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Städtereise nach Moskau

 

Einleitung 

 

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Flughafen Berlin-Tegel, es ist der 21. Juni 1999. Ich stehe in einer Gruppe von 30 Menschen und warte darauf, dass unser Flug aufgerufen wird. In einem Reisebüro habe ich eine Viertagereise gebucht, um die russische Hauptstadt kennen zu lernen. Nach Perestroika, Glasnost und der deutschen Wieder­vereinigung ist das wieder möglich geworden. Alle Formalitäten wie Visum und Hotel hat der Reiseveranstalter erledigt, der Tourist muss lediglich zahlen.

Ich bin sehr aufgeregt und kann es nur schwer verbergen, denn diese Reise habe ich schon einmal gemacht, vor 47 Jahren. Allerdings nicht als Tourist, nicht freiwillig und nicht im Flugzeug.

Im März 1953 wurde ich als politischer Häftling, zusammen mit 28 deutschen Frauen, vom Gefängnis Lichtenberg in Ostberlin in einem als »Schlafwagen« beschrifteten Gefängniswagon nach Moskau gebracht. Auf einem Abstellgleis außerhalb der Stadt kletterten wir in eine russische »Grüne Minna«, hier »Schwarzer Rabe« genannt. Er brachte uns quer durch das nächtliche Moskau. Durch das kleine vergitterte Fenster in der rückwärtigen Tür, an der zwei russische Wachposten mit Karabinern saßen, konnten wir breite und erleuchtete Straßen, helle Häuserfassaden und Geschäfte erkennen.

Als das Auto über den Roten Platz fuhr, wies einer der Posten mit seinem Karabiner nach draußen und sagte mit Pathos: »Das Moskau, schönste Stadt der Welt!«

Trotz der schlimmen Situation, in der ich mich befand, und der Ungewissheit über meine Zukunft, regte sich damals in mir der Wunsch, einmal als freier Mensch auf dem Roten Platz zu stehen. In diesem Moment allerdings mit wenig Aussicht auf Erfüllung, denn ich war Ende 1952 von einem sowjetischen Militärgericht in Ostberlin »wegen Spionage« zu 15 Jahren Zwangsarbeits-/Schweigelager verurteilt worden. Aber der Wunsch blieb trotz allem, was passieren sollte, immer lebendig. 

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Jetzt, 1999, wird sich mein Wunsch von damals erfüllen, nach 47 Jahren! Deshalb meine Aufregung vor dem Abflug nach Moskau. Während ich bequem im Sessel sitze, überfliegen wir Polen, und ich denke zurück an jene Zeit. Wie war es damals, vor über 50 Jahren, in Deutschland? Der Krieg war verloren, das Land verwüstet, die Bevölkerung geschunden und halb verhungert.

 

Die Sieger hatten Deutschland besetzt. Im Juli 1945 trafen sie im Schloss Cecilienhof in Potsdam zusammen und teilten das eroberte Deutschland unter sich in Besatzungszonen auf: im Norden die Briten, im Süden die Amerikaner, im Westen die Franzosen; den größten Teil des Landes, den Osten, beanspruchten die Russen. Durch das Land zogen sich Grenzen, die Deutsche von Deutschen trennten. Bald wurde klar, dass die Sowjets in ihrem Teil Deutschlands ein kommunistisches Regime aufbauen wollten.

In Berlin war es ähnlich und doch anders, nämlich schwieriger. Die Konflikte zwischen Westmächten und Sowjetunion traten hier früher und deutlicher zu Tage, der Kalte Krieg brachte unter anderem die Blockade von 1948/49. Als es in Westdeutschland schon wieder genug zu essen gab, gehörten zum Westberliner Alltag noch die Lebensmittelkarten.

Zurück nach Moskau. Das Flugzeug landet auf dem Scheremetjewo-Flughafen, und Stunden später bin ich mit meiner Reisegruppe im Bus unterwegs, in Begleitung eines Sicherheitsbeamten und unserer Reiseleiterin Olga, die uns die Sehenswürdigkeiten von Moskau zeigt: die Basilius-Kathedrale mit ihren bunten, verspielten Zwiebeltürmen, die Kremlmauer mit den steinernen Grabmalen der sowjetischen Prominenz, den Erlöserturm mit dem großen, roten Sowjetstern auf der Spitze, wie ich ihn schon vor 47 Jahren beim täglichen Rundgang der Gefangenen auf dem Dach des Butyrka-Gefängnisses leuchten sah. Wir gehen durch Moskaus größtes Kaufhaus GUM, in dem internationale Designer ihre Modelle zu unerschwinglichen Preisen anbieten, und durchstreifen das Kreml-Gelände mit seinen herrlichen Kirchen und dem Ikonenmuseum.

Das alles beeindruckt mich zwar sehr, doch es zieht mich auf den Roten Platz; ich sondere mich ab und stehe wenig später allein auf der großen Fläche. Die Erinnerung an die Fahrt im »Schwarzen Raben« damals durch die Stadt...

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Wiedersehen bei Tageslicht: Moskau, Roter Platz

Mein Wunsch, einmal als freier Mensch hier zu stehen, hat sich nun erfüllt. Die Vergangenheit überwältigt mich, ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Habe ich das wirklich damals erlebt? Jetzt kommt es mir vor, als hätte ich nur schlecht geträumt.

Die Vergangenheit wird wieder Gegenwart, ich erinnere mich: Während der mitternächtlichen Fahrt im »Schwarzen Raben« durch Moskau wurden die Straßen enger, dunkler und schlechter. Wir wurden ziemlich durcheinander geschüttelt. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt hielt das Auto vor einem hohen, dunklen Gebäude. Tore öffneten sich, und in einem kleinen Innenhof wurden wir ausgeladen. Brüllende Lautsprechermusik empfing uns. Wir waren im Gefängnis Butyrka angekommen. 

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Todmüde von der langen Fahrt im Wagon von Berlin über Gefängnisse in Brest-Litowk und Brjansk nach Moskau mussten wir uns wieder einer Leibesvisitation mit anschließender gynäkologischer Untersuchung durch eine dicke, unappetitliche Ärztin unterziehen. Man wollte wissen, ob eine der Frauen schwanger war. Danach ging es zum Duschen, die Kleidung wurde desinfiziert. Dann erst öffnete sich eine Zellentür im dritten Stock für uns. Entsetzt wichen wir jedoch zurück, von der Decke und den Wänden lief Wasser herab und tropfte auf die doppelstöckigen Pritschen, auf denen sich Pfützen gebildet hatten.

Wir weigerten uns einzutreten. Die Diensthabende fluchte kräftig, aber brachte uns schließlich in eine andere, trockene Zelle. Die mit Brettern vernagelten Fenster hielten die Kälte nicht ab, doch wir waren so müde, dass wir uns ohne zu zögern auf die Pritschen legten, ohne Strohsack und ohne Decke.

Es wurde eine unruhige Nacht! Weshalb, zeigte sich im Morgenlicht. Fast alle Frauen waren mit dicken, roten Beulen übersät: Wanzenstiche! Wir gingen auf die Jagd. Mit einigen starken Ästen aus einem Rutenbesen, der zum Reinigen der Zelle dienen sollte, fuhren wir durch die Ritzen der Bretter. Der Erfolg war überwältigend! Wie starker Regen prasselten die Wanzen herab. Das wiederholten wir mehrmals, immer mit dem gleichen Erfolg. Innerhalb kürzester Zeit töteten wir auf diese Weise einige hundert Wanzen.

Vom Dach der Butyrka aus, wo sich die Spazierzellen für die weiblichen Gefangenen befanden, kamen wir in den Genuss einer umwerfenden Fernsicht. Einmal am Tag wurden wir Frauen für 15 Minuten zum Rundgang hierher geführt. Wir hatten einen phantastischen Blick über die Stadt: auf die Moskauer Universität mit dem Stern auf der Spitze und auf die hohe Mauer, die das Kreml-Gelände umgibt, dazu eine Menge Zwiebeltürme.

Nun möchte ich auch das Butyrka-Gefängnis noch sehen, von außen, versteht sich, denn von innen habe ich es einst 15 Tage lang studieren müssen. Es steht noch immer am gleichen Platz. Dieses Gefängnis ist neben der Lubljanka bei allen Russen bekannt und gefürchtet. Während in der Lubljanka zumeist die kriminellen Gefangenen saßen, war die Butyrka Sammelplatz für politische Häftlinge, die von hier aus in die unendlichen Weiten Russlands verschickt wurden.

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Die Mauern sind so dick wie Festungsmauern und es dringt kein Laut nach drinnen, obwohl der Bau an einer verkehrsreichen Straße steht. 

Die Bevölkerung macht stets einen großen Bogen um beide Gefängnisse, meidet sogar den Bürgersteig davor, aus Angst, bei zu großer Annäherung festgenommen zu werden und im Inneren zu verschwinden. 

Auch dieser Stadt hat der Krieg entsetzliche Wunden zugefügt, aber sie hat sich erholt, genau wie Berlin, rein äußerlich jedenfalls. Der Bevölkerung scheint es jedoch nicht gerade gut zu gehen, an jeder Ecke stehen Bettelnde, vor allem ältere Frauen und Kinder, die den Vorübergehenden ihre leeren Hände hinhalten oder selbst Gebackenes für ein paar Rubel anbieten.

Ähnlich war es in Berlin in den Jahren nach dem Krieg. Die Unsicherheit der Bevölkerung wegen ihrer Zukunft war groß. Von Juni 1948 bis Mai 1949 wurde der Westteil der Stadt von den Sowjets blockiert, wurden Schienen-, Straßen- und Wasserwege zwischen Westdeutschland und Westberlin gesperrt, Gas und Strom, soweit Betriebe der sowjetischen Besatzungszone sie erzeugten, abgeschaltet.

 

  

Die Butyrka, das berüchtigte Untersuchungsgefängnis in Moskau

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Als Antwort darauf errichteten die drei Westmächte eine Luftbrücke, die die Westberliner Bevölkerung mit allem Notwendigen versorgte. Alle drei Minuten flogen amerikanische und britische Flugzeuge von Westdeutschland nach Westberlin, landeten in Tempelhof, Tegel und Gatow und lieferten Lebensmittel und andere notwendigen Güter, wozu Kartoffeln ebenso gehörten wie Kohle oder Rohstoffe für die Industrie. Bei insgesamt 278.228 Flügen wurden 2,3 Millionen Tonnen Hilfsgüter nach Westberlin eingeflogen. Die Berliner nannten diese Flugzeuge liebevoll »Rosinenbomber«, sicherten sie doch ihr Überleben. 

Noch etwas beschäftigte die Berliner, damals und in den Folgejahren bis zum Bau der Mauer 1962: Im Westen der Stadt verschwanden immer wieder Menschen. Sie wurden von Helfern des NKWD oder des Staatssicherheitsdienstes entführt, auf heimtückische Weise verschleppt, und niemand erfuhr etwas über ihren Verbleib.

Menschen im Ostteil der Stadt oder in der Ostzone verschwanden weniger geheimnisvoll, sie wurden auf der Straße, in ihrer Wohnung oder am Arbeitsplatz ohne Angabe von Gründen verhaftet. Niemand kennt ihre Zahl.

Ein Artikel in einer Westberliner Tageszeitung vom 28. Juli 1952, betitelt »Ein Hexentanz unserer Zeit - die Menschenräuber von Berlin«, macht das deutlich:

»Es hat erst eines Falles Dr. Walter Linse bedurft, um den Berliner Senat zu Schutzmaßnahmen gegen die Verschleppung von Westberliner Bürgern zu veranlassen. Allerdings ohne großen Erfolg. Allein in diesem Jahr wurden bisher 54 Entführungen bzw. Entführungsversuche registriert. Dazu kommen weitere 228 Fälle, bei denen eine Verschleppungsgefahr sehr wahrscheinlich, jedoch nicht bewiesen ist. 10 bis 15 Anzeigen gehen täglich beim zuständigen Dezernat des Polizeipräsidiums ein. Anzeigen, die auf geplante Verschleppungen hinweisen oder der Aufklärung dienen sollen. Jeder einzelnen Anzeige gehen die Kriminalbeamten nach, ihre Arbeit ist nicht einfach und in den meisten Fällen erfolglos.«

Da ahnte ich noch nicht, dass ich bald in einem der Kellergefängnisse der Sowjets in einer Zelle neben Dr. Linse vegetieren würde. Durch Klopfen von Wand zu Wand erfuhr ich von seiner Anwesenheit. 

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Eine andere Westberliner Zeitung berichtete zum Fall Dr. Linse

»Am spektakulärsten ist die Entführung des Dr. Walter Linse im Sommer 1952, dem Leiter der Abteilung Wirtschaftsrecht im Untersuchungs­ausschuss Freiheitlicher Juristen in Westberlin. Er wurde auf dem Weg von seiner Wohnung zur Arbeitsstelle in Westberlin niedergeschlagen, durch einen Pistolenschuss ins Bein widerstandsunfähig gemacht und in ein bereitstehendes Auto gezerrt, das sehr schnell über die nicht weit entfernte Stadtgrenze in die Sowjetzone verschwand. Die Verschleppung wurde, wie die nachfolgenden Ermittlungen ergaben, vom sowjetzonalen Staatssicherheitsdienst organisiert und durchgeführt. Und gerade Dr. Linse war ein Mann, der den Kampf um Recht und Gerechtigkeit für die Bewohner der Sowjetzone aufgenommen hatte und nun selbst zum Opfer in diesem Kampf gegen Terror und Stalinismus wurde.« 

Dr. Linse kehrte nicht zurück.

Ich hatte Dr. Linse kennen gelernt, als ich seine Dienststelle in Berlin-Nikolassee aufsuchte, um mir Rat zu holen vor einer Reise in die Ostzone 1951, wo ich auf Veranlassung der DEFA, zur Recherche für einen Dokumentarfilm, mehrere Jugendstrafanstalten aufsuchen sollte. Es ging darum, Material zu sammeln für einen Film zur Frage, weshalb die jungen Menschen straffällig geworden waren und nun in Strafanstalten einsitzen mussten. Ich sollte das Drehbuch dazu schreiben. Von kompetenter Seite wollte ich deshalb vorher wissen: Ist diese Reise ratsam, kann es gefährlich für mich werden, und welche Vorsichts­maßnahmen sollte ich beachten?

Dr. Linse beruhigte mich einigermaßen und riet mir nicht ab. Ich solle jedoch vorsichtig sein und mich nicht auf politische Gespräche einlassen. Daran hielt ich mich auch, und ich kam unbeschadet nach Berlin zurück. Der Untersuchungsrichter erwähnte später mehrmals meinen Kontakt zu Dr. Linse und sprach seinen Verdacht einer konspirativen Zusammenarbeit mit diesem Mann aus, was ich jedoch immer bestritt, weil es nicht der Fall war. Es gab keinen Grund, diese Bekanntschaft zu leugnen, ich berichtete von meinem Besuch in Nikolassee im Zusammenhang mit meinen Recherchen im Auftrag der DEFA in den Jugendstrafanstalten. Schließlich bohrte er nicht weiter. Erst sehr viel später erfuhr ich, dass Dr. Walter Linse von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt worden war. 

Oft gerieten Menschen, die lediglich ihrem Beruf nachgingen, durch bösen Zufall in die Mühlen der Sowjets, obwohl sie sich nicht politisch betätigten. So ein Fall war auch Irene Holberg, Pressefotografin für Mode eines Westberliner Blattes. Ein Zeitungsbericht über ihr Verschwinden ist mir noch in Erinnerung: 

»Sie verließ am Vormittag ihre Wohnung in Wilmersdorf (West), in der sie mit Ehemann, Tochter und Schwiegermutter lebte, und war auf dem Weg zu ihrer Zeitung, um Fotos einer Modenschau abzuliefern. Ihr Mann, Redakteur bei der gleichen Zeitung, war schon am Morgen aus dem Haus gegangen. Irene Holberg kam nie in der Redaktion an. Ermittlungen ergaben, dass Passanten sie in eine dunkle Limousine einsteigen sahen, die rasch davon fuhr. Seitdem fehlt jedes Lebenszeichen von ihr; auch ihr Ehemann blieb spurlos verschwunden. Die Presse und Öffentlichkeit geht von einer Entführung aus.« 

Meldungen dieser Art häuften sich. 
Und eines Tages holten sie mich! 

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detopia 2019

Wäre es im Sinne der verstorbenen Autorin, 15 Jahre nach dem Buch und 70 Jahre nach den geschilderten Ereignissen, diese Art seltener Lagerliteratur (im Deutschen sagte man "Gefangenschaft" und "Sibirien") nicht allein den 'Marktgesetzen' des schnelllebigen Buchmarktes zu überlassen?

 

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