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9 - Vom Menschenrecht auf Ratlosigkeit oder Wir Narren

Reich-1992

 

  Offene Hängepartien: Umgewälzte Länder 

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Wir haben in dem sozialistischen System gelebt und haben sein Ende miterlebt. Wir haben die völlig unwahrscheinliche Lähmung eines Gewalt- und Stabil­isierungs­potentials gesehen. Wir haben es nicht glauben können. 

Über Jahrzehnte haben sie eine herrschende Adelsschicht aufgebaut und ihre Pfründe, ihre Existenz an das Bestehen des Systems geknüpft, haben eine Waffen­aggregation erzeugt, wie sie die Geschichte noch nicht gesehen hat, Waffen, die ganz speziell zum Einsatz gegen widerborstige Heloten geeignet waren. 

Alles war vergeblich. In all dem historischen Determinismus, dem verbissenen Klassen­feind­denken, dem Kampf bis aufs Messer zweier Systeme, erlebten wir die Wiedergeburt des subjektiven Faktors in der Geschichte. Das «Volk» war wieder gefragt, und zwar gar nicht auf die alte Weise der Zusammen­rottung der Entrechteten zum Barrikaden­kampf, im Gegenteil, die traditionelle Kampfform («Alle Räder stehen still – ...») versagte in Polen. Volk war wieder Subjekt der Geschichte.

All das währte nur für die Dauer einer historischen Sekunde und führte nur zu Imitationsformen parlamentarischer Demokratie und sozial garnierter Markt­wirtschaft.

Da in den nacktgeborenen Gesellschaften beides aus Trümmern gebaut werden muß, droht bereits in den Anfängen eine Existenzkrise. Zwar gelingt überall die Installation einer Handels- und Zirkulationssphäre, nicht aber der Modernisierungsprozeß in der produzierenden Volkswirtschaft. Der hochintegrierte Weltmarkt stellt Anforderungen, denen sie nicht gewachsen sind. Er erzwingt den Neubau durch Einsatz von Intensivkapital, also hochkonzentriertem Risikokapital mit bestenfalls langfristiger Rendite. Inländisches Kapital gibt es nicht, ausländisches (bzw. westdeutsches) ist zu feige. So häufen sich Hiobsbotschaften und Kassandrarufe, die den postsozialistischen Gesellschaften den Einbruch in die untere Etage, auf das Niveau der südlichen Länder, prophezeien.

Da kommt dann der zynische Intellektuelle des Westens und klopft dem Kollegen aus Osteuropa auf die Schulter. «Das mit dem subjektiven Faktor hatten wir schon, zuletzt 1968. Das ist alles nur ein kurzer Rausch. Danach arbeitet der Mechanismus, und ihr werdet euch dort wiederfinden, wo die logisch-rationale Analyse euch den Platz zuweist. Weit unten.»

Ganz recht. Die Logik. Wenn wir auf euch gehört hätten, dann wären wir immer noch im real-agonalen Sozialismus. Dem Osten die Kreativität abzusprechen ist eine besondere Form der Arroganz. Wir sind gescheitert, folglich werdet auch ihr scheitern. Ihr müßt es gar nicht erst versuchen. Es ist unnütz.

Tatsächlich verwalten alle osteuropäischen Gesellschaften etwas, was im Schachspiel «offene Hängepartie» heißt. Also nicht eine Abbruch­stellung, in der man bestenfalls eine Weile strampeln kann, bis die Niederlage komplett ist; auch nicht eine, die zum strahlenden Sieg führt. Sondern ein offenes Spiel.

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Ja, ein Spiel. In dem nicht alles nach einem klappernden Mechanismus abläuft, den man verstehen und dann, überlegen lächelnd, passiv beobachten kann. Es besteht vielmehr die Möglichkeit und die Chance, daß der Umbau gelingt, ohne daß wir zu Bettlern vor der Tür des Westens werden. Dabei zeigt sich die Hebelfunktion, die spontanes Handeln ausüben könnte.

 

Erfolgsbedingungen des Umbaus  

Sie sind schnell aufgezählt: Politische Stabilität, demokratische Spontaneität, Strategien gegen den Zwang zur Kapital­hyper­konzentration und zur überscharfen Rückkopplung durch Konkurrenz, sowie Genügsamkeit.

Genügsamkeit ist die Beschränkung auf die natürlichen Bedürfnisse. Das ist die Fähigkeit, durch Manipulation angeworfene Bedürfnisse öde zu finden.

Das Konsumverhalten der Menschen ist die bewußtseinsabhängige Komponente, die über das Schicksal des Umbaus entscheidet. Und das Verhalten der Menschen in Rußland, Polen usw. läßt sich keineswegs blank aus dem in den westlichen Gesellschaften und auch nicht aus dem in der Dritten Welt ableiten. Nur wenn sie als passives Stellglied funktionieren, kann die blindwütige Selbstzerstörung durch den Kapital- und Geldmechanismus erfolgen.

Hier setzt ein, was jeder Kritiker sofort als Illusion abtun mag: der Glaube daran, daß die Gesellschaften des Ostens ihr letztes Wort noch nicht gesprochen haben. Ich halte starrsinnig daran fest und weise ab, daß jemand Erkenntnis­werkzeuge haben könnte, die genaue Voraussagen ermöglichen. Und da es um Bewußtsein geht und weil der Umbau nicht einfach ins eingefahrene Gleis laufen muß, behaupte ich die besondere Rolle der Intelligentsia auch in der Zukunft. Sie soll nicht einfach aufs westliche Vorbild einschwenken. Trotz aller Beulen am Helm ist sie für die Zukunft nicht schlechter gerüstet.

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  Zivilisationskrise  

Der Rohbau der postsozialistischen Gesellschaften wird vermutlich von der Flut der globalen Zivilisationskrise überschwemmt werden. Sie bedroht uns als Zusammenbruch des Blutkreislaufs der Weltwirtschaft und als ökologischer Kollaps der Biosphäre. Auch die dritte Gefahr, atomare Sprengung oder schleichende Vergiftung durch Tschernobyl-Fallout, ist keineswegs gebannt. Über dieser Krise liegt ein merkwürdiges Tabu. Es zeigt sich nicht als Berührungsverbot, sondern als Sprechzwang. Die Erkenntnis wird verdrängt, indem man ständig darüber redet. 

Toujours en parler, jamais y penser. Die Form der Gottheits­anbetung ist der Gähnkrampf beim Anhören der Litanei. Die Krise ist lästig wie ein aufdringlicher Bettler. Das helle Bewußtsein von ihr lähmt alle Kräfte. Wir verdrängen es daher aus dem Aufmerksam­keitsfeld nach hinten ins Selbstverständliche.

Die ökonomische Analyse der Weltordnung sagt uns ein blind waltendes Schicksal voraus. Unter der Selbstbewegung von Kapital und Geld werden die Handelnden entweder zu menschgewordenen Dollars, zu gierigen Shylocks oder zu Mondsüchtigen, die dem gaukelnden Trugbild des kommenden Wohlstands folgen.

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Aber sowenig wahrscheinlich es erscheint: Es besteht die Möglichkeit, daß die Menschen sich der Objektrolle verweigern. Wie zerbrechlich kooperatives Verhalten in der Einsicht, daß wir alle im gleichen Boot sind, auch sei, es geschieht gelegentlich! Der Sozialismus hätte noch Jahrzehnte real dahinvegetieren oder zur blutigen Diktatur entarten können, wenn nicht das Irrationalste eingetreten wäre: rationales Verhalten ganzer Gesellschaften! Wer bei der Beschreibung der Krise diese Möglichkeit unterschlägt, leistet ihrer Verwirklichung Vorschub. 

 

Fetisch Wachstum

Die Unheilsprophetien der Krise beschreiben wahrhaftig eine drohende Gefahr. Wir müssen ihren blinden Trend ernst nehmen, dürfen uns aber nicht mit ihm abfinden, sondern müssen ihn kaltblütig untersuchen.

Wirtschaftssysteme sind abstrakte Nachbildungen von gewissen Ökosystemen. In ihnen kann Verdrängungskonkurrenz bis zum Kollaps wegen Ressourcen­verödung führen. Die mathematische Form dieses Prozesses ist exponentielles Wachstum, Malthus­wachstum, gelegentlich sogar hyperexponentielles Wachstum. Sie stammen aus Regelkreisen mit positiver Rückkopplung, die zum Heißlaufen neigen. Die katastrophale Verdrängung aller Dünndarmbakterien durch eine einzige Spezies bei gewissen Säuglingsdyspepsien ist ein gutes Beispiel. Der Sieg der Spezies programmiert den Untergang des Wirtes und damit auch des Siegers. Alle Computersimulationen der Weltwirtschaft seit dem Club of Rome sind modellgewordene Exponential­funktionen, bei denen schließlich ein Substrat ausgeht oder ein Endprodukt den Prozeß zerstört.

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Demgegenüber sind Diversifizierung, Kompartimentierung, ungleiche Ressourcenverteilung auf Teilsysteme, gegenseitige Abhängigkeit und Kooperation Mechanismen, die Ökosysteme im Gleichgewicht halten oder periodische Auf-und-ab-Bewegungen der primären Variablen bedingen. Sie beeinflussen die Koeffizienten und dämpfen damit das exponentielle Wachstum.

Die Auflösung von Kompartimenten, von Nischen mit Spezialökologie ist stets ein gefährliches Phänomen. Es kann negative Rückkopplungen zwischen Teilsystemen auslösen. Das ist es, was den angeblichen Sieg des Westens über das sozialistische System so gefährlich für die globale Stabilität macht – ein Effekt, der die primär günstigen Wirkungen der Homogenisierung leicht überlagern kann.

Der Zusammenbruch des Ost-West-Konfliktes kann auch segensreiche Folgen haben. Dazu gehört aber die Neuknüpfung kooperativer Schleifen. Wie sehr man sich auch bemüht, sie lassen sich nicht managen. Es sind spontane Entscheidungen im Bewußtsein, und mit ihnen kommt die Notwendigkeit ins Spiel, auf eine innere Umkehr, eine Revolution in den Köpfen zu warten. Analog zur Abwicklung des Sozialismus müssen die Menschen von der passiven Duldung zur aktiven Beendigung übergehen: Jetzt ist Schluß! Auch hier der Bewußtseinsfaktor, auch hier seine Immunität gegen Predigt und Nötigung. 

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Revolution im Kopf

Es gibt ein Potential für kooperatives menschliches Verhalten, das frei ist von der Wachstumsideologie. Viele Kinderspiele sind so eingerichtet, und die es nicht sind, wie Monopoly oder «Mensch ärgere dich nicht!», führen bei der Geburtstagsgesellschaft zu Tränen.

Es gibt auch kooperative Gemeinschaften in Familienverbänden, besonders in archaischen Gesellschaften, die frei von blinder Expansionstendenz sind. Wir brauchen diese Möglichkeit, wir brauchen Geduld. Die Revolutionen im Kopf können nur spontan, freiwillig ausbrechen.

Der neue Typ von Umwälzungen der Zukunft wird nicht mehr ein Endkampf zwischen antagonistischen Fraktionen sein. Umwertung wird wichtiger sein als Umverteilung von Gütern, Enteignung, Totschlag. Hunger war das treibende Motiv bei Revolten des alten Typs; Smogkopfschmerz und Überdruß an der immer künstlicheren Welt werden es in Zukunft sein. Umwälzungen werden nur stattfinden, wenn sie nicht ernst gemeint sind, fiktiven Charakter haben, Theaterinszenierungen sind.

Revolutionstheater

1789. 1989. Die Revolutionen waren Theaterstücke. Sie waren genauso ernst, bitterernst und doch nicht ganz ernst gemeint wie Theateraufführungen überall in der Welt. Und für den Ausgang unserer Revolution gibt es das lateinische Wort: EXIT. Abgang. Immer wenn die Handelnden ihren pathetischen Spruch aufgesagt haben und abtreten. 

Die Shakespeareschen Königs­dramen sind eine reiche Quelle für dieses «exeunt». Sie sind auch Anregung für die bühnengerechte Geschichtsschreibung der verblichenen DDR und des sich häutenden Ostblocks. Exeunt also. Die Figuren treten ab. Aber auch bei Shakespeare weiß man nie genau, ob sie nicht später noch einmal wiederkommen.

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Der Geist von Hamlets Vater hat mehrere solcher Auftritte, beginnend mit Akt I, Szene 1. Enter Ghost. Exit Ghost (ohne etwas gesagt zu haben). Dann re-enter Ghost. Hamlet ruft: Stay, illusion. Verweile, Trugbild! Wieder ist unklar, wen er meint. Es könnte auch die Bürgerbewegung des Herbstes gemeint sein.

Dann winkt der Geist dem Hamlet. Was diesen zu der Zeile: Etwas ist faul im Staate Dänemark! animiert. Daraufhin exit Ghost.

Shakespeare kennt auch andere Begebenheiten rund um den Abgang, die bei unserem Revolutionsstück nicht drankamen. Exeunt with a dead march zum Beispiel, Abgang als Trauerkondukt, wie am Ende von König Lear. Oder in mehreren Königsdramen haben wir die Szene: Mörder erdolcht ihn. Es folgt ein kurzes erklärendes Statement des Mörders. Dann: Exit with the body! Abgang mit der Leiche, auf der Bühne schwierig zu realisieren. Es gelang in der Realität ebensowenig. Leider nicht, sagen heute viele. Wenn er auch nicht erdolchen darf, so könnte er doch wenigstens ein bißchen würgen, der Rechtsstaat, als Vergeltung.

Dann treffen wir wieder Bekanntes in Shakespeares Regieanweisungen, Erlebtes: Abgang mit Tusch zum Beispiel. Flourish. Exit Lothar de Maizière. Oder die Konstruktion, die die Bühne aufräumt. Exeunt all but Gloster. Auf gut deutsch: Alle ab außer Günter Krause.

Die Revolutionen, die Pseudorevolutionen der Jahre 89 bis 91 waren Theater, wie alle großen Revolutionen. Mit klassischer Einheit von Schauplatz und Zeit. Auf der Bühne von Paris, auf der Bühne von Petrograd. Und ebenso hatten alle das Satyrspiel nach der Tragödie.

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Da Neue an unseren Revolutionsstücken war, daß sie TV-gerecht abliefen. Auch dramaturgisch, nämlich als Videoclip. Als Fernsehspot. Als Vorspiegelung von Bühnenereignissen. Am aufregendsten war die Balkoninszenierung von Bukarest. Erst steht Ceausescu, der Bösewicht, an der Brüstung und spielt in vollendeter Mimik den sekundenschnellen Übergang von der winkenden Führer­lichtgestalt zum erschrocken abwehrenden Gangster. Dann treten Mafiosi auf, setzen sich umständlich die ungewohnten randlosen Brillen auf und verlesen Freiheits­proklamationen: Wir sind das Volk! Wir sind die neue Intelligenz! Volk tritt danach auf mit Knüppeln und Steinen, in Bergmannstracht, und räumt das Proszenium ab. Das ist alles bei Arturo Ui vorgeprobt worden.

Ein anderes Spielplanstück war das Camp-in auf dem Tian-An-Men. Dazu dieser wunderbare Regieeinfall mit dem einsamen jungen Mann, der die Panzerkolonne mit erhobenen Armen aufhält. Sinnbild der friedlichen, der erfolglosen Revolution. Und die Freiheits­statue aus Pappmache, die ebenso gemächlich umfiel wie jüngst, Monate danach, Tomskis abwärts schwebende Skulptur «Lenin-Kopf mit Halsschlinge» in Ostberlin. Daneben hatten wir auch Chorauftritte, Massenszenen wie in Leipzig. Wir hatten den Heldentenor und seine Siegesarie auf dem Panzer, auch er ein historisches Requisit. Den großen Ballhausschwur auf dem Wenzelsplatz und Václav Havel und Alexander Dubcek als ergreifendes Opernduett!

Der 4. November 1989 in Berlin war nicht nur symbolisch, sondern buchstäblich eine Inszenierung von Theaterleuten. Das Volk stand auf der Galerie und pfiff und klatschte und johlte und lauschte dem Auftritt der Charaktermasken und machte sich seinen eigenen Vers.

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Überhaupt das Volk! Das undankbare! Es war wie der kleine Junge, der im Theater zum erstenmal die Tragödie mit Dolchen und Schwertern erlebt hat. Auf dem Weg nach Hause in der Straßenbahn sagt er enttäuscht zu seiner Mutter: Aber die haben ja gar nicht Ernst gemacht!

Ja, daran ist nun wirklich etwas Wahres. Wir haben nicht Ernst gemacht. Wir haben weiter Theater gespielt. Runder Tisch. Sturm auf die Normannenstraße. Volkskammer. Bonner Hinterbänkler-Luftnummern. Vorn schmettern jetzt die Hauptdarsteller ihre Solos, hinten stehen Ossis als Backgroundsingers, summen und wiegen rhythmisch die Hüften. Zu Hause geben wir die unendliche Geschichte, die Provinz-Moritat von der schrecklichen Schuld im Stasi-Gestrüpp, die Bösewichter jeden Fernsehabend in neuer Besetzung.

Warum wurde das ganze Revolutionsstück so schnell abgesetzt?

Ich habe darüber lange nachgedacht. Mein Antwortversuch ist: Das Publikum hatte es satt, von Leuten regiert zu werden, die stets besser wissen, was es zu tun hat und welcher Weg in die Zukunft führt. Der Überdruß am intellektuellen Entwurf der Gesellschaft schlug durch. Er fegte nicht nur die Ideologen eines erneuerten Sozialismus von der Bühne, sondern auch alle anderen Reformer und Bürgerrechtler, Dichter und Denker, Soziologen, Pastoren und Regeltechniker der Gesellschaft. Die Klasse der Intelligenz, der Wissensträger der Gesellschaft wurde durch diesen Überdruß fachlich dequalifiziert und politisch diskreditiert. Theater wurden entsubventioniert, Universitäten und Akademien abgewickelt und aufgelöst, Schriftsteller und Philosophen des Duckmäusertums und der Stasiknechtschaft geziehen.

Zurück bleibt eine depressiv verstimmte und klagende Elite. Sie fühlt sich um ihre Verdienste betrogen. Das undankbare Volk versagte ihnen die Gefolgschaft und wandte sich den Machern aus dem Westen zu. Wir haben den Löffel abgegeben und wollen gefüttert werden. 

Je mehr ich darüber grüble, desto unangebrachter erscheint mir diese Resignation. Ich will drei Gründe erwägen.

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Zunächst: Es hat noch keine Revolution gegeben, die von denen vollendet wurde, die sie begannen. Die Demokraten im Februar 1917 schafften es ebensowenig wie die Erstürmer der Bastille. Was wir eingespart haben, war die Etappe zwischen Bastille und dem Direktorium. Die Guillotine unter anderem. Aber auch die Entwurzelung des Alten.

Dann: Wir haben es so gewollt. Der Mehrheit unter uns, vom Marxisten bis zum Ökodissidenten, war klargeworden, daß die Vollendung der Klassenmacht die Diktatur der Intelligenz bedeutet hätte und damit das Ende ihrer Kreativität. So wurde das Gesellschafts­gebäude abgetragen, als es fertig war. Was individuell als Niederlage erscheint, ist historisch ein Erfolg. Das erste Mal in der Geschichte degenerierte die herrschende soziale Gruppe (ich meine die Intelligenz und zähle auch die Parteiintelligenz dazu) nicht für Generationen zum Blutsauger, sondern wickelte (unter Druck von «unten») das mißglückte System mit seinen Anführern ab. Die einen nannten diesen Vorgang «Projekt erneuerter Sozialismus», die anderen «Bürgerrechte und Reformen», wieder andere die «zivile Gesellschaft», die energischsten nannten es «soziale Marktwirtschaft» und «Wiedervereinigung». Alle gemeinsam haben das Verdienst, daß es kooperativ, ohne Gewalt verlief. Wer das bespötteln will, soll vorher in den Irak oder nach Jugoslawien schauen.

Schließlich noch: Unsere Voraussetzungen sind nur bei oberflächlicher Sicht schlechter als im Westen. Vor den Heraus­forderungen der Zukunft steht die Intelligentsia des Westens genauso hilflos wie wir. Man muß nur an den Golfkrieg zurückdenken, der außer gewaltigem Muskelspiel und vielen zehntausend Toten nichts gebracht hat.

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Wir können unsere Lage als Start auffassen, als Tabula rasa. Angepaßt und eingefügt hängt die Intelligenz des Westens in der Sprossenwand, mit schwerem Rucksack vor dem Bauch. Wir sind den schweren Rucksack los.

Die Revolutionen der Zukunft werden nicht gewalttätig sein. Sie werden allen Theaterzauber und allen Kitsch haben, aber es wird kein Blut fließen. Daß so etwas bevorsteht, wird mir klar, wenn ich Freitag nachmittags für Stunden im Autostau stehe, diesem Sinnbild des überreizten Wohlstandes für alle. Ich rieche es, wenn ich in der klimakonditionierten Atmosphäre der Empfangshalle der Deutschen Bank atme, diesem Sinnbild kühler Effizienz, auf die Spitze getrieben. Wenn ich unseren Tanz ums goldene Kalb beobachte, das Eigentum, Wohlstand, Konsum genannt und angebetet wird. Schon jetzt sehe ich den kommenden Überdruß und das hilflose Scheitern der vermeintlichen Sieger. Der späte Sozialismus klammerte sich an das Trugbild von ewigem Wachstum und Fortschritt. Wir sollten ihm nicht in anderer Verkleidung verfallen.

Nehmen wir die ausgelassene Laune der Theatervorstellungen vom Oktober und November 1989 nicht nur als Abschlußveranstaltungen der DDR, sondern auch als Wetterleuchten in die Zukunft. Nicht geschlagen ziehen wir nach Haus, und nicht unsere Enkel sollen es besser ausfechten, sondern wir müssen der Sauerteig werden, der ganz Deutschland durchdringt.

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Der Thinktanker 

Von der zynischen Intelligenz des Ostens ist oft geredet worden. Sie hat als Modell geprobt, wie lächerlich sie aussieht, wenn wirklich einmal etwas geschieht. In Moskau der Chef-Tank-Thinker im Zentralkomitee: Beim Staatsstreich abtauchen, fährt auf die Datscha, ruft den Journalisten «No comment» zu. Er kommt zurück und ist höchst frustriert, daß niemand mehr von seinem Gedenke wissen will. Die Zeit wird in die apokalyptische Phase wechseln. Dann kann der zynische Intellektuelle sich auf dem Rodeomustang nicht mehr halten und landet mit schmerzverzerrtem Gesicht im Sand.

 

Zum Griechen essen gehen

Im Osten hat die Intelligentsia Involution statt Revolution gespielt. Aber auch im Westen danken sie ab vor ihren eigenen Ansprüchen. La trahison des clercs. Nicht Korruption, nicht Käuflichkeit, nicht Lüge sind die Verratsmerkmale der Intellektuellen, sondern zynischer Gleichmut im Konsumieren. Ein Estradenorchester spielt auf dem Luxusdeck der Titanic.

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Sieg des Platzhirsches: Impotenz 

Der Sheriff betritt den Saloon und sieht sich grimmig um. Alle erstarren. Er zieht den Colt, schießt ein dutzendmal in die Wand und verläßt den Raum. Die Gangstermeute belebt sich. Die Vorbereitung des neuen Raubzuges wird wiederaufgenommen.

Am frappierendsten am Golfkrieg ist die Impotenz der Sieger. Seit Generationen zum erstenmal waren sich alle einig, stießen die moralischen Empörungen nicht gegeneinander. Eine riesige Streitmacht wurde massiert. Der Bösewicht wurde bestraft. Ergebnis: Nichts. Ein bombastischer Furz. Null ouvert.

Allerdings, doch: ein paar geringfügige Seiteneffekte. 600 Tonnen Öl fließen jeden Tag in den Persischen Golf. 800.000 Tonnen fackeln täglich als Rauchschwade in den kuwaitischen Himmel.

Ja richtig, und dann noch: 100.000 tote Soldaten im Wüstensand. Zehntausende zivile Bombenopfer. Tausende Kinder sterben an Cholera oder an Dyspepsie. Dann noch die fliehenden und sterbenden Kurden, Schiiten. Saddam im Sattel, der Scheich köpft Verräter, Iran ist wieder honorig. Eine Konfettiparade für eine Luftnummer, fürs Recycling der Totschlagsgeräte. Aufmerksam sehen Kleinmächte zu, sie tragen Babybomben im Colthalfter.

Der nächste Krieg wird mit weniger großmäuligen Partnern ausgetragen werden. Dann können wir Gasgranaten und Atomraketen fliegen sehen.

Triumphierend begrüßen wir im Osten den Verfall des oktroyierten Rationalismus und registrieren im Westen ratlos die Impotenz des rationalen Krisenmanagements. Überall gibt es die kleinen Krisenfeuer, in der Sowjetunion, auf dem Balkan, auf dem indischen Subkontinent, in Hinterindien, Afrika, Lateinamerika.

Der Sheriff schießt in die Wand und kehrt zum Golfspiel zurück.

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Das Albanerschiff

Modell für den Schrecken der Zukunft: Ein Schiff mit Milliarden von Ameisen legt an. Modell für den ausweglosen Entscheidungskonflikt der Zukunft: Die italienischen Behörden vor dem Albanerschiff. Ratlos. Natürlich kann nicht einfach eine Flotte von Einwanderern einfallen wie Heuschrecken und sich einnisten. Aber wenn sie sie mit Schlagstöcken und Fesseln wieder hinaustreiben. stehen sie vor aller Welt als moralische Schufte da. Wie sollen sie da handeln?

Wie sollen sie handeln, wenn sich Hunderttausende, Millionen Einlaß verschaffen? Die Indizien deuten daraufhin, daß die politischen Methoden des ausgehenden 20. Jahrhunderts im Scheitern begriffen sind. 

 

Evolution vor der Revolution

Die Okzidentalen brauchen eine Revolution vom neuen Typ. Eine, die gegen uns selbst gerichtet ist, gegen den eingefahrenen Trott, nicht auf den Sturz von Herrschenden, nicht auf Enteignung, wie die klassischen Vorbilder. Dabei geht heutzutage soviel in Scherben, daß der ganze Umsturz nicht lohnt.

Das Vertrackte ist, daß jeder Revolution ein geduldiger Umbau der Reflexe, ein Wechsel der Stereotypen, ein Neubau im Kopfe vorausgehen muß. Der spektakuläre Umschwung, der Phasenwechsel steht am Ende. Ihm geht die allmähliche Änderung der Steuerparameter voraus. Quälend langsam abkühlende Siruplösung. Die Bildung von Kristallzucker setzt plötzlich ein, ist aber von langer Hand vorbereitet.

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Eine Umwälzung sucht sich ihr Flußbett am geringsten Widerstand. Stets an der Nebenfront, niemals dort, wo die Logik es vorhersagt.

Die Attacke erfolgt dort, wo die Schutzmauer nicht bemannt ist. In den realsozialistischen Zeiten ging es immer dort los, wo die Herrschenden es nicht erwarteten. 1989 zum Beispiel erwarteten sie den Ansturm nach dem Rezept proletarischer Revolutionen, mit Betriebsbesetzungen, Okkupationsstreiks, gewerkschaftlicher Solidarität. Sie hatten den Schock der Solidarnosc gerade verdaut. Alle Aktivitäten der Sicherheitspolizei waren darauf gerichtet, die Bürgerrechtsgruppen aus den Betrieben herauszuhalten. Dieses Schema hatten die Handelnden im Citoyenkostüm gerade nicht im Sinn. Sie demonstrierten nach Feierabend und versammelten sich vor den Kirchen. Sie versuchten gar nicht, sich im Betrieb zu organisieren.

So weiß auch niemand, wo die nächste Umwälzung ausgelöst wird. Es gibt jedoch ein paar Indizien.

Die Revolution wird keine zynische sein. Der Zyniker rutscht von der Bühne weg.

Plethora wird vorausgehen: Die Fülle wird unerträglich werden. Der Stau im Stadtzentrum wird nicht mehr mit masochistischer Lust zu ertragen sein. Die Streßkopfschmerzen vom Leerlauf im Alltagstretrad werden die Hirnschale sprengen. Der leere Konsum, von Bedürfnisartefakten getrieben, wird in Überdruß umschlagen. Ich glaube fest an die revolutionäre Potenz der Langeweile, die entstehen wird, wenn die Krawatten die Oberhand errungen haben. Ich glaube nicht daran, daß das kühle Ambiente einer Bankempfangshalle alle anderen Lebensformen verdrängen kann, nur weil dort das betonfeste Kapital liegt.

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Es wird eine Gier nach Genügsamkeit geben, schon jetzt in einer gewissen Jugendkultur erfahren. Der Sauerteig wird die neue Bundesrepublik durchdringen. Es wird keine Neuausgabe der fünfziger Jahre geben, und auf 1968 werden wir nicht zwanzig Jahre warten müssen.

Geduld müssen wir allerdings haben, und den Kopf müssen wir vorher auch noch freiräumen. Wir müssen die Heulnischen verlassen. Aus der zynischen Hängematte aussteigen.

Die Revolution wird keine sein, in der Menschen enteignet und gehängt werden müssen. Sie wird wie Schuppen von den Augen fallen: Ach, das ist es also? Ja, dann bin ich auch dabei.

Ich bin überzeugt, daß das Licht aus dem Osten kommen wird. Aus den gebeutelten Rumpfgesellschaften. Sie haben für Überraschungen gesorgt, die alle für unmöglich hielten. Die Zeitgeschichtsdarstellungen von 1987 sind verstaubter als die Bergpredigt und die Apokalypse. So schnell kann es geschehen.

Der Herbst 1989 war nicht nur der Schlußvorhang für die Epoche nach den zwei Weltkriegen, sondern auch die Vorprobe der friedlichen Revolutionen der Zukunft. Mir ist klar, daß ich naiv bin. Ich pfeife auf den analytischen Scharfsinn all derer, die immer genau wissen, warum etwas unmöglich so geschehen kann, wie es geschieht.

 

Solidarität

Solidarität ist, anthropologisch gesehen, ein Tanz auf hohem Seilen. Er wird nur selten gelingen. Häufiger ist der Absturz.

Verlangt ist, bei einer Entscheidung vom unmittelbaren Nutzen für sich selbst abzusehen und statt dessen den Lohn als Ansehen in der Gemeinschaft, der Sippe, der Gruppe, dem Clan usw. zu erhalten.

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Prekäre Balance ist gefordert. Jedes solidarische Handeln steht in dem bekannten Dilemma vom Gefangenen­ausbruch. Er kann nur gelingen, wenn beide zusammenhalten und an allen Mauern eine Räuberleiter anbringen. Verrät einer den anderen, dann kassiert er den Lohn in erlassener Haftzeit, während der andere mit Verdopplung bestraft wird. So steht kooperatives Handeln stets unter dem Risiko, verraten zu werden um eines kleinen Gewinnes willen. Die Neigung ist groß, aus der Solidarität auszusteigen. Kooperationsstrategie ist instabil, weil du der Geprellte bist, wenn der andere das Bündnis aufkündigt und den Spatz in der Hand als Trinkgeld empfängt.

Es wird erst dann zur Kooperation großer Gruppen kommen, wenn die unmittelbare Erfahrung der Solidarität mit dem Eigeninteresse zusammengeht, so wie es im Herbst 1989 mit den Bürgerrechten und der Freizügigkeit war. Eine solche Situation kann man nicht künstlich herstellen, sie muß sich ergeben, und die Chance muß erkannt werden.

Im Augenblick kassieren alle die Sonderprämien, die antikooperatives Verhalten anbietet. Die Stelle halten, Eigentum erwerben, der erste Unternehmer sein, usw. Das aber wird bald zu Ende sein, wenn die globalen Probleme kommen: regionale Krisen, Bevölkerungsexplosion, Wirtschaftskollaps in der Nachbarregion, Migrationslawinen, neue Kriege, Naturzerstörung. Wir verhalten uns wie derjenige, der noch heftig Gas gibt, obwohl am Horizont schon der Stau erkennbar ist. Wir wollen schnell noch etwas Feines essen, bevor die Fastenzeit kommt.

Jeder weiß, daß die Zeit vorbei ist, die dieses Verhalten rational machte. Die Weltkonflikte werden nicht mehr durch die Konfrontation der Supermächte im Zaum gehalten werden. Wir sehen das genau und verweigern doch die Schlußfolgerungen.

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Der naive Intellektuelle

Die Bewegungen im Osten läuten einen Paradigmenwechsel ein. Für einen kurzen Moment in der Geschichte, und sofort wieder vom nächsten Wellenbrecher überrannt, aber immer noch vorhanden, an die Oberfläche drängend: der metazynische Intelligenzler. Er ist ironisch, nicht zynisch. Adam Michnik ist ein gutes Beispiel: Er kann laut lachen über den ganzen Politzirkus; er stottert beim Reden, daß einem angst wird, und nimmt die Suada im nächsten Augenblick mit halsbrecherischem Tempo wieder auf. Noch ist Probezeit, noch ist nicht alles ganz ernst, wir können die Naivität wachsen lassen. Bitte, seid ihr doch realistisch, seid zynisch, soviel ihr wollt.

Wie Gebetsmühlen wiederholt ihr alle dasselbe: Polen wird nie das Kapital mustern, das ihm den Aufstieg in das zweite Oberdeck ermöglicht. Die realsozialistische Versorgungsmentalität wird Rußland und alle anderen Erben der Sowjetunion in eine Mafiahöhle verwandeln. Wir kennen das alles aus Afrika, aus Lateinamerika. Wir wissen überhaupt alles. Es gibt keine Entwicklung mehr. Alles ist aus der Vergangenheit zureichend erklärbar; die Zukunft kreist um das gefundene Modell. Wiederholt nur die stets gleichen Belehrungen. Beweist nur das Ende von Kultur, Geschichte und Bewegung. Niemand wird es euch verbieten, aber es wird aufhören, schick zu sein. Es ist sehr schwer, ein blasierter Snob zu bleiben, wenn das niemand zur Kenntnis nimmt.

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Wir Narren

Intelligenz degeneriert, wenn sie Schalthebel der Macht übernimmt. Sie entartet zu Bürokratie oder Technokratie. Sie verliert die Bindung zur abstrakten Realität, wird Machterhalter und Machtverwalter. Im Grunde kann Václav Havel nur schleunigst zurücktreten. Der Philosoph auf dem Thron - ein Widerspruch in sich.

Die Degeneration des Intelligenzlers an der Macht ist Lähmung seiner geistigen Potenz. Er muß dumm werden. Er wird schwach, indem er stark ist. Es gibt zwei Typen: Schüttellähmung und schlaffe Lähmung. Schüttellähmung: krampfhaft, die Muskeln sind stark, gehorchen aber nicht. Sie wird den charismatischen Intellektuellen befallen. Er wird die grandiosen Ideen ergreifen und mit den Armen herumfuchteln. Mussolini. Die schlaffe Lähmung befällt den bescheidenen, den integeren Intellektuellen, den es nach oben gespült hat. Er ist erstaunt über die plötzliche Popularität und Macht und kann sie nicht festhalten. Er wird zum Spielball. Mit traurigen Setteraugen sieht er dem revolvierenden Treiben zu und tritt sofort zurück, wenn es verlangt wird. Typ Mazowiecki.

Die 68er waren stark, als sie jung und liebenswürdig waren. Rudi Dutschke ist das Symbol einer das Establishment verneinenden Generation, weil er so tragisch endete. Als Parteivorsitzender wäre er unerträglich gewesen.

Der Narr ist unsere Rolle. Der Narr transzendiert das System im Wort. Er greift nicht zur Waffe, riskiert, mit Fußtritten bedacht zu werden. Stets wird er ausgelacht. Aber er spricht unbeirrt die Antithese aus, die er für die Wahrheit hält. Es läßt sich nicht immer klären, ob es die Wahrheit ist, was er da zu wissen meint. Aber es verhindert, daß sprachloses Weitermachen die Bühne besetzt.

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Auch wir 8ger Herbstzeitlosenblätter waren Narren. Erfolgreich nur, solange wir so blieben, solange unser Handeln chancenlos aussah, donquichottesk. Havel vor der Blockhütte nach seinem Knastaufenthalt: dieser kompromißlos-undurchführbare Aufruf zum Unmöglichen, zum einfachen Leben in der Wahrheit! Unmöglich, närrisch, und doch genau die Strategie, die allem Spuk ein Ende bereitete, als die Menge eingriff, nicht mehr den Kopf eingezogen hielt. Jetzt muß Havel Kompromisse schließen. Die stinkenden Giftküchen mit den Interessen der Arbeitnehmer vermitteln. Er muß Arbeitsplätze für die Waffenproduktion bewahren. Nur Export bringt Devisen.

Wir müssen uns auf die transzendente Rolle besinnen. Nicht Aussitzen von politischen Hängepartien ist unsere Aufgabe, sondern den Super-GAU der menschlichen Zivilisation verhindern. Nur Narren haben die Chance, gehört zu werden. Nur Narren können Krusten durchbrechen.

 

  Was tun? 

 

Auf diese berechtigte Frage nehme ich Auszeit in Anspruch. Das Recht auf Verweigerung der Aussage. Das Menschenrecht auf Ratlosigkeit. Ich weiß die Antwort nicht. 

Ich weiß nur, daß Ratlosigkeit nur dann produktiv werden kann, wenn ich sie nicht martere. Wer bündige Antworten hat, schwindelt sich in neue Illusionen. Ich werde mich hüten, wie ein Evangelisationsprediger die Ekstase herbeizusuggerieren. Wer alles zur Katastrophe programmiert sieht, wird selbst zum Faktor, der sie herbeiführt.

Meine Lebenserfahrung besteht aus vierzig Jahren DDR-Gehorsam und einem Vierteljahr ziviler Revolte. In dem infinitesimalen Zeittakt wurde mehr erreicht als mit einem ganzen Zeitalter an Anpassung und Duldung. Das kurze Jahresviertel war nicht durch Wanderprediger ausgelöst. Es war vielmehr ein spontaner und abrupter Stimmungsumschwung hei der Mehrheit der Menschen in mehreren Ländern. Dies trug die Bürgerbewegung, nicht ihr Diskurs, dies trug den Protest, dies machte den Argumenten Flügel.

Wir sind in einen Zustand hineingeraten, der nicht mehr turbulent ist und doch kein Gleichgewicht.

Wir sehen die Kalamitäten der Pyrrhussieger. Ihre Regulationen, ihre Weltordnung versagt auf eindringlich überzeugende Weise. Der spöttisch-stille Vergleich mit der Impotenz eines Machos paßt hierher.

Wir brauchen Geduld. Zuerst müssen wir aus den Illusionen erwachen, die Klischees auflösen, müssen die Lebenslügen erkennen; daß die kleinbürgerliche Art von Individualität ins Verderben führt, die bruchlose Anpassung nach dem Modell der fünfziger Jahre, das geduldige Zusammenraffen, bis der Tod uns enteignet. 

Die Gier nach all den Gütern. Schnell nachholen wollen, womit auch die im Westen nicht glücklich geworden sind. Nicht die kleinen Hahnenkämpfe sollen wir vorführen, das Hickhack von Vorwürfen, Stasi, Partei, nicht Obrigkeitsfrömmigkeit, unkollegiales Verhalten, Duckmäuserei und Unterwürfigkeit. Nicht die erleichterte Schadenfreude, wenn die starken Herren nicht mich, sondern den Nebenmann am Kragen packen und beuteln. Nicht die klammheimliche Anpasserfreude, vom Großen Bruder fürs Wohlverhalten gelobt und belohnt zu werden.

Ebenso müssen wir die verlogene Nostalgie überwinden nach dem verdrehten DDR-Zustand, müssen uns befreien von den falschen Selbstverklärungen der «verratenen Revolution», von der narzißtischen Kränkung, nicht auf die Kommando­brücke gekommen zu sein. Wir müssen die Rangeleien auf den Neben­kriegs­schauplätzen abbrechen.

Die Intelligentsia muß den Zusammenbruch ihrer Klassenmacht als Befreiung feiern, als Startsignal. Nicht in die Vergangenheit, nicht in den faulen Wachstumswohlstand, sondern in die ungewisse Zukunft, die wir noch nicht kennen. Alle Wetterfahnen zeigen fort aus der trägen Spätindustriegesellschaft. Sie weisen in kein Fortschrittsidyll, in keine Utopie, auch nicht in das banale Utopia der sich stets wiederherstellenden und leicht zu manipulierenden Bedürfnisse und ihrer schalen Befriedigung.

Auf die vielfarbige Jugend dieser Welt hoffe ich. Auf ihre Neugier, auf das Atropin, das ihnen die Augen glänzen macht. 

Wird es endlich einmal eine junge Generation geben, die ihre Schnellkraft nicht zum Sprung auf das nächstgelegene Sofa einsetzt?

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  Ende 

 

 

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