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11  Apokalypse verschoben

Könnte ich die Hölle sehen
 und sicher wiederkommen
— ich wäre glücklich!
Marlowe, Faustus, Akt 2

331-348

Eine Woche bevor dieses Buch fertig werden sollte, wurde meine Tochter geboren. Kapitel 10 habe ich mit einer Hand getippt und sie dabei mit der anderen auf meinem Schoß gehalten. Während meine Gedanken zwischen Zement und Erbrechen, Windgeschwindigkeiten und Blähungen hin und her wanderten, wurde alles, worüber ich nachgedacht habe — zum ersten Mal —, real für mich.

Das Verhältnis eines Autors zu Themen wie diesen ist seltsam. 

Um die komplexen Zusammenhänge, über die man sich Sorgen macht, einigermaßen zu verstehen, muss man sich aus der Welt zurückziehen und ein Schattenland von Grafiken und Tabellen, Gleichungen und Hochrechnungen betreten. Und während man das tut, muss man aufhören, sich Sorgen zu machen. Die Ökosysteme werden zu »Kohlenstoffsenken« oder »Kohlenstoffquellen«, und die Menschen werden zu Daten.

Ich habe ungefähr zwei Jahre in Afrika verbracht, und von den Ländern, die ich dort besucht habe, war mir Äthiopien das liebste. Wohin man auch geht, in diesem Land findet man fast sofort Freunde. Vielleicht weil die Leute dort so lange schon am Rande der Zerstörung leben, drehen sich die Gespräche oft um grundlegende Probleme. In dem winzigen Marktflecken Jinka im südlichen Äthiopien, wo die meisten Menschen Analphabeten sind, war ich bei Gesprächen mit den Einheimischen geistig nicht weniger gefordert als in meiner Heimatstadt Oxford.*

Aber jetzt ist mir klar: 

Wenn ich in diesem Buch über »die Äthiopier« und die Auswirkungen des Klimawandels, unter denen sie vielleicht leiden werden, geschrieben habe, dann dachte ich dabei kein einziges Mal an die Leute, die ich dort kennengelernt hatte. »Die Äthiopier« waren zu einer Abstraktion geworden oder, schlimmer noch, zu einer Art Werkzeug, mit dem ich meine Argumente schärfen konnte. 

Ein gewisses Maß an Erwärmung könnte durch die Verringerung einer gewissen Zahl von Getreidebüscheln eine bestimmte Zahl von Exemplaren der Spezies Homo sapiens eliminieren. Es gab keinen Zusammenhang zwischen diesen Exemplaren und den Menschen, die ich in Äthiopien getroffen hatte, vielleicht weil diese lebhaften, lustigen, anregenden Menschen keine Ähnlichkeit mit den Zahlenkolonnen auf einer Seite haben.

Ganz ähnlich geht es mir, wenn ich darüber nachdenke, was den Leuten in meinem eigenen Land oder in anderen Teilen der reichen Welt geschehen könnte — wo uns die Auswirkungen der globalen Erwärmung mit Verzögerung treffen werden, weil wir von einem gemäßigteren Klima profitieren und außerdem mehr Geld für Schutzmaßnahmen ausgeben können. 

Auch in diesem Fall habe ich festgestellt, dass es einfach ist, die Auswirkungen zu katalogisieren, aber fast unmöglich, sie mir vorzustellen.

* Manchmal frage ich mich, ob die relativ seltenen Todesfälle in den letzten Jahrhunderten dafür verantwortlich sind, dass britische Autoren nicht mehr mit der gleichen Selbst­verständlichkeit über existenzielle Fragen schreiben, wie Shakespeare oder Marlowe es getan haben.

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Intellektuell kann ich verstehen, dass das »Leben« in diesem Land in dreißig Jahren nicht mehr dasselbe sein wird wie heute; dass es, sollte der Klimawandel ungehindert weitergehen, auf eine grundlegende und katastrophale Weise anders sein wird. 

Aber irgendwie ist es mir nicht gelungen, dieses Wissen in die Erkenntnis umzusetzen, dass mein eigenes Leben sich verändern wird. 

Wie jeder, der noch keine Bekanntschaft mit dem Tod gemacht hat, habe ich mir die Zukunft als Wiederholung der Gegenwart vorgestellt. Die Welt mag sich zwar ändern, aber ich nicht.

Hinter dieser Verleugnung steckt die Widersprüchlichkeit, die uns alle beim Gedanken an mögliche Katastrophen beherrscht: Epidemien, Kriege, Hungers­nöte, ja sogar der Tod selbst. Ich kann zwar große Furcht vor dem drohenden Unheil empfinden, aber ich bin zugleich voller Zuversicht, dass ich selbst — durch Gottes Gnade oder ein gütiges Schicksal, das mich bisher davor bewahrt hat — davon verschont bleiben werde. 

Wenn es nicht in jedem von uns einen Teil gäbe, der davon überzeugt ist, dass wir — trotz aller Beweise für die Sterblichkeit anderer Menschen — irgendwie dem Tod entkommen können, würden wir kaum darum kämpfen, unser Leben zu verlängern. Denn wie Doktor Faustus am Ende von Marlowes Schauspiel erkennt, sind 24 Jahre — sogar 24.000 — im Angesicht der Ewigkeit nicht mehr als 24 Minuten.

Für einen Autor ist diese Selbsttäuschung eine besonders große Versuchung, denn irgendwo im Hinterkopf hat er die Hoffnung, dass sein Körper zwar sterben mag, aber seine Worte weiterleben. Das scheint sogar zu der perversen Konsequenz zu führen, dass Schriftsteller mit ihrem Leben manchmal sorgloser umgehen als andere Leute aus dem gleichen sozialen Umfeld. 

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Was macht es schon, wenn man sich zu Tode trinkt, wo die Seele doch überdauert »in Aufzeichnungen, die die Spinne gütig umflort«?* Es gibt in der Tat eine gewisse Arroganz, die ich bei mir selbst wie auch bei anderen festgestellt habe: Sie behandelt den Tod als etwas, was die niederen Sterblichen fürchten, eine irdische Angelegenheit, von der jene unberührt bleiben sollten, die einen Spinnfaden zu der ätherischen Gedankenkette geknüpft haben, welche von Gilgamesch bis in eine unvorstellbare Zukunft reicht.

Aber dieses Baby, dieses seltsame kleine Geschöpf, das dem Ökosystem näher steht als jeder erwachsene Mensch, teils Kobold, teils Frosch, teils ein kleines Pelztier, das jetzt sechzehn Tage alt ist und zusammengerollt auf meinem Schoß liegt wie eine Bohne, die darauf wartet, zu keimen, verändert alles. Ich schreibe nicht mehr über irgendetwas, was den »Leuten« in diesem Land in dreißig Jahren passieren könnte, sondern ich schreibe über sie. Während sie an der Schwelle zum Leben strampelt, lassen sich die Beweise für ihre Sterblichkeit nicht leugnen, und sie kommt mir sehr viel realer vor als meine eigene Sterblichkeit. 

Die Welt, die ich in Kapitel 1 beschrieben habe, in der ein ungebremster Klimawandel die Voraussetzungen für menschliches Leben bedroht, ist die Welt, in die meine Tochter vielleicht hineinwächst. Die globale Erwärmung ist nicht mehr nur ein allgemeines Phänomen, ihre Opfer sind nicht mehr abstrakt, sondern mein Kind könnte zu ihnen gehören. Oder Ihr Kind. Oder Sie. Oder sogar ich. Von allen komplexen Fragen, die mit diesem Thema zusammenhängen, war diese bisher am schwersten zu begreifen. 

* Das Zitat stammt aus dem Gedicht <Das wüste Land> von T.S. Eliot

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Ich erkenne auch — so wie ich jetzt mit der biologischen Realität konfrontiert werde —, dass ich sogar beim Nachdenken über die grässlichsten Vorhersagen und auf meinem Weg durch die Engpässe der Thermodynamik irgendwie den chiliastischen* Glauben an die Erlösung genährt habe. 

*  (d-2011:)   wiktionary / chiliastisch   die Erwartung eines tausendjährigen Reiches nach der Wiederkehr Christi betreffend  

Irgendwo in meinem Hinterkopf, irgendwo im Hinterkopf eines jeden, der über diese Fragen nachgedacht hat, existiert die Vorstellung, dass diese Prognosen, so real sie auch sein mögen und so schwierig es sein mag, ihnen zu entkommen, einfach nicht wahr sein können. Irgendjemand oder irgendetwas wird uns retten. 

Der Glaube an ein Wunder geht nahtlos über in Entschuldigungen für unsere Inaktivität.

Da gibt es erstens die Hoffnung, die viele Leute (und ich ertappe mich selbst manchmal dabei) in ungeprüfte Technologien setzen. Sicher werden »sie« — die nichtidentifizierbaren omnipotenten Wissenschaftler, die den Platz Gottes eingenommen haben und ständig irgendwo in unserem Bewusstsein herumgeistern — es nicht zulassen, dass die Biosphäre zusammenbricht. Sie werden uns rechtzeitig von dem Bösen erlösen, indem sie ein Gerät erfinden, das die Kernfusion, die künstliche Photosynthese, »Hydrinos« oder Solarenergie auf dem Mond möglich macht (es scheint vielleicht so, als hätte ich diese letzte Idee erfunden, aber es handelt sich dabei um einen ernsthaften Vorschlag, der 2001 auf dem 18. Kongress des <World Energy Council> diskutiert wurde).2

Alle paar Wochen meldet sich irgendjemand bei mir mit einem Vorschlag für etwas, was letztlich ein Perpetuum mobile ist. - Er (es sind immer Männer) kann mir zufrieden­stellend demonstrieren, dass er — anders als die Quacksalber, Spinner und Scharlatane, von denen ich gehört habe — das Problem nun wirklich gelöst hat. Er hat einen besonderen Katalysator, eine neue Gleichung oder einen direkten Draht zu Gott, der beweist, was alle anderen Physiker für unmöglich halten: dass Energie erzeugt werden kann. Manchmal komme ich mir dann so vor, als würde ich in die Zeiten von Marlowe zurückversetzt.  

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Wehren kann ich mich gegen solche Leute nur, indem ich sie frage, ob sie einen entsprechenden Artikel in einem Wissenschaftsjournal mit kollegialer Überprüfung veröffentlicht haben. Danach höre ich nie wieder etwas von ihnen.

Das ist vielleicht ein wenig unfair. Immerhin könnte der eine oder andere darunter sein, der tatsächlich eine neue Art von Treibstoff entwickelt hat, deren Existenz die bekannten Vorhersagen der Wissenschaft widerlegt, was genau der Grund dafür sein könnte, dass keine auf ihr Ansehen bedachte Zeitschrift einen Artikel darüber veröffentlichen will. Alle Akademiker sind konservativ, auch solche, die sich mit der Zukunft beschäftigen. Aber zu akzeptieren, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als die Physiker in ihren Labors sich träumen lassen, ist eine völlig andere Sache, als sich auf ein wissen­schaftliches Wunder zu verlassen. Denn im Vertrauen darauf könnten wir genauso gut einen Tanz zur Klimaabkühlung aufführen.

 

Es ist auch nicht fair, den Eindruck zu erwecken, dass alle spekulativen Technologien gleich unwahrscheinlich sind. Selbst wenn Energie aus der Kernfusion immer 35 Jahre entfernt war, können wir nicht sicher sein, dass es weiterhin so bleiben wird: Tatsächlich wird hin und wieder ein »Durchbruch« gemeldet, der uns für einen Moment hoffen lässt, die Kernfusion könnte schon in zwanzig Jahren Realität sein (doch diese Zahl scheint ebenfalls ziemlich konstant zu sein). 

Aber auch mit dem beschleunigten Programm, für das ich mich in Kapitel 5 ausgesprochen habe, ist es jedenfalls schwer vorstellbar, dass wir innerhalb der nächsten 24 Jahre eine neue Art von Energie — so vielversprechend sie auch sein mag — identifizieren, einsetzen, an alle Verwendungszwecke — Wärme, Elektrizität, Landtransport, Luftverkehr — anpassen, für die sie benötigt wird, und weltweit nutzen könnten. Auf eine solche Hoffnung zu bauen ist genauso gefährlich, wie sich der Verzweiflung hinzugeben. 

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Das zweite Wunder, an das manche Leute glauben und das ihnen als Entschuldigung für ihr Nichtstun dient, hat mit dem ersten zu tun: Es ist der Glaube an eine neue Technologie, die es uns ermöglicht, das Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen, sobald es freigesetzt wurde, oder den Planeten mit künst­lichen Mitteln abzukühlen. 

Ein oder zwei solche Systeme sind experimentell erprobt worden. Am bekanntesten ist das Verstreuen von Eisenpartikeln auf der Meeresoberfläche, um das Wachstum von pflanzlichem Plankton anzuregen. Dahinter steht die Vorstellung, dass Plankton bei der Vermehrung Kohlendioxid von der Wasseroberfläche aufnimmt, dann mit seiner Fracht in die Tiefen des Ozeans hinabsinkt und das Gas für alle Zeit beseitigt. Das funktioniert nicht. Versuche in Princeton haben gezeigt, dass kaum etwas von dem Gas, das Plankton aufgenommen hatte, von der Meeresoberfläche entfernt wurde.3) Die Düngung mit Eisen wirbelt Sauer­stoff auf und regt dadurch gleichzeitig die Produktion von Methan an.4) Wahrscheinlich wird diese Technologie nicht nur die Meeresökologie zerstören, sondern auch die globale Erwärmung weiter verschlimmern.

Andere Leute haben sich für den Einsatz chemischer Reiniger ausgesprochen — ähnlich denen, die Kohlendioxid aus den Abgasen der Kraftwerke auswaschen sollen —, um das Gas aus der Luft zu beseitigen. Es ist wenig überraschend, dass keiner der Berichte, die ich darüber gelesen habe, irgendwelche Informationen über die damit verbundenen Kosten enthält.5-7

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Ich habe bei der Firma angerufen, die sich für diese Technologie stark macht — Global Research Technologies in Tucson, Arizona —, damit ich Angaben über die Kosten und die Energiemengen erhalte, die benötigt werden, um 1 Tonne Kohlendioxid aus der Atmosphäre auszuwaschen. Nachdem sie meine Anfrage diskutiert hatten, haben sie mich zurückgerufen und erklärt: »Die Antwort lautet: Kein Kommentar.«8 Ich vermute, dass die Kosten astronomisch wären.

John Latham vom National Center for Atmospheric Research in Colorado, hat mit Vorrichtungen experimentiert, die Meerwasser in die Luft sprühen. Er hofft, dass sie Wolken erzeugen, die einen Teil des Sonnenlichts nicht zur Erde durchlassen.9) Dieses Projekt ist vielleicht äußerst gefährlich: Es sieht so aus, als könnten kleine Salzpartikel, während sie Nebel erzeugen, die Entwicklung von Regenwolken verhindern, was in Ländern, die auf der windab­gewandten Seite liegen, zur Dürre führt.10)

Edward Teller - der Mann, der die Wasserstoffbombe erfand - hat uns noch ein zweites großzügiges Erbe hinterlassen: die Idee, man könnte die Atmosphäre mit Partikeln aus Metall oder anderen Materialien anreichern, die das Licht bestimmter Wellenlängen reflektieren würden. Seine Schüler (die ebenfalls bis heute an Atomwaffen arbeiten) haben diese Idee weiterentwickelt und schlagen nun vor, jedes Jahr 1 Million Tonnen winziger Aluminiumballons aufsteigen zu lassen, die mit Wasserstoff gefüllt sind. 

Es ist schwer zu sagen, welche ihrer Aktivitäten gefährlicher ist. Sollte ihr System eingeführt werden, würde es wahrscheinlich die Ozonschicht beseitigen.11) Experimente mit den Möglichkeiten der Massenvernichtung scheinen bei manchen Leuten zur Gewohn­heit zu werden.

 

Der dritte Hoffnungsträger ist paradoxerweise der Gipfelpunkt der Ölförderung. Ich kann nicht mehr zählen, wie viele Zeitgenossen mir erklärt haben, dass wir uns über den Klimawandel keine Sorgen machen müssen, denn bevor er zu weit fortschreitet, würden die globalen Ölreserven sinken, der Ölpreis exponentiell steigen und die Autofahrer, und Fluggäste würden zwangsläufig zu Hause bleiben.

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Nun ist es zwar durchaus möglich, dass der Rückgang unserer Ölreserven, wenn er schneller eintritt, als unsere Sparmaßnahmen ihn verhindern können, die Welt in eine so katastrophale Depression stürzen lässt, dass unsere industrielle Zivilisation — und folglich auch ihre Kohlendioxidemissionen — zu Ende geht. Ich gehöre aber nicht zu denen, die eine solche Aussicht willkommen heißen. Und ich glaube auch nicht, dass wir zuverlässig vorhersagen können, wann dieser Fall eintreten wird.

Als ich zum ersten Mal die Prognosen las, dass unsere Ölförderung bald ihren Höhepunkt überschritten haben könnte — ein Geophysiker erklärte 2003, er sei »zu 99 Prozent sicher«, das würde 2004 geschehen12) —, fand ich sie überzeugend. Aber je mehr ich darüber lese, desto unsicherer werde ich. Wie in anderen Fällen auch findet man auf beiden Seiten der Debatte Leute und Daten, deren Aussagen ernst genommen werden müssen.13-16)  

Es könnte sich durchaus bewahrheiten, dass die Ölförderung in den nächsten zehn Jahren ihren Höhepunkt überschreitet, aber es könnte genauso gut noch dreißig Jahre dauern. Wenn das der Fall wäre, und wir hätten uns auf einen früheren Rückgang der Ölreserven verlassen, ohne irgendetwas zu seiner Verhinderung zu unternehmen (was leider so unwahrscheinlich nicht ist), bekommen wir es vielleicht mit einem katastrophalen Klimawandel und einer beispiellosen globalen Depression zu tun.

In einer Hinsicht könnten sinkende Ölreserven den Klimawandel verschlimmern. Der vom US Department of Energy in Auftrag gegebene Bericht, den ich in Kapitel 3 erwähnt habe, spricht sich dafür aus, vorbeugend die Produktion synthetischer Treibstoffe — künstliches Rohöl — aus Ölsand und Kohle zu erhöhen.17) Überflüssig zu sagen, dass synthetische Treibstoffe den Klimawandel noch mehr verschlimmern als Petroleum.

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Die vierte Ausrede für unser Nichtstun ist banaler. Das ist die Idee, dass wir unsere Probleme weiterhin mit Geld lösen können. In seinem Buch <The Rise of the Dutch Republic>, veröffentlicht 1855, beschreibt John Modey, auf welche Weise die Menschen in den Niederlanden im 15. und 16. Jahrhundert ihre Sünden tilgen konnten:

Der Ablasshandel war für die Priester eine beträchtliche Einnahmequelle ... Gottes Vergebung für Sünden, die schon begangen waren oder in Kürze begangen werden sollten, wurde in einer abgestuften Preisliste angeboten: Die Absolution für eine Vergiftung kostete beispielsweise elf Dukaten und sechs Livres tournois. Ein Inzest ließ sich mit 36 Livres, drei Dukaten, wieder ausgleichen. Ein Meineid kostete sieben Livres und drei Carlines. Die Absolution für einen Mord ohne Gift war billiger. Sogar ein Vater- oder Muttermörder konnte Gottes Vergebung erlangen, wenn er einen Dukaten, vier Livres und acht Carlines bezahlte.18)

Heute findet man die Preisliste für anstehende Verbrechen auf Warnschildern überall im Cyberspace. Firmen für »Kohlenstoffaufrechnung« versprechen Vergebung für die Umweltkosten Ihrer Kohlendioxidemissionen durch Vermittlung mit der Atmosphäre: Bäume pflanzen, finanzielle Unterstützung für Projekte mit erneuerbaren Energien in fernen Ländern und natürlich Hilfe beim Brückenbau für irgendwelche Dörfer in den Anden

So wie man im 15. und 16. Jahrhundert ohne Furcht vor ewiger Verdammnis mit der eigenen Schwester schlafen, morden und lügen durfte, so darf man heute bei geöffnetem Fenster weiter heizen, Auto fahren oder fliegen, ohne das Klima zu gefährden, solange man seine Dukaten an eine der Ablassfirmen zahlt.

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Sogar im Kyoto-Protokoll steht eine Verordnung, die es den Staaten erlaubt, ihre offizielle Produktion von Luftschadstoffen zu erhöhen, wenn sie im Gegenzug Projekte zur Einsparung von Kohlenstoff in anderen Ländern finanzieren (der Mechanismus für »saubere Entwicklung«). Ich will gar nicht erst den Versuch machen, alle Landnahmen, Konflikte mit Anwohnern, Doppelzählungen und Betrugsfälle aufzuzählen, die mit einigen dieser Systeme einhergehen. Das haben andere schon getan.19-21)

Meine Einwände sind mehr allgemeiner Art:

Erstens ist eine genaue Buchhaltung für viele Projekte zur Aufrechnung von Kohlendioxidemissionen, so aufrichtig der Versuch auch sein mag, gar nicht möglich. Man kann beispielsweise festlegen, dass ein Flug nach New York zur Produktion einer bestimmten Menge von Kohlendioxidemissionen führt, und man kann auch errechnen, wie viel Kohlenstoff ein bestimmter Baum einer bestimmten Art und Größe enthält. Dann kann man die Tonnen Kohlenstoff, die durch den Flug verursacht werden, durch die Tonnen Kohlenstoff teilen, die der Baum enthält, und feststellen, wie viele Bäume man pflanzen müsste, um die Emissionen wieder einzufangen. Aber das Ergebnis hat keinerlei Bezug zur Realität.

Bäume zu pflanzen heißt beispielsweise, dass man auf demselben Boden nichts anderes pflanzen (oder wachsen lassen) kann. Niemand weiß, was in zwanzig Jahren statt der Bäume vielleicht dort stehen würde. Wenn es andere Bäume wären, dann ließe sich der reale Effekt der eigenen Aktivitäten nur feststellen, indem man die Kohlenstoffaufnahmekapazität dieser anderen Bäume von der Kapazität jener abzieht, für deren Anpflanzung man selbst verantwortlich ist. Da es aber keine Möglichkeit gibt, die erste Zahl zu ermitteln, gibt es auch keine Möglichkeit, den tatsächlichen Effekt zu berechnen.

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Wenn wir an einer Stelle Bäume pflanzen, können dadurch die Bäume an einer anderen Stelle absterben, weil durch diese Maßnahme vielleicht ein Fluss austrocknet, der bisher einen weiter unten liegenden Wald gespeist hat.22 Auf der landwirtschaftlichen Fläche, auf der die Bäume angesiedelt werden, hätte anderenfalls vielleicht Getreide wachsen können, und die Menschen, denen dieses Getreide jetzt fehlt, könnten gezwungen sein, anderswo ein Waldstück zu roden, um ihre Nahrung dort anzubauen. Unsere neu gepflanzten Bäume könnten eingehen, bevor sie ausgewachsen sind, vor allem wenn sich ihre Wachstums­bedingungen durch die globale Erwärmung verändern. Die Bäume könnten gefällt werden oder einem Waldbrand zum Opfer fallen. Mit anderen Worten: Wenn man nach New York fliegt, kann man sicher sein, dass die entsprechenden Kohlendioxidmengen freigesetzt werden. Wenn man dafür zahlt, dass Bäume angepflanzt werden, kann man nicht sicher sein, dass sie dieses Kohlendioxid aufnehmen.

Wichtiger noch: 

1 Tonne Kohlendioxid, die wir heute einsparen, ist im Hinblick auf die Verhinderung des Klimawandels sehr viel wertvoller als 1 Tonne Kohlendioxid, die wir in zwanzig Jahren einsparen; die Gründe dafür habe ich in Kapitel 1 dargestellt. Aber keine der mir bekannten »Ablassfirmen« rechnet entsprechende Rabatte (als Ausdruck der Wertdifferenz zwischen Gegenwart und Zukunft) in ihre Kohlendioxid-Sparmaßnahmen ein, als wollten sie damit zeigen, wie wenig ihnen die tatsächlichen Auswirkungen bedeuten. Ich halte es deshalb für angemessen, sie alle der systematischen Falschbuchung zu beschuldigen, sogar dann, wenn das nicht mit Absicht geschieht. — 

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Die britische <Forestry Commission> stellt fest:

In der ersten Zeit nach dem Anpflanzen ist die Kohlendioxidaufnahme der Bäume relativ gering (und kann sogar negativ ausfallen, wenn gleichzeitig bei der Vorbereitung des Bodens und durch den Verlust der bisherigen Vegetation Kohlenstoff freigesetzt wird). Anschließend fortwährend des kräftigen Wachstums eine Phase relativ rascher Aufnahme, die sich einpendelt, wenn die Bäume ausgewachsen sind, und später fällt. 23)

Es kann an die sechzig Jahre dauern, bis Bäume ihre endgültige Größe erreicht haben.

Sogar die Projekte, die unsere Kohlendioxidemissionen auszugleichen versprechen, indem sie den Menschen in ärmeren Nationen zu besseren Öfen oder energie­effizienteren Glühbirnen verhelfen, zeigen erst nach einer gewissen Zeit Wirkung, denn ihre Berechnungen beziehen sich auf die jahrelange Differenz zwischen den Emissionen, welche die alten Modelle erzeugen würden, und den geringeren Emissionen der neuen Modelle. Bestenfalls verlegen solche Systeme lediglich den Punkt, an dem Emissionen eingespart werden, nach hinten. Schlimmstenfalls lassen sie uns glauben, dass wir weiterhin die Luft verschmutzen dürfen, so wie der Ablasshandel vor der Reformation die Leute glauben ließ, sie dürften ungestraft weitersündigen. Ich kann mir keine effektivere Möglichkeit vorstellen, um die harten Entscheidungen, die wir jetzt treffen müssen, in die Zukunft zu verschieben.

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Mein wichtigster Einwand ist dieser:  

Um unsere Kohlendioxidemissionen so stark zu reduzieren, wie ich es dargestellt habe, muss jeder sich einschränken, entweder jetzt schon oder (in den ärmeren Nationen) später. Wir können nicht wählen, ob wir auf Flugreisen verzichten oder ärmeren Menschen zu besseren Glühbirnen verhelfen wollen, sondern müssen beides tun. Der Ablasshandel mit Kohlenstoffkontingenten ist so, als würde man sein Essen auf dem Teller hin und her schieben, um den Eindruck zu erwecken, man habe es gegessen.

 

Ich habe zu zeigen versucht, dass die notwendige Reduktion der Kohlendioxidemissionen zwar schwierig, aber technisch und ökonomisch machbar ist. Ich habe nicht gezeigt, dass sie politisch möglich ist. Der Grund dafür: Das zu tun ist nicht meine Sache, sondern Ihre.

Diejenigen von uns, die sich jetzt schon dafür einsetzen, die Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren, können dieses Ziel nicht allein erreichen. Obwohl es hier um die größte Gefahr geht, die unsere Welt bedroht, sind wir erstaunlich wenige. Anscheinend ist es leichter, die Leute zu Protesten gegen das Absetzen ihrer Lieblingssendung, den Verlust der traditionellen Maße und Gewichte oder auch gegen Radarfallen oder Benzinpreis­erhöhungen zu bewegen als gegen eine so existenzielle Bedrohung wie den Klimawandel. Der Grund dafür liegt auf der Hand: In den zuerst genannten Fällen wird uns etwas aufgezwungen, im letzten Fall sind wir selbst die Handelnden. Im Kampf gegen den Klimawandel müssen wir nicht nur gegen Ölkonzerne, Fluggesellschaften und die Regierungen der reichen Welt kämpfen, sondern auch gegen uns selbst.

Das Problem ist nicht, dass es bei den internationalen Klimagesprächen keine nennenswerten Fortschritte gegeben hat. Das Problem ist, dass wir sie nicht gewollt haben. 

Es stimmt, dass die Regierungen der Vereinigten Staaten und Australiens alles in ihrer Macht Stehende getan haben, um einen Erfolg dieser Gespräche zu verhindern oder sogar zu vereiteln, dass sie überhaupt geführt wurden. 

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Es stimmt, dass diese Verhandlungen sich im Wesentlichen dadurch auszeichnen, dass immer irgendjemand anders den Schwarzen Peter zugeschoben bekommt. Die Regierungen der reichen Nationen klagen, dass es sinnlos ist, die eigenen Emissionen zu reduzieren, während sie in China und Indien weiter wachsen. Die Regierungen von China und Indien klagen, dass eine Begrenzung ihrer Emissionen Zeitverschwendung ist, wenn die reicheren Länder — mit ihren immer noch sehr viel größeren Pro-Kopf-Emissionen — nicht zu den notwendigen Einschränkungen bereit sind. Es stimmt auch, dass die Erdölkonzerne ihren enormen Reichtum nutzen, um alles zu kaufen, was sie brauchen, einschließlich eines Politikeranzugs, in dem der Politiker selbst noch steckt.

Aber wenn jene Regierungen, die ihr Engagement für den Kampf gegen den Klimawandel gezeigt haben, feststellen mussten, dass ihre Bemühungen ohne Erfolg blieben, dann hat das teilweise damit zu tun, dass sie es selbst so wollten. Sie wissen, dass es im Inneren ihrer Wähler eine leise, aber beharrliche Stimme gibt, die beides verlangt: den Versuch und den Misserfolg. Sie wissen, dass wir unser Leben ändern müssten, wenn sie unglücklicherweise erfolgreich wären. Sie wissen, dass wir uns Veränderungen im Leben eines jeden Menschen vorstellen können, nur nicht in unserem eigenen.

Also halten sie sich an das Drehbuch, an dem wir alle mitgeschrieben haben. In düsteren Reden sprechen sie über die Bedrohung des Planeten und die Notwendigkeit zu handeln. Sie erklären, das Thema sei so wichtig, dass es die üblichen politischen Differenzen außer Kraft setzt und einen partei­übergreifenden Konsens erfordert. Sie drängen alle zu gemeinsamem Handeln und zum Kampf gegen diese enorme Bedrohung. Und dann stellen sie tief enttäuscht fest, dass kein Fortschritt erzielt wurde, dass Fortschritte in der Tat sehr schwierig zu erzielen sind und dass die Entscheidung über das gemeinsame Vorgehen einmal mehr verschoben werden muss.

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Mein Recherche-Assistent Matthew Prescott hat mich darauf hingewiesen, dass sich die britische Regierungspolitik nicht im Inneren der Berichte und Bewertungen ihrer Kommissionen befindet; die Regierungspolitik ist identisch mit diesen Berichten und Bewertungen. Indem sie die Kommissionen mit endlosen Anfragen über das Problem und seine Lösungsmöglichkeiten beschäftigt, erweckt die Regierung den Eindruck, als würde etwas getan, während sie gleichzeitig verhindert, dass irgendetwas geschieht, bevor die nächste Bewertung (angefordert als Reaktion auf die Ergebnisse der letzten Bewertung) veröffentlicht wird. 

Ich habe ein Bild des britischen Premierministers vor Augen, wie er — bis zum Hals im Wasser stehend — im Unterhaus eine Rede hält und dabei erklärt, dass »im nächsten Weißbuch über Energieeffizienz ...«.

Die Regierungen bleiben weiter auf diesem Kurs der Inaktivität — ungeachtet der Auswirkungen auf die Menschen —, weil dieser Kurs geringere politische Kosten verursacht als jeder andere. Die Aufgabe der Klimaschützer besteht darin, diesen Kurs so teuer wie möglich zu machen. 

Zu diesem Zweck müssen wir uns von der Gewohnheit verabschieden, auf die wir uns alle in den letzten zehn Jahren zurückgezogen haben: die Vorstellung, dass irgendjemand diese Aufgabe für uns übernehmen würde.

Ich bin mir nicht ganz sicher, wie es dazu gekommen ist. 

Anfang der neunziger Jahre lagen die Aktivisten auf der Straße, saßen in den Bäumen und auf den Dächern der Ministerhäuser, unterbrachen Politiker­reden, kippten rote Farbe auf die Stufen von Downing Street und veranstalteten einen so gründlichen Wirbel, dass sie sich trotz aller Versuche der Politiker, sie mundtot zu machen, schließlich doch Gehör verschafften. 

Jetzt sitzen wir auf unseren breiter werdenden Hinterteilen und jammern darüber, dass alle anderen nur noch jammern und niemand mehr etwas tut.

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Zum Teil hat diese Entwicklung wahrscheinlich mit dem globalen ökonomischen Wachstum zu tun, das in der Zwischenzeit stattgefunden hat. Wir sind einfach zu bequem geworden und haben zu viel zu verlieren. 

Ein anderer Teil hängt damit zusammen, dass dieses Wachstum begleitet (und in gewissem Umfang angetrieben) wurde von einer Verschuldungs­welle, insbesondere bei den jungen Menschen, die früher mit an der Spitze der Bewegung standen. 

Schulden versetzen einen Menschen in helle Panik, die dafür sorgt, dass sein Blick in die Zukunft selten weiter als über die nächsten paar Wochen reicht.

Aber einen Teil der Verantwortung trägt meines Erachtens auch das Machtinstrument Internet.  

Natürlich ist es ungeheuer nützlich für den Informations­austausch, hilft uns bei der Suche nach den nötigen Fakten, warnt uns vor drohenden Gefahren und dergleichen mehr. Aber es erzeugt auch den falschen Eindruck von Aktivität. Es erlaubt uns die Illusion, dass wir die Welt verändern können, ohne von unseren Stühlen aufzustehen. Wir werden gehört! Unsere Stimmen lösen weltweite Resonanz aus, provozieren Kommentare und Debatten, inspirieren die einen und erzürnen die anderen. Etwas geschieht! Eine Bewegung entsteht!

Aber für sich genommen — das weiß ich aus leidvoller Erfahrung, — verändert sich durch Schreiben und Lesen, Debatten und Auseinander­setzungen gar nichts. Sie haben nur einen Wert, wenn sie zum Handeln anregen. Und Handeln bedeutet die Beine bewegen.  

Wenn dieses Buch in Ihnen nicht den Wunsch entstehen lässt, etwas zu tun, dann hat es sich als nutzlos erwiesen. 

Aber was können Sie tun? 

Auf den nächsten Seiten finden Sie eine Liste mit den Namen und Adressen von Organisationen, die sich bereits gegen den Klimawandel und seine Ursachen engagieren. 

Ich möchte, dass Sie sich ihnen anschließen. Ich möchte, dass Sie nur dann eine eigene Gruppe gründen, wenn sich zeigen sollte, dass diese Organisationen nutzlos sind. Ich habe schon häufig erlebt, wie Bewegungen durch Zersplitterung auseinanderfielen.  Ich möchte, dass Sie herausfinden, wie Sie sich in den bestehenden Organisationen am nützlichsten machen können. 

Und vor allem möchte ich, dass Sie einen gedanklichen Sprung machen, den Regierungen, Werbeagenturen, Zeitungen oder Lehrer nur selten von Ihnen verlangen. 

Denn die Kampagne gegen den Klimawandel ist eine seltsame Sache. Anders als fast alle vorausgegangenen öffentlichen Protestaktionen wird dabei nicht Überfluss, sondern Mangel gefordert. Es ist eine Kampagne, die nicht mehr Freiheit will, sondern weniger

Und der seltsamste Aspekt: Es ist eine Kampagne, die sich nicht nur gegen andere Leute richtet, sondern auch gegen uns selbst.

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Ende

 

 

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George Monbiot 2006 Heat Hitze Burning