Start    Weiter    Nachwort

1. Öffnungen und Durchblicke

 Verwirrung

Evas Initiative

19-34

Ich möchte zu Beginn die Geschichte einer Frau von Mitte dreißig erzählen, die mir geschrieben hat und die am Entstehen dieses Buches, vor allem des Kapitels I,5 beteiligt war, ohne dies eigentlich zu wissen. Ich erhielt zwar ihre Zustimmung, den Inhalt ihres Briefes zu verwenden, werde aber ihren Namen unerwähnt lassen. So habe ich beschlossen, sie Eva zu nennen.

Was ich über Evas Geschichte erfuhr, gleicht, zumindest anfänglich, den vielen Geschichten, von denen ich beinahe täglich erfahre: Mißhandlungen und Verwirrungen in der Kindheit neben Härte, Ignoranz und Gleichgültigkeit der Eltern, die diese Behandlung als gottesfürchtige Erziehung bezeichneten. 

Später Sucht, Selbstmordversuche, zwei gescheiterte Ehen, drei mißlungene Therapien, gelegentliche kurze Klinikauf­enthalte, neue Verwirrung durch Medikamente, Entziehungskuren, eine einzige Kette von Elend. Und mittendrin ein eigenes Kind, ein neues Opfer, denn diese Frau kann nicht Mutter sein, solange sie nicht für das verwahrloste, mißhandelte und ignorierte Kind, das sie selbst ist, Mutter geworden ist. Schließlich hat sie es, mit Hilfe einer aufdeckenden Therapie, geschafft, sowohl ihr eigenes Leben als auch ihre Mutterschaft, das heißt die Zukunft ihres Kindes, zu retten.

Darin unterscheidet sich ihre Geschichte von den vielen anderen, die ich zu lesen bekomme. Sie hat es geschafft, weil sie das, was ihr geschehen ist, aus der Verdrängung geholt hat, Schritt für Schritt, in einem langen Prozeß. Sie hat jahrelang daran gearbeitet und wird, wie sie schreibt, ihr Leben lang für weitere Aspekte ihrer Vergangenheit offenbleiben, die ihr bewußt werden können und die sie integrieren wird. Aber bereits diese ersten Jahre der Therapie haben ihr ermöglicht, sich von ihrer Sucht zu befreien, ihre Blindheit aufzugeben und sich und ihr Kind zu schützen. Sie will ihrer beider Leben nicht länger zerstören, und das kann ihr jetzt gelingen. Denn die Sucht war der Preis für die Illusionen, ohne die sie früher nicht leben zu können glaubte. Jetzt kann sie es.

Die Arbeit daran, ihre wahre Geschichte zu erkennen, war in den ersten Jahren deshalb so schwer, weil sie sich immer wieder weigerte zu glauben, daß Eltern fähig sind, aus Ignoranz gegenüber der eigenen Geschichte ihre Kinder permanent zu quälen, ohne daß jemand dies zu verhindern sucht. Aber ihr Körper, ihre Gefühle, ihre Träume hörten nicht auf, ihr von Fakten zu berichten — sobald sie sich mit der Wahrheit eingelassen hatte, sobald sie bereit war, diese Zeugnisse ernstzunehmen und ihnen nicht länger durch ihren Alkoholismus auszuweichen.

Ihr Erstaunen über die unerwartete Veränderung in ihrem Leben weckte in ihr den Wunsch, die Öffentlich­keit über das Wissen zu informieren, das ihr in dieser Therapie zuteil geworden war, denn es wurde ihr immer deutlicher, daß sie mit ihrem Schicksal nicht allein stand. Da Eva früher Journalistin gewesen war, dachte sie daran, Filme für das Fernsehen zu produzieren, die die Situation des mißhandelten Kindes aus dessen Perspektive sichtbar machen würden.

20


Sie hatte an das Interesse der zuständigen Leute in den Redaktionen geglaubt, weil sie von der Allgemein­gültig­keit des nun gewonnenen Wissens überzeugt war. Aber gerade darin liegt, nach meiner Erfahrung, die Schwierigkeit. Eva unterschätzte den Widerstand, die Verdrängung, die bei jedem einzelnen Menschen wirksam ist. Auch ich stoße bei meinen Kontakten mit verantwortlichen Vertretern der Medien immer wieder auf die Folgen dieser Verdrängung, sogar dann, wenn sie meine Beitrage ausdrücklich wünschen. (Vgl. Das verbannte Wissen, 1,5) Lieber verzichten sie auf Informationen, die für uns und für die kommenden Generationen von lebenserhaltender Bedeutung sind, als ein Wagnis einzugehen. Sie halten sich an überkommene, lebensfeindliche Meinungen, um ja nicht gezwungen zu sein, die eigenen Eltern in Frage zu stellen.

Mit dieser Tatsache hatte Eva nicht gerechnet. Sie hat zwar in ihrer Therapie erfahren, welche massiven Widerstände sie selbst der Einsicht in das zerstörerische Verhalten ihrer Eltern entgegengesetzt hatte. Lieber hätte sie die größten Anstrengungen auf sich genommen, meinte sie, als die unfaßbare Wahrheit über ihre Kindheit zu sehen und auszuhalten. Aber die Gewißheit, die Erfahrung, daß ihr Körper mit jedem Stück Wahrheit gesünder und suchtfreier wurde, das sie wagte, zu fühlen und ins Bewußt­sein gelangen zu lassen, führte dazu, daß sie ihre einstigen Widerstände beinahe vergaß. Dies verleitete sie dazu, an die Offenheit der anderen zu glauben. Sie wollte mit Hilfe ihrer eigenen Geschichte den Süchtigen sagen dürfen, daß es einen Ausweg gibt, daß sie sich nicht mehr zu zerstören brauchten, nur um blind zu bleiben. Denn das Wissen tötet nicht, sondern befreit.

21


Ihre Gespräche mit Vertretern der Medien, denen sie ihre Pläne mitteilte, zeigten ihr schnell, daß ihre Hoffnung eine Illusion war, wenn auch nicht eine der gefährlichen Illusionen über ihre Kindheit, die sie in die Sucht getrieben hatten. Denn jetzt, mit offenen Augen, konnte sie die Illusionen korrigieren, mußte sich nicht an Menschen halten, die sich gegen die Wahrheit sträubten. Später traf sie auch andere, die ihre Erfahrungen bestätigten. Aus den Redaktionen hörte sie z.B. oft, daß man das Thema der Kindes­mißhandlungen bereits vor einem Jahr behandelt. habe; daher müsse man wieder ein Jahr warten, man könne das gleiche Thema nicht "zu häufig" bringen. Eva glaubte zu träumen. 

Sie dachte:

"Es geht doch nicht um eines der vielen <Themen> wie etwa ein x-beliebiges Tennis-Finale oder die Erforschung der Pyramiden, die heute mit immensem technischem Aufwand betrieben wird. Weshalb wird nie darüber berichtet, daß in der Antike und im frühen Mittelalter die Hälfte aller Babys zu Ammen gegeben wurde, wo die Hälfte von ihnen starb, und daß die Ammen aus diesem Grund Engelmacherinnen genannt wurden? Warum ist die Pharaonenforschung so viel wichtiger als die Information, daß Kindermord von Beginn an zu unserer Kultur gehörte und daß wir von diesem Erbe noch lange nicht frei sind? Warum sind diese Informationen nur in wenigen Spezialuntersuchungen zu finden, aber nicht in den Medien? Weshalb nennen verantwortliche Politiker das Projekt einer professionellen Beratungsstelle für sexuell mißhandelte Frauen <größen­wahnsinnig>?  

22


Es geht doch um unsere Zukunft, um die Aufklärung über die Ursprünge des menschlichen Elends und die Überwindung mittelalterlichen Denkens, um die Aufhebung der Ignoranz, die dreißig Jahre meines eigenen Lebens zerstörte und die weiterhin andere zerstört. Genau das will ich doch verhindern. Kann es sein, daß so wenige Menschen daran interessiert sind? Ich fühle mich verantwortlich, mitverantwortlich, wenn ich dieser Zerstörung nicht entgegenwirke, obwohl ich die Wahrheit kenne. Kann man dies als eines der vielen <Themen> bezeichnen? Geht es nicht um die Grundlage unseres Daseins? Gehen wir nicht an unserer Ignoranz zugrunde? Ich will euch zeigen, daß euer Widerstand, das neue Wissen aufzu­nehmen, nicht eine harmlose Unterlassung ist, sondern eine Entscheidung für die Zerstörung des Bewußtseins und schließlich des Lebens, ob sie nun bewußt oder unbewußt getroffen wurde."

 

Ähnlich wie Eva geht es vermutlich anderen Menschen, die ich wissende Zeugen nenne, Menschen, die sich für die Wahrheit über die Kindheit einsetzen. (Vgl. Das verbannte Wissen, S. 214ff.) Eva wollte nicht so schnell aufgeben. Sie war sogar bereit, um einen ganz konkreten Einblick zu vermitteln, Teile ihrer eigenen Geschichte preiszugeben, um junge Menschen von der Sucht abzuhalten. Doch ihre Gesprächspartner in den Medien befürchteten, dies könne als Larmoyanz verstanden werden. Schließlich habe jeder etwas einstecken müssen, Selbstmitleid und Opferhaltung seien nicht gefragt.

Erinnert an die Sprache ihrer Eltern, verließ Eva schließlich die Redaktionsbüros. Sie nahm Kontakt auf mit der Organisation Eppoch (End Physical Punishment of Children), die ähnliche Ziele wie sie verfolgt und die sich in England für eine neue Gesetzgebung einsetzt, um das Bewußtsein, daß Kindesmißhandlungen ein schweres Verbrechen sind, zu wecken. Sie hat auch an mich geschrieben und mir vorgeschlagen, eine Bürgerinitiative in der Schweiz und in Deutschland zu gründen.

23


Meine Antwort auf ihren Brief ist dieses Buch. Ich bin überzeugt, daß die Bürgerinitiative und sonstige Bemühungen Evas und anderer Menschen weitergehen werden und daß niemand mehr, trotz aller Ignoranz, sie heute daran hindern kann, ihre Aufklärungs­arbeit fortzusetzen. Das vorliegende Buch ist auch ein Beweis dafür, daß man mit solchen Initiativen andere Menschen anregen kann, sich zu äußern und ihrerseits zu berichten.

Die Teile dieses Buches sind, obwohl sie unterschiedlichen Anlässen ihre Entstehung verdanken, sehr eng miteinander verbunden. Sie kreisen alle um die Thematik, die im vorangehenden Beispiel angedeutet ist: Der Mut zur Veränderung entsteht aus der bewußt gewordenen und verarbeiteten Wut über das, was lebenszerstörend war und ist.

Die unmittelbare Anregung zum Kapitel I,5 erfolgte durch die Zuschrift Evas, die sich darüber empörte, daß führende deutsche Zeitungen meine Enthüllungen über die verschwiegenen und verborgenen Verbrechen an Kindern mit Vorliebe als "larmoyant" etikettierten. Der Zorn dieser Leserin auf den "Schwachsinn der Presse", wie sie sich ausdrückte, machte mir bewußt, daß ich mich zu diesem Thema öffentlich äußern muß, indem ich auf mir bekannte Fakten zurückgreife, um meine Aussagen zu dokumentieren.

Es wurde mir klar, daß ich mich einer Verantwortung entziehe, solange ich auf Worte wie "Larmoyanz" gar nicht reagiere, nur, weil ich mir deren Ursprung ohne weiteres erklären kann. Natürlich kann ich einem Autor seine Ignoranz nachsehen, wenn ich ihn als geohrfeigtes Kind sehe und mir vorstellen kann, wie er zum Nichtfühlen und Nichtmerken erzogen wurde.

Aber als Mitglied der Gesellschaft, die unter anderem am Gebrauch solcher destruktiven Techniken zugrunde gehen kann, muß ich Stellung beziehen. Denn die Verhöhnung des menschlichen Mitgefühls gegenüber erlittener Grausamkeit kann andere einst geschlagene Kinder, die bereits anfangen zu fühlen und zu merken, davon abhalten, ihre Stimme zu erheben und über Erlebtes zu berichten. Sie verstärkt die Mauern des Schweigens, die doch so schnell wie möglich abgebrochen werden müssen.

 

24-25


  

Aus dem Gefängnis der Verwirrung

 

 

Die erste Erfahrung der Schweigemauer machte ich in meiner Kindheit. Meine Mutter pflegte mich tagelang anzuschweigen, um mir auf diese Weise ihre absolute Macht zu demonstrieren und meine Folgsamkeit zu erzwingen. Sie benötigte diese Macht, um ihre eigene Unsicherheit vor sich selbst und vor den anderen zu tarnen, aber auch, um sich der Beziehung mit ihrem Kind, das sie niemals wollte, zu entziehen. Die Bedürfnisse, Fragen, Angebote des kleinen Mädchens prallten an dieser Mauer ab, ohne daß meine Mutter sich für diesen Sadismus zu verantworten brauchte, denn sie definierte ihr Verhalten als eine gerechte, weil verdiente Strafe für begangene Vergehen, als ihre Pflicht, mir eine "Lektion" zu erteilen.

Es war schrecklich für dieses Kind, das lange keine Geschwister hatte, dessen Vater es nie in Schutz nahm und selten zu Hause war, das lange und konsequente Schweigen der Mutter auszuhalten. Aber noch quälender als das Schweigen selbst war die permanente, hoffnungslose Anstrengung des Kindes, den Grund seiner Qualen endlich herauszufinden. Ähnlich wie in Kafkas Strafkolonie wurde nämlich der kleinen Angeklagten ihr strafbares Vergehen überhaupt nicht erläutert.

26


Diese Unterlassung enthielt die Botschaft: Wenn du nicht einmal weißt, womit du die Strafe verdient hast, bist du ja ohne Gewissen. Suche, forsche, strenge dich an, bis dein Gewissen dir sagt, welche Schuld du auf dich geladen hast. Erst dann kannst du versuchen, dich zu entschuldigen, und je nach Laune der Machthaberin wird dir, wenn du Glück hast, vielleicht verziehen.

Habe ich gewußt, daß mein Leben in einem totalitären Regime begann? Wie hätte ich es wissen können? Ich habe nicht einmal gewußt, daß ich grausam und sadistisch behandelt wurde. Das hätte ich niemals zu denken gewagt. Eher zweifelte ich an der Richtigkeit meines Gefühls, ungerecht behandelt und mißachtet zu werden, als daß ich meine Mutter in Frage gestellt hätte. 

Zudem kannte ich keine anderen Mütter, konnte keine Vergleiche anstellen, und da sich meine Mutter ständig als aufopfernd und pflichtbewußt bezeichnete, wollte ich ihr all das glauben. Ich mußte ihr auch glauben, denn die Kenntnis der Wahrheit hätte mich umgebracht.

Also konnte nur meine Bosheit schuld daran gewesen sein, meinte ich, wenn Mama nicht mit mir sprach, meine Fragen unbe­antwortet ließ, meine Bitten um Erklärung ignorierte, meinen Blicken auswich und meine Liebe mit Kälte erwiderte. Wenn Mama mich haßt, muß ich doch hassenswert sein, denkt ein Kind.

Die Erinnerung an die Isolierung jener Tage, an die Einsamkeit des Kindes, das verzweifelt nach den Gründen der ihm auferlegten Strafe sucht, blieb beinahe sechzig Jahre lang in mir vollständig verdrängt. Das kleine Mädchen, das um jeden Preis die Absurditäten seiner Mutter verstehen wollte, um sein Schicksal endlich verändern zu können, um die Mutter, die es brauchte, endlich zum Sprechen zu bringen, habe ich damals verraten.

27


Ich habe es verraten müssen, weil niemand mir geholfen hat, die Wahrheit zu sehen und sie auszuhalten, weil niemand mir geholfen hat, Grausamkeiten zu verurteilen. Meine einsame Suche nach meiner Schuld setzte ich fort in den Labyrinthen der abstrakten Begriffe, die nicht so weh taten wie die nackten Fakten und die mir einen Ersatz für die vermißte Orientierung versprachen. Die Gefühle des kleinen Mädchens wurden verdrängt, bevor sie ins Bewußtsein dringen konnten, weil deren Intensität das Kind umgebracht hätte. Erst in den letzten Jahren, dank der Therapie, die mir die schrittweise Aufhebung der Verdrängung ermöglichte, konnte ich es mir leisten, die Schmerzen, die Verzweiflung und die ohnmächtige, berechtigte Wut des betrogenen Kindes zum erstenmal bewußt zu erleben. Erst dann wurde mir das ganze Ausmaß dieses Verbrechens an dem Kind, das ich einmal war, klar. Es ist mit keiner der Grausamkeiten zu vergleichen, die mir in meinem späteren Leben widerfuhren.

Dem Phänomen der Schweigemauer begegnete ich zwar auch später, als Erwachsene, aber ich war ihm niemals in diesem totalitären Sinn ausgeliefert. Ich konnte dieses Phänomen ausmachen, beurteilen, verurteilen, mußte mich nicht dadurch verwirren lassen, konnte mich gegen ungerechte Anschuldigungen wehren, die nötige Hilfe suchen, war nicht zur Blindheit verurteilt. Es kam immer wieder vor, daß ich auf Menschen stieß, die ihr Inneres mehr oder weniger verriegelt hatten und zu einem offenen Austausch von Gefühlen und Gedanken unfähig waren. Ich machte dann häufig die Erfahrung, daß sie ihre aus der Panzerung entstandene emotionale Unsicherheit mit Macht zu kompensieren suchten. Das Ausweichen vor Fakten, die Verschanzung mit Hilfe des Schweigens schienen ihr einziger Schutz zu sein.

28


Doch wenn ich an all diese Begegnungen mit der Schweigemauer zurückdenke, ob sie nun schmerzhaft, irritierend, empörend oder nur bedauernswert waren, keine von ihnen war so bedrohlich und so zerstörerisch wie das Schweigen meiner Mutter zur Zeit meiner totalen Abhängigkeit von ihr. Als Erwachsene konnte ich, falls es mir wichtig war, den Schweigenden mit Fragen und Fakten konfrontieren, sein Verhalten beobachten, meine Urteile überprüfen; oder aber ich konnte auf die Beziehung verzichten, weil ich Zugang zu anderen Menschen hatte, die mich nicht anschwiegen, die sich solche Rechte mir gegenüber nicht heraus­nahmen. Doch als Kind hatte ich diese Wahl nicht.

Ich konnte nicht sagen: Ich suche mir eine andere Mutter, eine offene Frau, die mich achtet, mit mir redet, die mir erklärt, was mit ihr los ist, die es weiß, weil sie bewußt lebt, die mich nicht ständig wie Luft behandelt. Als Kind hatte ich keine andere Möglichkeit, als mich anschweigen zu lassen, die Schuld bei mir zu suchen, blind für die Verlogenheit und Herrschsucht meiner Mutter zu werden — und dann später zu versuchen, den Verlust meiner Wahrheit mit philosophischen Spekulationen über die "Unerkenn­barkeit der Wahrheit" auszugleichen. Weil die Wahrheit der Fakten so brutal und so unfaßbar war, mußte ich sie leugnen. Für diesen Ausweg habe ich einen sehr hohen Preis bezahlen müssen, nämlich die Einschränkung meines vollen Bewußt­seins und die Besetzung durch Schuldgefühle.

29


Seitdem ich meine Wahrheit kenne, weiß ich, daß unzähligen Menschen ähnliches widerfahren ist, auch wenn sie die Fakten nicht oder noch nicht erinnern können. Einige können es offenbar doch, und Berichte über Kindesmißhandlungen häufen sich nun in der ganzen Welt. Die Berichterstatter erfahren zwar manchmal Bestätigung durch jene, die zwar selber bisher nicht gewagt haben zurückzuschauen, weil dies ihnen von allen Seiten ausgeredet wurde, und die erst jetzt durch diese Darstellungen ermutigt wurden, sich mit der Geschichte ihrer Kindheit zu konfrontieren. Doch sie stoßen häufig auch auf eine Mauer aus kaum faßbarer Ignoranz, die gerade in den Kreisen der Intellekt­uellen sehr schwer zu durchbrechen ist, weil diese sich mit Theorien gegen die Rückkehr des Verdrängten gewappnet und sich dahinter verbarrikadiert haben. Allerlei überkommene und bisher nicht entlarvte Lügen lassen sich zu Systemen und Lehrgebäuden stilisieren, die ungestört an Universitäten gelehrt werden können, solange die Studenten die Liquidation der Wahrheit schweigend und kritiklos tolerieren.

Es ist mir bekannt, daß Studenten, die sich in ihren Abschlußarbeiten mit dem Thema der Kindesmiß­hand­lungen befassen wollten, bei den Besprechungen vorwiegend entmutigende Erfahrungen mit ihren Professoren machen mußten. Die konsultierten Professoren wechselten rasch das Thema, wichen aus, wurden verlegen oder spöttisch und rieten in der Regel von der Wahl dieses Themas ab. Wenn die Studenten es trotzdem nicht aufgeben wollten, mußten sie u.U. mit Schikanen rechnen. Wie sie diese verkraften konnten, hing von ihrer eigenen persönlichen Entwicklung ab, die bei dieser Thematik eine sehr wichtige Rolle spielt und sich nicht in intellektueller Gewandtheit erschöpfen darf.

30


In einem Manuskript, das leider seit Jahren in einem Verlag auf eine Veröffentlichung wartet, beschrieb Lloyd de Mause das Schicksal eines brillanten Wissenschaftlers, dessen pionierhafte Arbeit über Kindheit in den USA in den letzten zwei Jahr­hunderten (vgl. Glenn Davis, Childhood and History in America, New York 1976) von der Fakultät und der Presse so verspottet wurde, daß dieser schließlich Selbstmord beging. Er war so verzweifelt, daß seine Belege von den Autoritäten, den Vaterfiguren, ignoriert wurden, daß er sich das Leben nahm. Hätte er seinen eigenen Vater in Frage stellen dürfen, wäre er in der Lage gewesen, die Angst der anderen zu durchschauen. Er hätte auf ihre Zustimmung verzichtet, ohne sich dann umbringen zu müssen. Doch in den fünfziger Jahren war dies noch schwerer, als es heute ist.

Solche und ähnliche Schikanen offenbaren die destruktive Rolle der Verdrängung im Leben des Erwachsenen und im Wirken vieler Intellektueller. Es ist kaum zu glauben, daß es in der ganzen Welt meines Wissens immer noch keine einzige Fakultät gibt, an der über Folgen von seelischen Verletzungen in der Kindheit geforscht und gelehrt würde. Ist diese Situation nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, daß fast jeder von uns Opfer von verborgenen oder manifesten Mißhandlungen war, die häufig harmlos "Erziehung" genannt wurden? Und daß jeder von uns Bände darüber erzählen könnte, wenn er die Schweigemauer in sich nicht tolerieren würde, wenn er zu fühlen wagte?

Allzu viele Menschen haben Grund, die quälenden Erlebnisse der Kindheit nicht erinnern zu wollen. Sie fürchten die Rache ihrer Eltern, wenn sie die Wahrheit zulassen sollten, und halten krampfhaft an dem Grundsatz fest, daß es angeblich nicht eine Wahrheit geben könne, sondern nur mehrere.

31


Die Wahrheit der Fakten scheint ihnen gar kein Begriff zu sein. Man fragt sich: Ist das möglich? Alles ist möglich, wenn man die Wahrheit der Fakten fürchtet, sie nicht sehen will und über ein Arsenal von Scheinbegriffen verfügt, von denen man sich täuschen und beruhigen läßt. Doch das dürfte andere nicht daran hindern, diese Täuschung zu durchschauen.

Spekulationen im Dienste der Verdrängung kennen keine Grenzen. Da sowohl die Täter als auch die Opfer an der Verdrängung interessiert sind, ohne zu wissen, welchen Preis sie dafür zahlen, werden vielleicht manche Philosophen in hundert Jahren Hypothesen aufstellen, ob es Hiroshima oder Auschwitz je gegeben habe. Wer aber die Erfahrung gemacht hat, daß die im Körper gespeicherte Wahrheit auffindbar und mit erstaunlicher Präzision überprüfbar ist, wird sich nie mehr mit Ausreden, Ausflüchten und Ersatz-"Wahrheiten" zufriedengeben.

Ausgestattet mit der Erfahrung meiner Wahrheit, schaue ich mir die bestehenden Schweigemauern an und beschreibe sie in meinen Büchern. Viele Menschen atmen erleichtert auf, sie fangen ebenfalls an, sich umzuschauen, und fragen zuerst zaghaft: Darf ich meinen Erinnerungen wirklich trauen, meinem Körper, meinen Sinnen? Muß ich wirklich nicht länger glauben und behaupten, daß schwarz weiß ist und weiß schwarz?

Seine Sinne und Gefühle nicht mehr betrügen zu müssen, sich von der Wahrheit der Fakten durch keine Ideologie abbringen zu lassen, heißt, bereits am Abbau der lebens­zerstörenden und menschen­verachtenden Schweigemauer mitzuwirken, die wir als Kinder zu respektieren lernen mußten und die immer wieder faschistisches Verhalten hervorgebracht hat.

32


Der Faschismus macht jedes Verbrechen möglich, weil er sich anmaßt, Leben zerstören zu dürfen, ohne Rechenschaft dafür ablegen zu müssen. Er erklärt, was nicht lebenswert ist, und vernichtet, was sich nicht anpaßt. Menschen, die als Kinder nur die Sprache der Gewalt gelernt haben, akzeptieren sie als die einzig normale, ob sie nun später zu Opfern oder Tätern dieses Systems werden. Doch es gibt immer mehr Jugendliche, die sich für das Leben einsetzen und nicht für die Zerstörung. Sie werden sich für die Wahrheit der Fakten und nicht für Ideologien entscheiden. Sie werden vor dem Drill, der Unterwerfung, der brutalen Anmaßung warnen, bevor es für alle Warnungen zu spät ist. Sie werden zerstörerische Töne sensibler wahrnehmen als mancher angeblich erfahrene Politiker, der die Lügen seiner brutalen und verlogenen Erziehung immer noch in hohen Ehren hält, weil sie ihm von einer langen Tradition als richtig und notwendig ausgegeben wurden.

Die Abschaffung der Schweigemauer, auf die das Thema der Kindesmißhandlungen stößt, markiert erst den Anfang einer längst fälligen Entwicklung. Sie schafft erst die Voraussetzungen für die Befreiung der Wahrheit aus dem Gefängnis der lebens­feindlichen Meinungen und akzeptierten Lügen. Doch zur Entfaltung der Wahrheit, zum Einsatz der Wahrheit im Dienste des Lebens bedarf es mehr als nur des statistischen Wissens um die Fakten. Es gibt z.B. Menschen, die ohne weiteres sagen können: Ich wurde in meiner Kindheit ständig verdroschen. Trotzdem sind sie von ihrer Wahrheit meilenweit entfernt, weil sie sie nicht fühlen können.

Es fehlt ihnen das Bewußtsein, das emotionale Wissen darüber, was es ihnen ausgemacht hat, als kleines, wehrloses Kind von wutentbrannten Erwachsenen gepackt und geschlagen zu werden. Sie sagen: "verdroschen", und damit identifizieren sie sich mit dem ahnungslosen, destruktiven, dreinschlagenden Erwachsenen, der das Kind mißachtet, vergewaltigt, zerstört, ohne dies wissen zu wollen, der sich nicht im geringsten um die Folgen dieser Verletzungen kümmern will.

Auch Adolf Hitler leugnete nicht, daß er geschlagen wurde. Er leugnete nur die erlittenen Verletzungen, er verleugnete durchwegs seine Gefühle und wurde deshalb zum millionen­fachen Mörder. Es wäre nicht dazu gekommen, wenn er seine Situation, seine Wahrheit der Fakten gefühlt und beweint hätte, wenn er seinen begründeten Haß auf die Verursacher seiner Not nicht verdrängt, sondern bewußt erlebt und verstanden hätte, statt diesen Haß in einer Ideologie zu pervertieren. Das gleiche gilt für Stalin, Ceausescu und all die anderen geschlagenen und gedemütigten Kinder, die später zu Tyrannen und Verbrechern wurden.

Die Rückkehr der Wahrheit kündigt sich erst da an, wo die Position gewechselt wird, wo das Wort "verdroschen" sich selbst denunziert als Zeugnis der Verachtung und Entwürdigung des Kindes. Erst wenn ein Mensch bereit ist, die Gefühle des geschlagenen Kindes, das er einst gewesen ist, zu fühlen und den Spott und Zynismus des Erwachsenen abzulehnen, und zu verurteilen, hat er die Schranke zur Wahrheit überwunden. Und dann kann er auch nicht mehr zur Gefahr für andere Menschen werden.

33-34

#   

 

  ^^^^

www.detopia.de