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Teil 1     Gefängnis   

  Verhaftung  

20-40

Es ist ein schöner Herbsttag, der 25. September 1952, die Sonne scheint noch warm, ich habe gute Laune, als ich die kurze Strecke von meiner Wohnung am Hohenzollerndamm zur U-Bahn-Station am Fehrbelliner Platz laufe. Bei dem Gedanken an die Besprechung bei der DEFA, zu der ich aufgefordert wurde, und an den neuen Drehbuchvertrag, den ich bekommen soll, steigt meine Laune noch ein wenig mehr. Mein Verdienst ist zurzeit nicht sehr üppig, ich lebe so ziemlich von der Hand in den Mund, wie man sagt, und muss sehen, wie ich über die Runden komme.

Die DEFA — Deutsche Film AG — ist die einzige Filmgesellschaft in Ostberlin, sie dreht in den Ateliers in Berlin-Babelsberg wieder die ersten Spielfilme. Die Filmstudios in Westberlin, in Tempelhof, sind ziemlich zerbombt und warten noch auf ihre Auferstehung. 1951 gründete ein Privatmann, Arthur Brauner, in Berlin-Spandau eine kleine Filmgesellschaft, die er CCC-Film nannte. Er hatte eine Halle in einer ehemaligen Giftfabrik gemietet, und hier entstanden die ersten, beachtenswerten Filme, die sich mit der jüngsten deutschen Vergangenheit beschäftigten, Filme, die »an die Nieren gingen«.

Als ich den Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin verlasse, kommt ein Mann auf mich zu, spricht mich an, nennt meinen Namen. Ich bleibe stehen, der Mann spricht weiter: »Wir sollen Sie abholen und zur DEFA bringen, zur Besprechung, die Sie dort haben. Es geht doch um ein neues Film-Projekt, zu dem Sie das Drehbuch schreiben sollen. Bitte, das Auto steht Ihnen zur Verfügung.«

Er weist auf eine schwarze Limousine, die am Bordstein steht. Der Mann scheint Bescheid zu wissen, deshalb schöpfe ich keinen Verdacht und steige in das Auto, dessen Tür mir von einem weiteren Mann aufgehalten wird. Die Jägerstraße, in der sich die Verwaltung und die Büros der DEFA befinden, ist nicht weit entfernt, deshalb wundere ich mich, als das Auto sofort ein rasantes Tempo vorlegt. Aber als wir uns in einer anderen Richtung als der mir bekannten bewegen, kommt mir ein schrecklicher Verdacht!


Meine Mutter hat mich wiederholt ermahnt, vorsichtig zu sein im Umgang mit den Leuten von der DEFA sowie bei meinen Besuchen im Ost-Sektor der Stadt. Meine verwunderte Frage an meine Begleiter, wohin wir fahren, bleibt unbeantwortet.

Als das Auto nach etwa 20 Minuten Fahrt vor einem großen, eisernen Tor anhält, das sofort von zwei Uniformierten geöffnet wird, fällt bei mir der Groschen: Ich bin in eine Falle gelaufen, auf einen üblen Trick hereingefallen.

Es ist nicht das Gelände der DEFA, in das das Auto einfährt. Ein langes, dreistöckiges Gebäude liegt vor mir, mit Holzblenden vor den Fenstern — ein Gefängnis! Es ist das Kellergefängnis der Sowjets in Berlin-Karlshorst. Ich bin in den Händen des MGB, des sowjetischen Geheimdienstes, das wird mir schlagartig klar!

In Minuten ändert sich nun mein ganzes Leben. Eine Odyssee beginnt, die mich bis in Russlands Polarregion führen wird, ich höre auf, ein Mensch zu sein, bin nur noch eine Gefangene eines unheimlichen, politischen Apparates.

In einem kleinen Raum schiebt man mir wenig später einen Holzstuhl zu, Männer um mich herum, Soldaten, Gesprächsfetzen, von denen ich nichts verstehe, weil die Männer Russisch sprechen. Mir wird übel. Ein Uniformierter steht vor mir und fordert in deutscher Sprache: »Ziehen Sie sich aus, geben Sie Schmuck, Mantel, Handtasche, Hüftgürtel und Strümpfe.«

Ich gehorche, was bleibt mir auch anderes übrig. Dann greift er in mein Haar und beginnt, meinen Knoten zu lösen. Seine Hände sind schmutzig, ich weiche zurück. Hastig und mit zitternden Händen ziehe ich die Haarnadeln heraus. Das Haar fällt mir lang auf die Schultern. Der Posten betrachtet mich mit einem abschätzenden Blick und grinst: »Krasiwo — hübsch!«

Ein anderer schiebt mir ein dickes, schwarzes Buch zu, reicht mir einen Federhalter. Ich soll die Ablieferung meines Eigentums bestätigen. Das ist die erste Unterschrift in diesem Hause — viele sollen folgen.

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Das NKWD-Gefängnis in Berlin-Karlshorst, das ehemalige Antonius-Krankenhaus

 

Wenig später führt mich ein junger Soldat über eine Treppe in den Keller hinab. Auf schmutzig-grauen Läufern gehen wir an vielen Türen vorbei, Türen, auf denen Nummern stehen. Einige starke Birnen brennen; Schlüssel klirren; ein Ventilator summt.

Dann schließt sich hinter mir eine Eisentür. Ich bin allein und sehe mich um: Eine kleine Zelle ohne Fenster, eine nackte Glühbirne in einem Drahtkorb über der Tür, eine Holzpritsche von Wand zu Wand, ein Blecheimer in der Ecke, sonst nichts. Soll das für die nächste Zeit mein Zuhause sein?

Ich bin unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, wage kaum zu atmen, denn diese widerlich süßliche Luft macht mir Angst — ist es Gas? Vor meiner Zellentür höre ich ein grässliches Scheppern von Eisen. Angestrengt lausche ich, stelle mir das Schlimmste vor. Als Kind habe ich mit meinen Eltern die alte Festung Silberberg im Eulengebirge besucht. Da gab es ein Burgverlies, in dem eiserne Folterwerkzeuge ausgestellt waren, an die erinnere ich mich jetzt und bekomme eine Gänsehaut. Plötzlich wird die Zellentür aufgerissen, ich fahre erschrocken hoch.

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Eine Russin in weißem Kittel kommt herein und sagt in hartem Deutsch: »Ziehen Sie sich aus!«

Mit zitternden Händen reiche ich ihr meine Kleidung. Sie nimmt jedes Stück und tastet es sorgfältig ab. Als ich in Slip und BH vor ihr stehe, fühlt sie meinen Körper ab, macht auch vor der Schamgrenze nicht Halt. Widerlich!

Doch sie findet nicht, wonach sie wahrscheinlich sucht: keinen langen Nagel, keine Rasierklinge, mit denen ich Selbstmord verüben könnte. Ehe sie wieder verschwindet, gibt sie mir einen Wink, mich anzuziehen. Die Eisentür schließt sich hinter ihr und ich bleibe verwirrt zurück. Zusammengekauert sitze ich auf dem Pritschenrand, die Zeit vergeht unendlich langsam. Durch den Türspion beobachtet mich ein Auge. Ich halte mir die Ohren zu, um die Geräusche vor der Tür nicht zu hören, Geräusche, die ich nicht deuten kann.

Ich sitze und warte, starre die Wand an. Kein Radio, keine Zeitung, kein Buch, nur das Dröhnen im Kopf.

Der Hintern tut mir weh, ich weiß schon nicht mehr, wie ich sitzen soll. Und die Hüfte fühlt sich wie wund an, sie schmerzt empfindlich vom harten Liegen auf der Holzpritsche.

Dieses Warten macht mich fast verrückt; meine Gedanken laufen im Kreis: Was kann man mir vorwerfen? Weshalb hat man mich in diese Falle gelockt? Was wissen sie von mir? Fragen, auf die niemand eine Antwort gibt. Meine Arbeit bei der DEFA kann es nicht sein, denn die Filmgesellschaft steht ganz und gar unter sowjetischer Aufsicht. Die Russen entscheiden, welche Filme produziert werden und wer sie schreibt. Aber wenn ich an die letzten Monate zurückdenke, muss ich mir doch ein paar Vorkommnisse durch den Kopf gehen lassen — wie die Arbeit an meinem letzten Drehbuch zu dem Film »Frauenschicksale«, das ich zusammen mit dem DDR-Nationalpreisträger und Regisseur Slatan Dudow schrieb.

Es ist bei der DEFA üblich, dass der Regisseur — und dazu noch so ein prominenter wie Dudow — bei der Drehbuchgestaltung das Sagen hat. Aber da gab es einen weiteren Mitarbeiter, was ungewöhnlich war, einen »politischen Berater«, einen Gerhard B. Der Film war nicht politisch, er handelte von Frauenschicksalen in Ost- und Westberlin. Im August wurde der Film uraufgeführt, und Dudow erhielt dafür den Nationalpreis der DDR.

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Dieser politische Berater nun besuchte mich während der Drehbucharbeiten unangemeldet auch in meiner Wohnung in Westberlin, benahm sich ziemlich merkwürdig, durchstreifte meine Wohnung, zog Schubläden auf, blickte in Gefäße, die etwa auf dem Schrank oder im Bücherregal standen. War das schon eine Überprüfung meines Privatlebens gewesen?

Dann die Versuche Dudows, mich in politische Gespräche zu verwickeln. Als ich mich darauf nicht einlasse und sage: »Politik interessiert mich nicht«, kontert er: »Wenn Sie sich nicht für Politik interessieren, wird sich die Politik eines Tages für Sie interessieren.« Sollte das bereits eine Warnung sein?

Es waren prophetische Worte! Nicht lange danach sollte ich der Spionage für die Amerikaner beschuldigt werden.

Nach einer Zeit, die mir endlos vorkommt, erscheint ein Posten und fordert mich auf, ihm zu folgen. Barsch sagt er: »Ruki nasad!« Ich begreife nicht, was er damit meint. Ungeduldig reißt er mir die Hände auf den Rücken und geht mir voran.

Über eine Treppe gelangen wir in die erste Etage, ans Tageslicht. Vor mir liegt ein langer Gang, es gibt Fenster, ich kann einige Bäume erkennen. Im Weitergehen schlägt der Posten immer wieder mit einem großen Schlüssel gegen sein Koppelschloss. Warum er das tut, erfahre ich erst später.

Auch hier Tür neben Tür, mit Nummern. Eine dieser Türen öffnet der Posten und schiebt mich in einen größeren Raum. Lampen blenden mich, ich kann zuerst nichts erkennen. Dann höre ich eine tiefe Stimme, die mich mit stark russischem Akzent auffordert, näher zu kommen.

Vor einem breiten Schreibtisch setze ich mich auf einen Holzstuhl; mir gegenüber — hinter dem Schreibtisch — sitzt ein sowjetischer Offizier, breite Goldlitzen zieren seine Schulterklappen. Er mustert mich aufmerksam. Dann wendet er sich seinen Papieren zu, die vor ihm ausgebreitet liegen. Die Luft im Raum ist drückend, es riecht nach schwerem, süßlichem Parfüm. Das alles registriere ich genau, es wirkt so unwahrscheinlich, als wäre es nur Kulisse.

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Drei Russen betreten das Zimmer, zwei von ihnen in Offiziersuniform, der dritte in Zivil. Sie mustern mich ungeniert, dabei unterhalten sie sich in ihrer Sprache — über mich, vermute ich. Der Zivilist hat ein pockennarbiges Gesicht, er ist offensichtlich der Dolmetscher, denn nun wendet er sich in gutem Deutsch an mich: »Dieser sowjetische Offizier ist Ihr Untersuchungsrichter.« Dabei macht er eine Kopfbewegung zum Schreibtisch hin. »Er wird Ihre Vernehmungen führen und hofft, dass Sie ihm alles und die ganze Wahrheit sagen werden.« Einer der Offiziere unterbricht ihn mit einigen russischen Worten, dann fährt der Dolmetscher fort: »Nun sollen Sie uns erzählen von Ihrer verbrecherischen Tätigkeit gegen die Sowjetunion. Für wen haben Sie gearbeitet, sprechen Sie!«

Verdutzt sehe ich die Männerriege an, sage: »Es ist doch kein Geheimnis, dass ich bei der DEFA beschäftigt bin.«

Der Dolmetscher übersetzt, dann: »Nein, so meinen wir unsere Frage nicht. Wir kennen natürlich Ihr Leben und Ihre Verhältnisse genau. Wir wollen von Ihnen hören, für welchen Geheimdienst Sie gearbeitet haben, nennen Sie Namen, wer waren Ihre Kontaktleute?« Ich antworte: »Ich habe für keinen Geheimdienst gearbeitet.« — »Es ist uns aber bekannt, dass Sie für einen Geheimdienst tätig waren. Warum leugnen Sie?«

»Wenn es Ihnen bekannt ist, warum fragen Sie? Dann wissen Sie mehr als ich.«

»Nun, wir wollen es von Ihnen selbst hören, das wird Ihre Strafe wesentlich beeinflussen. Also, erzählen Sie alles von Ihrer verbrecherischen Tätigkeit!«

Was für eine Strafe, denke ich, und werde ärgerlich: »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Lassen Sie mich in Ruhe mit diesem Unsinn! Ich möchte endlich nach Hause.«

Es wird mir klar: Sie wissen nichts. Aber gleichzeitig wird mir auch klar, dass sie mich unter Druck setzen wollen, dass ich gestehen soll, was sie von mir hören wollen, damit es zu der Strafe reicht, die sie mir zugedacht haben.

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Die Offiziere unterhalten sich einen Augenblick, der Dolmetscher übersetzt: »Es ist leider kein Unsinn, was wir Sie fragen, das wissen Sie selbst sehr genau. Wenn Sie weiter so hartnäckig leugnen, wird es sehr lange dauern, bis Sie wieder nach Hause kommen. Also — nun reden Sie endlich!«

Was soll ich ihnen sagen? Etwas erfinden, was in ihre Absichten passt? Den Gefallen werde ich ihnen nicht tun! Sie sollen erst mal die Katze aus dem Sack lassen, damit ich erfahre, was genau in ihren Köpfen vorgeht. Sie beobachten mich und liegen auf der Lauer wie hungrige Wölfe. Dann beginnen sie ein Gespräch und scheinen mich bald völlig vergessen zu haben.

Die beiden Offiziere verlassen das Zimmer, der Untersuchungsrichter liest in seiner Akte und der Pockennarbige säubert sich mit einem Taschenmesser die Fingernägel.

Ich sitze, warte und grübele. Meine Gedanken kehren zurück zu den Vorkommnissen bei der DEFA, zu dem Drehbuch-Auftrag über Jugendliche in der DDR, die aus politischen Gründen inhaftiert worden waren. Auf der Festung Königstein in Sachsen gibt es eine Jugendstrafanstalt, die ich auch besucht habe, um mit einigen Insassen zu sprechen und Recherchen anzustellen. Ich hielt mich zu diesem Zweck fünf Tage in der Festung auf und hatte da völlige Bewegungsfreiheit. Kurze Zeit nach meiner Rückkehr nach Berlin war es einem Jugendlichen gelungen zu fliehen. Ich wurde bei der DEFA dazu vernommen, man gab mir die Schuld an seiner Flucht: Ich hätte ihn bei meinem Besuch auf der Festung dazu ermuntert und ihm später eine Fluchtmöglichkeit geschaffen. War das etwa wiederum ein Test gewesen, um meine Glaubwürdigkeit zu ergründen?

Und noch etwas fällt mir ein: Wiederholt hatte man bei der DEFA mit mir Gespräche darüber geführt, dass ich in den Osten der Stadt ziehen solle, mit meinem kleinen Sohn, der bei meinen Eltern in Westdeutschland aufwächst. Dafür sollte ich eine Festanstellung bei der DEFA bekommen sowie eine Wohnung in Ostberlin.

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Wie schön waren diese Schulferien für uns beide gewesen, die er bei mir in Berlin verbracht hatte. Ingo war ein aufgeweckter Junge, jetzt neun Jahre alt; fast täglich stand er bei mir auf dem kleinen Balkon, von dem man auf den Hohenzollerndamm blickte, und zählte die Autos, zunächst nach Farben; dann informierte er mich über die vorüberfahrenden Autotypen, die er alle kannte, im Gegensatz zu mir. Wir hatten ein paar schöne Nachmittage im Strandbad Wannsee, er war restlos begeistert über den breiten Sandstrand, »wie am Meer«, meinte er, so etwas hatte er noch nicht kennen gelernt.

Wir waren jeden Tag unterwegs, fuhren mit Tante Molly und Onkel Bernhard hinaus zur Pfaueninsel, die inmitten der Havel liegt und nur mit einem Schiff zu erreichen ist. Seine erste Schifffahrt! Onkel Bernhard wusste viel Interessantes zu erzählen, so etwa, dass die Pfaueninsel als eine Laune der Natur durch eiszeitliche Ablagerungen im Wasser entstanden ist.

Vor mehr als hundert Jahren beschrieb Theodor Fontane die Pfaueninsel mit den Worten: »Wie ein Märchen steigt ein Bild aus meinen Kindertagen vor mir auf: ein Schloss, Palmen und Kängurus; Papageien kreischen, Pfauen sitzen auf hohen Stangen oder schlagen Rad; Volieren, Springbrunnen, schattige Wiesen; Schlängelpfade, die überall hinführen und nirgends; ein rätselvolles Eiland, eine Oase, ein Blumenteppich inmitten der Mark.«

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Mein Sohn Ingo, das »Bübele«, im Sommer 1952 am Wannsee

Nun, eine Oase der Ruhe war es immer noch, aber weder Kängurus und Papageien noch Springbrunnen und Blumenteppiche waren zu entdecken in der 76 Hektar großen Parklandschaft zwischen Berlin und Potsdam, die einst von Peter Joseph Lenne und Hofgärtner Fintelmann im Auftrag der Könige Preußens entworfen worden war. Heute markierten Bojen in der Flussmitte die Grenze zur DDR, und es war ratsam, sie weder mit einem Motorboot noch einem Segelschiff zu überfahren, denn die andere Seite war wachsam, und man konnte schnell in die Hände der östlichen Machthaber geraten. Über die Brücke, die Glienicke mit Potsdam verbindet, fuhren nur amerikanische und sowjetische Militärfahrzeuge, hier wurden später Spione und Agenten ausgetauscht. Für Autos der Bevölkerung war die Brücke gesperrt.

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Nach seinen Schulferien hatte ich Ingo wieder bei meinen Eltern abgeliefert und war nach Berlin zurückgefahren. An der Grenzstation Marienborn wurde ich aus dem Zug geholt, was vorher noch nie passiert war. Man brachte mich in eine Baracke, nahm mir die Personalpapiere sowie den gültigen Passierschein ab. Nach längerem Warten bekam ich die Papiere zurück und durfte die Fahrt fortsetzen.

Diese Zugkontrollen an der Grenze erregten bei allen Reisenden aus dem Westen stets Gefühle der Unsicherheit, denn hier nahmen die Sowjets viele Verhaftungen vor — später die Volkspolizei —, ob mit oder ohne Grund, das stellte sich immer erst nachher heraus. Kurz darauf bot die DEFA mir ein neues Filmprojekt an, ein hochpolitisches Thema: der beginnende Kommunismus in der Ostzone und die Begeisterung der Bevölkerung dafür. An ein solches Thema wollte ich mich aus mehreren Gründen nicht wagen. Meine Ablehnung begründete ich damit, dass ich mich »dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle«. Ich hielt es für sehr diplomatisch, das war es wohl auch, aber jetzt, im Nachhinein, überlege ich, ob es vielleicht zu meiner Verhaftung beigetragen hat.

Nur sehr langsam vergeht die Nacht, ich kann auf dem harten Stuhl kaum noch sitzen. Als der Untersuchungsrichter die Vorhänge zurückzieht, sehe ich einen neuen Morgen heraufdämmern. Ich bin zum Umfallen müde und hungrig. Der Dolmetscher übersetzt höhnisch die letzten Worte des Russen, ehe ich abgeholt werde: »Diese Nacht haben wir sinnlos verbracht, aber es werden noch viele solcher Nächte folgen, wenn Sie weiter so verstockt bleiben.«

Ein Posten bringt mich in den Keller zurück, diesmal öffnet er eine andere Zellentür. Drinnen richtet sich eine Frau verschlafen von ihrer Pritsche auf. Ihr Gesicht ist blass, die Augen liegen tief, das Haar ist stumpf und wirr. Gelbliches, fahles Licht schafft eine unwirkliche, ja gespenstische Atmosphäre.

Der Posten sagt etwas und verschließt geräuschvoll die Tür von außen. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, kann kaum atmen, so schlecht ist die Luft. Die Frau sagt mit kraftloser Stimme: »Treten Sie näher, Sie werden sich hier bald wie zu Hause fühlen. Ich bin Lisa Bauer.« Ich setze mich auf den Rand der Holzpritsche, starre die Frau an. Würde ich auch bald so aussehen wie sie?

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»Es lohnt sich nicht mehr für Sie, sich hinzulegen, die Nacht ist vorbei, gleich wird die Glocke zum Wecken bimmeln.«

Sie legt sich wieder auf ihren dünnen Strohsack zurück und zieht die schmutzige Baumwolldecke über ihren mageren Körper. »Der Posten hat mich beauftragt, Sie in die Gefängnisregeln einzuführen. Aber Sie werden selbst schnell genug dahinter kommen, was erlaubt ist oder nicht.«

»In welchem Gefängnis sind wir hier?«, frage ich. »In Berlin-Karlshorst, im ehemaligen Antonius-Krankenhaus. Noch nie etwas davon gehört, was? Sie sehen so aus, als kommen Sie aus dem Westen, stimmt's?«

»Ja, aus Westberlin.« Ich nenne meinen Namen. »Gestern Vormittag haben sie mich verhaftet.« 

»Weshalb?«

»Das möchte ich auch gern wissen. Die ganze Nacht haben sie mich verhört. Ich soll Verbindungen zu westlichen Geheimdiensten gehabt haben. Das ist natürlich Unsinn. Sie müssen mich ja doch wieder freilassen, ich habe nichts Ungesetzliches getan.«

Lisa Bauer lacht höhnisch-bitter: »Das denkt fast jeder, der hierher kommt. Aber wer einmal in ihren Händen ist, kommt nicht wieder frei. Da machen Sie sich keine Hoffnungen!«

 

Eine schrille Glocke gellt vom Gang her. Ich erschrecke. Lisa Bauer verzieht das Gesicht und seufzt: »Das ist etwas, woran ich mich niemals gewöhnen werde. Wie ich diese Bimmel hasse!«

Sie erhebt sich und klopft ihren dünnen Strohsack zusammen. Dabei spricht sie weiter: »So ein feines Bett bekommen Sie auch, ein bisschen hart, aber man gewöhnt sich daran. Wie gut schläft man darauf, man sehnt sich sogar danach, vor allem nach langen Nachtverhören.« Mir wirbeln die Gedanken durch den Kopf. Mühsam bringe ich hervor: »Wie spät ist es eigentlich?« »Sechs Uhr, Wecken«.

Lisa Bauer geht in die Zellenecke, in der ein Blecheimer steht, hebt ihre Kleider und hockt sich auf den Kübel. Ich drehe mich weg und wundere mich, wie selbstverständlich sie ihre Notdurft hier vor mir verrichtet.

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»Nun gehen Sie auch auf den Kübel, los! Sie haben doch die ganze Nacht beim Verhör gesessen. Ich weiß, dass man sich in der ersten Zeit schämt vor anderen, aber das gibt sich. Was sein muss, muss sein!« Sie hat Recht. Ich leide schon seit einigen Stunden entsetzliche Qualen. Im Gang vor unserer Zelle wird es lebendig. Stimmen sind zu hören, Schritte und Türenschließen.

»Gleich ist Kübeln. Nun können wir den schweren Eimer gemeinsam tragen, bisher musste ich ihn allein schleppen. Zu Ihrer Information noch Folgendes: Wenn ein Offizier oder Posten die Zelle betritt, müssen Sie aufstehen. Hier geht's zu wie beim Militär.« Die Nebenzelle wird verschlossen, jetzt sind wir dran. »Das Wasser in diesem kleinen Kessel muss für den Tag und die Nacht reichen, zum Trinken und zum Waschen!«

Geräuschvoll wird unsere Zelle geöffnet, der Posten sagt: »Kübeln, dawai!«

Wir nehmen den Blecheimer und den Wasserkessel. Die Toiletten befinden sich auf dem gleichen Gang, ein großer, gekachelter Raum mit fünf einzelnen Kabinen. Der Fußboden ist mit Holzrasten ausgelegt, darunter steht schmutziges Wasser. Wir entleeren den Kübel in die Toilette und schütten etwas Chlor hinein.

»Das ist zur Desinfektion«, sagt Lisa, »bespritzen Sie sich nicht, das gibt hässliche Flecken. Wer weiß, wie lange wir unsere Klamotten tragen müssen.«

Wir kehren in unsere Zelle zurück. Draußen geht der Krach weiter, Türenschließen, Stimmen, Schritte.

»Wahrscheinlich werden wir heute die Toilette wischen müssen, dazu nehmen sie gern die Neuen. Aber dann gibt es beim Frühstück eine Extraportion Tee, dafür kann man es schon machen.« Tatsächlich holt uns wenig später der Posten in den stinkenden Toilettenraum. Unsere Arbeit kann beginnen.

Nach dem Frühstück, das aus einem Stück nassen, klebrigen Schwarzbrotes und einem halbem Liter gesüßten Schwarztee besteht, wird es wieder ruhig auf dem Gang. 

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Meine Augen brennen vor Müdigkeit und tun mir weh. Wie gern würde ich jetzt schlafen, aber Lisa Bauer macht mich darauf aufmerksam, dass es verboten ist, sich während des Tages auf die Pritsche zu legen. Der Gefängnistag hat 16 Stunden, die Schlafenszeit dagegen nur acht Stunden, wenn sie nicht durch Verhöre verkürzt wird.

Um mir über die Müdigkeit hinweg zu helfen, erzählt Lisa von ihren Verhören. Sie ist seit fast vier Monaten hier und erwartet ihr Urteil in Kürze. 

»Über die Höhe meiner Strafe mache ich mir keine Illusionen«, sagt sie, »auch mir wird man die Einheitsstrafe geben, 25 Jahre Arbeitslager«.
»Wieso Einheitsstrafe?«
, will ich wissen, »25 Jahre, das ist ja lebenslänglich!«
»Gewiss, aber es ist das übliche Urteil. Etwa 75 von 100 Gefangenen erhalten 25 Jahre.«

Sie macht eine kleine, nachdenkliche Pause und fährt dann fort: »Natürlich ist das lebenslänglich. Entweder man wird vorher begnadigt, oder man geht ein. 25 Jahre Gefangenschaft bei den Russen hält kein Deutscher aus.«

Ich bin entsetzt: »So grausam können nur Menschen sein!« — »Ja, es ist grausam«, bestätigt Lisa, »aber es hat keinen Zweck, sich Illusionen zu machen. Die Russen kennen bei uns weder Gnade noch Mitleid. Dazu kommen dann noch die Arbeitsbedingungen. Wer weiß, wohin sie uns transportieren, in welches Arbeitslager — vielleicht gar nach Sibirien!«

Das alles ist für mich unvorstellbar. 

»Aber es muss doch eine Gerechtigkeit geben!«

Lisa erklärt mir: »Es wird nicht mehr lange dauern, dann bringt man mich von hier nach Lichtenberg, dort finden die Tribunale statt, der Abschluss der Vernehmungen. Und dann erfährt man auch das Urteil. Donnerstags geht immer ein Transport ab, und die Zellen werden bald darauf mit neuen Gefangenen aufgefüllt.« 

»Woher wissen Sie das alles?« frage ich erstaunt.

»Das erfährt man mit der Zeit, hier können die Wände sprechen, ich meine, durch das Klopfen an der Wand von Zelle zu Zelle.« Später erzählt Lisa, wie es zu ihrer Verhaftung kam: »Es begann eigentlich schon 1949, als das NKWD meinen Mann abholte. Wir wohnten damals in Eisenach. Erwin war Sozialdemokrat und wurde wegen politischer Opposition verhaftet. 

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Sie holten ihn aus unserer Wohnung, und ich sah ihn nie wieder. Früher hatte ich mich kaum um Politik gekümmert. Aber nach Erwins Verhaftung arbeitete ich im Rahmen der sozialistischen Widerstandsbewegung, ich fühlte mich durch seine Verhaftung dazu verpflichtet. Kinder hatten wir nicht, so konnte ich mich ganz dieser Tätigkeit widmen. Inzwischen war ich nach Berlin umgezogen. Tagsüber arbeitete ich in einem Büro als Buchhalterin. In den Vernehmungen warfen sie mir auch Zusammenarbeit mit den Amerikanern vor. Sie wissen ja selbst, zu welchen Mitteln sie greifen, um einen Grund für die Verhaftung und Verurteilung zu haben. Ob der nun stimmt oder nicht, die machen das schon passend!«

Ich bin zu keiner Äußerung fähig, die Gedanken wirbeln mir im Kopf herum. Wo bin ich da nur reingeraten?

Auf dem Gefängnisgang herrscht bald Ruhe. In kurzen Abständen schlurft der Posten in seinen Filzpantinen heran und kontrolliert uns durch den Spion, ob wir nichts Unerlaubtes tun. Die Posten sind selbst fast Gefangene mit ihren zehn Stunden Dienst unter der Erde. Durch das kleine Fenster, postkartengroß knapp unter der Decke, fällt ein fahler Lichtschein, der an der gegenüberliegenden Wand ein paar Kringel zeichnet, die langsam weiter wandern. Lisa zeigt darauf und sagt: »Das ist meine Uhr. Ist der Lichtschein kurz vor der Tür, gibt es Mittagessen. Noch ungefähr eine Stunde bis dahin, mein Hunger ist schon wieder gewaltig! Man muss sich erst an das späte Mittagessen gewöhnen. Um sieben Uhr Frühstück mit dem bisschen Brot und Schwarztee, und damit muss man es dann aushalten bis nachmittags vier Uhr zum Hauptessen. Dafür gibt es das Abendbrot schon drei Stunden später.

»Man muss sich aber auch erst an das Essen gewöhnen«, sage ich. »Daran gewöhnt man sich ziemlich schnell, der Hunger zwingt einen dazu. Gleich nach dem Essen können wir dann klopfen«, sagt Lisa. »Wieso klopfen?« frage ich erstaunt, »was ist das?« Lisa lächelt: »Ach ja, ich vergaß, dass Sie neu hier sind. Klopfen ist die Sprache der Gefangenen untereinander, von Wand zu Wand. Man gibt das ABC in Klopfzeichen durch. Für A wird einmal geklopft, für Z 26 Mal, so wie die Buchstaben in der Reihenfolge des Alphabets stehen. Die Geschwindigkeit hängt von der Übung ab. Anfangs ist es etwas mühsam und erfordert Zeit. Alte Gefängnishasen morsen.« »Und mit wem werden wir klopfen?«

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»Mit unserer Nachbarzelle zur Rechten, da sitzt Sylvia Martens, ein junges Mädchen, auch aus Westberlin. Sie hat keine Angst, und wir klopfen jeden Tag, ich kenne fast ihren ganzen Lebenslauf, sie ist seit drei Wochen hier. So gehen die Nachrichten von Zelle zu Zelle, und man erfährt, wer noch hier einsitzt. »Können wir nicht sofort klopfen?«

»Nein, wir müssen die richtige Zeit abpassen, nach dem Mittagessen. Wer beim Klopfen erwischt wird, kommt drei Tage bei Wasser und wenig Brot in den Karzer. Es ist streng verboten.« Vom Gang her ist nun aufdringliches Scheppern zu hören, das Geräusch, das mich schon einmal so entsetzt hat. Rasch kommt es näher. Lisa bemerkt mein Erschrecken: »Was ist? Jetzt kommt das Essen, das ist der Küchenwagen, der so einen Krach macht. Man kann sein Kommen nicht überhören.«

Ich atme auf und erzähle Lisa von meinen Befürchtungen vom Vortage, die Folterwerkzeuge betreffend. Sie kann sich ein Lachen nicht verkneifen: »Sie haben aber Phantasie, so etwas gibt es hier wohl doch nicht. Allerdings — man kann es nicht wissen ...«

Nun wird es auf dem Gang lebendig. Türenschließen, Schlüsselklappern, Wortfetzen — das Essen wird ausgeteilt.

Als ich dann vor der dünnen Kohlsuppe sitze, in der einige Stückchen Fleisch schwimmen, ist mir der Hals wie zugeschnürt. Mit Ekel schiebe ich die dunkelbraune, angeschlagene Emailleschüssel von mir. Lisa hat mich beobachtet. Behutsam schiebt sie mir die Schüssel wieder zu und sagt: »Nun denken Sie mal nicht, sondern essen Sie. Zum Frühstück haben Sie nur den Tee getrunken, das Brot liegt noch da. Sie müssen essen, müssen an Ihre Gesundheit denken. Sie wollen doch lebend hier wieder herauskommen.«

Ich wische mir die Tränen ab und esse widerstrebend ein paar Löffel voll. Ich habe wirklich großen Hunger, denn es ist die erste Mahlzeit seit zwei Tagen. Natürlich will ich die Prozedur, die hier noch auf mich wartet, lebend überstehen.

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Wieder einmal öffnet sich der Spion, und das große Auge des Postens ist zu erkennen. Danach sagt Lisa: »So, ich glaube, jetzt können wir klopfen. Achten Sie auf den Posten und warnen Sie mich, wenn er kommt.«

Sie setzt sich auf den Kübeldeckel, dann kommen ihre Klopfzeichen so schnell, dass ich nicht mitzählen kann. Ich starre zur Tür. Ehe der Posten erneut späht, ist Lisa schon fertig, sie sagt: »Das war Sylvia, es gibt keine Neuigkeiten heute.«

Zum Abendessen gibt es einen gelblichen, dicken Brei. »Das sind Froscheier, Erbsmehl mit Sago«, sagt Lisa, »die gibt es jeden zweiten Abend. Aber einmal in der Woche, am Sonntagabend, werden dicke Nudeln ausgeteilt. Obwohl sie nur in Wasser gekocht werden, ist es ein Festessen. Darauf freue ich mich schon die ganze Woche über.« Nun, diese Aussichten machen mir die »Froscheier« auch nicht schmackhafter.

Dann bin ich an der Reihe, mein Leben zu erzählen: »Ich wurde in Schlesien geboren und hatte mit meinen beiden Brüdern eine schöne Kindheit. Wir wuchsen in dem Weberdorf Langenbielau auf, das durch das Drama Die Weber von Gerhart Hauptmann bekannt wurde. Mein Vater war Angestellter einer großen Textilfirma, meine Mutter Sportlehrerin. Nach meinem Einjährigen auf dem Gymnasium, der Mittleren Reife, machte ich eine dreijährige kaufmännische Lehre. Langenbielau im Eulengebirge, mit acht Kilometern ehemals das längste Dorf Schlesiens, hatte inzwischen die Stadtrechte erhalten.

Deswegen und aus Anlass des 700-jährigen Bestehens sollten in einem dafür hergerichteten Freilufttheater Hauptmanns Weber aufgeführt werden. Die halbe Bevölkerung spielte als Komparsen mit, meine Mutter und ich ebenfalls. Die Hauptdarsteller kamen vom Theater im benachbarten Schweidnitz, das auch die Kostüme zur Verfügung stellte. Bei der Generalprobe einen Tag zuvor stand Gerhart Hauptmann mit wehender weißer Haarmähne auf dem obersten Bühnenabschnitt und gab letzte Regieanweisungen. Ich sehe ihn noch vor mir, seine große, stattliche Gestalt in derber Sportkleidung, wie er mit ausgestrecktem Arm seine Weisungen erteilte. Ich war gerade im Backfischalter und verehrte ihn sehr. Zur Uraufführung am 1. September kam es nicht mehr, der Krieg war ausgebrochen, fast alle jüngeren Männer hatte man schon zur Wehrmacht einberufen.

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Ich wurde kriegsdienstverpflichtet und arbeitete im Büro eines Luftwaffen-Ausbildungslagers im nahe gelegenen Reichenbach. Später musste ich in einem Sanitätspark von morgens 7 bis abends 18 Uhr an einer Webmaschine arbeiten, im ehemaligen Textilwerk Christian Dierig, dem mein Vater immer noch angehörte und das zu Friedenszeiten dem größten Teil der Bevölkerung Arbeit und Brot gegeben hatte. Nun war es zur Sanitätsfabrik umfunktioniert worden zwecks Herstellung von Verbandsmaterial für die Front.

Meine zwei Brüder waren als Soldaten im Einsatz: der ältere, Jochen, als Matrose auf dem Kreuzer Admiral Hipper, Horst, der jüngere, bei den Panzer-Grenadieren.

Ich lernte in der Tanzstunde einen netten Jungen kennen, meinen Tanzherrn. Wir verliebten und verlobten uns. Er wurde Soldat, und ich bekam ein Kind von ihm, sozusagen als Abschiedsgeschenk, denn er kehrte nicht zurück aus dem Krieg.«

Ich fühle mich wieder in jene Zeit versetzt, denke an mein »Bübele« — so hatten meine Eltern und ich ihn genannt, weil uns der Taufnahme Ingo zu streng vorkam für so ein kleines Menschlein. Ich las zur Zeit meiner Schwangerschaft den Roman von Gustav Freitag Die Ahnen, darin die Geschichte von »Ingo und Ingraban«. Ingo hatte es mir angetan. 

Bübele war meine Liebe und mein schlechtes Gewissen. Meine Mutter war einmalig, sie hielt zu mir, beriet und beruhigte mich. Als wir gemeinsam meinem Vater, der sehr strenge Ansichten hatte, meinen Zustand beichteten, war erst mal die Hölle los. Ich sehe mich noch ganz klein und zerknirscht vor ihm stehen und höre seine Worte: »So, so, mein Fräulein Tochter kriegt ein Kind, ein uneheliches Balg! Was hast du dir nur dabei gedacht?« 

Nun, gedacht hatte ich mir »dabei« gar nichts.

Meine Mutter führte nach meinem Geständnis noch lange und lautstarke Gespräche mit meinem Vater, ohne mich. Schließlich hatte sie ihn so weit gebracht, dass ich nicht aus dem Hause musste, wie er mir zunächst androhte, sondern bleiben durfte mit dem »unehelichen Balg«, um das auch meine Eltern sich kümmern wollten. »Den kriegen wir auch noch groß«, sagte meine Mutter; sie war eine wundervolle, eine tapfere Frau!


Lisa unterbricht meine Grübelei und bittet, meinen Bericht über mein Leben fortzusetzen. Also: »Als der Krieg seinem Ende zuging und die deutsche Wehrmacht sich immer weiter zurückzog, Breslau verteidigte und dann aufgeben musste, wurde das kleine Langenbielau erst zum Sammelpunkt von Flüchtlingen aus Breslau und Umgebung, danach für die zurückweichenden deutschen Truppen.

Am 15. Februar 1945 wurde Breslau von den sowjetischen Truppen eingekesselt. So schnell, wie die deutsche Wehrmacht über das Eulengebirge verschwand, so schnell rückten die russischen Truppen nach. Am 6. und 7. April 1945 wurde Breslau von ihnen erobert, es fiel in Schutt und Asche.

Bei uns wurden Häuser und Wohnungen beschlagnahmt, alles musste zusammenrücken. Es gab Plünderungen und Vergewaltigungen. Meine Eltern versteckten mich auf dem oberen Boden unseres Hauses zwischen den Schornsteinen, nur bei Dunkelheit durfte ich, unkenntlich vermummt, über eine Leiter in den hinteren Teil unseres Gartens, um frische Luft zu schöpfen.

Es gab keine Lebensmittel mehr, jeder musste sehen, wie er durchkam. Wir besaßen einen großen Garten, meine Eltern bauten Kartoffeln, Gemüse und Obst an, meine Mutter hatte alles Mögliche eingekocht, so litten wir noch keine Not.

Es dauerte nicht lange, da waren auch die Polen da und forderten von der deutschen Bevölkerung Tribut. Da Russen und Polen einander nicht mochten, gab es viele Konflikte, unter denen natürlich die Bevölkerung zu leiden hatte. Für uns war es eine Zeit der Ohnmacht. Doch nicht nur Flüchtlinge kamen nach Langenbielau, sehr viel Vieh aus der Umgebung wurde auf die großen Weiden am Gebirge getrieben. Niemand kümmerte sich um die Kühe, die nicht gemolken wurden und große Qualen ausstanden; ihr Schreien hörte man in der ganzen Umgebung. Wir — die Bevölkerung — hatten unseren Nutzen davon, wir gingen auf die Weiden, um zu melken. Das jedoch war nicht so einfach, es sah folgendermaßen aus: Meine Mutter, bewaffnet mit einem großen Eimer, pirschte sich an eine Kuh heran, und während ich das Tier an den Hörnern fest halten musste, begann sie zu melken. 

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Anfangs war das Ergebnis etwas mager, aber von Tag zu Tag ging es besser, und wir kochten uns herrliche Gerichte von der frischen, fetten Kuhmilch. Unser Haus wurde von Russen besetzt, ein Oberst mit seinem Stab. Wir wurden im obersten Stockwerk in zwei Zimmern einquartiert. Der Oberst, ein russischer Jude mit guten Deutschkenntnissen, wurde uns ein Freund, beschützte uns, wo immer er konnte; gab uns Bescheinigungen, dass wir unter seinem Schutz ständen, und das hat uns sehr geholfen. Ich blieb von Vergewaltigungen verschont. Vati spielte mit dem Oberst viele Partien Schach.

Später hieß es, dass wir Deutschen für Polen optieren sollten, das jedoch wollte fast keiner. Gerüchte machten die Runde, eine Zwangsausweisung stehe uns bevor. Wir machten uns mehr und mehr damit vertraut, doch meine Eltern wollten auf keinen Fall das Haus verlassen. Auf den Straßen wurde es immer unsicherer, nachts durften wir nicht aus dem Haus, nur am Tag und zu bestimmten Stunden die Straße betreten, dazu mussten wir weiße Armbinden tragen, als Kennzeichnung, dass wir Deutsche sind. Es war eine schlimme Zeit. 

Ingo, der in meinem Elternhaus zur Welt kam, wurde für meine Eltern der Sonnenschein und rettete ihnen und mir schließlich durch sein Dasein das Leben. Mein Vater machte nämlich seine Drohung nicht wahr, uns mit unserem Haus in die Luft zu sprengen, falls wir durch die Polen hinausgezwungen würden.

Dann kam der Tag, an dem wir aufgefordert wurden, die Stadt zu verlassen und uns in der Kreisstadt Reichenbach zu sammeln, wo die Transporte zusammengestellt wurden. Wohin? Das wusste keiner zu sagen.

Ich habe noch immer vor Augen, wie wir mit Rucksack, Taschen und Koffern das Haus verließen; jeder durfte nur so viel mitnehmen, wie er tragen konnte. Auch unser fünfjähriger Ingo bekam einen kleinen Rucksack. Es war kurz vor Ostern 1946, im Garten blühten die ersten Osterglocken. Mutti brach ein paar davon ab und legte sie beim Abmarsch oben auf unser Gepäck. »Das war's.« 

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Mein Elternhaus in Langenbielau, Schlesien, kurz vor unserer Vertreibung 1946

 

Kurz bevor die Glocke zum Schlafengehen bimmelt, werde ich wieder zum Verhör geholt. Und ich habe mich so sehr auf den Schlaf gefreut. Mir zittern Hände und Knie, als der Posten fragt: »Kak familija?« Ich nenne meinen Namen und folge ihm, es geht in den ersten Stock. Das Vernehmungszimmer ist hoch und kahl; ein Fenster mit Gittern, ein Schreibtisch für den Untersuchungsrichter, daneben ein Stuhl für den Dolmetscher, davor der Holzstuhl für den Gefangenen. Es ist der gleiche Untersuchungsrichter wie am Tag zuvor, ich habe ihn »Langohr« getauft wegen seiner riesigen Ohren.

Dann kommen die gleichen Fragen, die gleichen Anschuldigungen, die ich nun schon kenne. Ich gebe die gleichen Antworten. Ich bemühe mich, das Zittern zu verbergen. Weshalb zittere ich überhaupt? Ich weiß es nicht, kann es aber nicht unterdrücken.

Stundenlange Verhöre gehören zu ihrer Taktik der Zermürbung, eintönig durch die ständigen Wiederholungen, ermüdend, quälend durch die verbrauchte Luft, obendrein das widerwärtig süße Parfüm der Vernehmungsrichter, dazu der Zynismus der Verhörspezialisten.  

Von Lisa weiß ich inzwischen, dass sie verschiedene Methoden der Vernehmung haben. Mal höflich, sogar freundlich, sodass der Häftling Hoffnung schöpft, es werde doch noch alles gut. Beim nächsten Verhör kann es ganz anders sein, dann sind sie grob, ja ausfallend und verletzend, oder sie versuchen es mit Spott, der wiederum leicht in Bedrohung, ja Gewalt umschlagen kann.

Heute wendet der Untersuchungsrichter eine eher behutsame Taktik an, als er mich höflich fragt: »Sie haben im Auftrag der Amerikaner die Festung Königstein besucht, um Jugendlichen, die wegen politischer Vergehen dort einsaßen, zur Flucht in den Westen zu verhelfen. Erzählen Sie uns davon.« — »Wenn Sie das wissen, dann wissen Sie auch, dass ich den Auftrag von der DEFA erhielt. Ich sollte dort Recherchen für ein neues Filmprojekt über Jugendstrafanstalten anstellen.« — »Wir sehen das aber anders. Erzählen Sie uns von dieser verbrecherischen Tätigkeit.«

So geht das eine Weile hin und her. Schließlich gibt der Vernehmende auf und legt eine Pause ein. Meine Müdigkeit ist inzwischen so stark, dass ich kaum die Augen offen halten kann. Ich habe nun schon seit 44 Stunden nicht mehr geschlafen. Der gut geheizte Raum verdoppelt noch das Schlafbedürfnis. Wiederholt fällt mir der Kopf vornüber, und ich schrecke hoch, als ich vom Dolmetscher angesprochen werde. Ich erlebe das alles nur noch im Dämmer­zustand.

Ein paar Stunden darf ich dann doch noch schlafen. Meine Kleider behalte ich an, als ich mich auf die Pritsche fallen lasse, denn es ist kalt in der Zelle. Ich spüre den dünnen Strohsack nicht; schon halb schlafend ziehe ich die Baumwolldecke bis ans Kinn, sie über die Augen zu ziehen, ist verboten. Dann sinke ich in einen ohnmachtähnlichen Schlaf.

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