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Epilog  

 Nuland-1993

386-394

Mir ist der Mikrokosmos wichtiger als der Makrokosmos; mich interessiert das Leben eines Menschen mehr als das Verlöschen eines Sterns oder das Vorüber­ziehen eines Kometen. Wenn Gott existiert, dann ist er in jedem von uns ebenso wie im Weltall. Was mich fasziniert, ist die <Conditio humana>, nicht die Struktur des Kosmos. Diese <Conditio humana> zu verstehen, hat mich ein Leben lang beschäftigt. 

Heute, da ich in meinem siebten Lebensjahrzehnt stehe, darf ich sagen, daß mir ein gerüttelt Maß an Sorgen, aber auch Augenblicke des Triumphs zuteil geworden sind. Manchmal denke ich, daß mir im Guten wie im Schlechten mehr als nur mein Anteil beschieden war, aber dieser Eindruck kommt vermutlich von der sehr menschlichen Neigung, die eigene Existenz als herausragendes Beispiel einer allgemeinen Erfahrung zu erleben, als Leben gewissermaßen, das mehr als das Leben schlechthin ist und deshalb auch tiefer empfunden wird.

Ob dies mein letztes Jahrzehnt ist oder ob noch ein weiteres folgen wird, ist eine Frage, die niemand beantworten kann. Eine gute Gesundheit allein ist keine Garantie.

Doch eines weiß ich mit Gewißheit: Ich wünsche mir wie alle Menschen einen Tod ohne Schmerzen. Die einen möchten rasch sterben, am besten in Sekundenschnelle; die anderen wünschen sich einen Tod nach kurzer, schmerz­loser Krankheit in ihrer gewohnten Umgebung und im Beisein der Ihren. Ich gehöre zu den letzteren, die vermutlich in der Mehrheit sind. 

Was ich erhoffe, ist leider nicht, was ich erwarte. Ich kenne den Tod mit all seinen Unwägbarkeiten zu gut, als daß ich nicht wüßte, daß alles anders kommen kann, als ich es mir wünsche. Wie die meisten Menschen werde ich die körperliche und seelische Pein zu erdulden haben, die mit vielen todbringenden Krank­heiten einhergeht. 

Doch damit nicht genug, werde ich zusätzlich zur qualvollen Ungewißheit der letzten Monate noch unter Unentschlossenheit leiden: Soll ich weiterkämpfen oder resignieren, eine aggressive Therapie versuchen oder nur nach Sedierung verlangen, das Leben noch um eine kleine Spanne verlängern lassen oder mich mit dem Gedanken an das Ende abfinden? 

Die Krankheiten, die uns den Tod bringen, halten uns einen Spiegel vor, und je nachdem, wie wir uns entscheiden, zeigen sie uns ein Bild unserer selbst. Ob wir aber überhaupt zu einer klaren Entscheidung gelangen, ist ebenfalls ungewiß.

Ich habe dieses Buch genauso für mich geschrieben wie für den interessierten Leser. Indem ich einige der apokalyptischen Reiter des Todes Revue passieren ließ, hoffte ich, den Leser mit ihnen bekannt zu machen und meine Erinnerungen aufzufrischen. Man braucht nicht alle diese Mordgesellen kennen; es gibt ihrer so viele, daß wohl niemand darauf erpicht ist. Aber sie alle benutzen mehr oder weniger die gleichen Waffen, die auf den Seiten dieses Buches beschrieben worden sind.

387/388

Wenn der Leser mit diesen düsteren Gestalten etwas vertrauter geworden ist, flößen sie ihm vielleicht weniger Schrecken ein. Vielleicht können die Entscheid­ungen, die den Sterbenskranken bedrängen, gelassener und freier von Ängsten und falschen Erwartungen getroffen werden. Für jeden von uns mag es einen Tod geben, der für ihn richtig ist. Wir sollten uns bemühen, ihn zu finden, auch wenn sich am Ende herausstellen sollte, daß er nicht erreichbar ist. Die Krankheit, mit der die Natur uns nieder­streckt, legt die Bedingungen fest, denen wir uns fügen müssen. Es ist allerdings an uns, die Art und Weise unseres Abgangs zu bestimmen, soweit dies eben möglich ist. Rilke schrieb:

O Herr, gieb jedem seinen eigenen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

Der Dichter kleidet seinen Wunsch in die Form eines Gebets, und wie bei allen Gebeten ist nicht sicher, ob es erhört wird. So viele von uns haben keinen Einfluß auf die Art ihres Sterbens, und daran kann kein Wissen und keine Weisheit etwas ändern. Wenn ein geliebter Mensch oder wir selbst sterben, dürfen wir nicht vergessen, daß es viele Dinge gibt, an denen wir auch im Bündnis mit den größten Errungenschaften der modernen Medizin nichts ändern können. Daß so viele einen schlimmen Tod erleiden müssen, liegt in der Natur der tödlichen Krankheiten.

Die meisten Menschen beschließen ihr Leben nicht so, wie sie es gewollt hätten. In früheren Zeiten glaubte man an die Kunst des Sterbens, die Ars moriendi. Damals konnte man dem Tod nur auf eine Weise begegnen — ihn geschehen lassen. 

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Stellten sich bestimmte Symptome ein, konnte man nur noch so gut wie möglich sterben, nämlich in Frieden mit Gott. Doch auch damals mußten die meisten erst Qualen durchleiden, ehe sie erlöst wurden. Es gab kaum etwas anderes als den Trost des Gebets und den Beistand der Familie, um die Beschwerden des Sterbens zu lindern.

Heute beschäftigen wir uns nicht mehr mit der Kunst des Sterbens, sondern mit der Kunst, Leben zu retten. Die Probleme, die sich aus diesem Umstand ergeben, sind mannigfaltig. Es ist noch kein halbes Jahrhundert, her, daß die Medizin sich etwas darauf zugute hielt, ein sanftes und möglichst schmerzfreies Sterben zu ermöglichen.  

Von wenigen Ausnahmen wie der Hospizbewegung abgesehen, ist diese Kunst weitgehend verlorengegangen. Ihren Platz nehmen immer ausgefeiltere lebensrettende und -verlängernde Techniken ein. Führen sie nicht zum Erfolg, bleibt der Sterbende sich selbst überlassen.

Der Tod gehört dem Sterbenden und den Menschen, die ihn in Liebe begleiten. Auch wenn eine unaufhalt­sam vordringende Krankheit die Qual des Sterbens steigert, darf der Tod nicht durch wohlgemeinte, aber zwecklose Rettungs­maßnahmen noch schrecklicher gemacht werden. Entscheidungen darüber, ob eine Therapie fortgesetzt werden soll, werden dadurch beeinflußt, wie nachdrücklich Ärzte sie empfehlen. Gemeinhin glauben vor allem Spezialisten an die Fähigkeit der modernen Medizin, Probleme, die ein pathologisches Geschehen kurz vor dem tödlichen Ausgang aufwirft, doch noch zu lösen. Die Familie des Sterbenskranken klammert sich an jeden Strohhalm, mag er auch in Gestalt einer statistischen Wahrscheinlichkeit daherkommen. 

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Oft wird als klinische Tatsache ausgegeben, was nur die subjektive Einschätzung eines Spezialisten ist, nach dessen Überzeugung der Tod in jedem Fall gnadenlos bekämpft werden muß. Für einen solchen Arzt ist selbst ein temporärer Sieg gerechtfertigt, auch wenn dadurch die Fundamente zerstört werden, auf denen der Sterbende sein Leben gegründet hat.

Ich sage das nicht, um die Vertreter der High-Tech-Medizin in Bausch und Bogen zu verdammen, schließlich war ich selbst einer von ihnen. Ich kenne aus eigenem Erleben die Faszination des Kampfes um Leben und Tod und die tiefe Genugtuung, wenn ein Sieg errungen ist. Doch oft war mein Triumph nichts anderes als ein Pyrrhussieg. Das Leiden war den medizinischen Erfolg oft nicht wert. Hätte ich mich an die Stelle des Patienten und seiner Angehörigen versetzt, wäre ich weniger sicher gewesen, daß der verzweifelte Kampf in jedem Fall versucht werden müsse.

 

Wenn ich schwer erkranke und eine spezielle Therapieform brauche, werde ich mich an einen Arzt wenden, der dafür ausgebildet ist. Von einem solchen Spezialisten erwarte ich aber nicht, daß er meinen Glauben, meine Wertvorstellungen und die meiner Familie, meine Einstellung zum Leben und meine ganze Art versteht. Das ist nicht seine Aufgabe, und dafür ist er nicht motiviert. Aus den genannten Gründen aber werde ich einem Spezialisten nicht die Entscheidung überlassen, wann der Zeitpunkt gekommen scheint, die Therapie einzustellen. Darüber will ich selbst entscheiden, zumindest will ich den Rahmen für meine Entscheidung so genau festlegen, daß die Menschen, die mich am besten kennen, an meiner Statt die Entscheidung treffen, sollte ich selbst nicht mehr dazu in der Lage sein. 

Vielleicht lassen die Umstände meiner Krankheit einen »würdigen Tod« nicht zu, aber innerhalb der Grenzen dessen, was noch in meiner Macht liegt, will ich nicht später sterben als nötig, nur weil ein hoch­qualifizierter Spezialist nicht versteht, wer ich bin.

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Zwar ist dies nicht Thema dieses Buches, aber zwischen den Zeilen wird der Leser mein Plädoyer für die Wiederkehr des guten alten Hausarztes erkennen. Wir brauchen einen Menschen, der uns kennt und auch die Wege, auf denen wir uns dem Tod nähern. Und es gibt so viele Wege, die durch das Dickicht der Krankheit führen, so viele Etappen, an denen wir rasten, weitergehen oder die Reise beenden. Daher brauchen wir bis zum Schluß den Beistand der Menschen, die uns lieb und teuer sind, und das Wissen eines Heilkundigen, der uns zu dem Weg raten kann, den wir am Schluß ganz allein gehen müssen.

Der Rat muß medizinisch fundiert sein und sollte von einem Arzt kommen, der uns und unsere Lebens­einstellung kennt. In einer solchen Lage brauchen wir nicht das Fachwissen eines Fremden, sondern das Verständnis eines bewährten ärztlichen Freundes. Wie auch immer unser System der Gesundheits­fürsorge reformiert werden wird, diese einfache Wahrheit sollte dabei beherzigt werden.

Ein verständnisvoller ärztlicher Vertrauter ist unverzichtbar; aber wenn wir wirklich zu einer realitäts­gerechten Entscheidung kommen wollen, müssen wir unsere Krankheit und die Wege, die zum Tode führen, auch selber kennen. Ich habe viele Patienten erlebt, denen eine unnötige Verlängerung ihrer Leiden zugemutet wurde, ich habe aber auch andere erlebt, die zu früh aufgaben, als durchaus noch Möglichkeiten bestanden, nicht nur das Leben zu verlängern, sondern auch dessen Qualität zu verbessern. 

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Je mehr wir über die tatsächlichen Auswirkungen tödlicher Krankheiten wissen, desto besser können wir darüber bestimmen, ob es sinnvoll ist, weiter­zukämpfen oder aufzuhören, und desto eher entgehen wir dem Tod, den wir uns nicht wünschen. Für die Sterbenden und für ihre Angehörigen ist eine realistische Einschätzung der Lage der sicherste Weg zur inneren Ruhe. Wenn wir über den Tod eines Menschen traurig sind, sollten wir es sein, weil wir den Verlust einer geliebten Person beklagen, aber nicht, weil wir glauben, uns irgendeines Versäumnisses schuldig gemacht zu haben.

Eine realistische Einschätzung muß auch der Tatsache Rechnung tragen, daß die Lebensspanne, die jedem von uns auf dieser Welt beschieden ist, mit den Erfordernissen des Weiterbestands der Gattung in Einklang steht. Die Menschheit bleibt trotz ihrer herausragenden Stellung im Vergleich zu den anderen zoologischen und biologischen Lebensformen Teil eines übergreifenden Ökosystems. Die Natur macht keine Unterschiede, wir müssen sterben, damit die Gattung weiterleben kann. Wir nehmen am Wunder des Lebens teil, weil Milliarden und Abermilliarden Lebewesen uns den Weg bereitet haben und dann gestorben sind — gewissermaßen für uns. Auch wir sterben, damit andere leben können. Die Tragödie des Individuums wird auf der Waage der Natur zum Triumph der überlebenden Gattung.

So unerbittlich das Gesetz der Natur auch sein mag, es macht andererseits jede Stunde unseres Lebens um so kostbarer. Für uns ergibt sich daraus die sittliche Forderung, daß das Leben nützlich und lohnend sein muß. Mit unserer Arbeit und unserer Freude, unseren Erfolgen und unseren Niederlagen sind wir in die fortschreitende Entwicklung der Gattung, ja der gesamten Natur eingebunden. Die Würde, die wir uns im Lauf unseres Lebens schaffen, kommt in dieselbe Waagschale wie die Würde, die wir uns verdienen, indem wir die Notwendigkeit des Todes anerkennen.

Wie wichtig ist demgegenüber der eigentliche Abschied am Totenbett in Heiterkeit und Frieden? 

Für die meisten wird er ein Wunschbild bleiben, das sie anstreben, dem sie vielleicht auch nahekommen, das aber nur die wenigsten erreichen. Alle anderen müssen sich in die jeweiligen Umstände fügen. Doch wer die Mechanismen kennt, nach denen die wichtigsten letalen Prozesse zum Tod führen, wer den Ausgang seiner Krankheit realistisch einzuschätzen vermag und wer ein vertrautes Verhältnis zu seinem Arzt hat und von ihm nichts Unmögliches erwartet, der kann den Abgang aus seinem Leben in den Grenzen selbst bestimmen, die ihm der pathologische Prozeß setzt.

Für die meisten Menschen ist die eigentliche Todesstunde friedvoll, zumal sie oft vorher schon in Bewußtlosigkeit fallen, doch dieser Friede ist gewöhnlich um einen hohen Preis erkauft: Der Preis besteht in eben dem Prozeß, den der Sterbende bis dahin durchleiden mußte. Manche können sich für Augenblicke über die Gebrechen erheben, mit denen sie geschlagen sind. Solche großen Augenblicke sind kostbar und aller Erinnerung wert, aber sie mindern nicht die Schmerzen, über die der Sterbende vorübergehend triumphiert. 

Das Leben ist von Schmerzen durchsetzt, und für manche Menschen überwiegen die Schmerzen. Im Lauf eines Lebens werden die Schmerzen gewöhnlich durch Zeiten der Freude und der Ruhe gemildert. Beim Sterben dagegen beherrscht die eine bedrückende Tatsache der todbringenden Krankheit alles. Wenn bei Sterbenden dennoch von Friede und manchmal auch von Freude die Rede sein kann, dann ist damit die Stunde der Erlösung gemeint. In diesem Sinn ist der Tod oft friedvoll und sogar würdevoll; für das Sterben gilt dies selten.

Wenn also die traditionelle Vorstellung eines Sterbens in Würde korrigiert oder verworfen werden muß, was kann dann noch von unserer Hoffnung auf ein würdevolles Andenken gerettet werden, das wir den von uns geliebten Menschen hinterlassen wollen?

Die Würde, die wir im Sterben suchen, müssen wir in der Würde finden, mit der wir gelebt haben. Die Ars moriendi ist eine Ars vivendi: die Kunst des Sterbens ist die Kunst des Lebens. Aufrichtigkeit und Schönheit des zu Ende gehenden Lebens geben das eigentliche Maß für unser Sterben ab. Nicht in den letzten Wochen und Tagen entsteht das Vermächtnis unseres Lebens, sondern in den langen Jahrzehnten, die ihnen vorangegangen sind. Wer in Würde gelebt hat, wird auch in Würde sterben.

Der amerikanische Dichter William Bryant war erst siebenundzwanzig, als er seiner berühmten Meditation über den Tod, <Thanatopsis> (Totenschau, 1817), eine letzte Strophe hinzufügte. Aus ihr spricht die Weisheit eines Menschen, der schon in jungen Jahren alles verstanden hatte:

So lebe denn, daß wenn man fordert dich,
Zu gehn mit der unzähl'gen Karawan,
Die zieht nach dem geheimnisvollen Reich,
Wo jeder seine Zell' in stiller Hall'
Des Todes sucht; du nicht, dem Sklaven gleich,
Mußt gehn, der zu dem Kerker wird gepeitscht -
Nein, daß gefaßt du und getröstet nahst
In unerschüttertem Vertrau'n dem Grab,
Gleich dem, der um sich schlingt des Bettes Hüll'
Und sich zu süßen Träumen niederlegt.

393-394

Ende

 wikipedia  William_Cullen_Bryant  1794-1878

 

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Nuland-1993