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1   Das erdrosselte Herz 

Nuland-1993

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Jedes Leben ist anders als alle Leben, die ihm vorangegangen sind. Das gleiche gilt für den Tod. Die Einzigartigkeit jedes Menschen zeigt sich selbst in seinem Sterben. Zwar wissen die meisten, daß verschiedene Krankheiten auf verschiedenem Weg zum Tod führen, aber nur die wenigsten erfassen die ganze Tragweite dieser Aussage.

Denn es gibt unendlich viele Arten, wie sich der Geist des Menschen vom Körper trennt. Unsere Art zu sterben ist so charakteristisch für uns wie die unverwechselbaren Gesichtszüge, die wir der Welt ein Leben lang gezeigt haben. Jeder stirbt auf seine, auf wechselbare Weise.

In meiner ärztlichen Laufbahn bin ich früh dem unerbittlichen Antlitz des Todes begegnet. Beim erstenmal war es auf einen zweiundfünfzigjährigen Mann gerichtet, der als Privatpatient in einer großen Universitäts­klinik scheinbar behaglich zwischen den gestärkten Laken seines frischbezogenen Bettes lag. Ich hatte gerade das dritte Jahr meines Medizinstudiums begonnen, und das Schicksal wollte es, daß ich meinen ersten Patienten und den Tod in derselben Stunde kennenlernte.

James McCarty, ein Mann von kräftiger Statur, arbeitete als Manager einer Baufirma. Vom geschäftlichen Erfolg verführt, hatte er Gewohnheiten angenommen, die, wie wir heute wissen, geradezu selbstmörderisch sind. Doch die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, liegen fast vierzig Jahre zurück, und damals war über die Risiken des guten Lebens nur wenig bekannt. Der reichliche Genuß von Tabak, Rind- und Schweine­fleisch, Speck und Butter galt damals zusammen mit einem sichtbaren Bauchansatz als Zeichen redlich verdienten Wohlstands.

Als Manager war McCarty bewegungsfaul und träge geworden. Früher hatte er auf der Baustelle die Maurerkolonnen seiner prosperierenden Firma angeführt und selbst mit Hand angelegt, nun begnügte er sich damit, die Geschäfte vom Schreibtisch aus zu leiten. Den größten Teil des Tages saß er bequem in einem Drehsessel und gab Anordnungen. Von hier aus hatte er auch einen freien Ausblick auf den Golfplatz von New Haven und den Quinnipiack Club, in dessen Restaurant er sich täglich das Mittagessen gönnte, das einer erfolgreichen Führungskraft zustand.

Ich werde nie vergessen, wie McCarty ins Krankenhaus eingeliefert wurde und was noch in derselben Nacht geschah. Das aufwühlende Stakkato der Ereignisse jener Nacht hat sich meinem Gedächtnis augenblicklich und für immer eingeprägt.

An einem schwülwarmen Septemberabend kam McCarty gegen acht Uhr in die Notaufnahme. Er klagte über beklemmende Schmerzen hinter dem Brustbein, die in den Hals und den linken Arm ausstrahlten. Die Schmerzen hatten vor einer Stunde begonnen. Zuvor hatte er wie üblich recht üppig zu Mittag gegessen, einige Zigaretten geraucht und einen Anruf von seiner Tochter erhalten, der ihn beunruhigte. Sie war das jüngste seiner Kinder und hatte gerade ein Studium an einem damals sehr renommierten College begonnen. 

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Der Assistenzarzt, der McCarty in der Notaufnahme zuerst untersuchte, bemerkte dessen aschgraue Gesichtsfarbe, erhöhte Transpiration und unregel­mäßigen Puls. Bis das Gerät zur Ableitung eines Elektrokardiogramms herbeigeschafft und der Patient an den Apparat angeschlossen war, vergingen etwa zehn Minuten, In dieser Zeit hatte sich sein Aussehen gebessert und sein unregelmäßiger Herzschlag normalisiert. Das Elektrokardiogramm zeigte jedoch, daß er einen Herzinfarkt erlitten hatte, das heißt, ein kleiner Herzwandbezirk war beschädigt worden.  

Der Zustand McCartys schien sich allerdings wieder stabilisiert zu haben, deshalb wurde er auf eine Station eingewiesen. In den fünfziger Jahren gab es noch keine besonderen Intensivstationen für Infarktkranke. In der Zwischenzeit war auch sein Hausarzt eingetroffen und hatte sich selbst überzeugt, daß es seinem Patienten wieder besser gehe und keine akute Gefahr mehr bestehe.

Gegen elf Uhr abends kam McCarty in die Innere Abteilung. Ich kam zur gleichen Zeit von einer Party meiner Studenten­verbindung. An jenem Abend hatte ich dienstfrei. Eine Flasche Bier und die ausgelassene Stimmung unter den Kommilitonen hatten mein Selbstbewußtsein gehoben. Ich wollte noch einmal auf der Station vorbeischauen, der ich erst am Morgen zugeteilt worden war. 

Es war meine erste Ausbildungsphase in der Inneren Abteilung. Medizinstudenten, die nach dem Physikum ihre ersten Erfahrungen im Umgang mit Patienten machen, brennen vor Tatendrang, und ich war keine Ausnahme. Ich fuhr auf die Station in der Hoffnung, mich bei einem interessanten Neuzugang nützlich machen zu können. Falls bei einer Notaufnahme eine Rückenmarkspunktion vorzunehmen oder ein Beatmungstubus einzuführen war, wollte ich gleich zur Stelle sein.

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Auf dem Gang der Station begegnete ich Dave Bascom, dem Assistenzarzt. Er nahm mich gleich am Arm, als sei er erleichtert, mich anzutreffen. »Kannst du mir aushelfen? Joe [der diensthabende Student] und ich, wir sind am Ende des Gangs mit einem Poliokranken mit Bulbärsymptomen beschäftigt. Es geht ihm gar nicht gut. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du den Neuzugang übernehmen könntest, einen Patienten mit Herzinfarkt. Er ist gerade auf Zimmer 507 gebracht worden. Willst du?«

Und ob ich wollte! Deswegen war ich ja noch einmal auf die Station gekommen. Vor vierzig Jahren gestand man Medizin­studenten sehr viel mehr Selbständig­keit zu als heute. Wenn ich die Aufnahmeuntersuchung zu aller Zufrieden­heit machte, konnte ich sicher sein, auch bei McCartys weiterer Behandlung hinzugezogen zu werden. Ich wartete also gespannt einige Minuten, bis eine Krankenschwester meinen neuen Patienten von der Rollbahre in sein Bett umgebettet hatte. Als die Schwester dann zum anderen Ende der Station eilte, um bei der Versorgung des Poliokranken mit anzupacken, war der Augenblick meines Auftritts gekommen. Ich trat in McCartys Kranken­zimmer und schloß die Tür hinter mir. Ich wollte vermeiden, daß Dave, wenn er zufällig vorbeikam, mir die Aufgabe wieder aus der Hand nahm.

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McCarty empfing mich mit einem dünnen, gezwungenen Lächeln. Meine Anwesenheit schien ihn nicht gerade zu beruhigen. Noch Jahre später habe ich mich gefragt, was diesem hypertonischen Mann, der in seinem beruflichen Leben rauhe, kräftige Bauarbeiter kommandiert hatte, wohl durch den Kopf gegangen sein mag, als er mein Milchgesicht sah (ich war damals gerade zweiundzwanzig) und mich sagen hörte, ich sei gekommen, um seine Anamnese zu erheben und die Aufnahme­untersuchung zu machen. 

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Wie dem auch sei, er hatte nicht viel Zeit darüber nachzudenken. Ich hatte mich gerade zu ihm aufs Bett gesetzt, da warf er plötzlich den Kopf nach hinten und stieß einen unartikulierten Schrei aus, der tief aus der Brust kam, von dort, wo sein krankes Herz saß. Mit beiden Fäusten schlug er sich gleichzeitig und mit aller Kraft auf den Brustkorb, während Gesicht und Hals augenblicklich anschwollen und sich purpurrot verfärbten. Die Augen traten hervor, als wollten sie aus den Höhlen springen. McCarty tat noch einen tiefen, röchelnden Atemzug, dann starb er. 

Ich rief ihn beim Namen, dann rief ich nach Dave, obwohl ich doch wußte, daß mich in dem hektischen Krankenzimmer am anderen Ende des Ganges niemand hören würde. Zwar hätte ich hinlaufen und Hilfe holen können, aber dabei wären kostbare Sekunden verlorengegangen. Ich tastete nach McCartys Halsschlagader; sie war ohne Puls. Aus Gründen, die mir bis heute rätselhaft sind, blieb ich bei alledem seltsam ruhig. 

Ich entschied, auf eigene Faust zu handeln. Daß mir daraus später Vorwürfe gemacht werden könnten, nahm ich in Kauf. Auf keinen Fall wollte ich einen Menschen in meiner Gegenwart sterben lassen, ohne vorher irgend etwas versucht zu haben, um sein Leben zu retten. Für mich gab es keine andere Wahl.

Damals gab es in jedem Krankenzimmer, das mit einem Herzpatienten belegt war, ein großes, in Musselin gewickeltes Paket, das ein Besteck für eine Thorakotomie enthielt. Mit diesem Besteck konnte im Fall eines Herzstillstands der Brustkorb des Patienten geöffnet werden. Die äußere Herzmassage bei unversehrtem Brustkorb war damals noch nicht bekannt. Die übliche Technik bestand darin, das Herz offenzulegen und mit der Hand anhaltend rhythmisch zu massieren. 

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Ich riß die sterile Verpackung auf und ergriff das Skalpell, das zuoberst in einer eigenen Hülle bereitlag. Was ich im folgenden tat, lief automatisch ab, obwohl ich nie zuvor andere bei einem solchen Eingriff gesehen, geschweige denn ihn selbst vollzogen hatte. Zu meinem eigenen Erstaunen legte ich schwungvoll einen Schnitt, der unterhalb der linken Brustwarze begann und sich so weit nach hinten zog, wie es die halb aufrechte Lage des Patienten zuließ. Nur ein wenig schwärzliches Blut sickerte aus den Arterien und Venen, die ich mit dem Skalpell durchtrennt hatte, eine echte Blutung war nicht zu beobachten. Hätte es noch eines Beweises für den Herzstillstand als Todesursache bedurft, hier war er. Noch ein Schnitt durch den blutleeren Muskel, und ich war in der Brusthöhle. Ich griff nach dem Rippenspanner, einem gegabelten stählernen Instrument, setzte es zwischen den Rippen ein und stellte die Sperrklinke so ein, daß ich mit der Hand zwischen den Rippen durchgreifen konnte und das zu fassen bekam, was ich für McCartys stillstehendes Herz hielt.

Als ich den Herzbeutel, die bindegewebige Hülle des Herzens, berührte, merkte ich, daß sein Inhalt zuckte. Unter meinen Fingerspitzen spürte ich eine flimmernde Bewegung, die ich aus den Beschreibungen der Lehrbücher als Kammerflimmern erkannte. Kammerflimmern ist die letzte hektische Tätigkeit des Herzens, ehe es für immer stillsteht. Mit bloßer Hand nahm ich eine Schere und schnitt den Herzbeutel ganz auf. Ich nahm McCartys zuckendes Herz so sanft wie möglich in die Hand und begann es rhythmisch zu massieren. Mit einer solchen Herzmassage soll der Blutfluß zum Gehirn aufrechterhalten werden, bis dem Patienten mit einem elektrischen Apparat ein kräftiger Stromstoß versetzt wird, der das Herz wieder zur Arbeit im Takt zwingt.

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Ich hatte gelesen, daß ein flimmerndes Herz dem Masseur das Gefühl gibt, er halte einen Haufen nasser, gallertartiger, sich windender Würmer in der Hand, und dieser Vergleich traf die Wirklichkeit genau. Der Herzmuskel setzte meiner pressenden Hand immer weniger Widerstand entgegen, woraus ich entnehmen konnte, daß sich das Herz nicht mit Blut füllte und meine Bemühungen, es zum Pumpen zu bewegen, vergebens waren, zumal die Lungen keinen Sauerstoff mehr enthielten. Dennoch ließ ich nicht nach. Da geschah plötzlich etwas, das mich vor Grausen erstarren ließ. 

Der tote McCarty, dessen Seele schon längst ihre sterbliche Hülle verlassen hatte, warf noch einmal den Kopf nach hinten, die glasigen toten Augen mit stierem Blick an die Decke gerichtet, und schickte einen keuchenden Laut wie das Bellen des Höllenhunds zum fernen Himmel. Erst später ging mir auf, daß dieses Keuchen McCartys Todesröcheln war. Das Geräusch entsteht durch Muskelkrämpfe im Kehlkopf, wenn der Säurespiegel des Blutes bei einem gerade gestorbenen Menschen rasch ansteigt. Damit gab er mir gewissermaßen zu verstehen, daß meine Bemühungen, ihn wieder ins Leben zu holen, vergebens waren.

Allein mit der Leiche im Krankenzimmer, schaute ich in die glasigen Augen des Toten und bemerkte etwas, das ich schon früher hätte sehen können. McCartys weit geöffnete Pupillen waren starr und reagierten nicht mehr auf Lichteinfall. Das war ein Zeichen für Hirntod. Ich wandte mich von dem Gemetzel ab, das ich auf dem Bett angerichtet hatte, und merkte erst jetzt, daß meine Kleider ganz naß waren. 

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Der Schweiß strömte mir über das Gesicht, meine Hände und mein weißer Arztkittel waren mit dem schwärz­lichen Blut besudelt, das aus McCartys leblosem Körper gesickert war, als ich seine Brust geöffnet hatte. Plötzlich brach ich in Tränen aus. Ich erinnere mich noch, daß ich meinen Patienten anflehte, er möge weiterleben. Ich schrie ihm seinen Namen ins linke Ohr, als könne er mich noch hören. Ich vergoß Tränen der Wut und der Enttäuschung über mein und sein Versagen.

Dann ging die Tür auf und Dave stürzte herein. Mit einem Blick erfaßte er die Situation, und als er mich so unkontrolliert schluchzen sah, verstand er alles. Er trat zu mir ans Bett, legte mir den Arm um die Schulter, als wären wir Schauspieler in einem alten Kriegsfilm, und sagte ganz ruhig: »Ist ja gut, mein Junge, ist ja gut. Du hast getan, was du konntest.« Wir setzten uns, und dann zählte mir Dave geduldig die klinischen und biologischen Gründe auf, weshalb James McCartys Tod unausweichlich gewesen war. Ich erinnere mich freilich nur noch an die mitfühlenden Worte, die er abschließend sagte: »Shep, jetzt weißt du, was es heißt, Arzt zu sein.«

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Dichter, Philosophen, Chronisten, Humoristen und weise Männer haben oft über den Tod geschrieben, aber ihn nur selten mit eigenen Augen gesehen. Ärzte und Krankenschwestern sehen ihn oft, schreiben aber selten darüber. Die meisten Menschen sehen den Tod ein- oder zweimal im Leben in Situationen, an denen sie emotional so beteiligt sind, daß sie keine verläßlichen Erinnerungen daran behalten. Überlebende von Massen­sterben entwickeln rasch so starke Abwehr­mechanismen gegen den Schrecken, den sie erlebt haben, daß alptraumhafte Bilder die Erinnerung an die realen Ereignisse verstellen. 

Daher gibt es nur wenige verläßliche Berichte über die Art und Weise, wie wir sterben.

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Heutzutage erleben nur wenige das Sterben von Angehörigen und Freunden mit. Nur wenige Kranke sterben noch zu Hause, und wer in diese Lage kommt, befindet sich gewöhnlich im Endstadium einer tödlichen Krankheit oder eines chronischen Siechtums. Dann sorgen Medikamente oder schmerzstillende Mittel dafür, daß die biologischen Vorgänge, die während des Sterbens ablaufen, wirkungsvoll kaschiert werden. Etwa 80% der Amerikaner und 70% der Deutschen sterben im Kranken­haus, wo sie von den Menschen, die ihnen im Leben am nächsten gestanden haben, für die Zeit ihres Sterbens abgeschirmt werden.

Um den Tod rankt sich eine ganze Mythologie. Wie die meisten Mythologien entspringt auch sie einem Bedürfnis der Menschen. Mythen vom Tod sollen einerseits Ängste eindämmen, andererseits aber auch Wünsche niederhalten. Sie haben die Aufgabe, den Schrecken zu bannen, den die Wirklichkeit für uns hat. 

Obwohl viele hoffen, der Tod möge schnell kommen oder sie im Schlaf überraschen, stellen wir uns die letzte Stunde unseres Lebens am liebsten als würde­vollen Abschluß vor, als Ende bei klarem Bewußtsein, das es uns ermöglicht, die Summe unseres Lebens zu ziehen. So sieht das Ideal aus, wenn nicht der Sprung in schmerzfreie Bewußtlosigkeit vorgezogen wird.

 

Die bekannteste bildliche Darstellung des ärztlichen Berufes im angelsächsischen Kulturkreis verdanken wir Sir Luke Fildes. Das Gemälde trägt den Titel <Der Doktor> und stammt aus dem Jahr 1891. Die Szene zeigt ein schlichtes Fischerhaus an der englischen Küste. Ein kleines Mädchen liegt ruhig und offensichtlich ohne Bewußtsein auf seinem Lager, in Erwartung des nahen Todes. Man sieht die traurigen Eltern und einen nachdenklichen, mitfühlenden Arzt, der am Bett des Mädchens sitzt und ohnmächtig mit ansehen muß, wie der Tod von ihr Besitz ergreift.

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Auf Befragen hat der Maler später von seinem Bild gesagt: »Für mich ist die dargestellte Szene erschütternder als jedes noch so schreckliche Thema und trotzdem schöner.« Fildes hätte es eigentlich besser wissen müssen. Vierzehn Jahre zuvor hatte er miterlebt, wie sein Sohn an einer jener Infektions­krankheiten starb, die im späten 19. Jahrhundert kurz vor Anbruch der modernen Medizin noch so viele Kinder hinwegrafften. Es ist nicht bekannt, welcher Krankheit Phillip Fildes erlag, aber gewiß war seinem jungen Leben kein friedvolles, »schönes« Ende beschieden. War es Diphtherie, erstickte er; war es Scharlach, lag er vermutlich mit hohem Fieber bis zum Schluß im Delirium; war es Hirnhautentzündung, müssen ihn Krämpfe und rasende Kopfschmerzen geplagt haben. 

Aber vielleicht ist das Kind in <Der Doktor> ja bereits durch diese Feuer gegangen und hat nun die Ruhe des Komas erreicht. Was auch in den Stunden vor ihrem »schönen« Tod geschah, es muß für das Mädchen und seine Eltern unerträglich gewesen sein. 

  

 wikipedia  Luke Fildes  1844-1927 

Nur wenigen ist es vergönnt, sanft in die ewige Nacht hinüber­zugleiten.

Francisco de Goya ist achtzig Jahre vor Fildes ehrlicher gewesen, vielleicht, weil er in einer Zeit lebte, in der der Tod allgegen­wärtig war. Sein Bild mit dem Titel <Diphtherie> ist in realistischem Stil gemalt, dem in der damaligen Zeit ein Realismus im gesamten europäischen Geistesleben entsprach. Man sieht darauf einen Arzt, der mit einer Hand den Kopf seines jungen Patienten festhält, während er sich anschickt, die Finger der anderen Hand in den Hals des Jungen zu schieben, um ihn von dem membranartigen Belag im Kehlkopf zu befreien, der sonst zum Erstickungstod führen würde. 

 wikipe  Francisco_de_Goya  1746-1828

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Der spanische Titel des Gemäldes, der zugleich die Krankheit bezeichnet, zeigt nicht nur, mit welcher Direktheit Goya sein Thema angeht, sondern zeugt auch von der Vertrautheit seiner Zeitgenossen mit dem Tod. Er lautet <El Garrotillo> nach dem Erdrosselungseffekt, mit dem die Krankheit ihre Opfer tötet.

Eine so direkte Konfrontation mit der Wirklichkeit des Todes gibt es, zumindest im Westen, schon lange nicht mehr. 

Aber die Wahl des Wortes »Konfrontation« läßt mich, aus welchen bewußten oder unbewußten Motiven auch immer, innehalten. Ich muß mich an dieser Stelle fragen, ob nicht gelegentlich auch ich, nach fast vierzig Jahren Erfahrung mit Sterbenden wie James McCarty, gewissen falschen Vorstellungen unserer Zeit aufsitze. Danach stellt der Tod die letzte und vielleicht entscheidende Herausforderung im Leben eines Menschen dar: ein gnadenloser Kampf, den es zu bestehen gilt. Der Tod erscheint als erbitterter Feind, über den ein Sieg errungen werden muß. Dies kann entweder mit den Waffen der High-Tech-Medizin erfolgen, oder aber man fügt sich bewußt in den Tod und erwartet sein Kommen in jener gelassenen Verfassung, für die der gegenwärtige Sprachgebrauch die Formel vom »würdigen Tod« bereitstellt. Der »würdige Tod« ist in unserer Gesellschaft Ausdruck der Sehnsucht, einen schönen Triumph über die mächtige und oft abstoßende Realität zu erringen, die das Leben in seinen letzten Zügen prägt. 

In Wirklichkeit aber ist der Tod keine Konfrontation. Er ist nur ein Ereignis in jener Reihe fortlaufender Rhythmen, die der Natur unterlegt sind. 

Nicht der Tod, sondern die Krankheit ist der eigentliche Feind des Lebens, sie ist die bösartige Macht, die bekämpft werden muß. Der Tod ist das Schweigen der Waffen, wenn nach erbittertem Kampf die Schlacht verloren ist. 

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Selbst die Konfrontation mit der Krankheit sollte in dem klaren Bewußtsein unternommen werden, daß viele Krankheiten des Menschen lediglich geeignete Wege für jene letzte Reise sind, mit der jeder von uns in die physische und vielleicht auch geistige Nichtexistenz zurückkehrt, die wir bei unserer Empfängnis verlassen haben. Jeder Triumph über eine Krankheit, wie glänzend der Sieg auch ausfallen mag, ist doch nur ein Aufschub angesichts des unvermeidlichen Endes.

Die Menschheit verdankt der medizinischen Wissenschaft, daß zwischen reversiblen (also heilbaren) und irreversiblen pathologischen Prozessen unter­schieden werden kann. Außerdem entwickelt die moderne Medizin ständig neue Therapien und Medikamente, so daß die Waage immer mehr zugunsten eines längeren Lebens ausschlägt. Leider hat die Medizin uns auch in der irrigen Haltung bestärkt, die Gewißheit unseres Sterbens zu leugnen.  

Obwohl viele am Ideal der exakten Naturwissenschaften geschulten Ärzte das Gegenteil behaupten, wird die Medizin doch stets das bleiben, was schon die alten Griechen in ihr sahen: nämlich eine Kunst. Sie stellt hohe Anforderungen an den praktizierenden Arzt, denn er muß für seinen Patienten unter verschiedenen Therapien auswählen, deren Erfolgsaussichten »gewiß«, »wahrscheinlich«, »möglich« oder »unverantwortbar« sind und die man nur vage gegeneinander abgrenzen kann. Die von keiner Wissenschaft kartierbaren Räume des Wahrscheinlichen und des Möglichen sind das Feld, auf dem der verantwortungs­bewußte Arzt seine Kunst zumeist ausüben muß, und nur die im Laufe eines Arztlebens gesammelten Erfahrungen können ihm hier weiterhelfen.

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Damals, als James McCarty so plötzlich starb, konnte es mit seinem kranken Herzen nur ein tödliches Ende nehmen. Zwar war Anfang der fünfziger Jahre über Herzkrankheiten vieles bekannt, aber es gab nur wenige Therapie­möglichkeiten, die obendrein oft nicht ansprachen. 

Heute hat ein Patient mit McCartys Leiden gute Chancen, das Krankenhaus nicht nur lebend, sondern mit einem gestärkten Herzen zu verlassen, so daß er einige Jahre gewonnen hat. Die naturwissenschaftlich arbeitende Labormedizin hat solche Fortschritte gemacht, daß die 80 Prozent der Patienten, die einen ersten Infarkt überleben, allen Grund haben, ihr Herzversagen für einen Glücksfall zu halten: Denn dadurch kam ihre Krankheit ans Licht, solange sie noch therapierbar war; unentdeckt hätte sie leicht zum Tod führen können. Tatsächlich hat sich die medizinische Forschung so positiv entwickelt, daß die Behandlungs­erfolge bei Herz­krankheiten viel eher im Bereich der Gewißheit als in dem der Wahrscheinlichkeit liegen. 

Das heißt aber nicht, daß aus dem kranken Herzen nun ein unsterbliches geworden wäre. Auch wenn die große Mehrheit der Herzkranken den ersten Infarkt überlebt, sterben immer noch jährlich über eine halbe Million Amerikaner an der einen oder anderen Form von McCartys Leiden. Bei weiteren 4,5 Millionen wird die Krankheit neu diagnostiziert. 80 Prozent der Personen, die schließlich einem Herzleiden erliegen, werden Opfer einer ganz bestimmten Spielart: Die koronare Herzerkrankung, auch Koronarsklerose genannt, ist in den Industriestaaten die häufigste Todesursache.

James McCarty starb, weil sein Herz nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde. Es bekam nicht genug Sauerstoff, weil es an Hämoglobin fehlte, dem eisenhaltigen Blutfarbstoff, der den Sauerstoff transportiert; das Hämoglobin fehlte, weil zu wenig Blut zugeführt wurde; die Blutzufuhr war unzureichend, weil die Kranzarterien, die das Herz mit Blut versorgen, wegen Verkalkung unelastisch und verengt waren. 

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Daß es zu Arteriosklerose gekommen war, liegt an einem Bündel von Ursachen, zu denen McCartys üppige Mahlzeiten, sein Tabakkonsum, mangelnde körperliche Betätigung, Bluthochdruck und eine bestimmte erbliche Veranlagung gehören. Wahrscheinlich hatte der Anruf seiner verwöhnten Tochter auf die stark verengten Kranzarterien denselben krampfauslösenden Effekt wie auf seine im Zorn geballten Fäuste. 

Unter der kurzen Verkrampfung des ganzen Körpers war vermutlich ein Kalkdepot in den Arterien gerissen, und Teile waren in den Blutstrom einer Hauptarterie geraten. An einem dieser Teilchen, auch Plaques genannt, hatte sich ein Blutgerinnsel gebildet, das dann die bereits verengten Gefäße vollends verstopfte. Eine solche Unterbrechung der Blutzufuhr heißt Ischämie. Schon eine kurzfristige Unterversorgung mit Blut kann ausreichen, um einen Teil des Herzmuskels oder Myokards absterben zu lassen und den Herzschlag aus dem normalen Takt zu bringen und in ein chaotisches Flimmern zu verwandeln. 

Es ist aber auch möglich, daß McCartys Herzmuskel noch keinen Schaden wegen Blutmangels genommen hatte. Ischämie allein kann nämlich ebenfalls für das Herzflimmern verantwortlich sein, vor allem dann, wenn ein Herz durch einen vorangegangenen Infarkt bereits angegriffen ist. Die gleiche Wirkung kann auch von den adrenalinähnlichen Stoffen ausgehen, die der Körper in Streßsituationen produziert. Was auch letztlich ausschlaggebend gewesen sein mag, auf jeden Fall brach das Erregungs­leitungs­system zusammen, das die Herztätigkeit steuerte, und dies zog unweigerlich James McCartys Tod nach sich. 

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Wie viele andere medizinische Bezeichnungen hat auch das Wort »Ischämie« eine interessante und lehrreiche Geschichte. Wir werden ihm im Verlauf der Fallgeschichten, die alle von Tod und Sterben erzählen, immer wieder begegnen. Mit ihm wird eine Tendenz bezeichnet, die in allen lebensbeendenden Prozessen gegenwärtig ist. Der Herzstillstand wegen mangelnder Blutversorgung ist an Dramatik sicherlich nicht zu überbieten, aber er ist nur ein Beispiel unter vielen für einen Prozeß, der bei vielen todbringenden Krankheiten einsetzt und in dessen Verlauf die Zufuhr von Sauerstoff und Nährstoffen abgeschnitten wird.

Der Begriff der Ischämie und das Wort selbst wurden Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von einem ebenso genialen wie unternehmungslustigen Mann aus Pommern geprägt, der seine facettenreiche Karriere als Enfant terrible der Wissenschaft begann und sechzig Jahre später allgemein als »Papst der deutschen Medizin« anerkannt wurde. Kein anderer hat soviel zum Verständnis jener Prozesse beigetragen, die in Zellen und Organen des Menschen eine verheerende Wirkung ausüben, wie Rudolf Virchow (1821-1902). 

Virchow, der fünfzig Jahre lang als Professor der Pathologie an der Universität Berlin wirkte, schrieb mehr als zweitausend Bücher und Artikel nicht nur über medizinische Themen, sondern auch über Anthropologie und deutsche Politik. Als preußischer Abgeordneter und als Mitbegründer und Führer der <Deutschen Fortschrittspartei> setzte er dem selbstherrlichen Otto von Bismarck so sehr zu, daß dieser ihn schließlich zum Duell herausforderte. Virchow hatte die Wahl der Waffen, was er dazu nutzte, Bismarcks Ansinnen ins Lächerliche zu ziehen: Das Duell fand nie statt, weil Virchow darauf bestand, es mit Skalpellen auszufechten. 

 wikipedia  Deutsche_Fortschrittspartei      wikipedia  Deutsche_Freisinnige_Partei    wikipedia  Rudolf_Virchow

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Neben zahlreichen anderen Forschungsinteressen galt Rudolf Virchows besondere Aufmerksamkeit der Frage, wie Krankheiten die Arterien, Venen und die in ihnen transportierten Blutprodukte beeinflussen. Er brachte als erster Licht in die Vorgänge, die wir Embolie, Thrombose und Leukämie nennen, und er prägte auch die Begriffe zu ihrer Beschreibung. Auf der Suche nach einem Ausdruck, der den Prozeß benennt, in dem Zellen und Gewebe plötzlich von der Blutversorgung abgeschnitten werden, griff er auf das griechische ischano zurück, was soviel heißt wie »ich halte zurück«. 

Dies wiederum geht auf eine indogermanische Wurzel seoh zurück, die soviel wie »festhalten« oder »aufhalten« bedeutet. In Verbindung mit dem Wort haima oder »Blut« hatten die Griechen den Ausdruck ischaimos gebildet, worunter sie einen Blutstau verstanden. Virchow bezeichnete mit dem Wort Ischämie die Folgen, die aus mangelnder oder gänzlich ausbleibender Blutzufuhr entstehen, ganz gleich, ob es sich um eine Zelle oder einen Abschnitt des Herzmuskels oder um ganze Gliedmaßen handelt. 

Mangel ist jedoch ein relativer Begriff. 

Wenn die Tätigkeit eines Organs zunimmt, wächst sein Sauerstoff­bedarf und damit auch sein Bedarf an Blut. Wenn sich verengte Arterien nicht weiten können oder wenn sie sich aus bestimmten Ursachen verkrampfen und den Zufluß weiter einschränken, wird der gesteigerte Blutbedarf nicht befriedigt, und das Organ wird rasch ischämisch. Bei akutem Sauerstoffmangel sendet das Herz Schmerzsignale aus, bis seinem Bedarf nach mehr Blut Genüge getan wird. Dies geschieht gewöhnlich dadurch, daß der Betroffene, vom Schmerz in der Brust gewarnt, langsamer wird oder ganz mit der Tätigkeit aufhört, die dem Herzmuskel solche Schmerzen verursacht. 

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Nehmen wir ein Beispiel aus einem anderen Bereich. 

Ein Wochenendsportler, der jedes Frühjahr, wenn es warm wird, wieder anfängt zu joggen, kann leicht Opfer eines überanstrengten Wadenmuskels werden. Die vermehrte Blutzufuhr, die sein untrainierter Muskel braucht, und die Blutmenge, die seine ebenfalls untrainierten Arterien aufnehmen und transportieren können, stehen in keinem Verhältnis zueinander. Die Folge kann Ischämie sein. Die Wade erhält nicht genug Sauerstoff, verkrampft sich und verursacht dem Hobby-Sportler stechende Schmerzen. Läuft er dennoch weiter, riskiert er, daß ein Teil des Muskelgewebes abstirbt, ein Vorgang, der unter dem Begriff Infarkt bekannt ist. Der heftige Schmerz in der überanstrengten Wadenmuskulatur wird Krampf oder Muskelkater genannt. Rührt der Schmerz vom Herzmuskel her, verwenden wir den eleganteren Ausdruck Angina pectoris. Angina pectoris ist jedoch nichts anderes als ein Muskelkater des Herzens. Hält er lange genug an, kommt es zu einem Myokard­infarkt. 

Angina leitet sich von dem lateinischen Verb angere, »zusammenschnüren, würgen«, her, und pectoris ist der Genitiv des lateinischen pectus, »Brust«. Einem anderen, in den alten Sprachen beschlagenen Arzt, dem Engländer William Heberden (1710-1801), verdanken wir den Namen der Krankheit und eine sehr präzise Beschreibung ihrer Symptome. In einer 1768 erschienenen Erörterung der verschiedenen Formen von Brustschmerzen schreibt er:

Auf ein weiteres Brustleiden soll ausführlich eingegangen werden. Es kommt nicht selten vor und zeichnet sich durch auffällig starke Symptome aus, die der akuten Gefahr für den Kranken entsprechen. Nach dem Ort des Krankheitsgeschehens und dem Gefühl des Zusammenschnürens, das für den Patienten mit Angst verbunden ist, darf es mit einigem Recht angina pectoris genannt werden.
Personen, die daran leiden, werden beim Gehen (vor allem bergauf und oft nach dem Essen) von einem drückenden, heftigen Schmerz befallen, der ihnen unerträglich und lebensbedrohend scheint, wenn er noch weiter zunehmen oder anhalten würde. Sobald sie aber stillstehen, läßt der Schmerz und alles Unbehagen nach.

Heberden verfügte über genügend Fallbeispiele — »fast hundert Kranke mit diesem Leiden« —, um Vorkommen und Verlauf der Krankheit zu studieren:

Vor allem Männer sind für dieses Leiden anfällig, besonders wenn sie die Fünfzig überschritten haben. Tritt es länger als ein Jahr auf, verfliegen die Beschwerden nicht mehr so schnell, wenn in der jeweiligen Tätigkeit innegehalten wird; außerdem überfallen sie die Kranken nicht mehr nur beim Gehen, sondern auch im Liegen, besonders wenn sie auf der linken Seite liegen. Sie müssen sich dann sofort erheben. In einigen besonders hartnäckigen Fällen traten die Schmerzen auch beim Reiten und Fahren in Kutschen auf, ja sogar beim Husten und Schlucken, beim Stuhlgang, beim Sprechen und bei jeder Aufregung des Gemüts.

Heberden war besonders vom unaufhaltsamen Fortgang der Krankheit beeindruckt: »Auch ohne jede besonderen Vorkommnisse strebt das Leiden einem Höhepunkt zu. Dann brechen die Opfer plötzlich zusammen und sterben fast auf der Stelle.«

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James McCarty wurde nicht durch Anfälle von Angina pectoris vorgewarnt; er starb gleich beim erstenmal, als sein krankes Herz an akutem Sauerstoffmangel litt. Das Gehirn starb ab, weil das flimmernde und bald darauf stillstehende Herz nicht mehr für die Zufuhr frischen Bluts sorgen konnte. Dem Tod des Gehirns folgten nach und nach die anderen Organe und Gewebe seines Körpers.

 

Vor ein paar Jahren machte ich die Bekanntschaft eines Mannes, der auf wundersame Weise solch einen Anfall überlebte, obwohl anfangs alles auf einen plötzlichen Herztod deutete. Irv Lipsiner ist ein großer, kräftig gebauter Börsenmakler, der sein Leben lang Sport getrieben hat. Obwohl er wegen eines alten Zuckerleidens regelmäßig Insulin brauchte, hatte dieser Defekt seiner robusten Gesundheit nichts anhaben können, zumindest schien es so.

Allerdings hatte er mit siebenundvierzig einen leichten Herzanfall, genau in dem Alter, in dem sein Vater an der gleichen Krankheit starb. Lipsiners Herzmuskel behielt nur einen minimalen Schaden zurück, und Lipsiner führte sein gewohntes aktives Leben auch nach dem Anfall ohne Einschränkung weiter.

An einem späten Sonntagnachmittag des Jahres 1985, Lipsiner war mittlerweile achtundfünfzig, hatte er auf einem der Hallencourts in Yale bereits über zwei Stunden Tennis gespielt, als zwei seiner Mitspieler das Feld verließen und ein Wechsel vom Doppel zum Einzel nötig wurde. Der Ballwechsel begann gerade wieder, als Lipsiner ohne vorherige Warnzeichen ohnmächtig zu Boden fiel. Der Zufall wollte es, daß auf dem Nachbarplatz zwei Ärzte spielten. Sie eilten Lipsiner zu Hilfe, der reglos, mit glasigen Augen und ohne Atmung dalag. Sein Herz schlug nicht mehr. Die Ärzte vermuteten Kammerflimmern und begannen sofort mit einer äußeren Herzmassage.

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Als schließlich der Rettungswagen eintraf, hatte Lipsiner bereits auf die lebensrettenden Maßnahmen angesprochen. Das Herz begann wieder regelmäßig zu schlagen. Man verfrachtete ihn in den Rettungswagen und setzte ihm einen Beatmungstubus in die Luftröhre. Bei der Ankunft in der Notaufnahme des Yale New Haven Hospital kam er wieder zu Bewußtsein. Als er wieder sprechen konnte, fragte er in seiner schnoddrigen Art, »was der ganze Zauber soll«. 

Nach zwei Wochen konnte Lipsiner vollständig erholt aus dem Krankenhaus entlassen werden. Ein paar Jahre später traf ich ihn auf seiner Ranch, wo er Pferde züchtet. Täglich nimmt er sich Zeit zum Reiten oder Tennisspielen, gewöhnlich im Einzel. Irv Lipsiner beschrieb seinen Herzanfall auf dem Tennisplatz so:

Ich weiß nur noch, daß ich einfach zusammengeklappt bin, ohne irgendwelche Schmerzen zu spüren. Plötzlich gingen die Lichter aus, wie wenn man in einem kleinen Zimmer das Licht ausknipst. Nur daß in meinem Fall alles wie in Zeitlupe verlief. Anders gesagt, es ging nicht so aus [er schnalzte mit den Fingern], sondern mehr so [er machte eine ruhige, langsame Handbewegung nach unten, wie ein Flugzeug, das sich in weitem Bogen der Landepiste nähert], ganz allmählich und fast wie in einer Spirale, ungefähr ...so [er schürzte die Lippen und blies die Atemluft sanft aus]. Der Wechsel von hell zu dunkel war eindeutig, aber er ging ganz allmählich vonstatten. Ich merkte, daß ich in Ohnmacht fallen würde. Mir war, als würde mir die Lebenskraft genommen. 

Es war - ich erinnere mich da an eine Szene - es war wie damals mit meinem Hund. Ein Auto hatte ihn angefahren. Als ich ihn so daliegen sah - er war schon tot -, war es immer noch der gleiche Hund, aber irgendwie geschrumpft. Er war in seiner ganzen Erscheinung geschrumpft, und genauso fühlte ich mich auch auf dem Tennisplatz. Ich fühlte mich wie ... pfft [er machte ein Geräusch wie Luft, die aus einem Ballon strömt].

Für Lipsiner ging das Licht aus, weil das Gehirn plötzlich nicht mehr mit Blut versorgt wurde. Als der restliche Sauerstoff des stagnierenden Bluts aufgebraucht war, ließ die Gehirntätigkeit nach, und Lipsiner schwanden die Sinne, nicht auf einmal, wie wenn man einen Schalter ausknipst, sondern allmählich, wie wenn man einen Regler zurückfährt. Dies bewirkte sein zeitlupenhaftes Eintauchen in die Bewußtlosigkeit. Ohne schnelle Hilfe hätte er sterben können. Die beiden Ärzte brachten mit Mund-zu-Mund-Beatmung Sauerstoff in die Lunge des Bewußtlosen und pumpten mit Herzmassage wieder Blut in die lebenswichtigen Organe, bis das Herz, aus welchen Gründen auch immer, wieder zu schlagen begann. 

Wie in den meisten Fällen von Herzversagen außerhalb des Krankenhauses war auch bei Irv Lipsiner Kammerflimmern die Ursache des Zusammen­bruchs.

Lipsiner spürte keine Schmerzen. Die wahrscheinliche Ursache des Kammerflimmerns war eine vorüber­gehende chemische Reizung einer besonders empfindlichen Stelle des Herzmuskels, die ihm von dem Infarkt aus dem Jahr 1974 geblieben war. Warum es gerade an jenem Samstagnachmittag dazu kam, ist schwer zu sagen. Möglicherweise hat sich Lipsiner beim Tennis so verausgabt, daß zuviel Adrenalin in seinen Blutkreislauf ausgeschüttet wurde.

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Daraufhin könnte sich eines der Kranzgefäße verkrampft und das Flimmern ausgelöst haben. Solche unkalkulierbaren Ereignisse sind charakteristisch für koronare Herzerkrankungen. Lipsiner trug keinen weiteren Schaden am Herzen davon, dennoch spielte er von da an nie mehr länger als zwei Stunden hintereinander Tennis.

Daß er vor dem Kammerflimmern keine Schmerzen spürte, ging vielleicht auf seinen Diabetes zurück. Die meisten Herzkranken, die plötzlich zusammen­brechen, spüren den für die Ischämie charakteristischen Schmerz. Der ischämische Herzschmerz setzt wie der Schmerz bei einem Wadenkrampf unvermittelt und heftig ein. Alle Patienten, die ihn verspürt haben, beschreiben ihn als beklemmend, so als würde das Herz in einem Schraubstock zusammengepreßt. Manchmal tritt er als unerträglicher Druck auf, so als würde ein übergroßes Gewicht auf der Brust lasten, und strahlt entweder in den linken Arm oder in Hals und Kiefer aus. 

Der Schmerz ist auch für Personen, die ihn bereits kennen, mit großen Ängsten verbunden, denn jedesmal fürchten sie (und diese Furcht ist durchaus begründet), daß ihr Tod unmittelbar bevorsteht. Der Betroffene bricht in kalten Schweiß aus, ihm wird übel, und in manchen Fällen muß er sich auch übergeben. Oft fühlt er Atemnot. Ist der ischämische Zustand nicht binnen zehn Minuten behoben, kann der Sauerstoffmangel zu irreversiblen Schäden führen. Dann stirbt der Herzmuskel teilweise ab, ein Vorgang, der Herzinfarkt genannt wird. Ist es soweit gekommen oder hat der Sauerstoffmangel das Reizleitungssystem des Herzens gestört, sterben 20 Prozent der Betroffenen an den Folgen der Attacke, noch ehe sie die Notaufnahme eines Krankenhauses erreichen. Diese Zahl halbiert sich, wenn eine Einlieferung ins Krankenhaus innerhalb der »goldenen Stunde«, wie Kardiologen sie nennen, möglich ist.

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Insgesamt sterben zwischen 50 und 60 Prozent der Patienten mit ischämischem Herzleiden innerhalb einer Stunde nach dem akuten Anfall, ob es nun ihr erster Anfall oder ein späterer ist. Da jährlich 1,5 Millionen Amerikaner einen Herzinfarkt erleiden (davon 70 Prozent zu Hause), nimmt es nicht wunder, daß die koronare Herzerkrankung die häufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten wie übrigens auch in allen anderen Industrieländern ist. Fast alle, die einen Infarkt überleben, erliegen früher oder später dem wachsenden Unvermögen des Herzens, die nötige Pumpleistung zu erbringen. 

Berücksichtigt man alle natürlichen Umstände, sterben ungefähr 20 bis 25 Prozent der Amerikaner einen plötzlichen Tod. Darunter versteht man, daß der Tod unerwartet innerhalb weniger Stunden nach den ersten Symptomen bei Personen eintritt, die weder im Krankenhaus liegen noch zu Hause krank sind. Von diesen Todesfällen gehen 80 bis 90 Prozent auf Erkrankungen des Herzens zurück, die übrigen Ursachen sind Erkrankungen der Lunge, des zentralen Nervensystems oder der Aorta, auch Hauptschlagader genannt, also jenes Blutgefäßes, in das die linke Herzkammer ihr Blut pumpt. Tritt der Tod nicht nur plötzlich, sondern auf der Stelle ein, ist die Todesursache fast ausnahmslos eine Ischämie des Herzmuskels.

Personen, die an koronarer Herzerkrankung leiden, haben charakteristische Eßgewohnheiten; sie rauchen und achten nicht auf ausreichende körperliche Betätigung und einen normalen Blutdruck. In manchen Fällen liegt eine erbliche Belastung vor, wenn etwa schon die Eltern und Großeltern ein schwaches Herz hatten oder an Diabetes litten. 

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In anderen Fällen liegt der Typus der aggressiv-dynamischen Persönlichkeit vor, den Kardiologen als Typ A bezeichnen. Personen, deren Herzmuskel sich bei einem Anfall von Angina pectoris verkrampft, ähneln dem übertrieben strebsamen Schulkind, das sich sofort meldet, wenn der Lehrer nach Freiwilligen Ausschau hält: »Ich kann es besser als alle anderen!« Der Typus ist unverwechselbar und prädestiniert für den Herztod. Es ist selten Zufall im Spiel, wenn Menschen an Herzinfarkt sterben.

 

Schon lange ehe die experimentelle Forschung nachwies, welche Gefahren Cholesterin, Zigarettenrauchen, Diabetes und Bluthochdruck bergen, konnten die Ärzte charakteristische Merkmale bei infarktgefährdeten Personen feststellen. William Osler, der Verfasser des ersten großen amerikanischen Lehrbuchs der Medizin aus dem Jahr 1892, hätte James McCarty vor Augen haben können, als er schrieb: »Nicht der sensible Neurotiker ist für Angina pectoris prädestiniert, sondern der eher hemdsärmelige, robuste Charakter, der ehrgeizige Mann, für den es im Leben immer heißt: <Volle Kraft voraus!>« — Oder frei nach Matthäus 7,20: An ihrem Tourenzähler werdet ihr sie erkennen. 

Trotz aller Fortschritte in der Medizin erliegen immer noch viele Menschen ihrem ersten Herzanfall. Wie Lipsiner, der noch einmal Glück hatte, leiden viele gar nicht an einem geschädigten Herzmuskel; ihnen wird eine plötzliche Rhythmusstörung zum Verhängnis, die infolge von Sauerstoffmangel (manchmal auch von lokalen chemischen Störungen) am Erregungsleitungssystem des Herzens auftritt. Häufig sind die Leitungsbahnen durch vorausgegangene Schäden sensibilisiert, ob diese nun erkannt wurden oder nicht. Doch wenn Menschen heute an koronarer Herzerkrankung sterben, dann gewöhnlich nicht so plötzlich wie McCarty. 

Vielmehr verschlechtert sich der Zustand ihres Herzens nur allmählich, mit vielen warnenden Anzeichen und Gelegenheiten zu erfolgreicher Behandlung, ehe schließlich der tödliche Schlag kommt. Das Absterben von Abschnitten des Herzmuskels kann sich über Monate und Jahre hinziehen, bis das ständig geforderte Organ einfach stehenbleibt. Es kann die Leistung nicht mehr erbringen, weil ihm die Kräfte ausgehen oder weil das Steuerungssystem, das die Erregungsleitung koordiniert, die Ausfälle nicht länger kompensieren kann. 

Die moderne medizinische Forschung hat so viele neue Therapien und Medikamente entwickelt, daß die behandelnden Ärzte, die die Medizin nach wie vor als eine Kunst ausüben, durch geschickte Wahl und Dosierung der zur Verfügung stehenden Medikamente den Herzkranken lange Perioden ohne Beschwerden verschaffen können.

Dennoch sterben täglich fünfzehnhundert Amerikaner an Herzversagen, ob die Krankheit nun unerwartet ausbricht oder sich allmählich entwickelt. Auch wenn die Zahl der Opfer dank Vorbeugung und moderner Behandlungs­methoden seit den sechziger Jahren stetig abgenommen hat, ändert ein verzögerter Verlauf der Krankheit doch nicht die allgemeinen Aussichten für die überwiegende Mehrheit derer, die heute oder in den nächsten zehn Jahren am Herzen erkranken. 

Herzkrankheiten sind wie viele andere todbringende Krankheiten ein stetig fortschreitender Prozeß, dessen Rolle in der Ökologie des Erdballs letztlich darin besteht, für das Ende des menschlichen Lebens zu sorgen. Will man die verschiedenen Ereignisse verstehen, die zum schrittweisen Leistungsabbau des Herzens führen, muß man zuerst einmal die erstaunlichen Fähigkeiten dieses Organs aufzeigen. Solange das Herz gesund ist, erfüllt es seine komplexe Aufgabe mit verblüffender Präzision. 

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