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8  Die Guten und die Schurken oder Karneval der Revolution   

Reich-1992

 

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Das historische Dilemma Intelligenz: Sie weiß zwar stets, wie es weitergehen muß, aber sie bringt den störrischen Esel nicht zum Ziehen. Der gesell­schaftliche Gesamtarbeiter gehorcht nicht mehr, wenn die Intelligenz an der Macht ist. Wenn das Muli nicht ziehen will, dann hat der Landmann die Wahl: Entweder er drischt mit der Peitsche darauf ein, oder er setzt sich in die Taverne, scherzt und trinkt eine Flasche Chianti.

Genauso spaltet sich der Intelligenzler in zwei Charaktermasken. Beide wurden archetypisch in der Französischen Revolution vorgeführt. Robespierre, erzürnt. Das Volk will nicht begreifen, daß das Glück in der Tugend liegt. Er versucht es mit dem Kult des Höchsten Wesens und mit der scharfen Guillotine. Danton, der lachende Narr. Er schlägt sich die Flausen aus dem Kopf, läßt alles fahren, als es in ernste Arbeit ausartet, Regierungsarbeit.

Nach 1917 haben sie auch zwei Strategien versucht. Auf den Muschik eingedroschen und ihm Schmeicheleien gesagt. Beides vergebens. Dann sauste die Knute, dann zogen sie Landsknechte, danach kam die Büroherrschaft.

In der Gorbatschowtschina verliert der Intelligent endgültig die Laune. Er hat das Zarenreich verspielt; er hat die Faxen satt, er gibt auf, er dankt ab.

  Balken und Mörtel 

Wenn im gemauerten Gebäude der schlechte Mörtel austrocknet und herausrieselt, dann stehen nur noch die Steine aufeinander. Es genügt ein leichter Stoß, um es zum Einsturz zu bringen. Obwohl die Statik sich nicht im geringsten geändert hat. Das mechanische System ist so fest, wie es vorher war. Es ist immer metastabil, weil der tatsächliche Gleichgewichtszustand stets der zusammengebrochene Ziegelhaufen ist. Mörtel in den Fugen hat die Kraftlinien des ruhenden Gebäudes nur unwesentlich beeinflußt.

Was sich entscheidend geändert hat, ist die Stabilität gegen Störungen, gegen Stöße, gegen Sturmwind, gegen langsames Verrutschen des Gefüges. Hat das Gebäude offene Fugen, dann ist es gegen derartige Auslenkungen aus dem statischen Gleichgewicht extrem labil geworden. Es wird einfacher, eine Auslenkung zu bewerkstelligen, die den Übergang in den endgültigen Gleichgewichtszustand, den Zusammenbruch, einleitet.

Dem Gebäude des Staatssozialismus ist es ähnlich ergangen. Der Kitt in den Fugen ist locker geworden. Im Bestreben, die bedrohlich werdende Schieflage zu korrigieren, hat Gorbatschow noch zusätzliche Fugen geöffnet. Die Korrektur ist nicht gelungen; also hat er die Destabilisierung im Effekt noch beschleunigt. Insofern haben seine Kritiker recht.

Im Gebäude des Staatssozialismus hatte nicht jeder Stein die gleiche Funktion für die Festigkeit des Ganzen. Es gab vielmehr ein Skelett, das alles im Großen zusammenhielt, auch wenn einmal an der einen oder anderen Stelle ein Loch klaffte. Dieses Skelett bestand aus tragendem Mauerwerk und Stützbalken. Zum Skelett gehörten der Parteiapparat, die Armee, die Polizei und die Sicherheit.

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Erst als dieses Gerüst zu wackeln begann, wurde das Ganze so instabil, daß es nahezu von selbst einstürzte, ohne große Erschütterung. In Rumänien oder China waren die Stützen fester als in den osteuropäischen sozialistischen Ländern. Um dort einen autokatalytischen Zusammenbruch herbeizuführen, bedarf es schon eines kräftigen Stoßes.

Wenn das Skelett brüchig wird, beispielsweise weil die Balken wurmstichig sind und keine Last mehr tragen können, dann entsteht eine andere Art der Instabilität, als wenn der Mörtel sandig wird. Fehlt der Mörtel nur, dann bricht das Gebäude nicht zusammen, sondern die nackte Konstruktion bleibt stehen.

Der Staatssozialismus hatte die Wahl zwischen diesen beiden Krisen: Einsturz des Gebäudes wegen Kittaustrocknung oder Diktatur des Skeletts über das faulige Fleisch.

Die Analogie zur Gebäudestatik ist deshalb instruktiv, weil der Staatssozialismus seit langem aufgehört hat, ein lebendiger Organismus zu sein; er war verkalkt, erstarrt. Wer in den siebziger Jahren die Sowjetunion bereist hat, dem dürfte nicht entgangen sein, daß hier ein ohnmächtiges Gesellschaftssystem auf den Todesstoß wartete. Symbol dafür war der alte Breschnew, den sie vom klinischen Tod ins Leben und in ein flaches Bewußtsein zurückgeholt hatten und der das Land noch fast zehn Jahre regieren sollte. Genauer gesagt: der den Schein von Machtkonzentration und Regierungsfähigkeit wahren sollte, wofür er über einen ganzen Stab von Beratern verfügte, die nichts anderes zu tun hatten, als die Hinfälligkeit des Greises vor den neugierigen Augen der Untertanen und der Welt zu vertuschen.

Am Sturz des Sozialismus waren drei Gruppen mit unterschiedlichen Zielen beteiligt. Die einen wollten das System schlicht einreißen. Das Ganze war verfehlt, weg damit.

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Beitritt nach Artikel 23 noch diesen Nachmittag, wozu lange Staatsverträge aushandeln? Andere wollten abtragen. Auch bis aufs Fundament, aber so, daß man Bretter, Dielen, feste Balken und Steine noch verwenden konnte, so daß nicht alles auf dem Schutthaufen landet. Schließlich gab es eine dritte Gruppe, die wollte umbauen. Sie wollten den Dachstuhl abstützen, um einen tragenden Balken zu ersetzen. Sie wollten brüchiges Mauerwerk abnehmen und neu hochmauern. Die Gesamtkonstruktion war ihnen verbesserungsbedürftig, aber auch wert, erhalten zu werden.

Die Revolution verlief überall dort friedlich, wo diese drei Intentionen für einen kurzen historischen Moment nebeneinander existieren konnten, wo die Agierenden die Illusion haben konnten, daß genau ihr Konzept eine reelle Chance hat.

Es hat sich in der UdSSR und in Ungarn gezeigt, daß der Umbau nicht funktioniert. Wenn tragende Balken morsch und die Fugen locker sind, dann fällt beim Abstützen und Umbauen alles auseinander, dann ist jeder Versuch vergebens.

Ob geordnetes Abtragen möglich ist, wird sich noch zeigen. Es bedarf einiger Zeit und Geduld, und es darf keinen Sturm geben. Die Tschechoslowakei und Polen versuchen es auf ihre eigene Weise.

Die DDR hat den sofortigen Abriß gewählt. Sie konnte das, mußten ihre Menschen doch auch nicht befürchten, nach dem Abriß mit Hurra frierend im Freien kampieren zu müssen. Es war vorhersehbar, daß ihnen das durch ihre deutsche Nachbarschaft erspart bleiben würde. So konnten sie leichten Herzens und, wie sich gezeigt hat, etwas voreilig und leichtsinnig darauf verzichten, vom Besitztum noch irgend etwas zu retten. Es war nicht nur die Masse der Hunderttausenden, die sich nicht vorstellen konnten, welche biographische Katastrophe Arbeitslosigkeit in einer strukturschwachen Region mit sich bringen kann.

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Auch Zehntausende von Menschen in Intelligenzberufen hatten die Illusion, daß gerade sie smart genug wären, den Zusammenbruch für einen eleganten Neustart nach oben nutzen zu können.

Voreilig und leichtsinnig meine ich im wörtlichen Sinne, gar nicht mit tadelndem Beiklang: Sie hatten es sehr eilig und waren dabei leichten Herzens und froher Hoffnung. Sie glaubten dem Wahlplakat mit dem Foto des staubtrockenen; Preußengesichts mit dem Bart und der Brille und der vielversprechenden Unterschrift: Wohlstand für alle! Präziser ihren Intentionen entsprechend wäre gewesen: Mit uns entkommt ihr dem totalen Zusammenbruch! Wir bieten Unterkunft!

Es war zu spät für Abriß, für Abtragung, für Umbau. Vor langer, langer Zeit wären das noch streitfähige Alternativen gewesen. Es war, als hätte man den ganzen trockenen Sommer über gewartet, nachdenklich die offenen Fugen und das morsche Gebälk betrachtet, um nach Einsetzen der Herbststürme und der ersten Schneefälle und Fröste gleichzeitig mit aller drei Unternehmen zu beginnen.

Es war zu spät. Vor zehn Jahren vielleicht, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, da wären die Optionen vielleicht noch offen gewesen. Sogar noch 1968 zusammen mit der CSSR. Da waren die Schulden geringer und die Substanz noch nicht völlig ausgelaugt. Da wäre ein Start aussichtsreicher gewesen.

Mußten wir tatsächlich zuwarten, bis die Balken hoffnungslos morsch waren? Hätten wir den lockeren Mörtel eher bemerken können? Ist gesellschaftlicher Mörtel überhaupt das gleiche wie Baumörtel? Muß man da jede Fuge mühsam auskratzen, solange er fest ist? War er jemals fest gewesen?

Oder hätte es eines Paradigmenwechsels bedurft? Man sprüht eine Weichmachersubstanz an die Mauern, und der Mörtel gibt von selbst die Fugen frei?

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Das sind alles Fragen im nachhinein, und mit der Kenntnis des Geschehenen. Sie sind für die Vergangenheit müßig, aber für die Zukunft von Bedeutung. Wie sollen wir das nächste Mal handeln, wenn wir die Wahl haben zwischen bequemem Schweigen und ungemütlichem Protest?

 

Wir haben es immer gewußt 

 

Ich kenne Menschen, die lange an den Sozialismus geglaubt haben. Sie meinten, daß es trotz aller Geburts­wehen und Kinder­krankheiten möglich sein müßte, diese Gesellschaftsformation so zu gestalten, daß sie von der Bevölkerung angenommen wird.

Diese Menschen müssen sich jetzt fragen, ob sie für ihren Glauben zuwenig getan haben. Oder sie nehmen die Opferideologie an und fühlen sich von Honecker, Mittag und Mielke betrogen. Das ist nicht sehr überzeugend: Eine Handvoll Bösewichter mit antifaschistischer Vergangenheit soll die gute Sache verraten haben. Noch eine Alternative: Die Bürokraten sind schuld, wir selbst haben immer wieder unser Bestes versucht. Das ist etwas glaubwürdiger, weil man dann nämlich an jedem Ort sich einen Bürokraten, einen Aufpasser vorstellen kann, der alles verhindert hat und dem man nicht gewachsen war. Dann war nicht nur die Clique oben schuld, sondern überall saßen die Verräter der Idee. Man war lediglich zu schwach. Vielleicht auch nicht konsequent genug im Widerstand. Das letztere muß man eigentlich denken, wenn man sich vergegenwärtigt, wie leicht der tönerne Koloß zusammengefallen ist.

Zu all diesen Menschen gehöre ich nicht. Ich habe mein ganzes Leben lang gewußt, zu wissen geglaubt, daß der reale Sozialismus nicht funktionieren wird und zerfällt, sobald die harte Faust nicht mehr spürbar ist.

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Ich hätte leidenschaftlich gern gesehen, daß der Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der CSSR eine Chance erhält, aber richtig geglaubt habe ich auch daran nicht. Ich hätte das für fair gehalten, und ich hielt die ganze Intention für nobel, aber es war von vornherein zu utopisch, zu intellektuell – meinte ich jedenfalls damals.

Ich habe es also immer besser gewußt. Aber während ich früher daraus das Überlegenheitsgefühl des besser Informierten ableiten konnte, will mir das heute, post festum, nicht mehr gelingen. Ich habe Gewissens­bisse. Ich sehe, daß ich zur Intelligenz­schicht gehört habe, die stillschweigend funktionierte, obwohl sie dagegen war. Wer außer uns hätte das Gebäude eher zum Einsturz bringen können?

Vor allem beklage ich, daß viel zu lange gezögert wurde. Mindestens zehn, wenn nicht zwanzig Jahre. Ich habe durch passives Funktionieren die Agonie verlängert. Wäre das Ganze 1968 passiert und nicht 1989, dann wäre ich neunundzwanzig Jahre alt gewesen und nicht fünfzig. Es gäbe nicht die verlorene Generation der Mittfünfziger, wir hätten weit bessere Start- und Verhandlungs­bedingungen.

Ganz richtig. Wir hätten. Wir wären. Geschichte im Konjunktiv. Ist es der Konjunktiv der verpaßten Möglichkeiten oder der nachträglichen Imagination? Ist es der Konjunktiv, daß ich statt Medizin auch hätte Mathematik studieren können, oder der Imaginativ, ich hätte auch ein bedeutender Violinvirtuose werden können?

Ein wenig lassen sich die Konjunktive durch die Gegenüber-Stellung mit der Realität einschränken.

Selbstverständlich, am Anfang stand die nackte physische Angst. Jeder wußte, wie schnell man abgeholt werden und auf Nimmer­wiedersehen verschwinden konnte. Da ist es billig, Mut und Leidenschaft einzufordern.

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Am Ende allerdings war Angst nicht mehr entschuldbar. Notwendig war «nur» Zivilcourage, sich dem Engagement der anderen anzuschließen und nicht aus den Augenwinkeln zu beobachten, ob es den Mutigen erwischt oder nicht, in steter Bereitschaft, sofort den Kopf einzuziehen, wenn es brenzlig wird.

Es hat ihn also gegeben, den Übergang. Ab wann war aus Vorsicht Feigheit geworden?

Es gibt konkrete Beispiele. Polen hat mehrere mutige Aufstände gesehen. Die ersten, 1956, 1968, 1970, scheiterten. Schon 1976 gelang die Unterdrückung nur mit Mühe, und 1980/81 erlebte das Land den ersten großen gewaltfreien Aufstand. Die Prager Charta 77: eine Handvoll mutiger Intellektueller, von ihrem Volk allein gelassen. Havemann und Biermann: mit voller Unterstützung durch die Westmedien zu Hause allein geblieben. Rudolf Bahro: der Versuch einer Reform des schon alternden Systems - Verhaftung, Ausweisung, die Zurückbleibenden studieren sein Buch hinter verdunkelten Fenstern, letzten Endes ist er allein geblieben. Andrej Sacharow: Er nahm den Kampf um die Menschenrechte auf und endete vereinsamt – bevor Gorbatschow ihn befreite – im Hungerstreik gegen den Hausarrest und für die Augenoperation seiner Frau.

Die Beispiele zeigen, daß mehr möglich war als die Existenz einiger versprengter kleiner Dissidentengruppen und beflissene Gespräche über Kirche im Sozialismus. Mehr auch als die private Lösung der Auswanderung, die Tausende wählten.

Was soll das alles? Diese Selbstbezichtungen. Ist das aktuell? Droht etwa eine neue Diktatur?

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Nein, das nicht. Aber die Zukunft bringt Entscheidungen, die radikales Neudenken und Entschlüsse verlangen und nicht Abwarten, Zusehen und Vorsicht. Ich habe Angst, daß wir wieder zu spät kommen könnten. Daß Zivilcourage wieder viel zu spät zu Solidarität, Widerstand und kreativer Umkehr führt. In der Existenzkrise der Zukunft werden wir nicht von einer glück­lichen Fügung aufgefangen werden.

 

Demoskopie 

Es gab zwei Arten von Regimekritikern, ebenso zwei Sorten «positive Kader», auch zwei Varianten von Neutralen. Die Ideologie mit dem universellen Gültigkeitsanspruch brachte diese klare Polarisierung zustande.

Regimekritik war prinzipiell entweder «immanent» oder «transzendent», reformerisch oder systemüberwindend. Die zweite Variante artikulierte sich nur sehr selten, weil sie leichter zu erkennen und leichter zu kriminalisieren war. Alexander Solschenizyn war ihr prominentester Vertreter. Er hielt schlichtweg das ganze System für eine Spottgeburt aus Dreck und Feuer, die das heilige Rußland verdorben und die sinnvollen Reformen und Modernisierungs­ansätze der ersten beiden Jahrzehnte des Jahrhunderts kupiert hatte.

Die meisten Dissidenten hatten demgegenüber Systemreform im Auge. Sie meinten entweder Rückkehr zu den geheiligten Schriften, zu den ersten Anfängen, oder Anreicherung durch moderne Entwicklungen, Pluralismus, Menschenrechte, Dezentralisierung des politischen Lebens, Demokratie, auch effizienteres Wirtschaften und Managen.

Diese Gruppen hatten den besseren Hebel, weil sie geheime Sympathien im Apparat mobilisierten. Solschenizyns schroffe Ablehnung erzwang eine eindeutige Stellungnahme ohne Wenn und Aber – nur wenige ließen sich auf ihn ein. Er war zu frech.

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Roy Medwedew dagegen argumentierte so diplomatisch, daß er geradezu zu einer geduldeten, weil ergänzenden Instanz und Nebeninterpretation der orthodoxen Linie wurde.

Die prinzipiellen Opponenten trafen die Neigungen der «Masse» offenbar genauer. Sozialismus verfehlt, zurück in den Kapitalismus – das war der einfache Kurzschluß. Er war, ob in Polen, Ostdeutschland oder Ungarn, einleuchtend genug, um die Reformer sehr schnell an den Rand zu drängen. In Rußland ist ein solcher Ausweg nicht so leicht zu finden. Hier finden sich die ehemaligen Fundamental­opponenten absurderweise in der Fraktion der Konservativen wieder. Sie verlangen die Ablösung der Parteiherrschaft durch eine Ordnung, die endlich wieder Autorität zu ihrem Recht kommen läßt. Hinzu kommt die traditionelle, vehemente Ablehnung der westlichen Lebens- und Wirtschaftsweise.

Auch die Menschen, die das Regime aktiv unterstützten und in ihm Karriere machten, passen in verschiedene Kategorien: Pragmatiker, Zyniker und Gottesknechte. Die letzteren, Narren in Christo, überzeugte Sozialisten, wurden in der Spätphase immer seltener. Die ersten beiden, die Pragmatiker und die Zyniker, waren nicht bereit, ihre Haut der Ideologie zu opfern, und achteten darauf, rechtzeitig zu den stärkeren Bataillonen überzuwechseln.

Die Regimekritiker haben in keinem der Länder mehr als 15 Prozent der Bevölkerung hinter sich bringen können, mit Ausnahme von historischen Sekunden: Sommer 1980 in Polen, Oktober 1989 in der DDR, November 1989 in der CSSR. Aber das waren Sonderfälle.

Die Stützen des Regimes waren allerdings ebenfalls in der Minderheit, als Zahl ein Schätzwert: 15 Prozent. Die kommunistischen Parteien wußten sehr wohl, daß das Volk «noch nicht reif» war.

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Bei jeder halbwegs freien Wahl fielen sie durch, 1948 ebenso wie 1991, in allen Ostblockländern. Deshalb wurde das Blockwahlsystem erfunden, das auf feine Weise sicherstellte, daß die Bevölkerung ihre Meinung nicht kundtat, sondern das Ganze als Anwesenheitskontrolle auffaßte und entsprechend reagierte: Sie ging halt hin und ließ sich eintragen.

Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung waren mithin zu allen sozialistischen Zeiten «schweigende Watte». An dieser Watte ist das administrative Kommandosystem letzten Endes gescheitert. Zu seiner Funktion und Stabilität benötigte es «den Rücklauf» aus der Bevölkerung. «Wie ist denn so die Stimmung bei euch?» fragte Ulbricht seine Provinzfürsten, wenn er dem «Flächenbezirk» seinen Besuch abstattete. «Gut, Genosse Ulbricht, die Menschen im Bezirk diskutieren die neuen lohnpolitischen Maßnahmen in positivem Sinne!» lautete die Antwort.

Tatsächlich wußten weder Bezirkssekretär noch Generalsekretär etwas von der Stimmung unter «den Menschen». Auch der Horchapparat der Stasi wußte nichts Genaues, da er nur das erfuhr, was die Menschen zu sprechen wagten, was andere zu denunzieren für richtig hielten, was der für einen Bereich zuständige Offizier weiterzumelden für ratsam erachtete und was bei der Übersetzung in Mielke-Chinesisch davon auch bei vollzynischer Einstellung zu Berichten überhaupt noch übrigblieb.

Es war beruhigend für den Verlauf von Alltag und Festtag, Planberatung und Bankettfeier zum x-ten Jubiläum, von Staatsjagd und Jugendfackelzug, daß man wenig hörte, wenn man sich die Ohren verstopfte. Mittelfristig beruhigend. Für die langfristige Unruhe hatte man «die Freunde», die schon die Panzer in Marsch setzen würden, wenn der Klassenfeind mit seinen Hetzparolen wieder einmal Boden gewinnen sollte.

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Diese Rückversicherung fing aber schon vor Gorbatschow zu bröckeln an, zeigten die Freunde doch zunehmend Unlust, mit jeglichem Alltagskram der Vasallen behelligt zu werden: Gewinn an Selbständigkeit, aber auch an Verantwortung. Und der Klassenfeind, der Schuft, hatte Kreide gefressen und setzte auf friedlichen «Wandel durch Annäherung». Wieder beruhigend, wiederum angenehm, am diplomatischen Neujahrsempfang oder an Friedenskongressen teilnehmen zu können, ernst genommen zu werden, es verstärkte den trügerischen Eindruck von Ruhe. Sogar die CDU entspannte, sogar Strauß vermittelte Kredite, da muß doch das Volk sich fügen, oder?

So war das Verhalten «der Menschen» überlebenswichtig, aber unergründlich. Die schweigende Mehrheit hatte zwei Reaktions­muster, die es beide schwermachten, Änderungen in Richtung auf das Ziel, den Kommunismus, durchzusetzen. Beide Regeln kann man, wie es sich für Watte als Materie gehört, aus der Physik ableiten.

Eine Reaktion verläuft nach dem Prinzip le Chatelier: übt man Druck aus, so erzeugt man einen proportionalen Gegendruck, der die Wirkung bis auf einen Restbestand abblockt, abfängt. Typisches Beispiel ist die Produktionsinitiative: Mit ungeheurem Propaganda­aufwand wird die Slobinmethode oder der Wettbewerbsaufruf «Jeder liefert jedem Qualität» gestartet. Die Masse schweigt und paßt sich an. Die örtlichen Leitungen melden Vollzug. Man hat nachgegeben, aber die Profilfläche so geändert, daß nichts Nennenswertes dabei herauskommt. «Wir müssen unsere Produktionsanstrengungen verdoppeln!» hieß es. Wieder einmal verdoppeln. Da wurde mächtig Luft aufgepumpt, verdoppelt, verdoppelt, und heraus kam eine Steigerung der Anstrengungen um einen Prozentpunkt, durch entsprechende Prämien und Sondervergütungen überbezahlt.

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Le Chatelier hat das genau beschrieben. Je stabiler ein System, desto geringfügiger sind die Änderungen, die es zuläßt, ohne dabei elastischen (in der Physik bedeutet das: knallharten) Widerstand zu leisten.

Die andere Reaktion verläuft nach dem Prinzip Phasenwechsel. Plötzlich gelingt das Vorhaben, aber dabei bricht lauter Porzellan ein. Beispiel: Honeckers Kardinalfehler, die Enteignung der kleinen Handwerksbetriebe. Es gelang. Natürlich. Man konnte sogar eigentumsneidische Sympathisanten ausmachen. Aber die Folgen waren ein Einbruch. Zahnpasta und Fahrradventile verschwanden, und für die kommenden zwei Jahrzehnte mußte das Büro Mittag persönliche für die tausend kleinen Dinge des Alltags von der Stopfnadel bis zum Gartenzwerg sorgen. Das Kommando ging an die Kombinate, die entsprechend unwillig waren, sich neben den gigantischen Fünfjahresplanschlachten mit diesem Kleinkram abzugeben.

Noch verheerender war allerdings die endgültige Verprellung eines Teils der schweigenden Watte: die Enteigneten, die um ihr Lebensziel gebrachten Kleinproduzenten und Kleineigentümer. Die Rechnung dafür kam 1989. Sie gehörten zu den wütendsten Abwicklern des Systems, riefen lauthals nach dem Westsystem und waren taub gegen die Warnung, daß Discountketten und Konzerne unmöglich den Wiederaufbau eines kapitalschwachen Kleinmittelstandes fördern würden. 

Wie überall: Potentielle Verbündete für einen dritten Weg wurden rechtzeitig geschlachtet. 1989 war dann niemand mehr da, der sich ernsthaft dafür eingesetzt hätte.

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Vom lauen Subjekt der Revolution 

Die realsozialistischen Länder waren revolutionsfest. Immun gegen Revolution im klassischen Verständnis. Den alten Herr­schafts­apparat nach Art der Oktoberrevolution zu zerschlagen war unmöglich. Der Herrschaftsapparat hatte eine feste soziale Basis. Ein direkter Anschlag hätte alle in der Wagenburg vereinigt. Polizei, Staatssicherheit und Armee waren bewaffnet, die Reformer und Revolutionäre nicht. Das polnische Jahr 1980/81 hatte zudem gezeigt, daß die traditionelle Waffe des General­streiks stumpf geworden war. Generalstreik schreckt nur eine herrschende Klasse, die etwas zu verlieren hat. Wenn Export und Einkünfte bedroht sind, wenn Produktion und Verteilung zum Erliegen kommen können.

Dagegen wäre in ihrer Glanzzeit natürlich auch die Nomenklatura höchst empfindlich gewesen. Aber im späten Gierek-Zeitalter war der Ruf ruiniert, die Wirtschaft so hoffnungslos verschuldet, daß das kein Schrecken mehr war. Im Gegenteil, man konnte sich so aus der Verantwortung für die sinnlos vertanen Kredite stehlen. Kam also der Streik zustande, dann schädigte er vor allem die Streikenden selbst und ihre Verbündeten. Sie würden Kartoffeln und Fleisch vollends aus den Läden streiken, während die Herrschenden Zugang zu Westgeld hatten und sich leidlich schadlos hielten.

Auch die Sorge vor einer Intervention des feindlichen Auslands fiel fort, die sonst bedrohte Herrschende zur Aktivität veranlaßt (siehe die Mobilmachung 1790 gegen die Invasion, siehe Auguste Thiers 1870/71). Niemand wollte in Polen einmarschieren außer der Sowjetarmee, und die nur, um das Regime zu schützen, und auch das nur sehr widerwillig und im äußersten Fall. Afghanistan war ein hinreichender Denkzettel gewesen.

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So fiel die Revolution aus, wurde für Jahre vertagt und nahm dann die Form der friedlichen Ablösung an, die durch den polnischen Runden Tisch von 1989 gekennzeichnet war. «Für euch den Präsidenten, für uns den Ministerpräsidenten!» (Adam Michnik 1989). Als das erreicht war, wurden gleichzeitig jener Präsident Jaruzelski und «unser» Ministerpräsident Mazowiecki abgewickelt, von der Mißlaune des Volkes. Von der samtenen Mißstimmung, die sich auf einmal handlungsmächtig Luft machte.

Volk und Herrschende waren wendebereit, aber nicht bereit zur Gewalttat, mit Ausnahme von China und Rumänien.

Das Volk wartete. Da die Revolution nur eine im Wort sein konnte, wartete es darauf, daß jemand das Wort ergriff.

Die Herrschenden warteten auch. Darauf, daß die Alten ausstarben und eine taktvolle Reformgeneration an die Macht kam. In der Sowjetunion war der Startschuß gegeben worden. Die regimenahen Intelligenzler zögerten allerdings. Die Alten aus dem Sattel zu heben, hätte einer Verschwörung nach bekanntem Muster der Palastrevolution bedurft. Gerade dagegen aber war das System ebenfalls immun. Sie hatten dafür gesorgt, daß die Kandidaten für die Führung des Aufstandes so feige waren, daß sie den Palastaufstand von Tag zu Tag vertagten. Es ist possierlich zu lesen, wie Günter Schabowski die Entschlußlosigkeit in der zweiten Führungsgarde erklärt und entschuldigt. Sie zögerten, bis es zu spät war.

 

In Ungarn und in der Sowjetunion wurde das Modell der einschleichenden Revolution, der schrittweisen Demontage von oben geprobt. Gorbatschow begann noch im trampligen Stil des jungen Brausekopfes, eine Art Fidel Castro mit Apparaterfahrung. — Beschleunigung der wissenschaftlich-technischen Revolution, Stärkung der Arbeitsdisziplin (unvollendetem Auftrag Andropows) sowie Entalkoholisierung der Werktätigen (Gorbatschows persönliches Steckenpferd) – das waren die Reformlosungen.

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Noch 1987 pries er den erneuerten Leninismus und kürzte die Anzahl der Opfer des Stalinregimes auf hunderttausend. Er leistete ausgezeichnete PR-Arbeit im Ausland. Hier kam ihm sein offenherzig-fröhlicher, bühnenstrebiger Charakter zugute. Was ihn bei der Mehrheit der Russen eher verdächtig machte, verhalf ihm im Ausland zum falschen Image des freundlichen russischen Bären. Auch er trat also mit einer politischen Charaktermaske auf.

Die Strategie des späten Gorbatschow war gewandte Balanciertaktik im eigenen Lande (von allen Seiten als «zentristisch» verschrien; die Russen lieben die goldene Mitte nicht) und elegante Selbst-Promotion im Ausland. Er wäre der erste russische Zar gewesen, dem ein derartiges Programm gelungen wäre. Peter I. hatte auch ein Faible fürs Ausland, setzte sich aber zu Hause brutal bojarenbärteausreißend und strelitzenerschlagend durch. Alexander I., der Träumer, vertagte die Entscheidungen und überließ sie dem blutigen Nikolaus und seinem Stasi-Mann Benckendorff. Kein Zar war liebenswürdig, alle waren entweder brutal stark oder elend schwach, Dompteur mit der Peitsche oder Clown mit der Maske, noch nie hat es einer mit Equilibristik versucht.

Allgemeiner Wartestand mit wenig Bewegung, im Ostblock nichts Neues also, über Jahre hinweg.

In dieser Situation wurde die Intelligenz zum Subjekt des friedlichen Umsturzes. Gerade weil sie lau ist, unentschieden, mit einem Bein im Herrschaftsapparat, mit dem anderen im Volk. Beteiligt, widerwillig beteiligt, an der suboptimal-rationalen Regelung des Staats- und Wirtschaftslebens, gleichzeitig unzufrieden, weil die technologisch-schöpferische Kreativität im Vergleich zu den Kollegen im Westen so sehr behindert ist, daß es keinen Spaß bereitet, an der Steuerung und Reparatur dieses veralteten Apparates mitzuwirken.

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Bis in die Familien hinein ging der Spagat: der eine Karrierist, Nomenklaturist, der andere Dissident, Klassenfeind. Da alle auf Vermittlung warteten, war dieser Stand der ideale Vermittler. Er konnte die Tretminen vermeiden, konnte mit einem Satz das Ende der Langeweile, im nächsten die Reform der Pfründe versprechen. Konnte gleichzeitig die Abwicklung und Erneuerung der Ideale proklamieren. Bot ein Rettungsboot an, in dem theoretisch alle Platz finden konnten.

 

So kam es zu dem schichtübergreifenden Karnevalsfest. Auf verschiedenen Bühnen. Mit verschiedenen Schaustellern. Gorbatschow telefoniert mit Sacharow, dann gemeinsamer Auftritt auf dem internationalen Friedenskongreß. Jaruzelski küßt der Ministerin vom Bürgerkomitee Solidarnosc galant die Hand; im Parlament sitzen Nomenklaturisten auf fest zugewiesenen und Revolutionäre mit fast 100 Prozent der Stimmen auf ausgeschriebenen Sitzen — woran erinnern uns solche Prozentzahlen denn gleich? Auf dem Wenzelsplatz buchstäbliche Theaterszenen: Ariane Mnouchkine in die Realität transformiert. 

Und in Ostberlin am 4.11.89 das großartige lebende Kostümbild mit Ulrich Mühe, Steffi Spira, sogar Ekkehard Schall, Christoph Hein, Heiner Müller, Christa Wolf, Jens Reich auch – alle sagten ihren Spruch auf und traten dann ab. Dazwischen Couplets von Günter Schabowski, Markus Wolf, Gregor Gysi, Manfred Gerlach als Staatsratsvorsitzendenkarikatur (es folgt Monate später noch eine letzte Darstellerin in dieser Rolle) – ein Kappenfest der Versöhnung von amtsmüden Herrschern und amtsfeigen Untertanen, viel Beifall und Pfiffe, «Aufhören!» und «Aufhängen!». Eine originelle Inszenierung — es hätte noch viel Ernstes und Heiteres erfolgen können, wenn nicht am 9.11. der ganze Schnürboden eingebrochen wäre.

So gelang der vielgeschmähten Intelligenz ein Kunststück: die Aufweichung eines beinharten Gestells. Jeder Protagonist auf den verteilten politischen Bühnen des Ostens konnte annehmen, daß es für ihn speziell besser werden würde, daß er schon immer angestrebt habe, was jetzt Wirklichkeit wird. Es war wie ein Aktfinale bei Mozart: Die guten und die Schurken posieren nebeneinander, jeder hat seinen Text, seine Deutung des Inhalts, seine eigenen Absichten, seine eigene Melodie aber der Teufelskerl Amade bringt es fertig, daß alles zusammenklingt und noch dazu wunderschön. Nur im Proszenium steht ein Baß-Buffo wie Schalck-Golodkowski und verkündet im Ostinato, daß es höchste Zeit ist für den Abgang zum Tegernsee.

Es war nur ein Aktfinale. Und Doktor Bartolo, der alles eingefädelt hat, wird im nächsten Akt nichts mehr zu sagen haben. Intelligenz in historischer Sekunde, ein kurzer, gehaltvoller Monolog – und exit das Schmiermittel, das die Revolution eröffnete und möglich machte. Den nächsten Akt bestreiten gewichtigere Figuren. 

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