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Der Weg aus der Falle - Nachwort von Alice Miller 1988

Der Wortlaut des Artikels, dessen Veröffentlichung die in Kapitel 5 erwähnte deutsche Zeitschrift ablehnte,

wird hier abgedruckt, weil er als eine Zusammen­fassung einiger Gedanken dieses Buches dienlich sein kann.

 

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Immer wieder liest man in Zeitungen, es sei bereits statistisch erwiesen, daß die meisten Menschen, die ihre Kinder mißhandeln, selbst in der Kindheit mißhandelt wurden. Diese Information ist nicht ganz richtig, weil es nicht »die meisten« sind, sondern alle. Jeder Mensch, der seine Kinder mißhandelt, ist selbst in seiner Kindheit in irgendeiner Form schwer traumatisiert worden. 

Dieser Satz gilt ohne jede Ausnahme, weil es absolut unmöglich ist, daß ein Mensch, der in einer ehrlichen, respektvollen und zugewandten Umgebung aufgewachsen ist, jemals unter dem Zwang stünde, Schwächere zu quälen und lebenslänglich zu schädigen. Er hat einst erfahren, daß es richtig ist, dem kleinen, hilflosen Wesen Schutz und Orientierung zukommen zu lassen, und dieses in seinem Körper und seinem Gehirn früh gespeicherte Wissen wird für ihn lebenslänglich wirksam bleiben. 

Der oben formulierte Satz gilt ohne Ausnahme, obwohl sehr viele Menschen von den Qualen ihrer Kindheit kaum etwas erinnern können, weil sie gelernt haben, sie als berechtigte Strafe für ihre eigene Schlechtigkeit anzusehen und weil ein Kind schmerzhafte Ereignisse verdrängen muß, um zu überleben. Deshalb schreiben Soziologen, Psychologen und andere Fachleute trotz der neuen Erkenntnisse immer wieder, daß man nicht wisse, wie es zum Kindesmißbrauch käme, und sie spekulieren über den Einfluß enger Wohnverhältnisse, der Arbeitslosigkeit oder der Angst vor der Atombombe. 

Mit solchen Erklärungen schützen wir die Taten unserer Eltern. Denn es gibt keinen anderen Grund für Kindesmißhandlungen als die Verdrängung der eigenen erlittenen Mißhandlung und Verwirrung. Die engsten Wohnverhältnisse, die größte Armut zwingen einen Menschen niemals zu einer solchen Tat. Nur wer selbst Opfer solcher Taten war und sie in der Verdrängung beläßt, ist in Gefahr, seinerseits Leben zu zerstören.

Die sogenannten schwierigen, »unerträglichen« Kinder sind von Erwachsenen dazu gemacht worden. Nicht immer von den eigenen Eltern. Denn die Geburts- und Nachgeburtspraxis in vielen Kliniken liefert oft bereits einen erheblichen Beitrag dazu. Es gibt Eltern, die diese Traumen durch liebevolle Zuwendung ausgleichen können, weil sie sie ernstnehmen und deren Gefahr nicht leugnen. 

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Doch Eltern, die ihre eigenen schwersten Traumen in der Verdrängung halten, bagatellisieren häufig deren Gewicht bei ihren Kindern aus purem Unwissen und leiten unnötig eine neue Kette von Grausamkeit ein. Ihre Unempfindlichkeit für das Leiden des Kindes wird von der Gesellschaft voll unterstützt, weil die meisten Menschen, Fachleute nicht ausgenommen, diese Blindheit mit ihnen teilen.

Das einzige Mittel gegen die Ausbreitung einer Krankheit sind korrekte, gut dokumentierte Informationen über den Krankheitserreger. Mißhandelnde Eltern brauchen klare Informationen; sie spüren doch selbst dumpf, daß etwas nicht stimmt, wenn sie ihre Wut am wehrlosen Kind auslassen oder ihre sexuellen Wünsche bei ihm befriedigen. Statt dies ernstzunehmen, reden die Fachleute um den Brei herum, denn sie fürchten, die Eltern könnten Schuldgefühle bekommen, und dies dürfte ja, so meinen sie fälschlicherweise, auf keinen Fall geschehen.

Diese Meinung, man dürfe die Eltern niemals beschuldigen, was auch immer sie getan haben, hat sehr viel Unheil angerichtet. Denn wie sieht es in der Realität aus? Mit dem Zeugungsakt gehen die Eltern eine Verpflichtung ein, für das Kind zu sorgen, es zu beschützen, seine Bedürfnisse zu erfüllen und es nicht zu mißbrauchen. Wenn sie diese Schuld nicht abzahlen, bleiben sie dem Kind tatsächlich etwas schuldig, genauso wie sie der Bank etwas schuldig geblieben sind, wenn sie dort ein Darlehen aufge­nommen haben. Sie bleiben haftbar, unabhängig davon, ob ihnen die Folgen ihres Tuns klar sind oder nicht.

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Darf man ein Kind auf die Welt bringen und die Verpflichtungen vergessen? Das Kind ist kein Spielzeug, kein Kätzchen, sondern ein Bündel von Bedürfnissen, das sehr viel Zuwendung braucht, um seine Möglich­keiten zu entfalten. Wenn man nicht bereit ist, ihm das zu geben, muß man keine Kinder haben. Diese Worte mögen hart klingen für Menschen, die diese Zuwendung niemals erfahren haben und sie daher nie ihren Kindern geben konnten. Für diejenigen, die in ihrer Kindheit Schutz und Zärtlichkeit bekommen haben, die daher selbst nicht ausgehungerte Kinder sind, klingen sie nicht hart. Sie sind für sie die banalste Selbst­verständlichkeit.

Ein Kind zu schlagen, zu demütigen oder sexuell zu mißhandeln ist ein Verbrechen, weil es einen Menschen lebenslänglich schädigt. Es ist wichtig, daß dies auch Drittpersonen wissen, weil die Aufgeklärtheit und der Mut der Zeugen eine entscheidende, lebensrettende Bedeutung für ein Kind haben können. Aus der Tatsache, daß jeder Täter früher einmal selbst Opfer gewesen ist, folgt nämlich nicht, daß jeder Mensch, der selbst mißhandelt wurde, später notwendigerweise zum Mißhandler seiner Kinder wird. 

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Dies muß nicht unbedingt der Fall sein, wenn er in seiner Kindheit die Chance hatte, und sei es nur ein einziges Mal, einem Menschen zu begegnen, der ihm etwas anderes als Erziehung und Grausamkeit vermittelte: einem Lehrer, einer Tante, einer Nachbarin, einer Schwester, einem Bruder. Erst durch die Erfahrung des Geliebt- und Geschätztwerdens kann das Kind Grausamkeit als solche überhaupt ausmachen, sie wahrnehmen und sich gegen sie auflehnen. Ohne diese Erfahrung kann es gar nicht wissen, daß es etwas anderes als Grausamkeit in der Welt überhaupt geben kann, es wird sich ihr ohne weiteres unterwerfen und sie als die normalste Sache später ausüben, wenn es selbst als Erwachsener an der Macht ist.

Menschen, die Hitler geholfen haben, sein Werk auszuführen und ganze Völker auszurotten, mußten als Kinder ähnliches wie er erfahren haben: die ständige Präsenz der Gewalt. Daher war die Haltung des Führers für sie selbstverständlich. Sie wurde gar nicht in Frage gestellt, weil in der ganzen Kindheit offenbar kein einziger Mensch, kein einziger wissender, aufgeklärter Zeuge vorhanden war, der das Kind in Schutz genommen hätte. Ein solcher Zeuge hätte dem Kind unter Umständen geholfen, seine Wahrnehmungs­fähigkeit und seinen Charakter zu retten. 

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Um Grausamkeit zu erkennen, sie eindeutig abzulehnen, sie den eigenen Kindern ersparen zu wollen, muß man sie als solche überhaupt wahrnehmen. Streng und grausam erzogene Kinder durften das nicht, sie mußten für die Behandlung ihrer Eltern dankbar sein, ihnen alles verzeihen, die Ursache der Ausbrüche immer bei sich selbst suchen und durften auf keinen Fall die Eltern in Frage stellen.

Was geschieht, wenn ein in Liebe, Schutz, Ehrlichkeit aufgewachsenes Kind plötzlich von einem Menschen geschlagen wird? Es wird schreien, seinen Zorn ausdrücken, schließlich weinen, die Schmerzen zeigen und vermutlich fragen: Warum tust du mir das an? Nichts von alledem ist möglich, wenn ein von Anfang an zu Gehorsam dressiertes Kind von seinen eigenen Eltern, die es liebt, geschlagen wird. Es muß den Schmerz und den Zorn unterdrücken und die ganze Situation verdrängen, um zu überleben. Denn um Zorn zeigen zu können, braucht es das Vertrauen und die Erfahrung, daß es nicht dafür umgebracht wird. Ein geschlagenes Kind kann dieses Vertrauen nicht aufbauen; tatsächlich werden Kinder manchmal umgebracht, wenn sie es wagen, sich gegen das Unrecht aufzubäumen.

Das Kind muß also seine Wut unterdrücken, um in einer feindseligen Umgebung zu überleben. Auch den massiven, überwältigenden Schmerz muß es unterdrücken, um nicht daran zu sterben. Nun senkt sich also über alles die Stille des Vergessens, die Eltern werden idealisiert, sie haben nie einen Fehler begangen. »Und wenn sie mich geschlagen haben, dann habe ich das verdient.« Das ist die geläufige Version der überstandenen Folter.

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Vergessen und Verdrängen wären eine gute Lösung, wenn es dabei sein Bewenden hätte. Aber die verdrängten Schmerzen blockieren das Gefühlsleben und erzeugen körperliche Symptome. Und was das Schlimmste ist: die Gefühle des mißhandelten Kindes sind zwar zum Schweigen gebracht worden, da wo sie begründet waren, nämlich bei denen, die den Schmerz verursachten, aber sie melden sich zu Wort bei den eigenen Kindern. Es ist, als ob diese Menschen jahrzehntelang in einer Falle säßen, aus der keine Türe hinausführt, weil die Wut auf die eigenen Eltern in unserer Gesellschaft verboten ist. Doch mit der Geburt der eigenen Kinder öffnet sich eine Türe: Dort kann sich die seit Jahren aufgestaute Wut rücksichtslos entladen, unglücklicherweise an einem kleinen hilflosen Wesen, das man quälen muß, oft ohne es zu merken; man wird von einer unbekannten Macht dazu getrieben.

Die Tatsache, daß Eltern ihre Kinder oft in der gleichen Art mißhandeln oder vernachlässigen, wie ihre eigenen Eltern es mit ihnen taten, auch (und gerade dann!) wenn sie sich an diese Zeiten gar nicht mehr erinnern, zeigt, daß sie in ihrem Körper die eigenen Traumen gespeichert haben. Sonst könnten sie sie gar nicht reproduzieren. Sie tun es mit einer verblüffenden Präzision, die deutlich wird, sobald sie bereit sind, ihre eigene Hilflosigkeit zu fühlen, anstatt sie gegen eigene Kinder abzureagieren und ihre Macht zu mißbrauchen.

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Wie soll eine Mutter alleine diese Wahrheit herausfinden, wenn die Gesellschaft ihr eindeutig sagt: Kinder müssen diszipliniert, sozialisiert und zum Anstand erzogen werden? Wen kümmert es, daß der sogenannte »Mut zur Erziehung« von einer jahrzehnte­alten, früher nie gelebten Wut auf die eigene Mutter angetrieben wird? Die junge Frau will es auch nicht wissen. Sie denkt: Ich habe die Pflicht, mein Kind zu disziplinieren, und tue das in genau der gleichen oder in einer ähnlichen Art, wie meine Mutter es bei mir getan hat. Und es ist doch schließlich auch aus mir etwas Rechtes geworden, nicht wahr? Ich habe meine Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen, habe mich in der Kirchenarbeit und in der Friedensbewegung engagiert, habe mich immer gegen das Unrecht eingesetzt. Nur bei meinen Kindern konnte ich es nicht verhindern, daß ich sie schlagen mußte, obwohl ich das gar nicht wollte; aber es ging eben nicht anders. Ich hoffe, es hat ihnen nicht geschadet, genau wie es mir nicht geschadet hat.

Wir sind an solche Sätze so gewöhnt, daß sie den meisten gar nicht auffallen. Aber es gibt bereits einzelne Menschen, denen sie doch auffallen, Menschen, die sich entschlossen haben, die Worte der Erwachsenen von der Perspektive des Kindes aus zu hinterfragen, die dabei neue Entdeckungen machen und die die Klarheit nicht mehr fürchten. 

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Sie sehen: Die Zerstörung des Menschenlebens darf nicht als »ambivalente Elternliebe« bezeichnet werden, sondern muß als das, was sie ist, erkannt werden: als ein Verbrechen. Die Schuldgefühle der Eltern müssen nicht ausgeredet, sondern ernstgenommen werden. Sie sind ein Hinweis darauf, daß etwas den Eltern geschehen ist und daß sie Hilfe brauchen. Und diese Hilfe werden sie aufsuchen, wenn die bisher einzige offene Türe, die leider zu Kindesmißhandlungen führt, durch die Rechtslage endlich geschlossen wird. Dann müssen die Eltern eine andere Türe suchen: Sie müssen sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, um ohne Schuld aus ihrer emotionalen Falle herauszukommen.

Erst wenn das Kind nicht mehr als legaler Sündenbock zur Verfügung steht, wird dieser wirklich befreiende Prozeß den Eltern ermöglicht. Ein mißhandelnder Vater muß ja nicht mit Gefängnis bestraft werden. Es ist zum Beispiel eine gerichtliche Anordnung denkbar, die verfügt, daß ein Vater für einige Monate seine Familie verlassen und doch deren Unterhalt sichern muß. Wenn der Vater, plötzlich allein gelassen, sich mit den Gefühlen der eigenen Kindheit konfrontiert sieht und dann einem wissenden Zeugen (vielleicht in der Person eines gut informierten Sozialarbeiters) begegnet, der ihm hilft, seine damalige Situation nicht mehr zu verdrängen, dann wird dieser Vater nach seiner Rückkehr kaum in Gefahr sein, sein Kind zu mißhandeln.

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Und sein Kind wird die wichtige prägende Erfahrung machen, daß es nicht in einem Dschungel aufgewachsen ist, sondern in einer humanen Gesellschaft, die sein Recht auf Schutz wirklich ernstnimmt und respektiert.

Eine Gefängnisstrafe kann eine innere Wandlung nicht herbeiführen. Aber auch Therapeuten, die unter dem Motto »Helfen statt Strafen« der Wahrheit ausweichen, können ebensowenig helfen, die Haltung der Eltern zu verändern. Sie gehen sogar so weit zu sagen, daß ein Verbot der Mißhandlung nur eine neue Form der Gewalt wäre. Also müsse man Verbrechen nicht klar benennen, solange sie an eigenen Kindern begangen werden, sonst würden sich die Eltern gekränkt fühlen und sich schließlich noch auf Kosten des Kindes rächen. So äußern sich Vertreter der Ärzteschaft und des Kinderschutzbundes beinahe einstimmig.

Trotzdem sind sie im Irrtum, und aus ihren Argumenten spricht die Angst des einst bedrohten Kindes, das sich mit den Eltern arrangieren möchte und darum zum Schweigen und Nicht-Merken bereit ist. Die Realität gibt ihnen nicht recht. Die skandinavischen Länder haben bereits die Anzeigepflicht für Ärzte in ihrem Gesetz verankert, und der Bevölkerung ist es dank diesem Gesetz klargeworden, daß die Rechte der Kinder nicht mißachtet werden dürfen. 

Meine Erfahrung hat mich außerdem gelehrt, daß manche Eltern auf die Wahrheit besser reagieren als auf Beschwichtigung und daß sie von korrekten Informationen profitieren können. Denn jeder Mensch, der sich in einer Falle befindet, sucht einen Ausweg. Aber er ist im Grunde froh und dankbar, wenn man ihm einen Ausweg zeigt, der nicht in die Schuld und nicht zur Zerstörung eigener Kinder führt. 

Eltern sind in den meisten Fällen keine Ungeheuer, die man mit Sprüchen beschwichtigen muß, damit sie nicht schreien, sondern oft verzweifelte Kinder, die erst lernen müssen, Realitäten zu sehen und ihre Verantwortung wahrzunehmen. Sie konnten es als Kinder nicht lernen, weil ihre Eltern diese Verantwortung nicht kannten. Sie mißverstanden sie als ein Recht auf den Mißbrauch ihrer Macht. Nun liegt es an den jungen Eltern, diese »Lehren« als unbrauchbar zu erkennen und aus der Erfahrung mit ihren Kindern zu lernen. Doch dieser neue Prozeß kann nur stattfinden, wenn es auch für die Gesetzgebung eindeutig klar ist, daß Kindesmißhandlung einen Menschen lebenslänglich schädigt und daß dieser Schaden keineswegs durch das Nichtwissen des Täters vermindert wird. Nur durch die Aufdeckung der vollen Wahrheit bei allen Beteiligten kann eine wirklich effektive Lösung für die Gefahren von Kindesmißhandlungen gefunden werden.

Das Buch »Untertan Kind« von Carl-Heinz Mallet zeigt, wie Pädagogen seit Martin Luther die Eltern dazu aufgerufen haben, an Gottes Stelle ihre Kinder zu züchtigen und zu bestrafen. Die Lektüre dieses Buches kann den heutigen Eltern helfen, zu verstehen, weshalb sie sich in einer emotionalen Falle befinden und welchen Preis sie und ihre Kinder zu bezahlen haben, wenn sie sich an die überlieferten Werte der Erziehung halten.

Die Folgerung mag paradox klingen und ist dennoch korrekt: Der bisher legale Ausweg aus der Falle, die Züchtigung des Kindes, führt zum Verbrechen, und der bisher verbotene Weg des Merkens und der Kritik an den eigenen Eltern führt aus der Verschuldung heraus und zur Rettung unserer Kinder. Mallets Buch kann sehr hilfreich sein für Eltern, die meine Bücher nicht kennen und die hier zum ersten Mal mit Entsetzen feststellen werden, was ihnen einst zugefügt wurde und was sie in ihrer Blindheit weitergaben. Mit diesem Entsetzen aber öffnet sich bereits die Türe aus der zwanghaften Zerstörung des Lebens in die Freiheit und Verantwortung.

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