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10  Virtuelle Einkäufe 

Nun glaubt mir, Doktor Faustus, dies Wunder setzt mich mehr als alles andre in Erstaunen! 
Wie könnt Ihr jetzt im unfruchtbaren Winter, im Januar, zu solchen Trauben kommen?
Marlowe, Faustus, Akt 4

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Beim Rückblick auf die letzten neun Kapitel stelle ich fest, dass ich mit der Wirtschaft ungewöhnlich freundlich umgegangen bin. Ich habe mich auf die Maßnahmen konzentriert, die unsere direkten Kohlen­dioxid­emissionen reduzieren könnten, und nicht auf den Anteil, der in unserem Namen von der Industrie freigesetzt wird. Also werde ich jetzt versuchen, meinen Ruf zu retten, indem ich zwei Wirt­schaftszweige untersuche, den Einzelhandel und die Zementproduktion. Ich habe sie ausgewählt, weil ihre sehr hohen Kohlendioxidemissionen auf den ersten Blick besonders schwierig zu beeinflussen sind.

Die Geschäftspraktiken der Supermärkte wirken manchmal wie ein sorgfältig gestaltetes Projekt zur schnellstmöglichen Zerstörung der Biosphäre. So machen ihre Waren­transport­systeme beispielsweise den Eindruck, als seien sie auf perverse Weise darauf ausgerichtet, die zurückgelegten Entfernungen zu maximieren. 

Bei meinen Recherchen für ein anderes Buchprojekt (<Captive State>) bin ich auf einen Fall gestoßen, wo Gemüse in Supermärkten am Rande von Evesham in Mittelengland verkauft wurde. Dieses Gemüse war gerade 2 Kilometer von der Stadt entfernt gewachsen. Erst wurde es mit dem Lkw 70 Kilometer weit nach Herefordshire gekarrt, dann weitere rund 130 Kilometer zu einer Packstation in Dyfed in Südwales, anschließend noch einmal 290 Kilometer zu einer Verteilstation nach Manchester und am Ende 180 Kilometer zurück nach Evesham.2

Wie Doktor Faustus, der durch seinen »gedankenschnellen Geist« die Trauben aus der südlichen Hemisphäre herbeischaffte, damit eine schwangere Herzogin sie genießen konnte, reagieren die Supermärkte auf eine Nachfrage — zu deren Entstehen sie selbst beitragen — nach Produkten, die nicht der Jahreszeit entsprechen. Bevor die Luftfracht billig wurde, dachte außer Königin Victoria niemand daran, leichtverderbliche Nahrungsmittel von der anderen Seite der Welt zu verlangen. Die Königin soll angeblich demjenigen eine große Belohnung versprochen haben, der ihr eine frische Mangostane-Frucht bringen konnte. Ohne die besonderen Kräfte des Dr. Faustus war niemand dazu fähig. 

Heute ist es oft schwieriger, in den Geschäften einen britischen Apfel als eine Mango oder Papaya zu finden. In britischen Supermärkten werden Heringe seltener angeboten als Riesengarnelen. Aber die Geschäfte nutzen nicht nur die gegenläufigen Jahreszeiten in der südlichen Hemisphäre, sondern profitieren auch von den niedrigeren Löhnen, billigen Anbauflächen und Rationalisierungseffekten. Wir alle kennen Äpfel wie Cox Orange, die so schmecken, als hätte man Kleenex in Cola light eingeweicht, weil sie außerhalb der Saison aus Neuseeland eingeführt werden — während unsere eigenen Äpfel zur Reifezeit von den Bäumen fallen, weil niemand sie haben will. 

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Wir alle kennen die Kartoffeln und Zwiebeln aus Südafrika, Chile oder Australien und das Mineralwasser, das vom anderen Ende Europas importiert wird, aber sich im Geschmack nicht von dem Wasser aus unseren eigenen Wasserleitungen unterscheidet.

Aber dies soll kein weiteres Kapitel über Transportprobleme sein. Mit der Einführung einer Kohlenstoffrationierung werden Waren dieser Art aufgrund der hohen Transportkosten einfach aus den Läden verschwinden. Ich weiß, dass das für manche Leute schwer zu akzeptieren ist. In ihrem Buch <How to Eat> wischt zum Beispiel die britische Küchenbeauty Nigella Lawson Bedenken wegen langer Transportwege vom Tisch:

Wenn man in der Toskana lebt, findet man vielleicht jeden Monat des Jahres eine abwechslungsreiche regionale Speisekarte, aber in unserer Gegend müssten wir uns ohne Importe wahrscheinlich die halbe Zeit von Wurzelgemüse und Kohl ernähren. Warum sollten wir nicht dankbar sein, dass wir im Zeitalter der Luftfracht und üppiger kulinarischer Angebote aus fremden Ländern leben? Über dieses Thema wird mehr Blödsinn geschrieben als über fast jedes andere.3

Wenn Lawson Spargel im Oktober fordert, dann bewertet sie ihr Bedürfnis danach höher als die Überlebensbedürfnisse anderer Menschen. Aber sie erweckt auch falsche Vorstellungen: Rucola, Feldsalat, Portulak, Winterlattich, Gartenkresse, Grünkohl, Lauch, Chicoree, Pak-Choi (chinesischer Senfkohl), Choi-Sum (chinesischer Blütenkohl), Mizuna (japanischer Blattkohl), Komatsuna (Spinatsenf), weißer Rettich, Wirsing, Koriander, Petersilie, Kerbel, Frühlings­zwiebeln, Spinat, Sauerampfer und Mangold wachsen in Großbritannien auch während des Winters. 

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Einige dieser Pflanzen müssen vor Frost geschützt werden, aber keine braucht ein beheiztes Gewächshaus. Karotten, Pastinaken, alle Arten von Kartoffeln, Rote Bete, Zwiebeln, Knoblauch, Steckrüben, Kürbis und Squash, Sellerie und Schwarzwurzel können auch außerhalb des Kühlschranks aufbewahrt werden. Eine Vielzahl von Apfelsorten, darunter die besten, die je kultiviert wurden — Ashmead's Kernel, Ribston Pippin, Aromatic Russet, Belle de Boskoop, Pitmaston Pineappel, Allen's Everlasting, Court Pendu Plat, DArcy Spiee —, können in einem isolierten Schuppen über Winter eingelagert werden. 

Sogar zu Zeiten von Marlowe war man schon so weit, dass es eine Apfelsorte gab — Winter Greening oder Apple John —, deren Früchte zwei Jahre nach dem Pflücken zwar runzlig, aber durchaus noch essbar waren.4) In <Henry IV>, Teil 1 klagt Falstaff: »My skin hangs about me like an old lady's loose gown; I am withered like an old apple-john.5« (Meine Haut hängt um mich herum wie das lose Kleid einer alten Dame; ich bin so welk wie ein gebratner Apfel.)

Und damit ist noch nichts über die Produkte gesagt (einige wie Pflaumenmus oder Himbeeressig sind exquisit), die sich durch Räuchern, Salzen, Einlegen und Einkochen daraus herstellen lassen. Wenn Nigella Lawson nicht genug Verstand hat, aus solchen Zutaten eine gute Mahlzeit herzustellen, dann sollte sie ihren Beruf wechseln. Kurzum: Angesichts der Tatsache, dass viele aus fernen Ländern importierte Frischwaren so früh geerntet werden, dass sie verfaulen, bevor sie reifen, ist ganz offensichtlich, dass unsere Ernährung, sogar wenn wir uns für absolute Feinschmecker halten, durch geographische Einschränkungen im Grunde nur verbessert werden könnte. 

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Aber selbst wenn wir (weil es so offensichtlich ist, was wir gegen diese Treibstoffverschwendung tun müssen) einmal unberücksichtigt lassen, auf welche Weise unsere Einzelhändler ihre Waren erhalten und verteilen, bleibt ihr Energieverbrauch immer noch erstaunlich. Die Tabelle6) zeigt die Zahlen für Ladengeschäfte und andere Gebäude.

 

Sektor     

Raumheizung und 
Warmwasser (kWh/m3)

Quelle: Royal Commission on Environmental Pollution

Elektrizität in kWh / m3

Großmärkte

64

81

Verwaltungsbüros

95

39

Geschäftsbüros

147

95

Fabrikgebäude

245

47

Einzelhandel

185

275

 

Angesichts der Tatsache, dass in den meisten Geschäften nur Handel, aber keine Produktion stattfindet, ist es auf den ersten Blick kaum zu glauben, dass ihr Bedarf an Raumwärme nur knapp unter dem von Fabrikgebäuden liegt, während ihr Stromverbrauch fast das Sechsfache beträgt. Aber man braucht sich bloß die Praxis vorzustellen: Wenn man einen Supermarkt betritt, bläst eine Vorrichtung über der Tür im Winter warme und im Sommer kalte Luft auf den Kunden herunter (manchmal, wenn der Manager nicht aufgepasst hat, ist es auch umgekehrt). 

Man muss einen Moment stehen bleiben, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Dann schiebt man seinen Einkaufswagen durch Reihen von Kühl- und Gefriertruhen, die in der Regel nicht abgedeckt sind. Das wäre kaum zu glauben, würden wir es inzwischen nicht als alltägliche Normalität kennen. Aber auch während man sich seinen Weg durch das Eis bahnt, friert man nicht. Den ganzen Tag lang müssen Kühl- und Heizgeräte gegen­einander kämpfen. Sie tun das in einem riesigen Gebäude, das oft nicht isoliert und in weiten Teilen verglast ist, sodass es weder Wärme noch Kälte speichern kann.

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In der Hoffnung, eine Möglichkeit zu finden, wie unsere Supermärkte ihren Energieverbrauch deutlich reduzieren könnten, habe ich einen leitenden Angestellten einer der großen Ketten aufgesucht. Ich kann weder ihn noch seine Firma namentlich nennen, aber die Praktiken scheinen dort nicht schlechter zu sein als bei den Konkurrenten. Dieser Mann hat damit begonnen, mir eine Vorstellung davon zu geben, wohin die Energie geht.

Die Heizgeräte über der Tür haben jeweils einen Verbrauch von 50 Kilowatt. Das ist ungefähr das Siebzehnfache eines gewöhnlichen Heizlüfters für den Gebrauch im Haushalt. Die Gänge werden mit einer Intensität von 1000 Lux ausgeleuchtet, was ungefähr der Beleuchtung in einem Fernsehstudio entspricht und das Zwei- bis Dreifache der Lichtstärke in einem Büro ausmacht. Die Theken werden mit Spots erhellt — auf bis zu 2000 Lux. Vor allem Fisch muss glitzern und wird deshalb mit Metalldampflampen angestrahlt, die man sonst benutzt, um Schlösser und Kathedralen bei Nacht zu beleuchten. Was das bedeutet, beginnt man zu verstehen, wenn man bedenkt, dass Fisch auf Eis gekühlt werden muss, während Lampen von dieser Helligkeit ihn gleichzeitig braten könnten. Aber mein Informant sagte mir: »Er verkauft sich, wenn man ihn anstrahlt. Wir können es uns nicht leisten, darauf zu verzichten.« Zwischen 20 und 25 Prozent des Energiebudgets dieser Supermarktkette, so hat mir der Mann erklärt, wird für die Beleuchtung ausgegeben.

Der größte Teil des Restes — 64 Prozent — wird für die Kühlung benötigt. Jede offene Gefriertruhe kostet die Firma jährlich 15.000 Pfund. Wenn das Unternehmen Glastüren vor die Gefrierschränke in Augenhöhe setzte, könnten die Ausgaben für die Kühlung um etwa ein Viertel gesenkt werden. 

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Dasselbe wäre möglich, wenn die Gefriertruhen mit Deckeln ausgestattet würden. »Aber die Händler [Marktleiter] wollen das nicht.« Wenn der Kunde eine Gefrierschranktür öffnet und dann wieder schließt, kann sich Dampf bilden, durch den man die Ware nicht mehr so gut erkennt.

Anschließend haben wir darüber gesprochen, was seine Firma tun könnte, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Anscheinend hatte er so ziemlich jede Möglichkeit geprüft und dabei nicht viel gefunden. Die Metalldampflampen, die jetzt in den Läden zur Beleuchtung der Theken eingesetzt werden, sind dreimal so effizient wie Halogenlampen, und in einigen Jahren könnten sie vielleicht durch Leuchtdioden ersetzt werden, die ihrerseits wiederum dreimal besser sind. Im Moment jedoch wirken die LEDs »einfach nicht so durchschlagend, wie wir es gern hätten«, und die Nachfrage nach Beleuchtung steigt enorm. Ähnlich sieht es bei den Kühl- und Gefrieranlagen aus, obwohl das Unternehmen begonnen hat, die älteren Modelle zu ersetzen: »Wir können das Gesamtbudget für Kühlen und Gefrieren nicht senken, weil die Zahl der benötigten Geräte schneller steigt als unsere Effizienzverbesserungen.«

Wenn die Marktleiter mehr darauf achteten, vorübergehend nicht benötigte Geräte abzuschalten, ließe sich das Budget für Energie vielleicht um 5 Prozent senken. Wenn die Läden nachts belüftet würden, müsste die Klimaanlage nicht mit voller Kraft laufen, sobald die ersten Kunden eintreffen, aber mein Gesprächspartner sagte mir, eine natürliche Belüftung sei bei den Händlern nicht so beliebt, weil sich damit nur schwer gleichbleibende Temperaturen erreichen lassen. Bei Neubauten könnte man einen Teil der überschüssigen Hitze während des Sommers im Boden speichern und sie im Winter dort wieder abziehen. 

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Mein Vorschlag, Wärme aus Rohren unter den Parkplätzen in den Laden zu leiten, löste keine große Begeisterung aus: »Instinktiv würde ich sagen, das geht nicht. Während der Bauzeit fahren auf dem gesamten Gelände ständig Lastwagen und Bulldozer.« Sie würden die Leitungen zerstören, bevor der Platz asphaltiert ist. Er hatte sich auch schon über »Sunpipes« informiert: Röhren, die natürliches Licht in den Laden bringen: »Sie sind vielversprechend, aber ziemlich teuer, und sie senken unsere Kapitalkosten nicht wirklich, weil wir bei Einbruch der Dunkelheit weiterhin die volle Beleuchtung brauchen.«

Lokale Windanlagen hielt er für nutzlos: »An einem kalten, windstillen Tag geht nichts mehr.« Solarmodule seien entschieden zu teuer und erzeugten — in den Geschäften, die er besucht hatte — sehr viel weniger Elektrizität, als Anbieter behaupten. Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung würden mehr kosten, als seine Vorgesetzten zu zahlen bereit seien: »Letztlich zählen nur die Kosten ... Entweder alle bewegen sich oder niemand. Wenn wir die Einzigen sind, die etwas tun, dann sind wir verloren. Wer wird den ersten Schritt machen? ... Im Einzelhandel herrscht eine harte Konkurrenz.«

Eine Kette — J. Sainsbury — behauptet von sich, sie habe als Erste ein Signal gesetzt. 1999 eröffnete sie auf der Greenwich-Halbinsel in London »den ökologisch verantwortlichsten Supermarkt Großbritanniens«.7 Die Klimaanlage basiert auf einem System der Erdkühlung, durch die Fenster an der Nordseite kommt Tageslicht herein, die Energieversorgung läuft über eine mit Gas betriebene Anlage zur Kraft-Wärme-Kopplung, Solarmodule und zwei Windturbinen. Diese Innovationen, so behauptete das Unternehmen, »sollten den Energieverbrauch im Vergleich zu einem Standardladen ähnlicher Größe und Funktion um bis zu 50 Prozent senken«.8) 

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Wenn sie überall umgesetzt und mit Maßnahmen zur Senkung der Kohlendioxidemissionen bei der Stromerzeugung verbunden würden, wie ich sie in den Kapiteln 5 bis 7 dargestellt habe, dann könnten Einsparungen in dieser Größenordnung einen Gesamteffekt von 90 Prozent bewirken, vorausgesetzt, der Energieverbrauch in den Supermärkten würde nicht weiter steigen. Aber gibt es diese Einsparungen tatsächlich? Mein Recherche-Assistent hat dreimal mit J. Sainsbury Kontakt aufgenommen in der Hoffnung, konkrete Zahlen aus der Praxis zu bekommen und festzustellen, ob sie von einem unabhängigen Gutachter überprüft worden waren.9 

Aber auch sechs Monate später warten wir immer noch auf eine Antwort. Und bevor wir die nicht haben, behalte ich mir aufgrund schlechter Erfahrungen mit den Behauptungen anderer Firmen das Recht vor, dem Unternehmen kein Wort zu glauben. In dieser Haltung werde ich sogar noch bestärkt durch die einzigen Firmenzahlen, die ich für diesen »Durchbruch in der Supermarktarchitektur«10 finden kann. Die beiden Windturbinen von Sainsbury's, welche die Kunden sehen, wenn sie auf den Parkplatz fahren, haben jeweils einen Durchmesser von 3,6 Metern.11 Das gibt Grund zu der Annahme, dass ihre gemeinsame Durchschnittsleistung bei mittleren Windgeschwindigkeiten von 4 Metern pro Sekunde etwas höher als 0,4 Kilowatt pro Stunde liegt* — ein winziger Bruchteil der im Supermarkt benötigten Energie. Und sogar diese Annahme ist wahrscheinlich noch zu großzügig, weil sich die Windräder nur 12 Meter über dem Boden befinden und an ihren Pfählen Reklametafeln angebracht sind, die Turbulenzen erzeugen werden.

* <Building for a Future> gibt an, dass die Leistung einer Turbine mit einem Durchmesser von 3,5 Metern bei 1766 Kilowattstunden pro Jahr liegt, wenn die mittlere Windgeschwindigkeit 4 Meter pro Sekunde beträgt.12)

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Ich habe schon das schreckliche Wort »Parkplatz« ausgesprochen, das auf die dritte und vielleicht am wenigsten beeinflussbare Auswirkung von Supermärkten hinweist. Ungefähr 62 Prozent aller Einkaufswege13 werden mit dem Auto zurückgelegt, und fast alle Wege, wenn die Kunden einen Supermarkt außerhalb des Stadtzentrums besuchen. Die Zahlen des Verkehrsministeriums lassen den Schluss zu, dass Einkäufe für 20 Prozent aller Autofahrten verantwortlich sind, die in Großbritannien unternommen werden, und dass dabei ungefähr 12 Prozent aller mit dem Auto gefahrenen Strecken zurückgelegt werden.14

Es dürfte nicht einfach sein, Leute, die im Supermarkt auf der grünen Wiese einkaufen, zum Umstieg auf andere Verkehrsmittel zu überreden. Den Wocheneinkauf an Lebensmitteln per Bus oder Fahrrad zu transportieren, ist kein besonderes Vergnügen. Bedenkt man die Größe der Parkplätze, die immer noch gebaut werden, und die — bisher erfolgreichen — Bemühungen, die Regierung davon abzuhalten, dass sie den Kunden Parkgebühren auferlegt,15-16 dann muss man wohl davon ausgehen, dass die Supermärkte nicht beabsichtigen, ihre Kunden zu einem anderen Verhalten zu ermutigen. Und die Kunden ihrerseits machen nicht den Eindruck, dass sie dazu gern ermutigt würden. Zumindest in dieser Hinsicht scheinen die Geschäfte zur Energieverschwendung verurteilt zu sein.

Wenn demnach die vorhandene Infrastruktur und die existierenden Einkaufsmuster so bleiben, sind die Möglichkeiten zur Reduzierung von Emissionen begrenzt. Aber mir scheint, es könnte trotzdem eine Chance geben, mein Ziel einer Verringerung der Emissionen um 90 Prozent mit dem Bedürfnis nach schnellen und bequemen Einkäufen zu vereinbaren. Mein Vorschlag könnte die Probleme des Transports, der Kühlung und der Beleuchtung auf einen Streich lösen. Die Idee ist nicht unbedingt neu: Der revolutionäre Ansatz wird als »Lieferung« bezeichnet.

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Das Verkehrsministerium gibt an: »Eine Reihe von Modellen und Umfragen lassen den Schluss zu, dass der Ersatz von Privatwagen durch Liefer­fahrzeuge den Straßenverkehr um 70 Prozent oder mehr reduzieren könnte.«17

Jeder Lieferwagen, den die Supermärkte losschickten, würde also wahrscheinlich drei Autos von der Straße holen. Schon heute sind die Supermärkte (wie auch viele neue Unternehmen) mithilfe von Fernsehen und Internet auf dem Weg, Geschäfte auf eine Weise zu machen, die sie vor Jahrzehnten aufgegeben haben. Jedenfalls sehe ich mehrmals die Woche einen Lieferwagen von Tesco durch meine Straße fahren. Ich vermute, mir steht das Schicksal bevor, eines Tages von einem Lieferwagen überfahren zu werden, der Öko-Gemüsekisten transportiert, weil es davon jetzt so viele in meiner Heimatstadt gibt. Das Office of National Statistics hat berechnet, dass ungefähr 4 Prozent aller Einzelhandelsverkäufe von den Geschäften ausgeliefert werden; in einer Veröffentlichung des Verkehrsministeriums heißt es, diese Zahl könnte eine Unterschätzung sein.18 Der Internethandel scheint fast exponentiell zu wachsen, auch wenn es darüber aus verständlichen Gründen keine zuverlässigen Zahlen gibt.

Nichts davon wird uns für sich genommen retten. Die Leute werden den größten Teil ihrer Einkäufe wie bisher mit dem Auto erledigen, und die Geschäfte werden weiterhin ihre Waren kühlen und ihre Kunden im Freien wärmen. Wenn Lieferungen aber die gesamten Einkäufe in entfernten Geschäften ersetzten, dann könnte dies für eine Reduktion der Kohlendioxidemissionen um 80 oder 90 Prozent reichen, und das sogar ohne die Berücksichtigung von erneuerbaren Energien und Sequestration.

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Mein Vorschlag würde unter dem Strich so aussehen: Alle Geschäfte außerhalb der Stadt werden allmählich durch Lagerhallen ersetzt, die nur von den Auslieferern und dem Personal des Unternehmens besucht werden. Sie brauchen keine außergewöhnliche Beleuchtung, keine offenen Gefriertruhen und keine Heizlüfter über der Tür.

Wie Sie aus der Tabelle entnehmen können, die einige Seiten zuvor abgedruckt ist, benötigen Lagerhäuser — pro Quadratmeter — nur 35 Prozent der Wärme und 29 Prozent der Elektrizität, die Supermärkte brauchen. Aber man kann dort sehr viel mehr Ware auf einem Quadratmeter stapeln. Displays sind überflüssig, breite Gänge und Kassen ebenso, und die Regale können sehr viel höher gebaut werden. Mein Supermarkt-Kontaktmann sagte mir, dass die Lagerräume, die an seine Geschäfte angebaut sind — und in denen alle Waren für kürzere oder längere Zeiträume zwischengelagert werden —, wahrscheinlich für 5 Prozent der gesamten Energiekosten seiner Supermarktkette verantwortlich sind.

Wenn die Mitarbeiter der Supermärkte für ihre Auslieferungen also nicht — wie sie es jetzt noch tun — die Waren aus dem Ladenregal nähmen und von dort in den Lieferwagen packten, sondern sie direkt vom Lagerhaus zum Kunden transportierten, dann wären nicht nur die durch Einkaufsfahrten verursachten Emissionen um 70 Prozent geringer, sondern auch der Energieverbrauch für die Lagerung und Präsentation der Waren würde um 95 Prozent sinken. Die Verbraucher könnten auf längere Einkaufsfahrten verzichten. Nachbarschaftsläden (die man auch ohne Auto erreicht) könnten weiterhin geöffnet bleiben, aber auch sie müssten wie alle Wirtschaftsunternehmen Maßnahmen zur Effizienzverbesserung durchführen.

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Dieser Vorschlag hat meines Erachtens noch einen weiteren Vorteil für die Umwelt: Aufwendige attraktive Verpackungen wären nicht mehr nötig. Da nun Computer, Fernsehen oder Telefon den Verkaufsort darstellen, wird der visuelle Anreiz durch den Katalog (entweder elektronisch oder gedruckt) vermittelt, und die Waren selbst können in einfacher Verpackung ausgeliefert werden, wobei nur so viel Papier oder Plastik benutzt wird, wie man braucht, um die Produkte sauber und frisch zu halten. So kaufe ich beispielsweise mein Gemüsesaatgut. Die Firmen, bei denen ich bestelle, veröffentlichen Onlinekataloge voll mit wunderschönen Fotos von gesunden Pflanzen (nicht zu vergleichen mit den von Schnecken angefressenen Exemplaren, dich ich züchte) und schicken mir die Samen dann in braunen Papiertütchen. Diese Präsentation mindert nicht meine gespannte Erwartung, wenn die Bestellung eintrifft, und sie hat auch keinen Einfluss auf spätere Enttäuschungen.

Auf den ersten Blick scheint unter ökonomischen und ökologischen Aspekten alles für einen vollständigen Umstieg auf virtuelle Einkäufe zu sprechen. Kapitaleinsatz, Belegschaft und Betriebskosten werden gesenkt. Aber es wäre naiv zu glauben, dass ein solches Modell bei den existierenden Supermarktketten auf große Begeisterung stoßen würde. Ihre Rentabilität hängt zum Teil davon ab, dass die Flächen, für die sie eine Baugenehmigung bekommen können, begrenzt sind. In vielen Gegenden wird der Markt von einer einzigen Kette beherrscht. Lagerhäuser sind billiger, und man bekommt dafür leichter eine Baugenehmigung, sodass bei einer solchen Umstellung mehr Unternehmen Marktchancen hätten, wie sich am explosiven Wachstum der Anbieter für Ökokisten zeigt.

Aber ob ihnen die Sache nun gefällt oder nicht, die Super-stores haben schon gezeigt, dass sie funktioniert. Ihre Lieferungen sind zuverlässiger als die anderer Firmen. Während man sonst oft den ganzen Tag auf eine Sendung warten muss, verspricht der Marktführer beim Internetshopping — Tesco — die Lieferung in einem Zeitraum von zwei Stunden.19

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In den meisten Landesteilen kann man wählen, wann man die Lebensmittel zwischen 9 Uhr morgens und n Uhr abends an Wochentagen und an Wochenenden im Laufe des Tages geliefert haben möchte.20 Also ist diese Art des Einkaufs, was immer die Unternehmen davon halten mögen, für die meisten Kunden wahrscheinlich bequemer als das existierende Modell — und genau deshalb wächst dieser Sektor auch so schnell. Wenn mein Vorschlag übernommen würde, könnten die Einkäufe auch deudich billiger werden. Einige Leute haben Bedenken, weil die Abhängigkeit von Telekommunikationsmitteln Menschen ausschließen würde, die nicht über diese Technologie verfügen. Aber es gibt weniger Haushalte ohne Fernsehen oder Telefon als Haushalte ohne ein Auto, und insofern würde mein Vorschlag weniger Menschen ausgrenzen als das gegenwärtige System.

Doch aus den schon erwähnten Gründen werden die Supermärkte auf der grünen Wiese wahrscheinlich nicht von selbst schließen. Es müsste die richtigen Anreize geben, entweder indirekt — durch eine Kohlenstoffrationierung — oder direkt durch entsprechende Verordnungen. Jedenfalls bin ich der Meinung, dass mit dieser Umstellung keine nennenswerte Einschränkung der menschlichen Freiheit verbunden ist, es sei denn, man würde das Recht, über eine Umgehungsstraße zu einem viel zu hellen Glaskasten zu fahren und dort in einer Schlange zu stehen, als einen unverzichtbaren Teil des Lebens, der Freiheit und des Strebens nach Glück betrachten.

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Ich habe die bittere Erfahrung gemacht, dass es nicht einfach ist, die Leute für Zement zu interessieren. Aber ich persönlich interessiere mich unter anderem deshalb dafür, weil seine Kohlendioxidemissionen nicht auf den Teil beschränkt sind, der durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe entsteht. Bei der Herstellung von »Ordinary Portland Cement«, diesem grauen Zeug, das fast jeder als normalen »Zement«* kennt, wird Kalkstein (Kalziumkarbonat) in Kalziumoxid umgewandelt. Und dabei produziert man Kohlendioxid.**

Der chemische Prozess — Kalzinierung — setzt ungefähr 500 Kilogramm Kohlendioxid für jede hergestellte metrische Tonne Zement frei.22 Die Rohstoffe müssen gemahlen und dann auf 1450 Grad erhitzt werden. Eine in der Annual Review of Energy and Environmentveröffentlichte Studie besagt, dass alles in allem bei der Herstellung von 1000 Kilogramm Zement durchschnittlich 814 Kilogramm Kohlendioxid freigesetzt werden (222 kg C x 3,6Ö7).23 Nicht eingerechnet sind dabei die Energiekosten für die Förderung und den Transport. Es ist wahrscheinlich fair zu sagen, dass bei der Herstellung von 1 Tonne Zement auch 1 Tonne Kohlendioxid produziert wird.

David Ireland von der Empty Homes Agency schrieb im Guardian, beim Bau eines Hauses würde man durchschnitdich 25 Tonnen Beton für das Fundament und die Böden und 4 Tonnen für Mörtel und Putz verbrauchen. 1 Tonne wird nach seinen Angaben verschwendet.24 Seiner Meinung nach entstehen dabei Kohlendioxidemissionen von rund 30 Tonnen. Doch er hat anscheinend Beton mit Zement verwechselt. Der Beton für Fundamente und Böden enthält ungefähr einen Teil Zement auf fünf Teile Sand und Kies. Wenn die anderen Zahlen stimmen,

* Anfang des 19. Jahrhunderts behaupteten die Befürworter, er würde an den feinen Süßwasserkalkstein erinnern, der auf Portland Bill in Dorset, Südengland, gefördert wird. ** In vereinfachter Form: CaCOs > CaO + C02. In Wirklichkeit enthält »Ordinary Portland Cement« Silikate: sCaCO, + 2Si02 > (3CaO, SiOJ UCaO, Si02) + 5CCV

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heißt das gleichwohl, dass für jedes neue Haus ungefähr 5 Tonnen Zement verbraucht und 5 Tonnen Kohlendioxid freigesetzt werden. Selbst wenn wir alle anderen Materialien, aus denen ein Haus besteht, außer Acht lassen, entspricht das der vierfachen Kohlenstoffmenge, die bei einer Rationierung einer einzelnen Person im Jahr 2030 zusteht.

Je nachdem, welchen Zahlen man glauben will, ist die Zementproduktion weltweit für 5 bis 10 Prozent aller vom Menschen verursachten Kohlendioxidemissionen verantwortlich.25"27 Da wir unsere Häuser in Großbritannien nur sehr langsam ersetzen, beträgt der Anteil hierzulande lediglich knapp 2 Prozent.28 Zum Teil wegen des Baubooms in Süd- und Ostasien wächst die globale Zementproduktion gegenwärtig um ungefähr 5 Prozent jährlich.2«

Ein Auswaschen des Kohlendioxids aus den Abgasen, die bei der Kalzinierung und bei der Verbrennung der Treibstoffe entstehen, mit denen die Öfen befeuert werden, scheint genauso einfach zu sein wie bei den Abgasen aus Kraftwerken.30 Die unterirdische Lagerung ist jedoch eine andere Sache. Im Gegensatz zu Kraftwerken sind Zementwerke bei der Standortwahl geologisch eingeschränkt: Sie müssen dort gebaut werden, wo es den passenden Kalkstein gibt. Zwar findet man alle geeigneten Bedingungen in Sedimentbecken, aber es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Vorkommen von Kalkstein und den Salzadern, Gas- oder Ölfeldern, wo Kohlendioxid unterirdisch gelagert werden könnte. Zwar liegen die meisten Zementwerke in Großbritannien wahrscheinlich in einem Umkreis von 500 Kilometern zu einem passenden Lagerort (das ist ungefähr die Entfernung, über die Gas ökonomisch rentabel gepumpt werden kann31), aber solange es keine Karten gibt, die geeignete Lagerorte ausweisen, kann ich nicht sagen, ob diese

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Technologie universell anwendbar ist. Ich kann allerdings mit Gewissheit sagen, dass Großbritannien — als geologisch vielfaltigste Region dieser Größe auf der ganzen Welt — untypisch ist. In größeren Ländern mit einer geringeren geologischen Vielfalt muss es zwangsläufig Zementwerke geben, deren Emissionen nicht unterirdisch gespeichert werden können.

Nur ein Teil des Problems lässt sich dadurch lösen, dass wir die Bautätigkeit einschränken. Beton wird häufig für Zwecke eingesetzt — beispielsweise neue Straßen und Rollbahnen —, die unnötig und nicht nachhaltig sind. Die ökologischen Kosten der Zementproduktion liefern ein weiteres starkes Argument gegen den Ausbau der Transportnetzwerke. Aber wie ich schon in Kapitel 4 erwähnt habe, sind viele Häuser in Großbritannien einfach zu schlecht isoliert. Wenn man zeigen kann, dass große und rasche Kohlendioxideinsparungen möglich sind, indem man die alten Häuser abreißt und neue baut, könnte die Abrissrate deutlich ansteigen. Die Passivhäuser, die ich gern als Ersatz sähe, benötigen mehr Material als gewöhnliche Häuser derselben Größe, weil sie eine höhere »thermische Masse« brauchen. Selbst wenn das nicht der Fall wäre, könnten sie nicht vollständig aus den Rückständen der alten Häuser gebaut werden. Beton kann man zwar recyceln, aber es lässt sich kein Zement mehr daraus herstellen — man benutzt ihn als »Gesteinskörnung« oder Steinmehl. (Nach Angaben des IPCC ist ein »Recycling von Zement im geschlossenen Kreislauf noch nicht möglich«.32) Außerdem brauchen wir jede Menge Beton für die Installation unserer Windräder.

Der nächste Schritt muss also darin bestehen, dass wir nach Möglichkeiten suchen, den benötigten Zement so mit anderen Stoffen zu mischen, dass wir mit geringeren Mengen auskommen. 

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Auf den ersten Blick scheint Schaumbeton eine gute Lösung zu sein.33 Wenn man Zement mit ungelöschtem Kalk, Sand, Wasser und Aluminiumpulver mischt, dann geht er auf wie ein Hefeteig. Schaumbetonblöcke sind belastbar und wärmeisolierend. Da zwischen 60 und 85 Prozent ihres Volumens aus Luft bestehen,34 enthalten sie sehr viel weniger Zement als feste Blöcke. Aber leider werden die Kohlendioxideinsparungen durch das Aluminiumpulver in ihr Gegenteil verkehrt.35 Dies ist der Bestandteil, der wie Hefe in der Betonmischung wirkt und die Luftblasen in der Masse erzeugt. Obwohl die benötigten Mengen sehr viel geringer sind, liegen die Energiekosten für das Schmelzen von Aluminium ungefähr vierzigmal so hoch wie für die Herstellung von Zement.36

Vielversprechender ist der Ersatz von gewöhnlichem Beton durch hochfesten Beton, der Zusätze wie Silikastaub* und fein gemahlene Flugasche enthält. Weil er extrem hart ist,** kommt man beim Bau mit der Hälfte des üblichen Materialgewichts aus.38) Die Zusätze sind ziemlich teuer, aber weil das Materialvolumen und die Transportkosten geringer sind, liegen die Gesamtkosten im Allgemeinen niedriger.39) 

Das Problem ist, dass die Industriezweige, bei denen Silikastaub anfällt, ihre Standorte aus den reichen Nationen verlegen, sodass die Kohlendioxid­emissionen beim Transport steigen werden, während Flugasche bei der Verbrennung von Kohle in Kraftwerken entsteht, was ich ja gerade vermeiden will. Ein ähnliches Problem stellt sich im Zusammenhang mit einem anderen Vorschlag zur Verringerung des Kohlenstoffgehaltes von Zement: der Mischung mit Schlacke aus Hochöfen. Nicht nur, dass die Stahlwerke in vielen reichen Nationen ihre Produktion einstellen, sondern die noch aktiven stellen sich auf neuere Technologien der Stahlproduktion um (beispielsweise elektrische Lichtbogenöfen), deren Schlacke nicht die richtigen Eigenschaften hat.40

* Silikastaub ist ein Abfallprodukt aus der Herstellung von Siliziummetallen und Ferrosilizium. 
** Die Belastbarkeit lieg bei 6000 Pfund oder mehr pro Quadratinch.37

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Im Jahr 1997 sorgte der Vorschlag des Werkstofftechnologen Roger Jones aus Nevada für einige Aufregung in den (wie ich zugeben muss, wenigen) Fachzeitschriften, die sich mit den Entwicklungen in der Zementindustrie beschäftigen.41'42) Er empfahl, den Zement wieder in Kalkstein umzuwandeln, indem man ihn dazu zwingt, das Kohlendioxid wieder aufzunehmen, das er während der Kalzinierung abgibt.

Das geschieht sowieso, wenn auch sehr langsam. Nach Angaben des New Scientist würde »eine große Zementplatte bis zu 30.000 Jahre brauchen, um den Kohlenstoff vollständig aufzunehmen«.43) Das ist ein Zeitrahmen, der etwas jenseits dessen liegt, was ich in diesem Buch vorgesehen habe, obwohl wir bei der aktuellen Abrissrate in Großbritannien damit rechnen können, dass der Beton bei einigen unserer Häuser wieder zu Kalkstein wird, bevor sie einem neuen Gebäude Platz machen. Jones hat entdeckt, dass superkritisches Kohlendioxid (erhitzt und auf knapp über 1000 Pfund pro Quadratinch44 komprimiert) den Beton direkt passieren kann, ihn dabei innerhalb von Minuten mit Kohlenstoff anreichert und seine Festigkeit verdoppelt.45 Der Zement würde das gesamte Kohlendioxid wieder aufnehmen, das er bei der Kalzinierung abgegeben hat. Jones behauptet, das superkritische Gas könne einfach aufgesprüht werden.40 Statt es unterirdisch zu lagern, könnte das Kohlendioxid in den Zement zurückgeleitet werden.

Im April 2006 habe ich mit Roger Jones in Nevada telefoniert, um nachzufragen, was aus seinem Vorschlag geworden ist. »Er war nicht für Zement gedacht, George«, sagte er mir. »Es ging dabei um Plastik. Der Prozess ist sehr teuer, und deshalb hatten wir nie die Absicht, ihn auf Zement anzuwenden.«47)

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Ich war überrascht, nicht zuletzt deshalb, weil eine Presseerklärung, die sich immer noch auf der Webseite seiner Firma befand, behauptet, dass dieser Prozess »gewöhnlichen Zement aus Kalkstein und Werkstoffe aus Ton durch die Behandlung mit Kohlendioxid umwandelt... <Wie lebende Korallen können wir jetzt Kohlendioxid aus der Umwelt aufnehmen und unsere Häuser damit bauen.>«48) 

Dies ist also ein weiteres Beispiel dafür, dass wir bei den spekulativen Behauptungen von Leuten mit kommerziellen Interessen vorsichtig sein müssen.

Dieselbe Überlegung macht mich auch misstrauisch gegenüber den Vorschlägen der Firma TecEco, Zement nicht aus Kalziumoxid, sondern aus Magnesiumoxid herzustellen, obwohl die Idee in mancher Hinsicht ganz vielversprechend klingt.

Magnesiumkarbonat muss für die Zementherstellung nur auf 650 Grad erhitzt werden,49 wodurch sich die Energiekosten der Produktion erheblich verringern. Das Oxid scheint auch den Kohlenstoff sehr viel schneller aufzunehmen als Kalziumzemente: Der Firmeninhaber behauptet, es würde nur ein paar Monate dauern und das Endprodukt sei wesendich stärker als gewöhnlicher Zement.50 Leider findet man Magnesiumkarbonat sehr viel seltener als Kalkstein. Folglich ist der Rohstoff teurer und verursacht — wenn der Zement nicht nur in den Regionen verkauft wird, wo man ihn produziert — größere Transportkosten. Gleichwohl könnte die Verwendung in einigen Regionen zweckmäßig sein.

Es scheint jedoch eine Lösung zu geben, die wieder einmal auf einer sehr alten Idee basiert. Es handelt sich dabei um ein Material, das den Puzzolan-Zementen ähnelt, aus denen die Römer das Kuppeldach des Pantheons und Hunderte anderer Gebäude errichtet haben, von denen einige heute noch existieren.51

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Das Institut, das diesen Werkstoff empfiehlt, behauptet, das Material lasse sich so schnell verarbeiten und sei so fest, dass »eine schwere Boeing oder ein Airbus auf einer Rollbahn landen kann, die erst vier Stunden zuvor damit repariert wurde«.52

Das ist zwar nicht das Beispiel, das ich gewählt hätte, aber es zeugt von Eigenschaften, denen in keiner Abhandlung, die ich finden konnte, bisher wider­sprochen wird. Das Material setzt sich rasch, scheint stärker und langlebiger als gewöhnlicher Zement zu sein, schrumpft weniger und ist resistenter gegenüber Feuer.53 »Geopolymer-Zemente«, wie diese Werkstoffe genannt werden, können aus verschiedenen Arten von Ton und Industrieabfallen sowie einigen gewöhnlichen Sedimentgesteinen* hergestellt werden. Sie sind billig, und was am wichtigsten ist, bei ihrer Herstellung sind die CO2-Emissionen um 80 bis 90 Prozent geringer als bei der Produktion von gewöhnlichem Zement.54,55) 

Das hängt damit zusammen, dass sie bei niedrigeren Temperaturen (ungefähr 705 Grad) hergestellt werden und die chemischen Prozesse kein Kohlendioxid freisetzen. Nach Angaben von CSIRO, der Forschungsorganisation der australischen Regierung, kann man diese Werkstoffe für fast alle Zwecke einsetzen, für die man gegenwärtig Zement benutzt.56 Künstliche Geopolymere — die nicht von den seltenen Vorkommen natürlicher Puzzolana (eine Form von Vulkanasche, die man um die Bucht von Neapel herum findet) abhängig sind — haben sich nur deshalb noch nicht überall durchgesetzt, weil sie erst Ende der siebziger Jahre erfunden wurden.57 Die Bauindustrie ist notorisch konservativ, und für die Zemen±ersteller ist es finanziell reizvoller, ihre vorhandenen Werke weiter auszulasten, statt an einem anderen Standort mit einem anderen Herstellungsprozess zu beginnen.

* Die Hauptbestandteile sind Gemische von Silikat und Aluminium. 

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Doch die Antwort, oder zumindest der größte Teil davon, scheint zu existieren. Bis 2030 sollte es in den reichen Nationen keine Werke mehr geben, die nicht entweder ihr Kohlendioxid unterirdisch speichern oder Geopolymere statt herkömmlichen Zement produzieren. Und wenn zusätzliche Werkstoffe für den Bau besserer Häuser benötigt werden, dann sollte das Wachstum gestoppt oder vielleicht sogar umgekehrt werden, indem man auf den Bau neuer Straßen und Rollbahnen verzichtet.

Beim nochmaligen Lesen dieses Abschnitts sehe ich mich gezwungen einzuräumen, dass Zement tatsächlich ein ziemlich langweiliges Thema ist. Ich bitte aber um Nachsicht, weil die Entscheidung, nur über interessante Quellen von Kohlendioxidemissionen zu schreiben, die Unterwerfung unter einen weiteren ästhetischen Trugschluss bedeuten würde.

Ich denke also, dass ich mein Ziel mehr oder weniger erreicht habe. Ich hoffe, ich habe zeigen können, dass wir in der Lage wären, unsere Kohlendioxid­emissionen in allen von mir untersuchten Sektoren — mit einer Ausnahme — um rund 90 Prozent zu senken: in unseren Häusern, auf den Straßen und in zwei Industriezweigen, die auf den ersten Blick ziemlich schwierig zu reformieren schienen. Der Sektor, bei dem mir das nicht gelungen ist — und ich hoffe, dass ich es mir dabei nicht zu leicht gemacht habe —, ist zufällig derjenige, der für unser Überleben der unwichtigste ist. Anders als Heizung, Beleuchtung, Fahrten zum Arbeitsplatz, Bauen oder Einkaufen ist der Luftverkehr nicht notwendig, um die Zivilisation aufrechtzuerhalten, auch wenn ihn viele Menschen, die heute noch Flugzeuge nutzen, schmerzlich vermissen werden.

Meine Vorschläge sind zweifellos eine gewaltige Herausforderung. Sie können nur umgesetzt werden, wenn wir die Bekämpfung des Klimawandels zur obersten politischen Priorität machen, nicht nur im eigenen Land, sondern in allen reichen Nationen. Ihre Realisierung erfordert große finanzielle Investitionen, einen nachdrücklichen politischen Willen und eine Menge Kompetenz. 

Aber ich habe hoffentlich gezeigt, dass es möglich ist, die Biosphäre zu retten. Und wenn es möglich ist, dann lässt sich schwerlich ein Grund finden, warum wir es nicht versuchen sollten. Gewiss wird sich dieses Unterfangen störend auf unser Leben auswirken. Aber es wird weniger Störungen verursachen als die Alternative, die darin bestehen würde, es einfach zuzulassen, dass die vom Menschen verursachte globale Erwärmung ungehindert weitergeht. 

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George Monbiot 2006 Heat Hitze Burning