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  3.  Das Kind setzt Grenzen  

 

 

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Auf dem Boden der Pädagogik, die wir einst genossen haben, wird die unbegrenzte Machtausübung des Erwachsenen über das Kind immer noch als selbstverständlich angesehen. Die meisten Menschen kennen ja nichts anderes. Erst von einem Kind, das nicht verletzt wurde, können wir ganz neue, ehrliche und wirklich humane Verhaltensweisen lernen. Ein solches Kind nimmt pädagogische Argumente, die uns noch beeindruckten, nicht mehr fraglos hin. Es fühlt sich im Recht, Fragen zu stellen, Erklärungen zu verlangen, sich zu wehren und seine Bedürfnisse zu artikulieren. Eine junge Frau aus den Vereinigten Staaten erzählte mir folgendes:

»Ich brachte einmal meinen dreijährigen Daniel für zwei Tage zu meiner Mutter. Ich tat es nicht ohne Bedenken, denn ich wußte, daß meine Mutter mich in der Kindheit ständig erzogen hatte und großen Wert auf gute Manieren legte. Auf der andern Seite liebte sie Daniel sehr, und auch er hing an der Großmutter, weil sie ihm während ihrer Besuche bei uns gerne Geschichten vorlas. Doch als ich ihn bei ihr nach diesen zwei Tagen abholte, sagte Daniel im Auto: >Ich will Oma nicht mehr besuchen. < Auf meine erstaunte Frage warum, sagte er: >Sie hat mir weh getan. < Ich rief später meine Mutter an und fragte, was passiert sei. Sie erzählte mir, daß Daniel einmal geweint hätte, als sie ihm am Tisch erklären wollte, ein gut erzogener Junge dürfte sich nicht einfach bedienen, ohne >bitte< und >danke< zu sagen. Meine Mutter fand, daß ich

Daniel verwöhne, ihm sehr schlechte Manieren beibringe. Sie fühlte sich gezwungen, dies zu korrigieren, damit das Kind später nicht leiden muß, weil es auffällt und statt Liebe Verachtung und Unwillen von seiner Umgebung erntet. Sie war überzeugt, daß sie ihm helfen wollte, und merkte nicht, daß sie unter einem Zwang stand, der ihrer Kinderangst entsprang. Sie spürte nicht, daß sie dem Kind mit Liebesentzug drohte, wenn es nicht gehorchte. Und vor allem merkte sie nicht, wie sie es auch mit mir nicht gemerkt hatte, daß sie die Seele des Kindes leeren Konventionen opferte, in der gleichen Art, wie man es mit ihr vor sechzig Jahren getan hatte.

Doch Daniel merkte es. Er hätte es nicht sagen können, nicht in der Art, wie ich es jetzt tue, aber er hat es zum Ausdruck gebracht in der Art, wie es ihm möglich war. Dies erfuhr ich aus der genauen Schilderung der Fakten, die sich nach und nach aus der Erzählung meiner Mutter ergaben. Die Geschichte war denkbar einfach: Es gab das Lieblingsgericht von Daniel, Quarkauflauf. Als er mit der ihm ausgeschöpften Portion fertig war, griff er nach dem Schöpflöffel und wollte sich eine zweite Portion nehmen. Zu Hause tut er das auch, mit großem Stolz auf seine Selbständigkeit. Nun aber hielt ihn meine Mutter zurück, legte, wie sie mir berichtete, liebevoll ihre Hand auf die seine und sagte: >Du mußt zuerst fragen, ob du nehmen darfst und ob für andere noch genug da ist. < >Wo sind die anderen? < fragte Daniel und fing an zu weinen. Er schmiß den Löffel hin, wollte nicht mehr essen, obwohl ihn meine Mutter darum bat, er sagte, er wäre nicht mehr hungrig und möchte nach Hause. Meine Mutter versuchte, ihn zu beschwichtigen, aber er bekam einen richtigen Tobsuchtsanfall. Nach einigen Minuten hatte sich seine Wut erschöpft, und dann sagte er: »Du hast mir weh getan, ich mag dich nicht. Ich will zu Mami.< Nach einer Weile fragte er: >Warum hast du das getan? Ich kann schon selber schöpfen. < >Ja<, sagte meine Mutter, >aber du mußt zuerst fragen, ob du darfst. < >Warum?<,

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fragte Daniel. >Weil du gute Manieren lernen mußt. < >Wo2u?< fragte Daniel. >Weil man das braucht <, sagte meine Mutter. Daniel sagte dann ganz ruhig: >Das brauche ich nicht. Ich kann bei Mami essen, wenn ich Hunger habe.<«

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So kann ein gesundes dreijähriges Kind reagieren, wenn es zu Hause gelernt hat, daß es sich wehren darf, daß es ein Recht darauf hat, von seinen Eltern Essen zu bekommen, weil sie ihm das selbstverständlich schulden, seitdem sie beschlossen haben, ein Kind zu zeugen. Dieses Kind darf sich wehren, darf seinen Zorn zeigen, wenn man seine natürliche Bewegung blockiert und ihm Argumente dafür gibt, die es nicht versteht, nicht verstehen kann und gar nicht verstehen sollte, weil sie sinnlos sind und eigentlich nur aus der Geschichte der Großmutter verständlich. Wenn ein kleines Kind beobachtet, daß die Erwachsenen am Tisch »bitte« und »danke« sagen, wird es das automatisch auch tun, ohne daß man es dazu dressieren muß. Daß eine solche Dressur bei Daniel Wut auslöste, war sehr begreiflich. Er hatte die Möglichkeit, diese Wut auszudrücken, weil er vergleichen konnte: die Dressur der Großmutter mit den guten Erfahrungen, die er mit seinen Eltern hatte. 

Ich bekam diese Chance nicht. Ich erinnere mich, erst seit kurzem, daß meine Mutter mich täglich in dieser Art dressiert hatte, ohne daß ich je ein einziges Mal dagegen protestieren konnte. Wie hätte ich es wagen dürfen? 

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Ich war ihr ja vollständig ausgeliefert, ich konnte nicht sagen: »Wenn du mich so behandelst, möchte ich zu Mutti gehen«, denn sie war ja meine Mutter. Ich konnte auch gar nicht merken, was sie tat, weil ich nichts anderes kannte. An dieser kleinen Episode mit Daniel begriff ich zum wiederholten Mal, daß die Tragik meiner Kindheit nicht nur in der konstanten Auslieferung an die Erziehungskünste meiner Mutter bestand, nicht nur in der Angst, Widerstand zu leisten, sondern vor allem in der Unmöglichkeit zu realisieren, was vor sich ging. Als ich meine Bücher Am Anfang war Erziehung und Du sollst nicht merken betitelte, wußte ich noch nicht, wie sehr diese Titel meine Geschichte umschreiben.

Dem kleinen dreijährigen Jungen und vermutlich noch vielen anderen Kindern, die heute freier aufwachsen, war es möglich, die »vier Schritte« zu machen, die zum Kern der Stettbacherschen Therapie gehören: die Situation und Empfindungen schildern, Gefühle erleben und äußern, die Situation in Frage stellen, Bedürfnisse artikulieren. Da in diesem Ablauf eine natürliche Gesetzmäßigkeit der gesunden Selbstverteidigung eines Menschen vorliegt, könnte man sich fragen, weshalb diese Gesetzmäßigkeit so lange unentdeckt blieb. Es liegt im Wesen der kindlichen Verletzungen, daß sie diese natürliche, angeborene Fähigkeit zerstören. So muß diese Möglichkeit in der Therapie neu entdeckt werden, damit die vage Geschichte der

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Kindheit, mit all ihren groben und subtilen Mißhandlungen, im Bewußtsein des Erwachsenen klare Konturen bekommt und aufhört, ihn mit Schuldgefühlen zu blockieren. 

Von dieser Blockierung schien Daniel frei zu sein. Hätte er nicht die positiven Erfahrungen mit seinen Eltern, so hätte ihn die leiseste Berührung seiner Großmutter, die ihn am Nachfassen hinderte, vermutlich beschämt. Er hätte sich geschämt, etwas Falsches gemacht zu haben, keine guten Manieren zu haben, er hätte sich sogar über seinen Stolz auf seine Selbständigkeit geschämt. Denn gerade diese war offenbar nicht erwünscht, wenigstens nicht in dem Moment, als er sich Nahrung verschaffen wollte, also etwas ganz eminent Wichtiges für sich zu tun beabsichtigte. Er wurde zurückgehalten, verunsichert. Wäre er mit einem pädagogischen Hintergrund aufgewachsen, so hätte er diese Lehre für immer in seinem Gehirn und seinen Gliedern gespeichert: Ich darf nicht Freude am Essen haben, ich darf nicht meinen gesunden Appetit befriedigen, auch wenn genug Essen vorhanden ist. Ich muß zuerst Dinge tun, die mir unverständlich sind, ich muß mich einem unbegreiflichen Gesetz fügen, das mir den Appetit nimmt, mich in Spannung versetzt, mir Schuld- und Schamgefühle macht und dem ich ohnmächtig ausgeliefert bin. Lebenslängliche Verdauungsstörungen, verschiedene Eßzwänge, Mager- und Fettsucht, je nach der weiteren Entwicklung, können die Folge davon sein.

Ich will mit dieser Szene nicht ausdrücken, daß ein Mensch krank wird, wenn er nur einmal eine solche Situation erlebt hat. Wir haben ja gesehen, wie der dreijährige Daniel es gemeistert hat, sich davon nicht schädigen zu lassen. Es handelt sich hier nicht um eine schwere traumatische Erfahrung, und vermutlich wird diese Szene bei Daniel, der sich ja wehren konnte, keine Folgen hinterlassen. Aber wäre er nicht der Enkel, sondern das eigene Kind dieser Frau, dann gäbe es für ihn keinen anderen Ausweg, als sich diesen Manipulationen, die Erziehung genannt werden, zu fügen und neben Eßstörungen noch verschiedene andere Hemmungen seines Selbstbewußtseins zu entwickeln. 

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   4. Warum ich die Psychoanalyse auch als Therapiemethode ablehne  

 

 

Im Anschluß an mein Interview für die Zeitschrift »Psychologie heute« vom April 1987, in dem ich meine Abkehr von der Psychoanalyse erklärte, wurde ich mehrmals gefragt, ob ich nicht der Psychoanalyse die Mittel verdanke, die es mir ermöglichten, sie in Frage zu stellen. Auf diese Frage kann ich heute mit einem klaren »Nein« antworten. Noch im Vorwort zur ersten Ausgabe von Du sollst nicht merken war ich selbst diesem Irrtum erlegen. Doch die spätere Entwicklung zeigte mir unmißverständlich, daß die Psychoanalyse ein Irrgarten ist, aus dem es sehr schwer ist, einen Weg nach außen zu finden. Ohne die Scheinhilfe der Psychoanalyse, die das Wissen über das Geschehene abzuwehren hilft, hätte ich meinen Weg zur Wahrheit zweifellos früher gefunden.

Ich verdanke mein erstes Erwachen den spontanen Bildern, die ich im Jahr 1973 zu malen begann. Trotzdem wollte ich auch Jahre später, 1981, immer noch nicht klar genug wissen, daß es gerade die Psychoanalyse war, die mich von den in mir seit der Kindheit blockierten Gefühlen und so von der Wahrheit ferngehalten hatte. Dies entdeckte ich erst, nachdem ich mich dank der Methode Konrad Stettbachers meiner Kindheit systematisch Schritt für Schritt nähern konnte.

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Was mich am meisten bei dieser Methode überzeugt, ist ihre Offenheit für Kreativität, ihre Präzision, ihre Wirksamkeit, Überprüfbarkeit und ihr Respekt vor der Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes einzelnen Lebens und seiner Geschichte; ferner ihre Wahrhaftigkeit, das heißt ihre Freiheit von Erziehung, Dogmen und Ideologie. Da sie den Weg zur Realität ermöglicht und diese nicht fürchtet, ist sie frei von Lüge, von jeder Form von Verfilzung mit ihr, frei von Klischees, moralisierenden Normen, spirituellen Mystifizierungen und von irgendwelchen damit zusammenhängenden ideologischen Verbrämungen.

Hingegen lassen sich diese Elemente in der Psychoanalyse nachweisen, und ich habe diese Nachweise in meinen früheren Büchern geliefert. Heute sehe ich ein: Es war eine Illusion zu denken, daß sich die pädagogischen Relikte aus der Psychoanalyse entfernen ließen und sie dann zur Befreiung von Hilfesuchenden doch noch geeignet wäre. Es ist kein Zufall, daß die Psychoanalyse bisher keine Revision der ihr immanenten Pädagogik durchgeführt hat; sie kann es nicht, denn sobald ihr das pädagogische Gerüst genommen wird, fällt das ganze Gebäude wie ein Kartenhaus zusammen. 

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Es hat ja einst nur dazu gedient, die Traumen der Kindheit unkenntlich zu machen, wie will man nun mit seiner Hilfe den einst mißhandelten Kindern helfen? Dieses Unvermögen zeigt sich nicht nur in der Theorie, sondern sogar bis in alle Einzelheiten in der Technik, die zur Findung der Wahrheit unbrauchbar ist.

Auch wenn einzelne Analytiker den Wunsch haben, ihre Patienten nicht im Sinne ihrer Theorien und ihrer pädagogischen Moral zu manipulieren und sie bei der Entdeckung ihrer Geschichte zu begleiten, sie müssen scheitern, solange sie mit der Methode des freien Assoziierens arbeiten. Diese Methode, auch als Grundregel bezeichnet, verstärkt die intellektuelle Abwehr gegen die Gefühle und die Realität, denn solange man über Gefühle sprechen kann, kann man sie nicht wirklich fühlen. Und solange man nicht fühlt, bleiben die selbstschädigenden Blockierungen bestehen. 

Beide Grundregeln, sowohl das psychoanalytische Setting als auch die Methode des freien Assoziierens, setzen außerdem voraus, daß es auf der einen Seite einen überlegenen wissenden Deuter, den Analytiker, gibt und auf der anderen Seite den unwissenden Patienten, dem der Analytiker dessen Situation, dessen unbewußte Wünsche, Gedanken und Regungen erklärt. Damit er dies tun kann, muß der Patient ihm sein Unbewußtes mit Hilfe des freien Assoziierens gewissermaßen freilegen, verraten, bloßstellen (vgl. A. Miller 1981, S. 320/ 325). 

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Die autoritäre Struktur der Erziehung bleibt so in beiden Grundregeln unreflektiert erhalten. Auch die Eltern sagten dem Kind, aus ihrer Perspektive heraus, wie es sich fühlte, beziehungsweise zu fühlen hatte, und das Kind glaubte, daß sie es besser wußten als es selbst. 

Auf Grund dieses erzieherischen Musters, das mit Freudschen Konstrukten untrennbar gekoppelt ist, lernen die Lehranalysanden über Gefühle der Patienten zu diskutieren und »Bescheid zu wissen«, aber nicht selbst zu fühlen. Kein Wunder, daß sie selbst dies wiederum niemandem ermöglichen können. Der Patient spürt das und wird in der Regel nicht wagen, Gefühle zuzulassen (vgl. A. Miller 1979, S. 44f). Wagt er es trotzdem, weil er vielleicht Bücher las, die ihm den ersten Zugang zu seinen Schmerzen eröffneten, dann wird er in der psychoanalytischen Praxis schnell lernen, seine Not zu ordnen, sie mit abstrakten Worten zu benennen und zu manipulieren, damit er sich wieder »besser fühlen« kann. Er wird spüren, daß sich die Deuter der Seele von Gefühlen bedroht fühlen, weil sie in ihren Konstrukten nur deren Abwehr gelernt haben, und wird alles tun, um seine Ersatzeltern dieser Drohung nicht auszusetzen. Er wird sich auf ihre Methode des freien Assoziierens einstellen, mit ihnen über seine Gefühle sprechen und nicht wissen, daß er sich auf einen jahrzehntelangen Spaziergang in einem Irrgarten einläßt und die Chancen zu leben dabei verpaßt.

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Denn sein erstarrtes Leben kann erst erwachen, wenn die Konfrontation des Kindes mit den Verursachern seines Leidens beginnt; wenn der Patient aufhört zu philosophieren und sich zu fragen, warum seine Eltern ihm das oder jenes angetan haben, und statt dessen mit Hilfe zahlreicher Übertragungen aufzudecken beginnt, was im einzelnen sie getan haben; wenn er endlich seine verinnerlichten Eltern in der Therapie mit seinem Leid konfrontieren kann, wenn er bei jedem neuen Schmerz, der ihn an den alten erinnert, im konkreten Fall innerlich zu sagen versucht, was er fühlt, und die Situation prüft. Wie Daniel es getan hat. Was das nichtverletzte Kind mit seinen Bezugspersonen in der Realität austragen kann, muß der erwachsene, einst verletzte Mensch im Schutzraum der Therapie ausprobieren und lernen. Wie das im einzelnen geschieht, soll aus Stettbachers Darstellung seiner Methode ersichtlich werden.

Man kann die eigene Situation erst wirklich klären und die Ängste auflösen, wenn man sie. fühlen kann, nicht aber in Diskussionen darüber. Erst dann hebt sich der Schleier, und man realisiert, was man wirklich braucht: keine Bevormundung, keine Deuter, keine Verwirrer; man braucht den Raum zum eigenen Wachstum und die Begleitung eines wissenden Zeugen — auf der langen Reise, die man angetreten hat. 

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Wenn man selbst nie zu fühlen gelernt hat, weiß man nicht, daß und wie man dem anderen das Fühlen verunmöglicht. Es genügt zum Beispiel, daß man dem Patienten die Not seiner Eltern oder anderer Personen erklärt, damit all seine latenten Vorwürfe sofort zum Schweigen gebracht werden. Er hat sie nicht, er spürt sie nicht, er fühlt nur Mitleid mit den Verursachern seiner Not. Denn man kann nicht den Schmerz fühlen und gleichzeitig verstehen, warum er einem zugefügt wurde. Man fühlt ihn einfach nicht.

Ich brauchte Jahre, um von dieser »verstehenden« Haltung wegzukommen. Die aus der Psychoanalyse stammende Gewohnheit, mit freien Assoziationen zu arbeiten, war das größte Hindernis in meiner eigenen Therapie. Das freie Assoziieren ermöglichte mir immer wieder kluge, gedankliche Verbindungen herzustellen und damit einen vermeintlichen Überblick zu bekommen. Das half mir, der schmerzhaften Konfrontation mit meinen Eltern auszuweichen, und stopfte so alle Löcher, die mir einen Einblick in die Realität meiner Kindheit hätten geben können. Solange ich die Gefühle benennen konnte, behielt ich die Herrschaft über das Kind in mir und verunmöglichte ihm, seine Sprache zu finden, die Sprache der bisher nie benannten Empfindungen und Gefühle. Die Technik der vier Schritte half mir dies zu merken, weil ich feststellte, daß ich bezeichnenderweise häufig dazu tendierte, die ersten zwei Schritte zu überspringen.

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Nach langer Zeit schließlich konnte ich dem Kind in mir erlauben, seine Empfindungen und Gefühle zum Ausdruck zu bringen und sich genug Zeit dafür zu nehmen. Doch fühlen konnte es nur, wenn der erwachsene, erzogene Teil von mir dies geschehen ließ und es nicht durch Erklärungen und Assoziationen daran hinderte.

Diese Erfahrung half mir zu entdecken, daß Freud mit seiner Methode ein System des Selbstbetrugs geschaffen hat, das im Interesse der Verdrängung zuverlässig funktioniert. Wer die Wahrheit über sein Leben nicht kennen will, wird in der Psychoanalyse Hilfe finden. Es wird ihm auf jeden Fall geholfen, die alte Abwehr gegen die in der Kindheit erlittenen Verletzungen zu festigen und die Wahrheit über das Geschehene niemals herauszufinden.

Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, mit Hilfe von Gedanken Schmerz von sich fernzuhalten und die Realitäten des Lebens mit Hilfe einer scheinbar benennenden Sprache zu mißachten. Martin Heidegger machte gerade dies zum Ziel seiner Philosophie. Er berührte das von ihm einst schmerzlich Erfahrene und Geleugnete nur mit abstrakten Gedanken, die jedes Gefühl des Kindes ausschlössen, weil das Kind den Selbstbetrug erkannt hätte. 

Es gab für ihn keine Dualität von Leidenschaft und Denken, sondern nur das leiden-

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schaftliche Denken, das sich nicht auf die Wahrheit als Resultat des Denkprozesses hin bewegte, sondern bereits das Ziel an sich war. Um das klarzumachen, soll er einmal zu seinen Studenten gesagt haben, als er Aristoteles einführte: »Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb.« Mit anderen Worten sollte das heißen: Nur das Werk eines Philosophen zählt, nicht aber sein Leben. 

Noch vor einigen Jahren hätte ich vielleicht gedacht, man könne Heideggers Irrtum als harmlos und unwichtig betrachten, solange seine Philosophie nicht zur Verwirrung von Massen benutzt wird (vgl. A. Miller 1988a, Kap. 1). Aber ich bin mir dessen heute nicht mehr sicher, denn ich habe in der letzten Zeit Gegenbeweise dafür erhalten. Unter anderem Briefe von einigen Philosophinnen, die mir schrieben, daß sie durch meine Bücher zum ersten Mal begriffen haben, wie sie die Philosophie von der Wahrheit abgehalten hatte. Sie hat ihnen durch ihre komplizierten Gedankengänge geholfen, nicht zu sehen, daß sie mißhandelte Kinder gewesen waren. Trotz des Leidens, das nun aufbrach, sind sie froh, daß ihnen die Chance, ihr Leben zu leben, nicht vollständig entgangen ist, denn sie sind noch jung genug, um sie zu nutzen.

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Ein Kind kann sich sein Leben lang mit seinem »leidenschaftlichen Denken« über »das Wesen der Wahrheit« vor der tragischen, unerträglichen Wahrheit seines Lebens schützen, und solange seine Symptome nicht Alarm schlagen, hat es damit sein Bewenden. Doch die Psychoanalyse ist ein System, das ausgerechnet Menschen mit Symptomen als Ausweg aus der Not angeboten wird. Deshalb müssen diese Menschen darüber informiert werden, daß sie hier keine Lösung erwartet. Es erwartet sie im besten Fall ein Irrgarten mit gut gepflegten Wegen, aber ohne Ausgang in die Freiheit. Es ist ein Gefängnis, das aus Theorien eines Menschen gebaut wurde, der sich vor hundert Jahren in der gleichen Not befand wie die meisten Patienten heute. Er ist vor dem Einblick in die Leiden seiner Kindheit in den Garten der gedanklichen Konstruktionen geflohen und verlor zunächst die Symptome. Aber sie kamen wieder, trotz der immer größeren Anstrengung, das künstliche Gebäude aufrechtzuerhalten. 

Galileo Galilei erblindete, als er von der Kirche gezwungen wurde, die Wahrheit gegen sein besseres Wissen zu widerrufen. Sigmund Freud verbot sich selbst, die von ihm entdeckte Wahrheit auszusprechen. Er verriet sie, nachdem sein Vater gestorben war. Wenn ich lese, daß er später am Krebs des Mundbodens litt, daß er sich immer wieder Operationen aussetzen mußte und schließlich daran starb, dann muß ich mich fragen, ob sein Mundboden nicht doch noch für die Wahrheit rebellierte, von der Freud nichts mehr wissen wollte.

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Ich möchte diese Frage zwar nur als Hypothese verstanden wissen, die ich ohne den Betroffenen nicht prüfen kann. Aber es fällt mir auf, daß von den unzähligen Analytikern, die so gerne den abhängigen Patienten täglich Deutungen verabreichen, meines Wissens bisher keiner eine Deutung der Freudschen Erkrankung publiziert hat. Dürfen sich die Schüler nicht einmal fragen, weshalb eine verehrte Vaterfigur an Krebs erkrankt ist? Darf man Deutungen nur den abhängigen Personen, Kindern und Patienten, geben? Wird nicht damit eingestanden, daß Deutungen Waffen sind, die gegen Hilflose angewendet werden, nicht aber gegen die gefürchtete Autorität? Die Patienten werden mit allerlei Konstrukten des alten Mannes gefüttert und glauben, dies sei eine echte Nahrung. Sie glauben an alles, weil sie jemanden brauchen, der ihnen endlich zuhört. Und sie durchschauen den Mißbrauch nicht, weil jemand, der als Kind nichts anderes als Mißbrauch erfahren hat, diesen später nicht durchschauen kann (vgl. A. Miller 1981, S. 26-33).

Der Mensch, der die Wahrheit nicht mehr aussprechen durfte, schrieb statt dessen Bände von Büchern, deren Stil die Menschheit bewunderte und von deren Inhalten sie sich gründlich verwirren ließ (vgl. A. Miller 1988a, Kap. 7). Das »leidenschaftliche Denken« ist also keineswegs so harmlos, wie es den Anschein erweckt. Alles, was die Wahrheit unterdrückt, ist meiner Meinung nach destruktiv, auch wenn die Folgen erst viel später voll erkannt werden können.

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Wenn ich der Ansicht bin, daß es dem Therapeuten Konrad Stettbacher gelungen ist, einen Weg zum verletzten Kind im Erwachsenen zu finden, es mit Hilfe der Gefühle sprechen und erzählen zu lassen und dies zu konzeptualisieren, so will das nicht heißen, daß es nicht andere Methoden geben kann, die, aufgrund der gleichen, hier entdeckten Gesetzmäßigkeit, dieses Ziel erreichen lassen. Das wird sich zeigen, sobald Publikationen darüber vorliegen.

Doch eines steht fest: Da sich das verletzte Kind in uns nur vermittels der körperlichen Empfindungen und der Gefühle bezüglich seiner Traumen äußern kann, muß die Therapie den Zugang zu diesen Empfindungen und Gefühlen unbedingt sichern. Dieser Zugang bleibt indessen vollständig versperrt, wo man sich ähnlich wie innerhalb der Psychoanalyse — mit intellektuellen Spekulationen zufriedengibt. So sehr auch diese Spekulationen imponieren und in Mode sein mögen, über den Status von Selbsttäuschungen kommen sie nicht hinaus.

Die Berufung auf große Namen wie Freud, Jung, Adler oder andere, sowie die Anwendung ihrer gefühls­abwehrenden und die Wahrheit verhüllenden Theorien können unmöglich einem Therapeuten helfen, den Patienten auf Dauer von dessen Neurose zu befreien. Sie werden nur neue, gefühlsabwehrende und ahnungslose »Therapeuten« produzieren, die ahnungslos bleiben müssen, weil sie sich an Fiktionen klammern, das einst Gelernte nicht hinterfragen, sich vor der Wahrheit fürchten und Macht ausüben wollen.

Das Ziel der Therapie ist es, das einst verstummte Kind in uns reden und fühlen zu lassen. Allmählich wird die Verbannung seines Wissens aufgehoben, und im Laufe dieses Prozesses, mit dem Sichtbarwerden der einst erlittenen Qualen und der noch bestehenden Gefängnisse, entdeckt der Patient zugleich seine Geschichte,. sich selbst und seine verschüttete Liebesfähigkeit. Eine solche Therapie kann nur von einem (weiblichen oder männlichen) Therapeuten durchgeführt werden, der das Kind in sich und dessen Wissen nicht mehr in der Verbannung hält oder der sich zumindest auf dem Weg dorthin befindet — weil er um jeden Preis seine Wahrheit kennenlernen will.

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Ende

 

 

 

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