hubertus Knabe:   

Akteneinsicht eines Westdeutschen

  H.Knabe bei detopia  

 

I  «Wer ist wer?» 1)

 

«Beim MfS liegen Erkenntnisse vor, daß der BRD-Bürger

Knabe, Hubertus

geboren am: 19. 7.1959 in Unna 
wohnhaft: Lübecker Str. 19, Bremen 1 / BRD, 2800

im Juli 1987 seinen Studienaufenthalt in Budapest/Ungarische Volksrepublik beendet hat. Er arbeitet zur Zeit an einem vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen der BRD finanzierten Forschungsprojekt zu Problemen der Umweltbelastungen und in diesem Zusammenhang geführten Diskussionen in den sozialistischen Ländern (einschließlich Deutsche Demokratische Republik und Ungarische Volksrepublik), insbesondere in Kreisen der inneren Opposition.

KNABE steht der Partei der <Grünen> nahe. Er trat in der Vergangenheit als Vertreter des «Sozialistischen Osteuropa-Komitees» mit der Einschleusung antisozialistischer Literatur in die DDR in Erscheinung und unterhielt Kontakte zu Vertretern der sogenannten unabhängigen Basis- und Friedensgruppen.

Desweiteren steht KNABE in Verbindung mit dem «Europäischen Netzwerk für den Ost-West-Dialog», arbeitet als freischaffender Journalist für die <taz> (Tageszeitung/WB1) und tritt als Referent zu <DDR-Forschertagungen> mit antisozialistischen Beiträgen in der BRD auf.»

(Aus einer Information des Ministeriums für Staatssicherheit an den ungarischen Geheimdienst vom 13.6.1988*)

 

1)  Schlüsselfrage, deren Klärung das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit rückte.

229


II Akteneinsicht

In der DDR habe ich nie gelebt. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hat mich gleichwohl seit meinem 19. Lebensjahr «operativ bearbeitet». Im Juni 1979 erfaßte mich die für die Kirchen zuständige Hauptabteilung XX/4 zum erstenmal in einem «Operativ-Vorgang» (OV) als Feindperson. Ins Visier gebracht hatte mich der Inoffizielle Mitarbeiter (IM) «Klaus» - noch bevor ich ihn überhaupt kannte.

Was das MfS im Laufe eines Jahrzehnts über mich gesammelt, was es angeordnet und unternommen hat, um mich «aufzuklären», zu «beeinflussen» und zu «zersetzen», ist mir bislang nur in Umrissen bekannt geworden. Die Ordner und Hefter, die im zentralen MfS-Archiv in der Normannenstraße über mich gefunden wurden, sind schmal und wenig bedeutsam: Eine 121 Seiten starke Akte eines Operativ-Vorgangs mit dem Decknamen «Kleber» (Reg.-Nr. XV/3035/ 79); zwei dünne, ungeordnete Handakten aus der Allgemeinen Personenablage mit Materialien über die ungarische Friedensbewegung und einer mich betreffenden Korrespondenz zwischen osteuropäischen Geheimdiensten und dem MfS (Reg.-Nr. AP 6396/82); schließlich vereinzelte Schriftstücke zu meiner Person, die in den Akten anderer Betroffener aufgetaucht sind. 

Bruchstücke aus dem großen Laboratorium der Staatssicherheit, die im Archiv wahrscheinlich übersehen wurden, als Oberst Wiegand die Unterlagen seiner Abteilung dem Reißwolf überantwortete.

1)  West-Berlin
2)  Die zitierten Dokumente werden im Folgenden unverändert, also einschließlich ihrer orthographischen, grammatikalischen und sonstigen Fehler wiedergegeben.

230


Zu den wichtigsten Stationen meiner politischen Biographie fehlt bislang das Aktenmaterial: die Aktivitäten im Bahro-Komitee und im Sozialistischen Osteuropakomitee Ende der siebziger Jahre; die Auftritte in der Friedensbewegung, nachdem ich (unter Pseudonym) das Buch «Schwerter zu Pflugscharen» geschrieben hatte; die Beratung der ersten Bundestagsfraktion der Grünen und ihres damaligen deutschlandpolitischen Sprechers Dirk Schneider; die Kontakte zu osteuropäischen Oppositionellen und die Zusammenarbeit mit Dieter Esche, Hans Hücking, Elisabeth Weber und anderen in der Ost-West-Arbeit Engagierten; die Mitarbeit beim Aufbau der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen und bei den jährlichen DDR-Forschertagungen in Bonn; mein zweijähriger Forschungsaufenthalt in Ungarn, den das MfS zum Anlaß nahm, einen «zuverlässigen» IM für mehrere Monate dorthin zu entsenden; meine Zeit an der Evangelischen Akademie in West-Berlin, als meine kritische Haltung zur DDR im Kollegenkreis und im Umfeld der Akademie massive Widerstände auslöste.

Die Schriftstücke, die ich bislang gesehen habe, lassen gleichwohl erahnen, wie weit der Einfluß des MfS auf mein immerhin zum größten Teil fernab von der DDR geführtes Leben reichte. Vor allem den zusammenfassenden Berichten, die das MfS an den ungarischen Geheimdienst sandte, ist zu entnehmen, daß mich das MfS die meiste Zeit mit seiner unerbetenen Fürsorge begleitete. Die Quellen der oftmals sehr detaillierten Informationen bleiben in diesen operativen Hinweisen allerdings undeutlich - welche Maßnahmen und Schlußfolgerungen das MfS für sich daraus ableitete, wird gar nicht mitgeteilt.

Andere Westdeutsche haben noch weniger zu Gesicht bekommen - leere Aktendeckel, zwei oder drei lose Blätter mit unbedeutenden Informationen. Wahrscheinlich war es mein «Vorteil», daß mich die Kirchenabteilung des MfS «bearbeitet» hat und nicht die für Auslandsspionage zuständige «Hauptverwaltung Aufklärung» (HV A). Diese hat sich bekanntlich - einem Beschluß des Zentralen Runden Tisches folgend - selber aufgelöst und ihre Aktenbestände fast vollständig vernichtet; Kopien lagern wohl in Moskau.

231


In den nächsten Monaten und Jahren, davon ist freilich auszugehen, wird weiteres Material ans Tageslicht kommen. Als das MfS gestürmt und aufgelöst wurde, befand sich nämlich ein Großteil der «aktiven» Unterlagen in den Diensträumen, Material, das erst jetzt nach und nach erschlossen wird; Kopien relevanter Schriftstücke gingen nicht nur an andere Diensteinheiten, sondern finden sich häufig auch in verschiedenen Operativ-Vorgängen wieder. Selbst prominente Inoffizielle Mitarbeiter, deren Arbeitsakten vollständig vernichtet wurden, sehen sich mit einer erdrückenden Beweislast konfrontiert, wenn man nur lange genug sucht.

Einfacher wäre es freilich, wenn die Täter - Hauptamtliche und Inoffizielle - von sich aus ihr Schweigen brächen. Wenn sie endlich dem Leben in der Lüge ein Ende setzten.

 

III   Mädchen aus Ostberlin

 

Es war im Jahr 1979. Ein westdeutscher Student kommt in Kontakt mit kritischen Leuten in der DDR und verliebt sich in eine junge Theologie­studentin. Beide neigen zur Rebellion und stoßen sich an den Opportunisten in ihrer Umgebung. Die politischen Vorzeichen für ihre Haltung sind freilich auf paradoxe Weise verkehrt: Für ihn sind Marx, Engels und Lenin die Leitbilder des Aufbegehrens, für sie sind es die Kirche und das Christentum. 

Wenn sie sich nicht in den Armen liegen, streiten sie über das «Opium für das Volk», über Sozialismus, Kapitalismus und über den Wert der Bibel. So lange, bis sie überstürzt zum Grenzübergang aufbrechen müssen; seine Aufenthaltsgenehmigung läuft um 24 Uhr ab.

Nur in einem Punkt finden sie einen gemeinsamen Nenner: in Rudolf Bahro und seinem Buch «Die Alternative», das den real existierenden Sozialismus mit seinem eigenen theoretischen Instrumentarium kritisiert. Sie gehört in der DDR einem Kreis an, der über das Buch und die Möglichkeiten, es in die Praxis umzusetzen, ausführlich diskutiert hat. Er war beim 1. Bahro-Kongreß im November 1978 in West-Berlin und gründete in Bremen ein Komitee zur Freilassung des Inhaftierten. 

232


Als sie sich kennenlernen, schmuggelt er Bahros Buch im Stiefel über die Grenze, später auch eine Handvoll Aufkleber und einige Broschüren. Als besonders sicheres Versteck erweist sich sein schwarzer Mantel, dessen Innentasche eingerissen ist, so daß man relativ unbemerkt das eine oder andere darin verschwinden lassen kann.

Initiator des Bahro-Kreises (Ost) ist der Pfarrer Frank Rudolph, damals 40 Jahre alt, mit wallendem Bart und politischem Charisma. Seinen Schreibtisch ziert ein Foto Bahros, seine Bücherregale verraten den belesenen Intellektuellen. Er spricht viel von Hegel und Marx und hat für seine Kirchenleitung wenig freundliche Worte übrig. Er ist voll Tatkraft und immer ein interessierter Zuhörer. Im Vorjahr hat er einige Ost- und Westdeutsche zu einem Bahro-Seminar eingeladen, darunter auch die junge Theologiestudentin. Die Freundschaft zwischen ihm und ihr erweitert sich zu einem oppositionellen Dreigestirn, als der Student aus Westdeutschland hinzustößt.

In dieser Zeit erscheint in der DDR der vierte Band von Rosa Luxemburgs Gesammelten Werken und ist im Nu vergriffen. In kirchlichen Kreisen zirkuliert ein vervielfältigtes, schwer leserliches Papier mit Auszügen aus ihrer messerscharfen Kritik der russischen Revolution. Auch der berühmte Satz: «Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden» fällt darin. Der Student aus Westdeutschland sucht ein Satzbüro und eine Druckerei auf, um den folgenden Aufkleber drucken zu lassen:

«Lieber Herr Honecker!

Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegenen Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobinerherrschaft.

Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weih-

233


nachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus.

Rosa Luxemburg, Mitbegründerin der KPD»

 

So harmlos die Kritik, so offenkundig die Konsequenzen, die sie haben würde, sollte die Aktion bekannt werden. Kein Wort dringt über die Lippen der Beteiligten - zehn Jahre lang. Die Angst freilich ist groß. Ist dem Drucker zu trauen ? Wie sollen die Zettel geklebt werden, ohne daß Rückschlüsse auf die Urheber möglich sind ? Als der Student aus Westdeutschland eines Tages atemlos in der Wohnung seiner Freundin anlangt und berichtet, ein Mann habe ihn verfolgt, lacht sie ihn noch aus. Doch dann hat sie plötzlich das Gefühl, daß in ihrer Abwesenheit jemand in der Wohnung war. Eine Handvoll Aufkleber, die unbemerkt in dem Mantel die Grenze passiert haben, werden dem Pfarrer zur Verwahrung übergeben. Als sich die Lage zuspitzt, verbrennt er sie.

 

IV  Operativ-Vorgang «Kleber»

 

Akteneinsicht in der Ostberliner Behrensstraße. Ein flaues Gefühl in der Magengegend begleitet mich seit dem Aufstehen. In der Nacht habe ich geträumt, wie die Damen im Lesesaal einen ein Meter langen Zinksarg, randvoll gefüllt mit Akten, vor mir abstellten. Statt dessen bekomme ich einen schmalen, braunen Aktenordner mit dem Decknamen «Kleber» ausgehändigt. Ich überfliege das Inhaltsverzeichnis und schlage als erstes auf den «Auszug Treffbericht IM <Klaus> vom 18.6.1979»:

«Auf unsere Bitte schilderte der IM nochmals den ihm bekanntgewordenen Sachverhalt.

Am 9. 6. 79 bei seiner Geburtstagsfeier habe ihn Anette unter 4 Augen gebeten, die Person Hubertus KNABE, 28 Bremen, Isarstr. 43 Telefon: 501436 anzurufen und auszurichten, daß er am 16. oder 23.6.79 zu Anette kommen möchte.

234


Am 30. Juni sei der 2. Jahrestag der Verhaftung von Rudolf Bahro. Aus diesem Anlaß würde das Bahro-Komitee, wozu der Knabe gehöre, im Westen einen Kongreß planen.

K. würde nun hierher kommen, Material und speziell diese Schnellklebezettel mitbringen.

Auf die Frage, wie das geschieht, habe Anette erklärt, daß K. bei seinen Einreisen schon oft einschließlich von Leibesvisitationen kontrolliert worden sei, aber seinen Mantel habe man nie untersucht. Darin seien diese Schnellklebezettel eingenäht.

Nach Einschätzung des IM sind die o. g. Angaben von ANETTE BUCHE ernst zu nehmen.»

Beim vorangegangenen Treff hatten der IM «Klaus» und sein Führungsoffizier Peter Heinrich bereits vereinbart, daß der IM mich, wie erbeten, für den 23. Juni 1979 nach Berlin bestellen solle. Diesmal fertigt der IM eine Skizze von Anettes Wohnung an, liefert eine detaillierte Personenbeschreibung und berichtet, wann sie längere Zeit abwesend wäre und wer über einen zweiten Schlüssel verfüge. Führungsoffizier Heinrich verfaßt eine «Operative Information über Hinweise zu geplanten staatsfeindlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem sog. Bahro-Kongreß» :

«Inoffiziell wurde der HAXX/4 aus zuverlässiger Quelle bekannt, daß der BRD-Bürger

Knabe, Hubertus

wh.: 28 Bremen, Isarstr. 43

(z. Z. erfaßt für BV Dresden, Abteilung XV1)

feindliche Aktivitäten plant.

Knabe ist Teilnehmer des am 30.6.1979 in Westberlin stattfindenden «Bahro-Kongresses». In diesem Zusammenhang beabsichtigt er, im Zeitraum vom 16.6. 79 - 30. 6. 79 in die Hauptstadt der DDR einzureisen. Bei der Einreise beabsichtigt K. Schnellaufkleber mit dem sinngemäßen Text «Freiheit für Bahro» illegal einzuschleusen. (...)

1 Offensichtlich war ich bei der Dresdener Bezirksverwaltung (BV) der Staatssicherheit bereits erfaßt - durch die für Auslandsspionage zuständige Abteilung XV wegen einiger Reisen zu Verwandten in Dresden.

235


K. hat die Absicht, diese Schnellaufkleber (Größe und Format z. Z. nicht bekannt) in seinem Mantel eingenäht über die Grenze zu transportieren und an die DDR-Bürgerin

Buche Annette

geb.: 24.4. 53 in Falkensee (Ledig 1 Kind)

wohnhaft: Berlin-Pankow, Retzbacher Weg 76

Tätigkeit: Theologiestudentin an der Humboldt-Universität Berlin

(erfaßt für BV Berlin, Abt. XX1)

zu übergeben. (...)

Die B. unterhält aktive Verbindungen zu Personen und Gruppen, die sich mit der Diskussion und der Verbreitung von «Bahro-The-sen» befassen. (...) Gemeinsam mit den genannten BRD-Bürgern nahm die B. an konspirativen Treffen zwischen DDR-Bürgern in der DDR und in der CSSR teil. Bei diesen Treffen wurden Möglichkeiten und Wege zur Schaffung einer inneren Opposition in der DDR diskutiert, (siehe dazu die als Anlage beigefügte operative Information2).

Inoffiziell wird die B. als aktive Anhängerin und Verbreiterin der Ideen von Bahro eingeschätzt. Sie gilt als intelligente Studentin mit verfestigter negativer Haltung zur sozialistischen Entwicklung in der DDR. (...)

Zur Verhinderung der geplanten feindlichen Aktivitäten wurden folgende Maßnahmen eingeleitet:

1. Mit BV Dresden, Abt. XV, erfolgt Rücksprache zur Klärung des Erfassungsverhältnisses (KK für BV Dresden)3.

Die Person K. wird von der BV Dresden zugunsten der HAXX/4 gelöscht. Vorhandenes Material wird übersandt.

2. Bei der HA VI4 wurde am 15. 6. 79 Einreisefahndung in die Hauptstadt der DDR mit Zollkontrolle eingeleitet.

1 BV = Bezirksverwaltung; Abt. XX: zuständig für Staatsapparat, Kirche, Kunst, Kultur, Opposition).

2 Die «Operative Information», die dem OV «Spaten» entnommen wurde, schildert auf sieben Seiten detailliert den Diskussionsverlauf während eines Bahro-Seminars von Ost- und Westdeutschen 1978 in Neuschadow/Kreis Lübben.

3 KK = Kerblochkartei; in dieser Kartei wurden alle «auffälligen» Personen registriert.

4 HA VI = Hauptabteilung VI des Mf S, zuständig für alle Aufgaben bei der Paßkon-

236


3. Bei Bestätigung des Verdachts wird K. zur Untersuchung des Sachverhaltes der HA IX1 zugeführt.

4. Speicherüberprüfung zur weiteren Personenfeststellung2.

5. Eröffnung eines OV nach § 106 gegen Knabe.3»

Bestätigt werden die Maßnahmen von Mielkes Stellvertreter, Mittig. Darüber hinaus ergeht ein Beobachtungsauftrag an die HA VIII4. Fahndungs-Nr.: 244787. Begründung: «Objekt steht im Verdacht der Kuriertätigkeit für eine Feindorganisation. Durch die Beobachtung sollen weitere Hinweise zu Anlaufstellen, sowie zu seinem Verhalten erarbeitet werden.» Mit IM Klaus wird festgelegt: «Zur Abschöpfung evtl. Reaktionen von Anette auf die von uns geplanten Maßnahmen zu KNAB E wird der IM für den 25. 6. 79,7.30 Uhr seinen Besuch bei ihr ankündigen (IM ist als Frühaufsteher bekannt). Zuvor, gegen 7.00 Uhr, wird mit dem IM ein Kurztreff durchgeführt.»

Anders als erwartet, kommt es zu keiner Festnahme am Grenzübergang. Die HAXX/4 erhält auch keine Nachricht von dort. Da IM «Klaus» jedoch mitteilt, die «feindliche Person» sei wie geplant am 23.'Juni eingereist, stellt Oberleutnant Heinrich die Fahndungsleitstelle zur Rede. Diese teilt daraufhin mit: «Da in den Personalunterlagen des Fahndungsobjektes vom Fahndungsauftrag abweichende Wohnanschriften verzeichnet waren, wurde durch die PKE GüSt5 Bahnhof Friedrichstraße entschieden, die Einreise der betreffenden Person der HAXX/4 nicht mitzuteilen.» Glück gehabt.

trolle und der Fahndung im grenzüberschreitenden Verkehr. Die Einreisefahndung wurde eingeleitet wegen des Verdachts des «illegalen Einschleusens von Hetzmaterial»; die Grenzorgane wurden angewiesen, eine Durchsuchung von Person und Gepäck vorzunehmen und im Falle meiner Einreise die HAXX/4 sofort zu benachrichtigen.

1 HA IX = Hauptabteilung IX, zuständig für strafrechtliche Untersuchungsverfahren mit politischem Hintergrund.

2 Die Abteilung Speicherführung der Hauptabteilung VI lieferte daraufhin eine Liste all meiner Einreisen in die DDR.

3 Am 22. Juni 1979 bestätigte der Leiter der Hauptabteilung XX/4, Joachim Wiegand, den Beschluß, einen Operativen Vorgang mit dem Decknamen «Kleber» wegen des Verdachts auf Verstoß gegen den Paragraphen 106 des Strafgesetzbuches der DDR («Staatsfeindliche Hetze») anzulegen.

4 Hauptabteilung VIII, zuständig für Observation und Festnahmen.

5 PKE GüSt = Paßkontrolleinheit Grenzübergangsstelle.

237


Am 19. Juli 1979 schreibt Oberleutnant Heinrich einen «Eröffnungsbericht zum Anlegen eines Operativ-Vorganges gemäß § 106 StGB», den der Leiter der HAXX/4, Joachim Wiegand, mit dem handschriftlichen Zusatz versieht: «M-Plan vorlegen. T. 15.8.79»1. Wiegand ist es auch, der am 30. August 1979 die Abteilung M2 mit der «Einleitung einer Sonderkastenleerung» beauftragt, was der Dienstanweisung Nr. 3/85 zufolge bedeutet: «Sicherstellung von Postsendungen, die von observierten Personen in Briefkästen eingeworfen bzw. an Postschaltern ausgeliefert werden, durch außerplanmäßige Leerungen von Briefkästen.» Darüber hinaus werden auf 25 Seiten die Pässe zahlloser Westdeutscher dokumentiert - Fahrer und Mitfahrer auf der Transitstrecke all meiner Reisen nach Berlin.

Die Hauptabteilung VIII nimmt auftragsgemäß die Beobachtung auf. Elf Seiten umfassen ihre Observationsberichte, denen konspirativ erstellte Fotos mit handschriftlichen Erläuterungen beigefügt sind. Verdacht habe ich nur ein einziges Mal geschöpft - wie aus dem folgenden Beobachtungsbericht hervorgeht:

«Betr. Knabe, Hubertus - geb. 19.07.1959 in Kuna/BRD

Wohnhaft 28 Bremen, Isarstraße 43

Decknamen «244787»

Für die Zeit vom 21.10.1979, 09.25-09.58 Uhr

09.25 Uhr wurde «244787» nach Verlassen der Güst Bhf. Friedrichstraße zur Beobachtung aufgenommen. Er verließ durch die obere Bahnhofshalle - Ausgang Fußgängerschutzweg - den S-Bahnhof und betrat ihn sofort wieder durch den Eingang am Taxistand. Die zu beobachtende Person rannte die Treppe zum S-Bahnsteig hinauf und stellte sich sofort hinter das Häuschen der Zugabfertigung/ Auskunft. Während dieser gesamten Wegstrecke schaute er sich des öfteren intensiv um.

09.33 funr «244787» mit einer S-Bahn zum Alexanderplatz. Den S-Bahnhof Alexanderplatz verließ das Objekt durch den Ausgang Karl-Liebknecht-Straße, überquerte sich des öfteren umschau-

 

1)  Maßnahmeplan vorlegen. Termin: 15.8.79.
2)  Die Abteilung M des MfS war zuständig für die Postkontrolle

238


end den gesamten Alexanderplatz und betrat die U-Bahn durch den Eingang Selbstbedienungsgaststätte, Hotel «Stadt Berlin». Die gesamte Wegstrecke war wenig belebt.

09.42 fuhr «244787» mit einer U-Bahn bis Pankow-Vinetastr. Den U-Bahnhof verließ er im Laufschritt, wobei er seinen Anorak unter dem Arm trug, durch den Ausgang zur Straßenbahn.

Die zu beobachtende Person ging schnellen Schrittes über Berliner Straße zum Busbahnhof und stellte sich hier so hinter eine Hecke, daß er nicht gesehen wurde. «244787» ließ alle ihm nachfolgenden Personen vorbeigehen und begab sich anschließend normalen Schrittes zur Binzstraße. Die zu beobachtende Person begab sich zügig über die Binzstraße und betrat

09.58 Uhr in

Berlin-Pankow

Binzstraße

die Gartengemeinschaft «Insel Rügen».

Auf dieser Wegstrecke und beim Betreten der Gartenanlage schaute sich «244787» wiederholt um. Das gesamte Verhalten des Objektes wird als Kontrolle eingeschätzt.

Die Beobachtung von « 244787» wurde beendet.» Im Klartext: Ich hatte meinen Verfolger abgeschüttelt.

Am 4. September 1979 wird in der Hauptabteilung XX/4 eine erneute «Operative Information» verfaßt, in der der Sachstand des Vorgangs vorläufig zusammengefaßt wird:

«Durch einen zuverlässigen IM, der Kontakt zu dem BRD-Bürger Knabe, Hubertus geb. am 19. 7.1959 in Unna wh.: 1. Mülheim/Ruhr, Rumbachtal 69 2. 28 Bremen, Isarstr. 43

und der DDR-Bürgerin

BUCHE, Anette

geb. am: 24.4.1953 in Falkensee

wh.: Berlin Pankow

hat, wurde festgestellt:

239


KNABE hat von der ursprünglich geplanten Einschleusung von 500 Klebezetteln (selbstklebend) Abstand genommen.

Die bereits in Westberlin gefertigten Probemuster (21) wurden illegal in die DDR eingeschleust und bei der BUCHE deponiert. Durch den IM wurden die Probeexemplare (als Anlage 1 Exemplar) von der Buche zur Aufbewahrung übernommen. Damit ist ein Mißbrauch ausgeschaltet. (...)

Unter dem Einfluß von KNABE hat auch die Theologiestudentin Anette BUCHE (Freundin des KNABE) von dem Vorhaben der Verbreitung der Aufkleber Abstand genommen.»

V Die Koffergeschichte

«Wir brauchen Bücher, wir brauchen Bücher», sagt der Pfarrer mit ausholender Bewegung, als die beiden Liebenden aus Deutschland-Ost und Deutschland-West im September 1979 einige Tage in seinem Pfarrhaus in Herzfelde, Kreis Templin, verbringen. Zu dritt überlegen sie, ob es nicht einen effektiveren und weniger riskanten Weg gibt, Bahros Buch in die DDR zu bringen, als im Mantel oder Stiefel. «Wer die Kontakte hält, darf selber nicht mehr schmuggeln», erklärt der Student aus Westdeutschland, «sonst darf er bald nicht mehr rein». Tatsächlich erhält er einige Wochen später, am 30. Jahrestag der DDR, zum erstenmal für einige Tage Einreiseverbot.

Der Pfarrer schlägt eine Übergabe auf der Transitstrecke vor -doch diese wird mit Sicherheit streng überwacht. Also soll ein Diplomat die Bücher im Kofferraum herüberschaffen. Ein Angehöriger des Westberliner Bahro-Komitees wird um Mithilfe gebeten und kauft für 1000 DM Bücher. Er verstaut sie in zwei Koffern und gibt sie einem Diplomaten mit, der hin und wieder Motorradersatzteile in den Osten transportiert. Abholen soll sie beim Ost-Berliner Empfänger Pfarrer Rudolph, da dieser ein Auto besitzt und am wenigsten gefährdet ist.

In einer dunklen Oktobernacht fährt Frank Rudolph mit seiner Freundin bei der vereinbarten Anschrift vor. Er bestellt einen schönen «Gruß von Jochen» und erhält tatsächlich die beiden Koffer aus-

240


gehändigt. Er bringt sie in sein Pfarrhaus, wo sie eine Zeitlang lagern sollen, bis sich die Dinge etwas beruhigt haben.

Als die beiden Liebenden darauf drängen, allmählich an die Verteilung zu gehen, zögert der Pfarrer. Er sei, erklärt er, durch die Verhaftung eines Freundes ohnehin gefährdet; die beiden vermuten, er möchte die Bücher gerne selbst behalten.

Im Dezember taucht plötzlich ein Herr von der Polizei vor der Tür der Theologiestudentin auf und möchte sich mit ihr unterhalten. Ob sie öfter Besuch von einem Herrn Knabe bekomme, und ob dieser ihr nicht manchmal Druckschriften mitbringe ? Sie läßt den Mann nicht über die Schwelle, aber der Schreck fährt allen in die Glieder. Sollte doch etwas durchgesickert sein von den Büchern ? Warum dann aber solch eine plumpe Vorstellung und ausgerechnet an einem Tag, an dem der Student aus Westdeutschland nicht im Lande weilt ?

Die Theologiestudentin hat Angst vor Festnahmen. Da sie alleinerziehend ist, könnte man ihren vierjährigen Sohn in ein Heim stecken. Der Student aus Westdeutschland wiederum weiß nicht, ob er, der «Drahtzieher» der Aktion, es überhaupt noch wagen kann, die DDR-Grenze zu überschreiten. Doch die Sehnsucht ist stärker als die Angst. Ende Dezember kommt er erneut nach Berlin. Zuvor bittet er einen Korrespondenten, im Notfall die Ständige Vertretung zu alarmieren.

Tatsächlich wartet an diesem Tag vor der Wohnung der Studentin ein Wartburg, der umgehend die Verfolgung aufzunehmen scheint. Man flüchtet über Schleichwege, versteckt das Adreßbuch, vernichtet belastendes Material - weiter passiert jedoch nichts. Beinahe friedlich feiert man dann gemeinsam im Pfarrhaus die Sylvesternacht. Man spricht von Bob Dylan und ob der Student aus Westdeutschland dem Pfarrer nicht ein bestimmtes Buch über Techniken der Liebe mitbringen könnte, was dieser als «unpolitisch» ablehnt. Auch von der Stasi ist kurz die Rede, als der Pfarrer dem Eindruck entgegentritt, in deren Reihen würden nur Dummköpfe und Schweinehunde arbeiten. Als man ihn einmal vorgeladen habe, hätte ihn ein feinsinniger Mann mit dunklen Augen empfangen - « Rehauge » wird von nun an zum geflügelten Stichwort für die Stasi.

Da alles ruhig bleibt, sollen die Bücher nun doch wie besprochen nach Berlin gebracht werden. Zum vereinbarten Zeitpunkt allerdings kommen der Pfarrer und seine Freundin verstört in die Wohnung der

241


Theologiestudentin und bringen eine schockierende Nachricht: Das Auto ist gestohlen worden, als man es für einige Minuten unbeaufsichtigt abgestellt hat. Drei Tage später melden sie sich erneut und berichten, bei der Abreise zum Pfarrhaus, die nun notgedrungen mit der Eisenbahn erfolgen mußte, sei man am Ostbahnhof auf das gestohlene Auto gestoßen - ohne Bücher.

Der Student aus Westdeutschland ist zu diesem Zeitpunkt gerade in Berlin. Dieser Besuch soll sein letzter werden. Vier Wochen später weisen ihn die Grenzbeamten mit dem Satz ab: «Ihre Einreise ist nicht gestattet.» Die beiden Liebenden müssen nun nach Prag, Budapest oder Bulgarien fahren, wenn sie sich wiedersehen wollen. Sie stellen einen Antrag auf Familienzusammenführung, dem im Januar 1981 stattgegeben wird. Das Einreiseverbot gegen beide besteht siebeneinhalb Jahre.

 

   VI  «Kuriertätigkeit für eine Feindorganisation»  

 

Fortsetzung der Aktenlektüre im Operativ-Vorgang «Kleber». Bericht von Major Kullick über ein Treffen mit IM «Klaus» am 26.10.1979:

«In der letzten Zeit wurde durch den IM festgestellt, daß von Knabe in der Wohnung der Anette Buche (erfaßt im OV «Kleber») häufige Besuche stattfinden. (...) Zwischen dem Knabe und der Anette Buche haben sich intime Beziehungen entwickelt. Die feindliche Haltung von Knabe und der Anette Buche zur DDR ist immer mehr offensichtlich. Knabe hat die Einschleusung von 2 Koffern mit untergründiger Literatur von Westberlin in die Hauptstadt der DDR organisiert. (...)

Knabe und Anette Buche baten den IM, die 2 Koffer von der genannten Adresse abzuholen und bei sich aufzubewahren, mit der Begründung, daß Knabe beobachtet und durch die Zollorgane kontrolliert würde. (...)

Am 25.10. begab sich der IM gemeinsam mit der (...) zum (...) (klein, schmächtig, ca. 38Jahre) und bestellte den «Gruß von Jo-

242


chen», daraufhin sagte (...), ja hier sind 2 Koffer abgegeben worden. Der IM fügte hinzu: Deswegen kommen wir.

(...) Danach begab sich der IM mit der Literatur in seine Wohnung. Er verständigte die Anette Buche, daß er die Literatur abgeholt habe.

Der IM erhielt folgenden Auftrag:

1. Eine listenmäßige Aufstellung der Literatur anzufertigen.

2. Am 1.11. 79 erfolgt eine Dokumentation1.

3. Die Literatur bleibt beim IM unter Verschluß mit der Begründung, daß gegenwärtig die Gefahr zu groß sei, etwas weiterzugeben.

4. Sollte die Anette Buche oder Knabe auf die Herausgabe bestehen, wird der IM die gesamte Literatur der Buche übergeben, wo gleichzeitig zollmäßige Maßnahmen zum Einzug durchgeführt werden.»

Am 15.11.1979 fertigt Hauptmann Jürgen Exner einen weiteren ausführlichen Sachstandbericht zum OV «Kleber» an. Darin heißt es unter anderem:

«(...) Inoffiziell wurde über die politisch-feindlich zur DDR eingestellte Anette Buche in Erfahrung gebracht, daß der BRD-Bürger Hubertus Knabe, welcher mit der B. intime Beziehungen unterhält, feindliche Aktivitäten plante. (...) Die ursprünglich geplante Einschleusung von 500 Bahro-Aufklebern durch Knabe wurde durch Maßnahmen der Verunsicherung verhindert. Die von Knabe eingeschleusten 21 «Probeexemplare» von diesen Klebezetteln mit dem Text (...) kamen nicht zur Verbreitung, da sie durch den IM sichergestellt wurden.

In der Folgezeit befaßten sich Knabe und die Buche aktiv mit der Vorbereitung einer illegalen Einschleusung von untergründigen Materialien, vor allem Bahro-Literatur (...). Die eingeschleuste Literatur wurde am 25.10. 79 bei (...) abgeholt und gegenwärtig bei einem zuverlässigen IM aufbewahrt. Diese eingeschleuste Literatur wurde dokumentiert und listenmäßig erfaßt. Von den im OV erfaßten Personen Hubertus Knabe und Anette Buche wurde mehrmals der Ver-

 

1)  Die Ergebnisse dieser «Dokumentation» finden sich im Anhang der Akte: Eine Fotoserie der kunstvoll aufgebauten Büchersammlung.

243


such unternommen, den IM zur Herausgabe der Literatur mit dem Ziel der Weiterverbreitung zu bewegen.

Zum Abschluß des OV < Kleben wird ein Vorschlag mit Maßnahmen der Zersetzung erarbeitet.»

Am 3.12.1979 trifft sich Hauptmann Exner erneut mit IM «Klaus», und zwar in der konspirativen Wohnung « Falke ». Es gibt viel zu besprechen. Die Zusammenkunft dauert von 7 bis 9.45 Uhr und streift die verschiedensten Punkte. Offensichtlich muß man dann aber abbrechen, da sich der IM noch verabschieden will: « Da KN AB E am frühen Nachmittag eine sogenannte Mitfahrgelegenheit von Westberlin nach Bremen nutzen wollte, kam es über das Literatur-Problem zu keiner gründlichen Erörterung.» Hauptmann Exner setzt unter sein zusammenfassendes Gesprächsprotokoll den Zusatz: «Entscheidung zum Literaturproblem in Absprache mit der Leitung herbeiführen.»

Zehn Tage später, am 13.12.1979, findet ein weiterer Treff statt, während dessen IMV1 «Klaus» folgendes berichtet:

«Am 11.12. 79 erhielt der IM einen Anruf von Anette Buche mit der Bitte, sie zu besuchen. (...)

Vor der Tür stand einer von der Polizei (sie vermutet MfS), der sich nach Knabe erkundigte bzw. wissen wollte, wann er wieder zu ihr einreist.

Auf die Frage von Anette habe der Mann angeführt, es gehe im Auftrage der Zollorgane der DDR um die Klärung eines Problems von Schriftstücken. Sie habe geantwortet, sie wisse nicht, wann Knabe wieder kommt. Man solle ihr eine Vorladung für ihn zustellen, die sie ihm dann übergeben will.

Zu dem Besuch des VP-Angehörigen2 äußerte Anette zum IM folgende Deutungen: a) Knabe schickte vor längerer Zeit eine Zeitung aus der BRD an sie,

die nie ankam;

1 IMV = Inoffizieller Mitarbeiter mit «vertraulichen Beziehungen zu im Vorgang bearbeiteten Personen» bzw. zur «Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen».

2 VP = Volkspolizei

244.

b) daß sie Kontakt zu dem Journalisten (...) hat, der mit Knabe zusammen sei und die Verbindung zu G(...) geschaffen habe;

c) Hubertus Knabe habe seine 30 Einreisetage bereits überschritten;

d) daß er (Knabe) mit Bahro in Bremen/BRD persönlich gesprochen hat;

e) daß man Knabe die Einreise sperren wolle (in diesem Falle würde er sich bei entsprechender Stelle beschweren);

f) daß man etwas über die Bücher weiß, deren Einschleusung Knabe organisierte.

Zu diesem Punkt habe sie folgende Äußerungen gemacht:

- Woher kann man Kenntnis darüber haben ?

Anette habe mit G(...) nur global über die Literatur gesprochen.

(...) [wo die Koffer abgeholt wurden - H. K.] scheidet aus, weil dann die VP zum IM gekommen wäre.

Bleibe nur noch die Möglichkeit, es kommt von «drüben» (WB oder BRD).

Da sei doch in der BRD einer, der vor etwa 2 Jahren aus der DDR weg sei und nun Knabe laufend ansprechen würde. (...)

- Nach der Einschätzung des IM ist Anette durch die Maßnahmen mit dem VP-Angehörigen sehr unsicher geworden. Sie denkt, daß der von der VP heute wieder kommen wird, um mit Knabe zu sprechen und dadurch Licht in die Sache kommt, bzw. man weiß, um was es konkret geht. Danach wolle man weiter beraten. Sie hat Angst, daß es gegen Knabe geht und er nicht mehr herkommen kann. Sollte es doch um die Literatur gehen, dann wäre es so, daß

1. diese beim IM sicher sei, da in einem Pfarrhaus kaum eine Hausdurchsuchung sein wird (...).

Knabe wird auf jeden Fall alle Anschuldigungen abstreiten. Zwischen Anette Buche und dem IM wurde vereinbart, daß sie sich bei ihm meldet, falls es etwas neues gibt.»

 

Im Januar 1980 ist es dann soweit. Das «Literaturproblem» wird «gelöst», und der Operativ-Vorgang kann abgeschlossen werden. Hauptmann Exner und sein Referatsleiter Kullik schreiben am 30.1.1980 einen Abschlußbericht, den der stellvertretende Leiter der HAXX, Ludwig, bestätigt:

245


«(...) Der Abschluß des OV «Kleber» erfolgte durch Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung der Verbreitung der in die DDR eingeschleusten Literatur auf der Grundlage einer operativen Kombination, welche mit dem IM «Klaus» beraten und durchgeführt wurde. Im Ergebnis dieser Maßnahme konnte die Literatur konspirativ sichergestellt werden.

Bei der Realisierung dieser Maßnahmen wurde der Personenkreis um Knabe verunsichert.

Zur weiteren vorbeugenden Verhinderung von neuen politischnegativen Aktivitäten des Knabe wird gegen K. eine Einreisesperre eingeleitet.»

 

   VII Aus den Handakten  

 

Der Abschluß des OV «Kleber» bedeutet kein Ende der «Bearbeitung». Die Mitarbeiter der HAXX/4 verfassen vielmehr eine «Operative Information», die der Leiter der HauptabteilungXX, Generalmajor Kienberg, am it. Juni 1980 an den Leiter der AbteilungX des MfS weiterleitet. Diese ist für den Kontakt zu anderen sozialistischen Geheimdiensten zuständig und wird gebeten zu prüfen, ob Möglichkeiten einer operativen Kontrolle während der Aufenthalte in Prag bestehen. Auszug aus der «Operation Information»:

«Von der HAXX/4 wurde in dem Zeitraum Juni 1979 bis Februar 1980 der BRD-Bürger

KNABE, Hubertus (...)

in einem Operativ-Vorgang bearbeitet. (...) Im Zusammenhang mit dem Abschluß des Operativ-Vorgangs wurde seit Februar 1980 der Person Knabe die Einreise zum besuchsweisen Aufenthalt in der DDR nicht mehr gestattet.

Inoffiziell wurde bekannt, daß Knabe sich seit dieser Zeit in vierwöchigen Abständen in Prag (CSSR) mit der DDR-Bürgerin

BUCHE, Anette (...)

trifft, zu der er intime Beziehungen unterhält. Wie bekannt wurde, übernachteten beide jeweils bei (...), dessen Adresse KNABE von einer Person in Bremen erhielt.»

Die Abteilung X antwortet der Abteilung XX mit Schreiben vom 1. 7.1980. Darin heißt es:

«Im Rahmen der Übermittlung von Kontaktinformationen teilten die Sicherheitsorgane der CSSR mit, daß am 1.3.1980 die DDR-Bürgerin BUCHE, Anette gemeinsam mit dem BRD-Bürger KNABE, Hubertus über die Güst Prag-Ruzyne mit der IF1 250 aus Berlin kommend einreiste. Auf die Frage des Paßkontrolleurs an Knabe, wo KNABE in Prag wohnen wird, antwortete er, daß er es noch nicht wisse. Im Raum der Zollstation wartete die DDR-Bürgerin auf den genannten BRD-Bürger, der den Pflichtumtausch an Valuta vollzog. Dann fuhren sie gemeinsam mit einem CSA-Bus in das Zentrum von Prag. Sie versuchten ihren Kontakt in keiner Weise geheimzuhalten.»

Am 5. 8.1980 teilen die Sicherheitsorgane der CSSR darüber hinaus dem MfS mit: «Bei den Reisen von Knabe in die CSSR wird seine Operative Kontrolle vorgenommen werden. Falls Erkenntnisse zu dem Genannten erlangt werden, werden Ihnen diese mitgeteilt.»

Zwei Jahre später, am 22. 9.1982, sendet der Leiter der AbteilungX, Generalmajor Damm, dem ungarischen Innenministerium eine «Information über Erkenntnisse zu Aktivitäten des <Sozialistischen Osteuropakomitees> in der BRD gegen die Ungarische Volksrepublik». Wiederum war die Abteilung XX / 4 zuvor entsprechend aktiv geworden. In der Information heißt es:

«Aus zuverlässigen inoffiziellen Quellen wurde bekannt, daß im Zusammenhang mit gegnerischen Aktivitäten zur Bildung von sog. unabhängigen Friedensbewegungen in den sozialistischen Ländern das «Sozialistische Osteuropakomitee» (SOK) in zunehmendem Maße bestrebt ist, feindliche Aktivitäten gegen die sozialistischen Länder zu entwickeln und feindlich-negative Personenkreise aus die-

1)  IF = Interflug

247


sen Ländern zusammenzuführen und ihre Tätigkeit zu koordinieren. (...)

Der Mitarbeiter des «SOK» aus Bremen/BRD

KNABE, Hubertus (...)

gehört zu den Personen des «SOK», die sich mit den o. g. feindlichen Aktivitäten gegen die sozialistischen Länder befassen. Es wurde bekannt, daß KNABE unter dem Pseudonym Klaus Ehring in der BRD unter dem Titel «Schwerter zu Pflugscharen - Friedensbewegung in der DDR» ein Buch verfaßte, welches vom ro-ro-ro-Verlang (ro-ro-ro-aktuell Nr. 5019) herausgegeben wurde. KNABE verfolgt das Ziel, diese Veröffentlichung in einer größeren Anzahl von Exemplaren in die DDR einzuschleusen. (...)

Zu den feindlichen Aktivitäten der Person KNABE wurden weitere operative Hinweise erarbeitet, aus denen ersichtlich ist, daß KNABE in der Ungarischen Volksrepublik (UVR) tätig wurde. (...) Dabei wurden von ihm eine Reihe von Personen aufgesucht, die zu den <oppositionellen) Kräften in der UVR gehören sollen, wovon bisher folgende Personen bekannt wurden: [es folgen sieben Namen ungarischer Oppositioneller mit Anschrift und Telefon - H. K.].

Die Vorbereitungen der Reise in die UVR erfolgten von Knabe bereits 1981. Dabei sollen die Personen

Vajda, Mihaly (...) Gastdozent an der Universität Bremen/BRD (den K. in Bremen kennenlernte) (sh. Schrb. v. 3. 7. 78-U/545/78) und

Töröcsik, Mihaly (vermutlich Exil-Ungar) Mitarbeiter der Redaktion «Gegenstimmen» des «Sozialistischen Osteuropakomitees» in Wien, Museumstr. 5 eine vermittelnde Rolle gespielt haben.»

Im Begleitschreiben zu der übermittelten Information wird «möglichst um Prüfung und Mitteilung gebeten, ob zu dem genannten BRD-Bürger KNABE, Hubertus Angaben vorliegen und ob Hinweise bekannt sind, daß die genannten Bürger der UVR feindliche Aktivitäten entwickeln ». Mit Datum vom 3.11.1982 antwortet ein Genosse Roszol aus Budapest per Telegramm, dessen Inhalt der Leiter der Abteilung X am 13.11.1982 der HAXX übermittelt. Darin wird ausgeführt:

248


«Bezug nehmend auf die ihnen übergebene Information wurde von den ungarischen Sicherheitsorganen mitgeteilt, daß sich der Mitarbeiter der o. g. Feindorganisation KNABE, Hubertus geb. 19. 7.1959 in der Zeit vom 1. bis 24. 7.1982 in der UVR als Tourist aufhielt. (...)

Während seines Aufenthaltes in der UVR nahm er Kontakt zu (...) auf, der wegen feindlicher Tätigkeit unter operativer Kontrolle steht.

KNABE sagte (...), daß er demnächst erneut in die UVR käme, zusammen mit seiner Verbindung, einer weiblichen Person namens Anette, und daß er ihn dann besuchen werde.

Weiterhin teilten die ungarischen Sicherheitsorgane mit, daß die im obigen Schreiben genannten Personen maßgebliche Vertreter der feindlichen ungarischen Opposition sind. Im Hinblick auf eine Kontaktaufnahme zu KNABE liegen außer zu Vajda, Mihäly keine Hinweise vor. Es wurde bekannt, daß sich Vajda im Jahre 1981 an KNABE mit der Bitte um Weiterleitung eines Schreibens an den französischen Bürger (...) wandte. (...) Des weiteren wurde von den ungarischen Sicherheitsorganen darüber informiert, daß der im obigen Schreiben genannte Töröcsik, Mihaly identisch ist mit dem Mitarbeiter der trotzkistischen Zeitschrift «Gegenstimmen» Raski, Bela geb. 1. 6.1957 in Wien, wh. Wien, Hegergasse 2 (...).

Die Person Vajda ist in einem Archivmaterial der Abt. X erfaßt. Zu ihm wurden auf Ersuchen der ungarischen Sicherheitsorgane im Jahre 1977 Überprüfungen geführt. Zu diesem Zeitpunkt hielt er sich gemeinsam mit seiner Ehefrau (...) in Bremen auf. Laut Überprüfungsergebnis der HVA/Abt. IX (Schrb. v. 29.5. 78 - Tgb.-Nr. 971/ 78) war Vajda im Studienführer der Universität Bremen vom Januar 1978 als Gastprofessor verzeichnet. Er führte Veranstaltungen zu folgenden Themen durch: (...). Wohnhaft war Vajda zum damaligen Zeitpunkt unter der Anschrift (...). Er arbeitete eng zusammen mit den Professoren (...) und (...).»

Zu einem weiteren Schriftwechsel zwischen MfS und dem ungarischen Geheimdienst kommt es im Jahre 1985. Am 20. 5.1985 übermittelt der Leiter der HA XX dem Leiter der Abt. X unter Bezug-

249


nähme auf die Information aus dem Jahre 1982 «einen operativen Hinweis über Erkenntnisse zu einem geplanten einjährigen Studienaufenthalt des aktiven Vertreters der sog. blockübergreifenden Friedensbewegung, KNABE, Hubertus, BRD, in der UVR mit der Bitte um Weiterleitung an die Sicherheitsorgane der UVR». In dem Schriftstück heißt es:

«Aus zuverlässigen inoffiziellen Quellen wurde bekannt, daß sich der BRD-Bürger KNABE, Hubertus (...)

ab Juni 1985 zu einem einjährigen historischen Studium in Budapest/ UVR aufzuhalten beabsichtigt. Hinweise auf den Geldgeber des dafür gewährten Stipendiums liegen nicht vor. KNABE ist in der Vergangenheit als Vertreter des < Sozialistischen Osteuropakomiteo der BRD bekanntgeworden.

Bei seinem Aufenthalt im Juli 1982 als Tourist in der UVR nahm KNABE Kontakt zu Vertretern der sog. unabhängigen Friedensbewegung in der UVR auf und nutzte die dabei gewonnenen Informationen zu publizistischen Veröffentlichungen in Presse und Hörfunk der BRD.

KNABE gehört zu den Organisatoren der feindlichen Konzeption zur Schaffung einer sog. blockübergreifenden Friedensbewegung. Er beabsichtigt seinen Aufenthalt in der UVR für Kontakte zu sog. Basisgruppen der (Staatlich unabhängigen) Friedensbewegung zu nutzen. »

Am 24. Mai 1985 leitet die Abteilung X die Information nach Ungarn weiter und erhält am 26.6.1985 folgende Antwort:

«Bezugnehmend auf Ihre Anforderung im Schreiben Nr. U/700/85 wurden Maßnahmen eingeleitet in bezug auf den angegebenen Stipendiaten

KNABE, Hubertus (...),

der einen Studienaufenthalt beantragte. (...) Unseren Informationen zufolge wird er sein Auslandsstudium am 01. September 1985 am Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit der Philosophischen Fakultät der Lorand-Eötvös-Universität beginnen. Das Stipendium von Hubertus Knabe wird vom Deutschen Akademischen Austauschdienst

250


finanziert. Die Überprüfung des Genannten wird - im Falle seiner Einreise - organisiert, über deren Ergebnisse wird Ihnen eine Information zugesendet.»

Auf diese Weise werde ich beim Antritt meines Forschungsaufenthaltes in Ungarn im Sommer 1985 bereits aufmerksam erwartet. Was der ungarische Geheimdienst in den folgenden beiden Jahren ermittelt und was er dem MfS davon mitteilt, erschließt sich nicht aus den vorliegenden Dokumenten. Das MfS schickt aber einen eigenen Inoffiziellen Mitarbeiter nach Budapest, der dort eines Tages vor meiner Haustür steht und mein Vertrauen gewinnt. Allerdings findet sich in den Akten ein Schreiben des ungarischen Innenministeriums an das MfS, das am 27.4.1988 - vier Wochen vor der Absetzung von Janos Kádar - dort eingeht und in dem es heißt:

 

«Zur Information wird mitgeteilt, daß der BRD-Bürger

KNABE, Hubertus

geb. 19. 07.1959 in Unna

von unseren Organen operativ bearbeitet wird. In diesem Zusammenhang wird darum gebeten, uns alle Ihren Organen zu dieser Person vorliegenden Angaben und Informationen zu übermitteln. Es wird weiterhin gebeten, uns alle zu der Lebensgefährtin - der jetzigen BRD-Bürgerin und ehemaligen DDR-Bürgerin

BUCHE, Anette (...)

mitzuteilen bzw. uns über die Gründe und Umstände zu informieren, unter denen die Genannte die DDR verlassen hat.»

Nachdem eine Nachfrage im Zentralspeicher ergeben hat, daß die gesuchten Personen für die HAXX/4 erfaßt sind, wird die Bitte an diese weitergeleitet. Mit Schreiben vom 13.6.1988 und unter Bezugnahme auf die vorangegangenen « Operativen Informationen » beantwortet das MfS die Anfrage aus Ungarn wie eingangs zitiert.

Daß den in der Information genannten Stichworten - Grüne, Sozialistisches Osteuropakomitee, DDR-Forschertagungen, etc. - profunde Kenntnisse und ausführliche IM-Berichte zugrunde liegen, legt eine andere Information nahe, die zufällig in dem Band 2 c des Zentralen Operativ-Vorganges «Weinberg» (Reg. -Nr. AOP16922 /91)

251


gefunden wurde. Unter der Überschrift «zu einem operativ relevanten Forschungsvorhaben des KNABE, Hubertus» und abgelegt unter dem Decknamen «Walter Rosenow» heißt es darin:

«Inoffiziell wurde zuverlässig bekannt, daß

KN ABE, Hubertus (...)

im August 1987 vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Ministerialrat (...) die Förderung für sein Forschungsprojekt ab 1.1. 88 für 2 Jahre zugesprochen erhielt. Das Projekt befaßt sich als (intrasystemarer Vergleich) mit der <Umweltdiskussion> in der DDR, Volksrepublik Ungarn und weiteren sozialistischen Staaten und soll herausarbeiten, wie <sozialistische Industriegesellschaften) mit den sich aus der Umweltproblematik ergebenen < Herausforderungen umgehen>. KNABE begründete seine Vergleichsabsichten DDR-Ungarn deshalb als <.. .begründet, weil dort (in Ungarn) die Umweltproblematik explizit als ein relevantes Feld gesellschaftlicher Aktivitäten im politischen System betrachtet wird.. .>. (...) Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Zielstellung, durch die «Umweltdiskussion in der Opposition» der sozialistischen Länder zu untersuchen, weshalb die Absicht besteht, Kontakte zu oppositionellen Kräften innerhalb dieser Länder als auch in der Emigration zu nutzen. (...) Knabe beantragte für die Arbeit finanzielle Mittel: Ausgelegt auf 2 Jahre monatlich aufgeschlüsselt ca. 150000 DM zuzüglich 11000 DM für Nebenkosten. (...)

Von politisch-operativer Bedeutsamkeit ist der Zusammenhang der Forschungsthematik des Knabe und seiner 1985 festgestellten Aktivitäten zur Zuführung grün-alternativer Kräfte zur Westberliner < Initiative für den Ost-West-Dialog) im Zusammenwirken mit

ESCHE, Klaus-Dieter

(erfaßt für HAXX/5)

sowie seine Kontakte zu

JAHN, Roland ,

und

(...)

Bei operativer Notwendigkeit kann Originalmaterial zum Forschungsvorhaben Knabes in der HA XX/5 eingesehen werden.»

252


   VIII Nachtrag  

 

Im Januar 1992 erfuhr ich durch die Einsichtnahme in den Operativ-Vorgang «Kleber», daß mein langjähriger Freund, der Herzfelder Pfarrer Frank Rudolph, der Inoffizielle Mitarbeiter «Klaus» war. 

Fast zeitgleich erhielt ich einen Anruf meines Freundes Karl-Heinz Schädlich, daß er «IM Schäfer» sei und mich in Budapest im Auftrag der Stasi bespitzelt habe; sein Bruder hatte von seiner IM-Tätigkeit durch die Akteneinsicht erfahren.

Sie waren nicht die einzigen. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Dirk Schneider, mit dem ich im Rahmen der deutschlandpolitischen Arbeit der Grünen viel zu tun hatte, führte ebenfalls regelmäßig «Gespräche» mit dem MfS. Andreas Kurjo, Landwirtschaftsexperte aus West-Berlin, der Mitte der achtziger Jahre auf meine Initiative hin mit mir in einem Sammelband über Umweltprobleme und Umweltbewußtsein in der DDR publizierte, wurde im Mai 1992 wegen «geheimdienstlicher Agententätigkeit» zu einer Bewäh-rungs- und Geldstrafe verurteilt. Ein früherer Arbeitskollege und politischer Kontrahent unterschrieb, so erfuhr ich aus glaubwürdiger Quelle, bereits in den fünfziger Jahren eine Verpflichtungserklärung des MfS. Unter dem Decknamen «Walter Rosenow» wurden inzwischen auch Berichte aus dem Westberliner Bahro-Komitee von den DDR-Forschertagungen in Bonn und aus dem Arbeitsbereich DDR-Forschung und -archiv der Freien Universität Berlin gefunden.

Von den ostdeutschen Autoren eines Sammelbandes «Aufbruch in eine andere DDR», den ich nach der Wende herausgab, haben nach bisherigem Informationsstand drei mit dem MfS zusammengearbeitet, von zweien wurde eine schriftliche Verpflichtungserklärung gefunden. Einen Ostberliner Professor, Heinz Kosin, der mich 1989 davor gewarnt hatte, als Sprachrohr der DDR-Opposition in Erscheinung zu treten, entdeckte ich auf der Liste der «Offiziere im besonderen Einsatz»; ein Versuch der Kontaktaufnahme blieb unbeantwortet. Ein anderer, den ich 1989 wegen seines ökologischen Engagements vergeblich versuchte nach Westberlin einzuladen, stellte sich inzwischen als «Inoffizieller Mitarbeiter» des MfS heraus.

Kein einziger, der mich im Auftrag der Staatssicherheit ausgehorcht und «bearbeitet» hat, ist in den zweieinhalb Jahren seit der

253


«Wende» in der DDR von sich aus auf mich zugekommen, um sich zu offenbaren. Niemand hat sich bei mir entschuldigt oder wenigstens zu erklären versucht.

Das Schweigen der Spitzel, das Leugnen und Verharmlosen, wenn sie zur Rede gestellt werden, ist inzwischen schmerzhafter als das, was sie zu verantworten haben. Fassungslos sehe ich mit an, wie prominente IM sich schamlos der Annehmlichkeiten des Rechtsstaates bedienen und als Opfer gerieren - sekundiert von ihren Führungsoffizieren, die, nachdem sie die IM-Arbeitsakten vernichtet haben, nun in die Rolle von Kronzeugen schlüpfen. Die IM-Decknamen sind nur Schubladen, in denen abgeschöpftes und abgehörtes Material nach Belieben eingefüllt wurde ? Die Akten geben die Wirklichkeit nicht wieder, wurden nach Lust und Laune gefälscht, geschönt und manipuliert? Die Treffs mit dem Führungsoffizier erfolgten lediglich «im Interesse der Menschen» ? Inoffizielle und hauptamtliche Mitarbeiter des MfS sind im Begriff, sich eine zweite Schuld aufzuladen: daß sie nicht den Mut besitzen, wenigstens nachträglich die Wahrheit offenzulegen und ihre persönliche Verantwortung anzuerkennen.

Dieses Verhalten ist dabei nicht nur im Einzelfall verletzend; es ist geeignet, die künftige politische Kultur in Deutschland langfristig zu vergiften. Die in den vierzig Jahren Bundesrepublik mühsam aufgerichteten moralischen Maßstäbe gegenüber Politikern, Parteien und politischem Handeln sind in ihrer Substanz bedroht, wenn Verantwortung vernebelt, Schuld nicht anerkannt und Verbrechen nicht gesühnt werden. Darfund soll der Informant eines menschenverachtenden Geheimdienstes Ministerpräsident, Parteichef oder Hochschulrektor sein ? Darf und soll ein ehemaliger SED-Funktionär die Untersuchung gegen einen der IM-Tätigkeit beschuldigten Politiker leiten ? Sind die Akten des MfS, wie der Bundesgerichtshof und ein Berliner Arbeitsrichter entschieden, ohne zusätzliches Beweismaterial wertlos, wenn es darum geht, das Verhalten eines Menschen zu bewerten ? Entfalten die Weggegangenen, Weggetriebenen und Büij-gerrechtler eine «Hetzjagd», wenn sie fordern, daß Stasi-Mitarbeiter und SED-Funktionäre im vereinigten Deutschland keine höheren Positionen mehr bekleiden sollten ?

Eine ähnliche Debatte über den Umgang mit der Vergangenheit gab es schon einmal in Deutschland, allerdings unter umgekehrten ideologischen Vorzeichen. Schuldig gemacht hatten sich damals in erster Linie die bürgerlichen und national orientierten Kräfte, die nichtsdestotrotz auf ihre angestammten Positionen pochten. 

Daß nach 1945 trotz Kenntnis der nationalsozialistischen Verbrechen führende Nazis wieder hohe Ämter bekleiden konnten, hat mich und meine Generation politisch beeinflußt wie kein anderes Faktum und eine bis heute spürbare Entfremdung erzeugt gegenüber dem ersten funktionierenden demokratischen Staatswesen in Deutschland.

Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Diktatur stellt sich die Frage nach politischer Schuld und Verantwortung erneut, doch diesmal in erster Linie auf der anderen Seite des politischen Spektrums. Die Antworten sind kaum besser, die Mechanismen der Verdrängung und Verharmlosung die gleichen, für einen Westdeutschen ist es, als wiederhole sich die Geschichte.

Wie wäre es, wenn wir nach diesem Muster die Nazi-Vergangenheit ebenfalls noch einmal neu bewerten würden ? Heinrich Himmler wäre in Wahrheit ein großer Menschenfreund gewesen, denn er hat in den letzten Kriegsmonaten die Freilassung der Lagerinsassen angeboten, und Hans Globke hätte mit seinen juristischen Kommentaren zu den Nürnberger Rassegesetzen vor allem eines getan: schlimmeres Unheil von den Juden abgewendet. Die Zahlenangaben über die deportierten Juden sind plumpe Fälschungen, und die Angehörigen der Waffen-SS waren allesamt unschuldig, wie ihre Vorgesetzten, sofern sie noch leben, jederzeit bezeugen können. Jene, die selber nicht in der NS-Diktatur gelebt haben (also der größte Teil der Menschheit), haben nicht das Recht, über Schuld und Verstrickung der Betroffenen zu richten!

In finsteren Zeiten gedeiht der Zynismus. Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, ich müßte diesem Land, in dem man nur noch wenige Zeitungen ruhigen Gewissens aufschlagen kann, entfliehen. 

Ostdeutsche Aktenleser reagieren gelassener - vielleicht, weil sie es gewohnt sind, auf sich allein gestellt gegen die Übermacht der Lügen zu streiten. 

254-255

 # 

 

  ^^^^