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5 - Larve und Imago oder Die zwei Leben der Stasi

Reich-1992     wikipedia  Imago 

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    Larve und Imago  

Die Staatssicherheit hatte zwei Leben. Eines war das einer fleischfressenden Raupe, das andere das einer papierfressenden Imago. Erst Massengräber, dann Aktenberge. Die Hinrichtung von Stalins Geheim­polizei­chef Berija markiert die Wende. Über die Leichenberge gibt es keine Akten, hinter den Aktenbergen verschwinden die gebrochenen Menschen. Die späte Stasi produzierte paranoid Wahnsinnige, seelisch Zerstörte, nicht mehr Leichen. Humanisierung der Behördenernährung.

  Der Zauberbann ist gebrochen 

Langsam verblaßt die Erinnerung. Es war ein Alptraum, in dem alles alltägliche Gegenständlichkeit besaß. Keine Traumwelt, die beim Aufwachen das Verwundern hinterläßt, wie man so gebannt sein konnte, daß man sie nicht gleich durchschaut hätte. Nein, der Traum war lebensecht, er imitierte Realität.

Es gibt noch viele unter uns, die kaum glauben können, daß das Ungeheuer erlegt ist, daß es nicht mehr um die nächste Ecke auftauchen und erneut das tägliche Opfer verlangen kann. Sie fürchten die Staatssicherheit immer noch als Geheimbund, der weiterexistiert, mit gezielten Schlägen die Gesellschaft desorganisiert und die Verschwörung vorbereitet.

Diese Menschen sind nicht hysterisch und nicht paranoid. Ihr Kennzeichen ist, daß sie die Erinnerungs­bilder, die seelischen Imprints, nicht so schnell löschen können.

    Denkmalssturz    

Felix Edmundowitsch war in der Sowjetunion eine Art Geist, den man besser nicht beim Namen nannte. Der polnische Fremdling, der diesen Kraken erzeugt hatte, diesen Drachen mit den vielen Namen. Keine andere Behörde hatte so oft den Namen gewechselt. Tscheka, GPU, OGPU, NKWD, MWD, KGB und noch andere. Nie wurde er anders als mit Abkürzungen bezeichnet, als wollte man ihn durch Namensnennung nicht beschwören. Dazu Buchstabenabkürzungen, ganz ungewöhnlich, weil die russische Sprache Silbenkürzungen bevorzugt.

Dserschinskis Name wurde wenig genannt. Die Russen nannten ihn bei seinen unrussischen Vor- und Vatersnamen. Und so steif und fremd wie der Name war auch seine Erscheinung. Das ungewöhnlich hohe, spitze Denkmal vor der Lubjanka, dieser fremdländische Spitzbart, die schlanke, westliche Aristokratengestalt, der dünne, lange Mantel, der fiebrig-lungenkranke Gesichts­ausdruck. Natürlich, sagen die Russen, es mußte ja sein: Den KGB hat uns ein Pole gebracht!

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Auch die anderen Chefs dieses Geheimdienstes blieben ihnen fremd. Die Namen wie die unheimlichen Gesellen selbst: Jagoda: ebenfalls ein polnischer Name; Berija: aus Georgien. Jeschow benahm sich wie ein Jurodivi, wie ein greinend singender Verrückter (man erinnere sich an den Singsang des Gottesnarrs in der Oper «Boris Godunow»!), Awwakumows Name erinnert an den Priester, der im 18. Jahrhundert die Altgläubigen abspaltete und auf dem Scheiterhaufen endete. Semitschastni, Nachfolger Berijas, hat einen sehr merkwürdigen Namen (der Siebenteilige). Andropow wieder wirkte streng und gar nicht volks­russisch: Nur das Monokel fehlte ihm zum revolutionären Intellektuellen.

Der ganze KGB war den Russen unheimlich und fremd. Nur die Lubjanka, die war russisch. Dort wurde gefoltert und nicht an irgend­welchen Dossiers geschrieben.

Das ist eine salvatorische Illusion. Natürlich war die Staatssicherheit ein russischer Wechselbalg. Die plumpe zaristische Ochrana war ein Vorbild und noch mehr die Opritschnina aus dem späten 16. Jahrhundert, von Iwan dem Schrecklichen zum Kampf gegen die Bojaren geschaffen, ein Mittelding zwischen Orden und Behörde. Auch Zar Nikolaus I., der Blutige, hatte sich mit dem Grafen Benckendorff (schon wieder ein Ausländer!) und seiner Polizei ein perfektes Geheiminstrument geschaffen.

Jetzt ist das fremde Ding weg. Symbol dafür ist, daß nach dem mißglückten Staatsstreich als erstes das Felix-Edmundowitsch-Denkmal fiel: der große Haß richtete sich gegen die Staatssicherheit. Genau wie in den anderen Ostblock­ländern war sie das Symbol des Zauberbanns, weil sie ein Geheimbund war, im Gegensatz zur Partei. Das Verschwörer­gehabe machte, daß das Volk sie für die wahren Machthaber hielt, während sie tatsächlich «Schild und Schwert» der Partei waren. Das Volk haßt den Spitzel mehr als den Herrn, der ihn gemietet hat.

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Wenn nicht alles täuscht, wird es auch den Russen ergehen wie uns. Das Leichengift der Stasi wird ihnen das Fest der Freiheit vergällen. Auf Jahre hin werden Enthüllungen und Enttarnungen auf der politischen Bühne für die Irrationalität der nachsozialistischen Gesellschaft sorgen, werden Volkshelden zu Unpersonen werden, wenn ihre Vergangenheit aufgedeckt wird.

 

Puschkin enttarnt

Alexander Puschkin war Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Er war als Sympathisant in die Dekabristenaffäre verwickelt, hatte leichtsinnige Proklamationen, leichtfüßige Gedichte voller Andeutungen geschrieben und war erpreßbar geworden. Der Zar hatte ihm gnädig verziehen, ihn aber an die lange Leine genommen, an den Hof gebunden. Puschkin war gequält durch den Konflikt zwischen dem Zwang zur Anpassung, unterwürfigen Zugeständnissen und seinem aufsässigen Dissidenten­geist, der ihm immer wieder Pasquille und spitze Epigramme eingab (er konnte es nicht lassen), gequält auch durch die Familienaffären, die ewigen Schulden, gequält durch die Eifersucht auf seine lebensfrohe und vergnügungs­süchtige Frau und ihre Verehrer und Liebhaber, gequält durch die ewigen Hofintrigen. 

Dazu die Vorladungen und Anfragen des Grafen Benckendorff, KGB-Chef jener Tage, dessen Insinuationen und Denunziationen, die ewigen Zuträgereien und Spitzeleien der Hofumgebung, die ehrenvolle, aber unangenehm aufmerksame Zuwendung durch den Zaren, der seine Vorstellungen übermittelte, wie die staatskonstruktive Literatur auszusehen habe, die Puschkin wegen physischen Ekels nicht zustande brachte.

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Er bäumte sich auf, brach aus, brach wieder zusammen, verfaßte demütige Ergebenheitsadressen, schrieb eine Auftragsrecherche über den Aufstand des falschen Zaren Jemeljan Pugatschow, konnte sich aber nicht dazu überwinden, «die Linie» darzustellen, fiel mit seinem Bericht wieder in Ungnade – mit einem Wort: er durchlebte die Qualen des Intelligenzlers nahe an der Macht, aber in innerer Distanz zu ihr. 

Hätte ihn d'Anthes, sein Gegner im Duell, nicht tödlich getroffen, dann wäre er älter geworden, sicher diplomatischer, hätte sich vielleicht zu einem Amt überreden lassen, als Botschafter nach Paris zum Beispiel, hätte die falsche Bauernbefreiung von 1861 noch erlebt, wäre Dichterfürst geworden wie sein Kollege in Weimar, mit dem er den Ruhm teilt, mit ein paar hundert Gedichten eine Literatursprache aus trockener Abstraktheit zu einem Empfindungstaumel ohnegleichen erweckt zu haben. Wer weiß, hätte ihn nicht die Vergangenheit eingeholt, wäre er nicht als IM enttarnt worden, wären die untertänigen Briefe an den blutigen Nikolaus ihm nicht in der intellektuellen Szene der sechziger, siebziger Jahre zum Verhängnis geworden?

Er wäre nicht Cherub geblieben, der ewig junge, diese unbekümmerte Lichtgestalt der russischen Literatur, sein Stil wäre schwerfälliger, klassischer, und die geflügelten Worte wären weiser geworden. Es hätte Lebensepochen gegeben, Abschnitte, Erinnerungen, Deutungen, Selbstdarstellungen.

Quem di diligunt, adolescens moritur. Puschkin blieb bis an sein Ende ein Halbwüchsiger. Euphorion. Das bleibende Entzücken der Nachgeborenen. Was besagt da seine winselnde Abhängigkeit von der Staatssicherheit und dem Autokraten?

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Staatssicherheit und Intelligenz zur Stalinzeit 

Die sowjetische Geheimpolizei hatte schon eine lange, blutige Geschichtsetappe hinter sich, als die Staatssicherheiten des Ostblocks nach ihrem Vorbild gebildet wurden. Lange Zeit bestanden direkte Unterstellungsverhältnisse und Abhängigkeiten. Sie wurden abgelöst durch begrenzte Selbständigkeit mit «Beratern» und Aufsichtsoffizieren. In der letzten Zeit herrschte nominelle Unabhängigkeit der Vasallen bei vorhandenen engen Arbeitsbeziehungen. Stets war die Staatssicherheit der kleinere Bruder des KGB, stolz, wenn er etwas Wichtiges zu berichten hatte, von diesem nicht in alle Unternehmungen eingeweiht. In den letzten Jahren scheint die Abwehr, also die nach innen zur Abwehr von Anschlägen «innerhalb des Territoriums» wirkende Haupt­verwaltung, größere Unabhängigkeit genossen zu haben; es bestanden offenbar Spannungen zwischen «den Freunden» wegen der Perestroika-Politik.

Die Tscheka (Kürzel für «Außerordentliche Kommission») war zur Zeit der Wirren nach der Oktoberrevolution als «Schild und Schwert der Partei» gegen die Konterrevolution gegründet worden. Sie entwickelte sich zu einer hart durchgreifenden Geheimpolizei, die der jeweiligen Parteiführung bedingungslos ergeben war. Rechtsstaatliche Kriterien mußte sie zu keiner Zeit besonders beachten, weil das Recht nach herrschender Doktrin eine Konstruktion zur Sicherung der Machtverhältnisse war und deshalb ohne viel formalen Federlesens direkt der Gestaltung durch die Parteiführung unterworfen wurde.

In den dreißiger Jahren wurde die Organisation (unter neuen Namen, GPU, NKWD usw.) zu einer Terrororganisation, zu einem Instrument von Stalins persönlicher Diktatur.

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Die Prozesse jener Zeit zeigen, daß sogar ergebenen Parteifunktionären und loyalen Offizieren tödliche Gefahr vom ihr drohte. Zwei grundverschiedene Interpretationen stehen sich bis heute gegenüber: Diese Geheimpolizei sei ein hocheffektives Herrschafts­instrument gewesen, oder, im Gegenteil, sie sei zu einer parasitären Mafia geworden, die irgendwann den Bestand der Sowjetunion gefährdet hätte.

Was immer auch zutrifft, nach Stalins Tod wurden der Staatssicherheit die Flügel gestutzt; sie wurde zu einem funktionierenden Instrument der Parteiherrschaft, zu einem bürokratischen Spitzel- und Spionageapparat. Chruschtschow war ein gebranntes Kind und hat die Todesangst vor Jagodas, Jeschows und Berijas Zugriff nicht vergessen. Er hat, wie sich aus Memoiren der Glasnostzeit ergibt, seine Geheimpolizeichefs an der kurzen Leine gehalten und das Ministerium zum Komitee für Staatssicherheit (KGB) heruntergestuft. Unter Breschnew rückte der KGB-Chef Andropow ins Politbüro auf, als Lohn für unauffällige und ergebene Dienste gegenüber der nunmehr unangefochten herrschenden Partei. Seit Gorbatschows Machtübernahme sind der Einfluß und die Aktivitäten des KGB besonders unauffällig und undurchsichtig geworden. Meine zahlreichen Freunde in der Sowjetunion spüren seit mehreren Jahren die Krallen des KGB nicht mehr direkt; sie halten es aber für geraten, vorsichtig zu sein. Zur Vergangenheits­aufarbeitung á la DDR, wie fragwürdig und unwollständig auch immer, ist es dort nie gekommen. Der KGB schweigt, ist aber voll funktionsfähig und intakt.

Die Älteren unter uns erinnern sich noch lebhaft und mit Herzklopfen der namenlosen Angst, die die Menschen in der sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR-Zeit vor der sowjetischen und der eigenen Stasi hatten.

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Wer nach 1955 aufgewachsen ist, kennt nur noch die unterschwellige Angst vor dem Stasi-Apparat der zweiten Generation. Politische Häftlinge sind auch später noch mißhandelt und seelisch gebrochen worden, und wir kennen hier noch nicht alle Einzelheiten. Aber der physische Vernichtungsapparat hatte sich in eine eher bürokratische Verwaltungsmaschinerie verwandelt. Im öffentlichen Bewußtsein der Perestroikazeit wurde das Verhältnis zwischen Staatssicherheit und Intelligenz als unerhörte Hetzjagd begriffen. Die Überlebenden beschrieben Gewalt, Terror, Lager und Folterung, oft noch mit dem Nebenton, daß der «Große Terror» vor allem gegen die Intelligenz gerichtet war, also gegen alte Bolschewiki, Schriftsteller, Wissenschaftler, Generalstäbler. Solschenizyn macht da eine Ausnahme. Er beschreibt im «Ersten Kreis der Hölle» sogar relative Privilegien der Ingenieure im Sonderlager.

Dieser Eindruck, unter der Verfolgung Stalins hätte mehr als jede andere Gruppe die Intelligentsia gelitten, ist falsch, aber verständlich; die Intelligenz kann sich eben am schnellsten artikulieren, wenn der Druck aufhört. Sie findet auch leichter die Erklärungs- und Beschreibungs­muster. Sie «versteht» die Täter besser, weil ihr die Sprachmuster vertraut sind. 

Dagegen werde ich nie den stockenden und ratlosen Bericht eines Geschwisterpaars bei einer Familienfeier 1971 vergessen, die um 1937 als Kinder erlebten, wie eines Tages ohne Vorwarnung alle Männer im Dorf (im Waldai-Gebiet) verhaftet wurden und auf Nimmer­wiedersehen verschwanden. Vermutlich waren sie Opfer einer jener telegrafischen Anordnungen («Bis zum 20.5. sind zehntausend Volksfeinde unschädlich zu machen!»), die wir aus dem Smolensker Archiv kennen. Diesen einfachen Menschen steht aber eine solche rationalisierende Erklärung nicht zur Verfügung. Sie sehen dich verständnislos an, wenn du sie ihnen anbietest. Es ist, als wolltest du einen schaurigen Mythos mit einem physikalischen Phänomen erklären.

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Die schnelle Beschreibung im intelligenten Diskurs verdeckt aber auch tieferliegende Sachverhalte. Die Vernichtung des Dichters Mandelstam oder des Genetikers Wawilow zeigt, daß die Einschüchterung der Intelligenz durch Bauernopfer gelungen ist. Hinter diesen Dramen auf der Bühne muß es außerdem noch millionenfache stillschweigende Kooperation zwischen Parteiintelligenz (mit der Peitsche in der Hand) und technisch-wissenschaftlicher Intelligenz gegeben haben. Allein mit schlecht ausgebildeten Dilettanten, wie sie in den zeitgenössischen kritischen Berichten immer wieder genannt werden, sind die modernisierenden Aufbau­leistungen der frühen Sowjetepoche nicht hinreichend erklärt.

 

Der Pakt

Die zwanziger und dreißiger Jahre brachten der Sowjetunion eine in beispiellosem Tempo durchgeführte Industrialisierung. Dazu wurden alle Überreste des traditionellen Handwerks und der Kleinindustrie ebenso zerschlagen wie alle bodenständige Technik auf dem Dorfe. Es wird zuwenig beachtet, daß das nur mit einem gleichzeitigen massiven Import vom Anlagen und Industrie­gütern, technischen Verfahren und Vorschriften aus dem Westen gelungen sein kann. Noch heute zeigen Architektur, Industriebau, industrielle Formgestaltung und Industrienormen in der Sowjetunion den deutlich dominierenden Einfluß der zwanziger Jahre, besonders der Vereinigten Staaten.

Ein solcher Transfer kann nur gelingen, wenn eine hervorragend ausgebildete technische und naturwissenschaftliche Intelligenz zur Verfügung steht.

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Vieles konnte möglicherweise nachempfunden oder übernommen werden, aber auch dazu ist ein hohes Ausbildungsniveau notwendig, die Kenntnis fremder Sprachen und spezialisierter mathematischer und technischer Verfahren. Die Sowjetunion der zwanziger und dreißiger Jahre hat hervorragende Wissenschaftler gehabt, mehr Nobelpreisträger als zur Supermachtzeit, hat hoch originelle Zweige zum Beispiel in der Mathematik, der Elektronik und der theoretischen Physik entwickelt. Sie hatte vor dem Weltkrieg ein Rüstungsniveau erreicht, das es ermöglichte, den Anschlag der Hitlerarmeen abzuwehren und zum Angriff überzugehen.

Die Grobschlächtigkeit der sowjetischen Technik, über die die deutschen Eroberer sich auf ihrem Vormarsch noch lustig gemacht hatten, erwies sich den Belastungen und dem Klima als durchaus angemessen, machte die technischen Produkte robuster und weniger störanfällig. Ihr Niveau war letzten Endes ausreichend, um die Sowjetunion auf technologischem Gebiet konkurrenzfähig zu halten. Nach dem Weltkrieg wurde schneller, als der Westen das erwartete, das nukleare Gleichgewicht hergestellt.

Auch hier hat intelligente Lektüre von Westzeitschriften ebenso wie Spionage eine Rolle gespielt; trotzdem gilt: Mit holzköpfigen Apparatschiks kann man keine technologischen Sprünge machen, mögen noch so viele Westbücher eingekauft werden. Es geht nur, wenn die technisch-wissenschaftliche Elite kooperiert. Verliert sie die Motivation, wie in der Spätzeit des Sowjetimperiums, dann geht es abwärts.

Die ungewöhnlichen Leistungen dieses Landes deuten auf eine bedeutende operative Rolle der schöpferischen und technischen Intelligenz. Es ist auffällig, daß es in der Sowjetunion niemals zu einem prinzipiellen Konflikt zwischen Parteiapparat und «Technokratie» gekommen ist. Das wurde von Kremlastrologen immer wieder vermutet, wahrscheinlich aus Analogie zu den Verhältnissen in den westlichen Ländern abgeleitet.

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Ich erinnere mich noch deutlich an die Spekulationen des «Spiegels» in den fünfziger Jahren, der jeden Machtwechsel in der Sowjetunion in dieses Erklärungsschema zu pressen versuchte. Der Westen hat zahlreiche Avancen auf wissen­schaftlich-technischem Gebiet gemacht, beispielsweise Austausch­abkommen unterzeichnet, wohl wissend, daß das die Gefahr in sich barg, ausspioniert zu werden. Aber eine technisch gebildete Oberschicht mit Kenntnis westlicher Verhältnisse schien dann doch nicht mehr so ein gefährlicher, unberechenbarer Gegner zu sein wie der xenophobische Parteiapparat der Nach-Stalin-Zeit.

Mit der Akademie der Wissenschaften hatte bereits Lenin ein stillschweigendes Abkommen geschlossen. Die Akademiker wurden geschützt und geachtet; ihre Herkunft aus vorrevolutionären Adels- und Bürgerkreisen wurde toleriert. Akademie­mitglieder genossen stets ein im Vergleich zur Position ihrer Kollegen im Westen außergewöhnliches soziales Prestige und, bis in die Verzweigungen ihrer Familien hinein, erstaunliche Privilegien. Die Datschen der führenden «Atomtschiki» in Schukowka und ähnlichen Orten bei Moskau standen in unmittelbarer Nähe der Datschen der Politbürogrößen. Der Datschenstil ähnelt dem amerikanischen Cottage; der Luxus war geringer und weniger technologisch gestylt; er bestand in großzügiger Anlage, schönen großen Räumen, alten Buchbeständen, Konzertflügel, Sonderversorgung mit Gegenständen des täglichen Bedarfs über Spezialläden und als «Pajok» (Päckchen mit Zuwendungen). Er war komparativer Luxus, unglaublich im Verhältnis zum Leben des einfachen Sowjetbürgers.

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Für den akademisch ausgebildeten wissenschaftlichen oder technischen Mitarbeiter im Institut war das alles ein Wunschtraum, aber ein erreichbarer, wenn man exzellente Leistungen vollbrachte und sich im übrigen stets konstruktiv und politisch einwandfrei verhielt. So ergab sich überall in der Sowjetunion das seltene Bild einer symbiotischen hierarchischen Ordnung: Der Direktor oder Akademik sorgte mit seinem breiten Kreuz für Arbeits­möglichkeiten, Wohnung usw., während der junge Adept es ihm mit aufopferungsvollem Einsatz vergalt. Ins Ausland fuhr der Chef, den Vortrag vor internationalem Publikum hielt er; die Daten stellte ihm der Assistent zur Verfügung, dankbar, daß er sie, wenn sie der Kritik standhielten, als Dissertation einreichen durfte.

 

In seinem Roman <Der erste Kreis der Hölle> hat Alexander Solschenizyn die psychologische Verfassung von Ingenieuren und Physikern beschrieben, die im Lager mit Sonderauftrag abgestellt waren: Sie sollten ein Verfahren zur Identifizierung menschlicher Stimmen (von abgehörten Bändern) erfinden. 

Die Situation des Ingenieurs in einem Konstruktionsbüro oder technischen Entwicklungsinstitut der Sowjetunion hat viel Ähnlichkeit damit. Das Lagerleben war sozusagen die extreme Karikatur des Alltagslebens. Bei beiden das relative Privileg (relativ zu den Durchschnittsbürgern in Moskau, analog relativ zu den Seki in den Normallagern). Bei beiden das wundervolle Gefühl, hochabstrakte Leistungen (in fremder Sprache noch dazu!) kreativ bearbeiten zu dürfen, während ringsum Fronarbeit geleistet wird. Die ständige Angst, zu dieser Fronarbeit zurückgestuft zu werden. Der warme Arbeitsraum, während die Limitschiki, Arbeiter ohne Aufenthaltsgenehmigung, in Moskau oder die Seki im Lager die volle Härte der unwirtlichen Winternatur erleiden. Die Möglichkeit, ein «kulturvolles» Gespräch mit dem Nachbarn zu führen, während die da draußen nur Zoten und Alkohol im Sinn haben. 

Der Forschungstrakt des Gulag als Gleichnis für das Leben des Intelligenzlers im Realsozialismus!

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Sonderstatus und Privilegien (zu denen auch gehörte, in seinem Beruf arbeiten zu dürfen!) — damit wurde die Intelligenz der Stalinzeit ruhiggestellt. 

Hinzu kam die nie abklingende Angst, ins Visier zu geraten. Sie verstärkte paradoxerweise den persönlichen Einsatz. Einschüchterungen, Vergünstigungen und ein Bündnis: Das war der Gesellschaftsvertrag zwischen Parteiapparat-Intelligenz und akademischer Intelligenz zur Stalinzeit.

Dieses System funktionierte, solange extensives Wachstum herrschte, solange der Wettlauf mit dem Militärpotential des Westens noch in vollem Gange war, solange noch kein Gedränge auf dem Konkurrenzmarkt der Intelligenz herrschte und, vor allem, solange Hochspezialisierung und cleveres Nacherfinden möglicher (im Westen vorgeleisteter) Lösungen auf der Tagesordnung standen. Schon im «ersten Kreis», als sich herausstellte, daß zur Stimmenidentifikation (ein bis heute ungelöstes Problem) wirklich geniale Erfindungen notwendig waren, funktionierte das Abkommen nicht mehr. Denn diese benötigen eine innere Konzentration, die man nicht aufzubringen imstande ist, wenn trotz des Universitätsdiploms und der Stachanow-Auszeichnung und aller anderem Entlohnungen jederzeit die ominöse Klingel morgens um sechs das Nachdenken beenden kann.

Es ist eine merkwürdige Dialektik von Begeisterung, innerer Unruhe und wohleingegrenzter schöpferischer Freiheit, die zur Stalinzeit produktive Leistungen trotz ständiger Angst ermöglichte. Paradoxerweise ist die nachstalinsche Bürokratenära kreativen Leistungen weit weniger günstig gewesen, obwohl der Terror nachließ.

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       Staatssicherheit und Information       

 

Weil der Realsozialismus ein Gesellschaftsmodell abstrakten Zuschnitts war, ein verwirklichter rationaler (man könnte auch sagen: utopischer) Entwurf, spielten Ideologie, Glaube und Überzeugung eine herausragende Rolle, denn es fehlte der Teilsystemkitt, der in einem selbstorganisierten, nicht rational konstruierten System das Zusammenleben der Bürger in kleinen Subeinheiten (Kommunen usw.) regelt.

Die Ideologie des Realsozialismus krankte daran, daß an zentraler Stelle der Wahrheitsbegriff logisch auf den Kopf gestellt war, ohne daß das die gesamte Logik und ihre Wahrheitsfunktionen verdrehte. Zwei mal zwei blieb vier, aber die Arbeiter regierten, und beide Sätze waren wahr. Das erzeugte ständige Reibungen, wie bei zwei Kontinentalschollen, mit der ständigen Möglichkeit eines politischen Erdbebens aus harmloser Ursache.

Die Position der Intelligenz krankte daran, daß sie objektiv Systemstabilisator war, obwohl die Individuen besonders in der Spätzeit den Glauben an das System verloren hatten und sich für Proletariat hielten. Auch in der Intelligenz spiegelte sich also eine Umkehr der Wahrheitsfunktion, mit entsprechenden Spannungen im inneren Weltbild, aushaltbar nur noch durch Spaltung der äußeren Welt in die Anpassungswelt und die warme eigene (unmittelbare berufliche Tätigkeit, Familie). Der Aufstieg brachte das auch im Westen bekannte Phänomen der Entfremdung von der abstrakten Arbeit: Der leitende Ingenieur geht auf Sitzungen und Empfänge und beneidet den jungen, der noch an der Schaltung basteln darf. Der junge beneidet den leitenden wegen seines Aufstieges, wegen der höheren Dosis an Privilegien. Bei allen bestand zusätzlich noch die heimliche Hoffnung, daß ein Wunder die Liberalisierung zustande bringen und man selbst davon profitieren würde.

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Die Staatssicherheit hatte in der Frühzeit des Systems vor allem polizeiliche Aufgaben. Ihr Verhältnis zur Information und zum Wahrheitsbegriff war voluntaristisch: Wahr ist, was der Parteilinie dient. Die extreme Entwicklung dieses Verhältnisses erreichten die dreißiger Jahre mit der vom Generalstaatsanwalt Wyschinski verfochtenen Theorie, daß das Geständnis wichtiger sei als der Sachverhalt, den man ohnehin je nach Klassenstandpunkt verschieden interpretieren könne. Ein Extremalpunkt war der berühmte Telegrammtext aus Moskau: «Dringend! Sofortige Vollzugsmeldung notwendig: Weitere fünftausend Volksfeinde entlarven!»

In der bürokratischen Etappe des Realsozialismus ging dieses rein voluntaristische Verhältnis zu den Fakten verloren. Die Machthaber wollten nicht mehr unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Klassenfeind Krieg gegen das eigene Volk führen, zumal es sie dabei selbst, als Person, erwischen konnte. Es entstand ein Bedürfnis, den Grad der Zustimmung durch die Bevölkerung planmäßig zu erhöhen. Außerdem wurden die Kontrollfunktionen von Parteiapparat, Staatsanwaltschaft und Gerichten verändert. 

Für die Stasi der späten DDR war zum Beispiel die Beweislage ein wiederholt auftauchendes Problem: Für einen Prozeß nach einem der politischen Paragraphen mußten Beweise gefunden oder geschickt so fabriziert werden, daß sie Staatsanwaltschaft und Gerichte überzeugten. Deren Ansprüche waren allerdings sehr merkwürdig, aber immerhin – sie waren eine nicht direkt befehlsabhängige Instanz und konnten das MfS blamieren. Allerdings: Die Verurteilungs­quote überführter feindlich-negativer Personen war auch eine Planerfüllungskennziffer!

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Dieser Paradigmenwechsel von der Terrortruppe zum bürokratischen Spezialministerium ermöglichte ein anderes Verhältnis zur Information. Sie wurde zum überwiegenden Teil registriert, nicht mehr für ein sofortiges Geständnis verwertet. Sie mußte auch in der Realität nachweisbar verankert sein.

Dazu hatten sie objektive Methoden, zum Beispiel Abhöranlagen und Brieföffnungsmaschinen. Das Dilemma war nur, daß der Bürger sich angepaßt und das feindlich-negative Element sich vorsichtig verhielt. Wenn die Bürgerrechtler alles Wichtige im Stadtpark besprachen oder die Schlüsselvokabeln aufschrieben und nicht aussprachen, dann konnte die Wanze nur überwiegend langweilige Bettszenen oder Geburtstagsumtrunke ohne direkte politische Relevanz belauschen.

Dieses Dilemma erzwang den Rekurs auf subjektive Methoden, vor allem den Spitzelbericht. Hier war bei geschickter Führung des inoffiziellen Informanten nun wirklich «operativ bedeutsame» Information zu gewinnen. Allerdings, wohlgemerkt, nur aus der intellektuellen Szene. Daß der Bauarbeiter «Scheiß-DDR» sagte, wenn er keinen Auspufftopf für seinen Trabant bekam, konnte nicht zu den Informationen über potentiell staatsfeindliche Aktivitäten gerechnet werden. Die Konsequenz wäre gewesen, praktisch die ganze Bevölkerung zu kriminalisieren, und das wollte die Parteiebene nun auch wieder nicht. Der Intelligenzler aber, verliebt ins abstrakte Wort, schmückte das Schimpfwort ganz anders aus, schrieb es auf, vervielfältigte es und reichte es im Freundeskreis herum; er diskutierte gern mit staunenden Westbesuchern über seine politischen Theorien und warum der ganze Sozialismus nie zu Stuhle kommen könne, mit einem Wort: Das war operativ verwertbare Information.

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Auch die große Hauptabteilung, die sich mit Wirtschaft befaßte, war auf abstrakte Information angewiesen. Denn auch hier war die reale Welt von zweitrangiger Bedeutung: Daß die Bauarbeiter im Bauwagen Skat spielten, weil kein Zement angeliefert wurde, war weit weniger sicherheitsrelevant: als die Ablichtung eines raubkopierten Computerbetriebssystems von Siemens. Dafür brauchten sie aber wieder einen Intelligenzler, der die Hieroglyphen entziffern und ihren -Inhalt beurteilen konnte. Verwerten ließ sich die Information ohnehin nicht, mangels Hardware.

Mit einem Wort: Der späten Stasi atrophierte der Kampfmuskel. Papier, Brille und Kugelschreiber verdrängten Pistole, Schlagstock und Knastzelle als Waffen im Klassenkampf. Nicht vollständig, aber der deutlichen Tendenz nach. Schließlich bekam sie intellektuellen Habitus. Welch wunderbarer Urzeugung von Geist und Intelligenz in der Vierermannschaft, die den Winterabend im geparkten Lada vor der Dissidentenwohnung wacheschiebend verbrachte, den frierenden Fuß eingeschlafen auf dem Katalytöfchen haltend! Welch schriftstellerisches Talent und welche fiktionale Begabung in den Berichten, von denen mancher ohne Kürzung und sprachliches Facelifting in einer Brechtschen Parabel tadellose Figur machen könnte!

Leider war es immer noch nicht möglich, Fakten und ihre Darstellung in Übereinstimmung zu bringen. Es galt nämlich, das Zentraldogma von der herrschenden Arbeiter- und Bauernmacht vor logischen Widersprüchen zu schützen. Und schließlich mußte die Stasi dringend durch Produktion von Staatsfeinden die Existenzberechtigung des eigenen überblähten Planstellentableaus nachweisen.

So kam es zu den wunderbaren Berichten der ZIAG an Minister Mielke und das Politbüro. Alles ist aus ihnen ablesbar, alles ist korrekt verzeichnet, aber in eine so abstrakte Nomenklatur verhüllt, daß man nichts mehr verstehen konnte.

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Die zweiwertige formale Logik der Glanzzeit des Realsozialismus (Hauptfrage ist: Wer wen?) wandelte sich in das milchige Licht einer Realitätsbeschreibung, in der die Vorinterpretation so versteckt wurde, daß die Wahrheitsfindung im Ermessen des sklerotischen Generalsekretärs lag.

So sammelte die Stasi Informationen, die niemals Informationen sein durften. So ermittelte sie Wahrheiten, die niemals den logischen Bruch der Gesamtlüge aufscheinen lassen durften. So betrog die Staatssicherheit sich selbst und die Partei, der sie Schild und Schwert sein wollte und die doch letzten Endes nur ihr Papiertigerbild zustande brachte.

 

    Information und Planerfüllung   

 

Luftblase. Auf Grund der Wichtigkeit meiner Informationen bitte ich Sie, werter Genosse Minister, mir die Gelegenheit zu direkter Übermittlung an Sie oder Ihren ersten Stellvertreter zu geben. Mit sozialistischem Gruß! So Wolfgang Schnur (laut «Spiegel») im Jahre 1967 an Erich Mielke, mit Rückadresse VEB Fleischkombinat Rügen.

Erich Mielke wird vermutlich einen Bevollmächtigten benannt haben, der sich als erster Vertreter ausgeben durfte. Aber vorher muß er den Brief gelesen haben – niemand durfte es wagen, ihm das geheimnisvoll-wolkige Angebot beim Sichten der Post vorzuenthalten. Zu riskant: Angenommen, eine Gruppe junger Leute hätte ein paar Tage später eine nächtliche Segelpartie nach Bornholm unternommen, mit Empfang durch «BILD» am Strand, um über die spektakuläre Flucht zu berichten. Angenommen, W. S. hätte später behauptet, genau diese Information für den Minister in petto gehabt zu haben, als man ihn nicht vorließ.

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Unausdenkbar, eine solche Nachricht unterbunden zu haben. Das Ende der Laufbahn! Mangelnde revolutionäre Wachsamkeit. Wenn nicht Schlimmeres: Komplizenschaft!

Der für den Staatssicherheitsminister fatale Effekt an solcher Art heißer Information war, daß sie wie Wasser durch die Finger rann. In einer Bevölkerung von 16 Millionen gab es zu jedem beliebigen Zeitpunkt etwa 16.000 Wichtigtuer, die glaubten, über eine für das Land vitale Information zu verfügen. Über «ein Politikum», wie es so schön in Bonzenkreisen hieß. Nahezu alle Informationen werden kurz danach Desinformation, blinder Alarm, gewesen sein, und nur diejenigen waren wirklich ein Politikum, die sich materialisieren durften. Gerade das zu verhindern ist aber des Ministers Aufgabe. Siehst du die Heisenberg-Mielkesche Unschärferelation?

Es ist wie eine mouche volante im Auge: Schaut man hin, dann schwimmt es weg. Verspeist der Minister es mit Behagen, dann war es ein Luftbonbon, das den Magen ohne Sättigungsempfindung bläht. Lehnt er ab, dann mag es ein Praline gewesen sein. Es wird ein Praline, wenn «BILD» oder Lothar Loewe vom ZDF es verzehren; ein Windei bleibt es, wenn der Informant Schnur lediglich seine Beflissenheit zeigen will. So schnappt der Minister ständig nach einem verlockenden Knochen, der aus Gummi ist, sobald er ihn erwischt.

Das erklärt den flächendeckenden Informationskurzschluß im Stasi-Netz. Enorme Energien wurden verpulvert, aber es kam stets nur zum Kabelbrand. Irgendein Heini saugte sich etwas aus den Fingern, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit über eine, zwei, wenige Stufen Erich Mielke erreichte. Sah er hin und nicht schläfrig vorbei, dann wurde es «ein Fakt». Am Politbüro vorbei konnte er seinerseits E. H. damit füttern.

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E. M. mußte aufblasen, damit E. H. beeindruckt war. E. H. erfuhr, behaglich schaudernd, von der extremen Gefährlichkeit der «negativ-feindlichen» Aktivität und gleichzeitig von ihrer prompten Unterbindung. Immer wieder erhob der Klassenfeind sein Gorgonenhaupt, und stets erhielt er sofort eins auf die Finger.

Müllproduktion.  

Die Selbststrangulation durch revolutionäre Wachsamkeit. Übst du sie, entlarvst du sofort alle potentiell subversiven Impulse, dann erstickt die eigene Informationskanalisation im Bagatellmüll. Läßt du nach, dann kehrt Ruhe ein, die feindlich-negativen Gruppen produzieren friedlich Synodenpapiere und geraten sich mit den Kirchenoberen in die Haare, die sie Bonzen nennen. Und man fragt dich, wozu du neue Planstellen und fette Jahresendprämien haben willst. In Hunderten solcher Dissidentengruppen geschieht nichts außer Selbstbeschäftigung, und sie zerstreiten sich. Aber ein Keim mag irgendwann einmal doch wachsen, knospen, schwellen, ausschlagen, die vor sich hin lebende Bevölkerung wecken, sie motivieren, auf die Straße bringen, und dann ist es zu spät gewesen. Wie ein Nachtwächter, der für einen Moment eingenickt war und sich mit dröhnendem Kopf irgendwo wiederfindet und keine Erinnerung hat, wie ihm geschehen ist.

Gesetz des immerwährenden Wachstums.  

Wer nicht sät, der wird nicht ernten. 1984 hatten sie den großen Schlag gelandet und alle Querulanten mit einem Schnitt aus dem Lande entfernt. Mit und ohne Ausreiseantrag. Mancher erhielt ein Angebot und war nach Stunden drüben. Ein noch nie erlebter Sieg. Das ganze Meckerunkraut auf einen Strich ausgejätet. Ein enormer Tschekistenerfolg.

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Es gab Katzenjammer. Nicht nur, daß das Ausreisepotential sich verstärkt reproduzierte («Na, wenn es so leicht ist ...») – nein, man mußte es neu herstellen, neu aussäen. Der Job als Unkrautvertilger ist nur krisenfest, wenn man gleichzeitig Unkraut verbreitet. So kam es denn, daß plötzlich die Kleintransporter mit den versteckten Richtmikrofonen vor unserem Hause parkten, wenn wir abends Tee trinken und über den schwerkranken Gesellschaftsleib der Sowjetunion sinnieren wollten. Vorher rief noch einer an, meldete sich auf sächsisch mit «Müller» und behauptete, falsch verbunden zu sein, nachdem er sich überzeugt hatte, wer am Telefon war. Und bei Frau Nachbarin über uns erschien ein jovialer Herr und erkundigte sich (sie war in der Partei und Lehrerin und konnte ihn nicht einfach vor die Tür setzen), ob das Klavierspiel unserer Kinder ihr sehr lästig, das heißt laut sei (hinreichend laut für eine erfolgversprechende Installation einer Wanze?). Ein anderer Herr erschien bei einer Freundin und versuchte, sie anzuwerben (sehr feinsinnig, nicht sehr erfolgreich, aber immerhin sie zum Stillschweigen verpflichtend, so daß wir davon erst viel später erfuhren, als sie sich ein Herz gefaßt hatte).

Alles war natürlich «im Zuge der Planerfüllung». Es gab nicht mehr ausreichend negativ-feindliche Gruppen, um die Investitionen und Erneuerungsanträge zu begründen. So wurden wir kurzerhand zur konterrevolutionären Gruppe ernannt. Im Straßenbild häuften sich für uns die 1600er Ladas mit vier sportlichen jungen Typen darin; oft parkte einer vor der Haustür, öfter als sonst sah einen plötzlich jemand aus den Augenwinkeln an. Gegenüber entstand eine leere Wohnung ohne Gardinen, nur gelegentlich bewohnt. Die Phase der Informationssammlung, Aktengewinnung, ging schnell zu Ende. Das allgemeine Verhaltensbild war klar. Wir waren im Visier.

Illusionen.  

Schauplatz: Stasi-Büro in der Normannenstraße, am 10. Dezember 1989.

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Der Beschluß ist gefaßt, von drei Beauftragten zur Auflösung des MfS/AfNS schriftlich bestätigt. Die elektronisch gespeicherten Daten sollen gelöscht werden. Alle Unterschriftsbevollmächtigten sind anwesend. Der Operator, ein Informatik-Fachmann, erhält die Anweisung. Er «klickt» die zu löschenden Dateien «zusammen» und wählt die Option «Lösche». Auf dem Bildschirm erscheint die erstaunte Rückfrage: «43 Dateien löschen? Ist das Ihre Absicht? Antwort J/N.»

Die Bevollmächtigten nicken. Der Operator gibt «J» ein. Es erscheint die Aufschrift «Dateien gelöscht».

Sie sind auf dem betreffenden Sektor gelöscht. Aber ich verwette mein Monatsgehalt gegen einen alten Hut, daß der Informations­verwalter den Löschbefehl so modifiziert hat, daß die Dateien stillschweigend zugleich auf einen anderen Sektor gerettet wurden.
Es wird Wechselplatten mit Kopien geben. Sie nehmen nicht viel Platz ein.
Eine Handvoll Disketten in der Aktentasche können die wichtigsten Daten enthalten.
Datentransfer in einen anderen Rechner hat stattgefunden.

Jeder Datenjongleur mit Berufserfahrung, schon gar bei der Stasi, hält Sicherheitskopien der Datensammlungen, zumindest von Zwischenstadien vor der Endredaktion. Ihr Prinzip ist, Großvater und Vater am Leben zu halten, auch wenn der Enkel schon geboren ist. Im Havariefall muß man dann nur die Zeugung des Enkels wiederholen.

Sogar die Löschung auf dem Datensektor ist nicht vollständig. Der Löschbefehl hat die Dateien aus dem Suchverzeichnis gestrichen. Sie stehen so lange auf der Platte, bis sie definitiv überschrieben werden.

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Hat das Bürgerkomitee mit den Kirchenbeauftragten darauf bestanden, die ganze Platte mit XXX zu überschreiben, bevor sie das Rechenzentrum verließen? Wenn nein, dann konnte der kundige Informatiker die Daten retten, auch wenn keine andere Kopie existierte.

Mir kann keiner erzählen, daß die elektronischen Speicher vernichtet sind. Dazu waren wir Revolutionäre zu naiv. Wir hätten mit der Maschinenpistole den Rechner durchsieben müssen, anstatt uns mit Löschbefehlen blauen Dunst vormachen zu lassen. Magnetbänder auf einem Abfallhaufen überzeugen mich nicht. Alles, was je in den Speicherzustand kam, existiert weiter. Es wurde gewissermaßen nach «Welt 3» von Karl Popper übertragen. Es ist nicht vernichtbar, sondern als platonische Idee existent. Nach 8 Wochen, 8 Monaten, 8 Jahren mag es wieder auferstehen.

Welche Illusion, man könne Information vernichten. Nur Stümpern kann das aus Versehen passieren.

Rituelle Handlungen. Zum zentralen elektronischen Datenspeicher der Stasi möchte ich als Metakritik noch hinzufügen, daß er möglicherweise wegen Überfüllung gar nicht funktionsfähig war. Vielleicht war er ein Potemkinsches Dorf. Die raffinierte Modernität, die ein hochvernetztes Informationssystem ermöglicht, müßte man mir erst noch überzeugend nachweisen.

Der Aktenberg und die auf ihn anspielenden symbolischen Vernachtungshandlungen (Zerstückelung von Information im Fleischwolf, Verrührung in Papiersäcken) weisen vielmehr auf ein archaisches Moment hin. Die Stasi spielte Orakel, sie mimte den Torquemada, Mielke verkleidete sich als Maljuta Schkuratow – wie, wenn sie Allwissenheit sich selbst und der Partei nur vortäuschte, um parasitär leben zu können?

Was wir einbringen. Stasi ist zu einem Zauberwort geworden, zu einem Kürzel, das beste Chancen hat, in alle Sprachen einzugehen. So wie Sputnik oder Glasnost. Oder, näher an der Sache, ähnlich wie Gestapo.

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Was bringt die DDR in das vereinigte Deutschland ein? Was ist erhaltenswert an ihr? Diese Fragen werden überall wiedergekäut, seit der Untergang der DDR unausweichlich wurde. Also etwa seit der Jahreswende 1989/1990.

Die Antworten waren zunächst sehr ernsthaft, sehr pathetisch. Da war von Identität die Rede, die über Jahrzehnte gemeinsamen Schicksals gewachsen war. Von der sozialen Solidarität, zu der uns die Mangelwirtschaft und das Bedrückungssystem veranlaßt hatten. Von menschlichen Werten und menschlicher Kommunikation, in Freundes- und Familienbanden entwickelt und bewahrt. Von der Gemeinsamkeit erfahrener Bedrohung und Verachtung.

Später gerieten die hehren Ziele aus dem Blick. Es ging um mehr praktische Ziele, und der emotionale Dröhnfaktor ließ nach. Zunächst noch Kindergarten- und Horteinrichtungen sowie der Haushaltstag einmal im Monat für die arbeitende Familienmutter. Die garantierte Mindestrente. Dann immerhin noch der bequeme Rechtsabbiegerpfeil an der befahrenen Kreuzung. Die Akademie der Wissenschaften. Die zwölfklassige Oberschule. Die nach Väter Art, ohne die ganze puffige West-Chemie, gebackenen Semmeln. Zu guter Letzt durften wir nicht einmal mehr das rauhe Klopapier einbringen, sondern müssen jetzt das glatte, rutschige, weiche kaufen.

Alles vergebens. Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt, er wurde mit Freuden aufgenommen. Man vergesse nicht, die Geschichte im 15. Kapitel von Lukas zu Ende zu lesen. Der Bruder des verlorenen Sohns mault: Siehe, so viele Jahre diene ich dir. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit unzüchtigen Dirnen verschlungen hat, hast du ihm ein gemästet Kalb geschlachtet.

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Das Kapitel endet damit, daß der Vater alle zur Fröhlichkeit ermahnt. Was fehlt, ist die Fortsetzung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Sohn seine liederliche Lebensart mit ins elterliche Haus tragen durfte ...

Unsere wirklich originelle Mitgift, die wir ins neue Deutschland einbringen, ist der Stasi-Komplex. Einmal vom Sport abgesehen, ist das das einzige Feld, auf dem niemand hat mithalten können. Auch nicht die anderen Ostblockkollegen. Noch ist niemand von ihnen dem Sicherheitsapparat ernst haft an den Kragen gegangen. Es wird sehr spannend werden, wenn sie in Polen und in der CSFR an die Arbeit gehen. Wenn.....

Unser Mitbringsel ist aber entwertet. Es ist ein Riesenpaket wertlosen Papiers geworden. Die einen wollen es aufschnüren, um den Anspruch auf Kompensation für erlittenes Unrecht zu beweisen. Da dies immer die Untäter ins Lampenlicht rückt, wollen viele, viele andere das Paket lieber ungeöffnet einmauern oder ins tiefe Meer versenken. Wieder andere wollen diesen Streit beenden, weil er von der Zukunft abhält. Noch anderen ist der ganze Zank gleichgültig: Sie hatten nichts mit der Sicherheit zu tun und haben überhaupt andere Sorgen.

Unsere wirkliche Jahrhundertchance wird über diesem Gezerre wohl vertan werden. Es ist die Chance, zum erstenmal in der Weltgeschichte die geheimen Informationen, Kommunikationen und Handlungsmotive eines politisch und moralisch bankrott gegangenen Unrechtsregimes sofort nachher aufzudecken, wo noch alle Betroffenen dabei sind und Zeugnis ablegen können.

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Weder bei der zaristischen Ochrana noch bei der Himmlerschen Gestapo, weder bei Iwans des Schrecklichen Opritschnina noch bei Torquemadas Inquisition waren wir in vergleichbarer Lage. Die Akten sind total verdorben, in Alpenseen versenkt, verbrannt, vernichtet, und Täter wie Opfer sind nicht mehr am Leben oder auf subjektive Erinnerungen aus einem schwindenden Gedächtnis angewiesen.

Aber es steht zu befürchten, daß das Erbe des Staatssicherheitsdienstes und der von ihm beherrschten und manipulierten Parteikader vor allem in journalistischen Stinkbomben und Erpressungsbriefen bestehen wird, während die Einsicht in unser trauriges Leben verstellt wird von formalistischen, pseudo-rechtsstaatlichen und sogar interessegeleiteten Einwänden, die alle darauf hinauslaufen: Vergeßt es, es hat keinen Sinn, es riecht nicht gut, es führt zu nichts, die Menschen sind nun einmal so ...

Die fatale Dialektik besteht darin, daß auch diese verlogenen Argumente recht haben. Es wird überhaupt das Ergebnis dieser Betrachtungen sein, daß es keine Handlungsanweisung gibt. Zu jedem Argument sein Gegenteil, zu jedem Fall eine Gegen­präzedenz, zu jedem Urteil einen gegenteiligen Fall, zu jedem Satz die gleichwertige Kontradiktion. Es kann im einen Fall sinnvoll sein, die Akte zu veröffentlichen, im anderen, sie dem Betroffenen zuzustellen, im dritten, sie einem Historiker zu geben, beim vierten ist der Inhalt so erbärmlich, daß man sie am besten verbrennt. Und das kann völlig unabhängig davon sein, ob der Bericht stimmt oder erlogen ist.

Das Phänomen. Das Phänomen, die Erscheinung ist in der Erkenntnislehre das Anzeichen, die Bekundung, durch die etwas Dahinterstehendes sich den Sinnen zu erkennen gibt. Wer phänomenalistisch denkt, der betrachtet nur diese Erscheinungen und will nichts wissen über den verursachenden Gegenstand, über das «Ding an sich».

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Der Physiker Ernst Mach hat sich auf diese Sinnesdaten konzentriert und verschmäht, etwas über die Existenz des Dings an sich auszusagen. Er hat in unserer Studienzeit die Rolle des negativen Helden gespielt, weil Lenin ihn in einem Büchlein auf seine unbeschreibliche Art «in die Pfanne gehauen» hat.

Meine Erfahrung mit den Gebäuden der Staatssicherheit hat mir Verständnis für die innere Motivation eines solchen Empiriokritizismus eingebracht. Tatsächlich: Von ihr hatte man nur oberflächliche, äußere Sinneseindrücke. Wenn du durch die Frankfurter Allee fuhrst: Der lange, häßliche Häuserblock aus den dreißiger Jahren war 1958 noch allein, gardinenlos, grau, abends brannten einige Glühbirnen ohne Lampenschirme, der Klassenkampf durfte keinesfalls gemütlich werden. Dann wuchs der Kanker immer weiter und verfremdete schließlich das ganze Viertel um die Rusche-, Magdalenen- und Normannenstraße. Wie ein Gebirge türmten sich hinter den Viergeschossern die neuen Hochhäuser, bis in der neuesten Zeit schließlich ein Labyrinth von Gebäuden entstanden war, in dem Tausende von Geheimoffizieren ihrem Tagwerk nachgingen. Ein paar Kilometer weiter kam noch der Neubau der Bezirksbehörde Berlin der Staatssicherheit hinzu: ebenso abweisend, unfreundlich, reine Fassade, allerdings moderner, diese Bienenwaben mit dem dunkelbraunen sonnenlicht­abweisenden Glas.

Wo begegnete man ihnen? Na, jedes Jahr im Januar bei der Wanderdemonstration zum Friedhof der Märzgefallenen, dem Grab von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. So nahe ließ man die Gefahr sonst nie an Erich Honecker und seine Garde heran. Knapp zehn Meter vor ihnen defilierten Zehntausende vorbei, selbst bei bitterster Kälte (ich vermute, daß der Politbüroplatz zwischen den Gedenksteinen aus der Erde beheizt war).

Und hinter ihnen und sie einrahmend an der Seite standen sie, in klassenfesten Kampf- und Strampelanzügen: die Schwerter und Schilde der Partei, mit dem unnachahmlich starren Blick, die Hand im Geiste in der Achselhöhle, wo entsichert die Waffe hing ...

Sogar in der U-Bahn. Linie E, Magdalenenstraße (der Station direkt am Zentralquartier Normannenstraße), stiegen immer die Aktentaschen aus. Bereits Frankfurter Allee straffte sich der stets gleichmütige Blick. Ein typisches Zeichen: Frauen gleich Männer. Nie habe ich das in anderen Populationen beobachtet. Frei von jeder Spur von Balzgehabe oder Koketterie. Stets auf der Wacht. Zum Sinneseindruck gehört auch, daß man dem Weißen im Auge des Klassenfeindes standhielt.

Wehe, wenn du einen beobachtend ansahst! Wurde er deines Blickes gewahr, dann kam kalt und unbewegt der Gegenhalt. Open end. Sie müssen das in speziellen Kursen geübt haben: dieses Abschalten der Rückkopplung aus dem leeren Blick, trotzdem die beobachtenden Strahlenbündel. Ohne zu weichen. Nie habe ich einen ausweichenden Blick erlebt. Es war der Stolz des Tschekisten: Niemand wird dich je zwingen, die Augen niederzuschlagen. Das wäre des Klassenfeindes feiges Ausweichen.

Die geschulte Unnahbarkeit, die sich durch Unauffälligkeit verriet. Abends stand der Lada 1600 vor der Tür, mit vier Personen besetzt, die wie Krokodile anscheinend gleichmütig auf dich starrten, wenn du zur Telefonzelle wolltest. Auch hier der bewegungslose Antwortblick. Ein Moment. Der platte Sinneseindruck. Keine Dynamik. Den Rest besorgte deine Einbild­ungs­kraft. Sie nahm den Blick zum Auslöser, eine Emotion zu erzeugen: Angst, Panik, Wut, aber auch aktive, lässige Gleichgültigkeit.

Das Phänomen war so ganz anders als das Nuomenon, das Ding; an sich dahinterstehend. Deshalb ist die Lektüre der Akten so enttäuschend: Was habe ich nicht alles in ihren Basiliskenblick hineingeheimnist. Und statt dessen dieser banale Blödsinn. Wir haben ihnen zuviel Intelligenz zugetraut.

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