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2   Der wissende Zeuge

Alice Miller 1988

 

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Eine Leserin, die Philosophie unterrichtet, schrieb mir aus den Vereinigten Staaten:

»Ich habe Ihre drei Bücher gelesen und erst jetzt verstanden, weshalb meine beiden Analysen gescheitert sind. Seitdem bin ich auf der Suche nach einem Fachmann, der Ihre Bücher gut kennt und in seine Arbeit integriert hat, und habe eine Menge von Therapeuten, auch aus unserem Bekanntenkreis, interviewt. Alle kannten zwar Ihren Namen und schienen das <Drama des begabten Kindes> gelesen zu haben.

Was mich aber am meisten erstaunte, war, daß sie alle mit den gleichen Worten über Ihre Gedanken sprachen, als ob sie sich in einer Versammlung darüber geeinigt hätten, wie diese zu beurteilen wären. Dabei waren es Menschen, die einander kaum kannten. Sie sagten einmütig, daß Sie in Ihren Büchern nichts sagen, was nicht schon andere Analytiker, wie Kohut und Winnicott zum Beispiel, gesagt haben, aber daß Sie in Ihrer Vereinfachung <viel zu weit> gingen.

Als ich dagegen protestierte und zu erklären versuchte, weshalb mir erst Ihre Bücher halfen, meine Realität zu spüren, stieß ich auf eine starre Ablehnung, die ebenfalls keine individuellen Varianten aufwies. Als ich ganz spezifische Fragen aus <Du sollst nicht merken> aufzugreifen versuchte, erfuhr ich, daß die meisten der befragten Therapeuten Ihre Bücher zwar besaßen, aber noch keine Zeit gehabt hatten, sie zu lesen. Sie sprachen immer wieder von Ihrer Narzißmus-Theorie, die Sie ja seit dem <Drama> gar nicht mehr erwähnen, und waren der Meinung, daß Ihre Verdienste in der Tatsache liegen, die Psychoanalyse in der Öffentlichkeit bekannt gemacht zu haben. Es ärgerte mich jedesmal, daß mich die Selbstsicherheit meiner Gesprächspartner so einzuschüchtern vermochte und daß ich erst zu Hause meine Argumente fand, obwohl ich doch all die Bücher mehrmals gelesen hatte.

Nur bei einem der Therapeuten, der weniger starr und arrogant wirkte, versuchte ich zaghaft, meinen Standpunkt zu formulieren. Ich begann mit einer rein logischen Argumentation und machte geltend, daß ja beides nicht stimmen kann, daß man der gleichen Autorin nicht sagen kann, ihre Entdeckung sei längst bekannt, und zugleich behaupten, ihre Aussagen seien falsch. Entweder ist es eine Entdeckung oder es ist keine. Ich erhielt darauf keine Antwort, als ob dies gar nicht mehr wichtig gewesen wäre. Der junge Mann hinter dem Schreibtisch schaute mich plötzlich mit großen Augen an und sagte: >Aber Alice Miller beschuldigt die Eltern.< >Na und?< fragte ich. Ich erhielt keine Antwort, aber ich wagte im Moment nicht, weiter zu fragen. Es war mir, als spürte ich seine Angst, und ich wollte sie respektieren.

Kann es sein, daß diese Angst erklärt, weshalb ich keinen begleitenden Therapeuten finden kann? Aber wir alle hatten doch Eltern. Weshalb können ausgerechnet Therapeuten und Analytiker weniger aus Ihren Büchern profitieren als alle anderen Menschen? Sie reagieren unwillig auf die bloße Erwähnung der Kindesmißhandlungen und haben offensichtlich Angst, die Eltern in Frage zu stellen. Wie können sie mir beistehen, wenn ich spüre, daß ich genau diesen Weg gehen muß, den sie fürchten?

Die Gespräche endeten meistens so, daß man mir riet, zu einem >Anhänger< von Ihnen in Therapie zu gehen. Aber ich suche keine Anhänger, ich suche einen Therapeuten, der den von Ihnen gestellten Fragen nicht ausweicht, weil dies auch meine Fragen sind und weil ich sie auch in der ausweichenden Haltung der Therapeuten wiederfinde.«

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Ich erhielt eine Menge ähnlicher Briefe, mit vielen persönlichen Einzelheiten, und die meisten enden mit einer Frage nach Therapeuten, die meine Arbeiten integriert hätten. Der oben abgedruckte Brief zeigt, weshalb ich diese Bitten nicht erfüllen kann. Doch er zeigt auch, daß die Kritikfähigkeit der Patienten wächst und daß diese wachsende Kritikfähigkeit ihnen einmal helfen wird, den wirklichen Begleiter von dem vermeintlichen zu unterscheiden.

In Du sollst nicht merken habe ich an mehreren Stellen Kriterien genannt, die den suchenden Patienten helfen können, sich zu orientieren. Diese müssen aber im Einzelfall selbst prüfen, wieweit der seine Hilfe Anbietende die Wahrheit ertragen kann und wieweit er sich zum Begleiter eines ehemals mißhandelten Kindes eignet. 

Wenn ich die Meinung äußere, daß es vielen Menschen schwerfällt, meine Bücher zu verstehen, stoße ich häufig auf Erstaunen, und manche sagen: Wie kann man Ihre Bücher nicht verstehen? Sie halten sich an Tatsachen, die jeder aus seinem Alltag kennt und überprüfen kann. Sie räumen auf mit dem theoretischen Ballast, der den Blick auf die Wahrheit verdeckt. Ihre Bücher sind für viele Menschen Aha-Erlebnisse. Wie ist es möglich, daß jemand sie nicht versteht?

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Diese Frage stellte mir auch der bekannte Anthropologe Ashley Montagu. Für ihn sind meine Bücher klar und unmißverständlich, weil er selbst schon vor Jahrzehnten, dank seiner Forschungen in verschiedenen Kulturen, entdeckte, daß das Kind nicht böse auf die Welt kommt, sondern von seiner Umgebung zum bösen Menschen erzogen wird (A. Montagu 1982). Doch die meisten Menschen wissen das nicht, weil sie es nicht wissen dürfen. Und diese Menschen müssen meine Bücher mißverstehen. Sie haben von klein auf gelernt, daß sie sich für alles schuldig fühlen sollen, was ihnen die Umgebung antut, und wenn sie Studenten geworden sind, scheinen ihnen die Theorien über die angeborene Destruktivität des Menschen eine Selbstverständlichkeit. Sie glauben daran, weil diese Lehren früh in ihnen gespeichert wurden, und die Universität zementiert sie in ihnen mit den üblichen gesellschaftskonformen Theorien. 

Wenn sie dann meine Bücher lesen, bekommen sie eine Chance, das, was sie als Kinder in ihrer Erziehung und später an der Universität als Studenten gelernt haben, in Frage zu stellen. Doch mehr als diese Chance kann ich ihnen nicht geben. Wie sie sie nützen, wird vor allem davon abhängen, ob sie in ihrer Kindheit genug Freiraum hatten, um das Verhalten und die Meinungen ihrer Eltern in Frage zu stellen, oder ob dies gänzlich verboten war, weil die Eltern als unfehlbare, schuldlose Personen angesehen werden mußten. 

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In diesem letzten Fall bleiben die Türen zu einer späteren Hinterfragung der Eltern und der angelernten Meinungen manchmal für immer verschlossen, und die Lernfähigkeit dieser Menschen bleibt stark eingeschränkt. Das hat zur Folge, daß die gefährlichen Meinungen der Eltern über Disziplinierung und Erziehung ohne irgendwelche Skrupel an die eigenen Kinder weitergegeben werden. Wenn ich als hilfloses Kind mißbraucht wurde und dies nicht sehen darf, werde ich andere hilflose Wesen mißbrauchen, ohne zu realisieren, was ich tue. Ich werde es auch ablehnen, Bücher von Alice Miller zu lesen, oder ich werde sie nicht verstehen wollen, weil ich, wenn ich es täte, die Tragödie meiner Kindheit fühlen müßte und den Schmerz, in so frühem Alter irregeführt worden zu sein (vgl. S. 48 ff.). 

Einen anderen, leichteren Weg gibt es nicht. Man kann dem Kind gegenüber nicht gefühllos bleiben, wenn man diese Bücher gelesen und verstanden hat. Weder dem eigenen Kind noch sich selbst gegenüber. Aber dieses Erwachen der Sensibilität für das Leiden der Kindheit hat weitreichende Konsequenzen: Plötzlich ist es uns nicht mehr möglich, Grausamkeit, Perversion und Verbrechen als Erziehung zu unserem Besten anzuschauen, wir sind gezwungen, uns zu entscheiden und Verbrechen nicht mehr zu beschönigen.

Einige Menschen können das schon. Sie wollen nicht mehr dazu beitragen, daß die Wahrheit weiter zugedeckt wird. Sie arbeiten mit mißbrauchten

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Kindern, sie sehen, was Kindern täglich angetan wird, wie der Staat, die Schule und die Kirche Verbrechen schützen, ohne sie als solche zu erkennen. Wer sind diese einzelnen Menschen? Auch wenn sie, wie wir alle, die »Schwarze Pädagogik« erleiden mußten, müssen sie dennoch in ihrer Kindheit zumindest einem Menschen begegnet sein, der nicht grausam zu ihnen war, der ihnen auf diese Weise die Möglichkeit gab, die Grausamkeit ihrer Eltern überhaupt wahrzunehmen. Denn dazu bedarf es eines helfenden und damit eines korrigierenden Zeugen. Ein Kind, das nichts anderes als Grausamkeit kennt, dem ein solcher Zeuge fehlt, wird sie überhaupt nicht als solche erkennen. 

Was ich bisher sagte, klingt sehr pessimistisch, weil es die für die Zukunft der Menschheit gefährliche Ignoranz der Menschen auf die Verkümmerung ihrer emotionalen Lernfähigkeit in der Kindheit zurückführt. Was nützt das Schreiben, Reden, Informieren, könnte man denken, wenn so viele Menschen blind bleiben müssen? 

Ich meine, das kann sich ändern, und etwas wird sich bereits in der nächsten Generation verändern, wenn wir unsere Kinder nicht mehr dem Disziplin und Erziehung genannten Mißbrauch aussetzen. In Respekt aufgewachsene Kinder können es ihren Eltern ohne Gefahr sagen, wenn sie einmal spüren, daß sie von ihnen grausam behandelt werden. Doch für viele Erwachsene der heutigen Generation war das in der Kindheit absolut undenkbar.

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Die einst mißbrauchten Kinder konnten also niemals sagen »Wie schrecklich war meine Kindheit«, sondern sie sagten: »Das ist das Leben, das ist normal. So werde ich auch meine Kinder erziehen. Ich bin ja auch etwas Rechtes geworden.« Die frühe Zerstörung ihrer Lernfähigkeit trägt späte Früchte.

Muß man diese Erwachsenen aufgeben? Können diesen Menschen keine Informationen mehr helfen, weil sie in ihrer Kindheit dazu programmiert wurden, die ihnen zugefügte Grausamkeit und folglich den Kindesmißbrauch nicht wahrzunehmen? Ich glaube nicht. Meine Hoffnung verbindet sich mit meinem Konzept des wissenden Zeugen. Wenn es mir gelingt, in meinen Büchern einige Menschen zu erreichen, die das Glück hatten, in ihrer Kindheit einen helfenden Zeugen zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit, dann werden diese Menschen nach der Lektüre meiner Bücher zu wissenden, bewußten Zeugen und Anwälten der Kinder werden. Sie werden überall, wo sie leben, das Leiden der Kinder schneller und tiefer wahrnehmen als die anderen, die es leugnen müssen. Sie werden versuchen, den Mißbrauch des Kindes aufzudecken, der unbewußt geschieht und anderen als selbstverständlich erscheint. Damit werden sie das Bewußtsein der Öffentlichkeit verändern, und auch die härtesten Befürworter der Bestrafung werden nicht umhinkönnen, zu merken, daß vieles, was sie bisher als gut und richtig empfanden, lebenszerstörend ist. 

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Dazu ein Beispiel, das mir ein Kinderpsychotherapeut aus Nordkalifornien beschrieb:

Ein Mädchen hatte ihm erzählt, die Kinder würden in der Schule in kleine fensterlose Kammern eingesperrt, wenn sie den Unterricht störten. Er schrieb darüber einen Bericht und wurde von seiner Stelle als Schulberater entlassen. Er untersuchte genau die einzelnen Fälle und stellte fest, daß dieses Strafsystem auch an anderen Schulen praktiziert wurde. Es erschienen mehrere Artikel über diesen Fall, und zum ersten Mal wurde den Beteiligten klar, daß es sich hier um Kindesmißhandlungen handelte. Ich habe den Psychologen angerufen, um ihm zu seinem Mut zu gratulieren und ihm meine Solidarität auszusprechen, weil ich weiß, wie verunsichert und einsam man sich fühlen kann, wenn man spürt, daß man etwas Richtiges vertritt und trotzdem alle anderen dagegen sind. In einer Umgebung, in der alle sich darüber einig sind, daß das Kind durch Strafen etwas Gutes lernen kann, kommt man sich zuerst ver-rückt vor, wenn man das Gegenteil behauptet. Denn man hat ja immer noch die Worte der eigenen Eltern in den Ohren, denen man einst wie Göttern glaubte.

Zweifel stellen sich ein: Könnte es sein, daß man doch etwas Falsches behauptet, wenn unter so

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vielen Menschen niemand bereit ist, die Perspektive des Kindes zu teilen? — Und trotzdem kann es sein, daß all diese Menschen im Irrtum sind. 

Interventionen wie die beschriebene sind nicht ein Tropfen im Meer, sondern haben eine große Wirkungskraft. Die Presse nimmt das Ereignis auf, und so werden viele Menschen mit Fragen konfrontiert, denen sie bisher auswichen, unter anderem mit der Frage: Wie fühlt sich ein Kind, das zur Strafe eingesperrt wurde; was geschieht mit seiner Seele, wenn es die vom Lehrer produzierten Gefühle der Ohnmacht und Verzweiflung verdrängen muß, um wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, um dem Lehrer zu gefallen? Was hat es anderes von dieser Strafe gelernt, als sich zu verstellen, sich später, als Erwachsener, ebenfalls der Gewalt zu bedienen und sich an Kindern zu rächen?

Menschen, die nicht im Studium deformiert wurden, sind für solche Fragen viel zugänglicher. Ich habe einmal einen Taxichauffeur in London, einen Inder, in einem Gespräch gefragt, ob er seine Kinder schlage. Er sagte, er hätte seine Tochter nie geschlagen, nur den Jungen, weil dieser doch »ein Mann mit Charakter« werden müsse und dies nur mit Bestrafung erreicht werden könne. Ich fragte ihn, ob er auch geschlagen worden sei, und er bestätigte es. Ich fragte ihn, ob er noch wisse, was er mit Hilfe der Strafe gelernt hätte. Er wußte es nicht. Dann sagte er plötzlich: »Oder meinen Sie, man schlägt das eigene Kind, nur weil man selber geschlagen wurde?«

So einfach kann man eine Einsicht gewinnen, wenn man nicht jahrelang mit großem Zeit- und Geldaufwand in Schulen und an Universitäten das Gegenteil studierte und gleichzeitig keine Gelegenheit hatte, mit gesunden Kindern neue Erfahrungen zu machen. Aber wir sind doch auf dem Wege dazu, und was uns Kinder, die nicht gequält wurden, sagen können, ist so eindeutig und klar, daß es uns helfen müßte, die Lügen der etablierten Theorien zu durchschauen (vgl. A. Miller 1988 a, Kap. 7). 

Menschen, die von klein auf ernstgenommen, respektiert, geliebt und beschützt wurden, können gar nicht anders als das gleiche mit ihren Kindern tun, weil ihre Seele und ihr Körper diese Lehre früh aufgenommen und gespeichert haben. Sie haben von Anfang an erfahren, daß es richtig ist, das schwächere Wesen zu schützen und zu respektieren, und dies wird ihnen zu einer Selbstverständlichkeit. Sie werden keine Lehrbücher der Psychologie brauchen, um ihre Kinder zu erziehen. Aber Menschen, die heute über das Leben der Kinder bestimmen, Eltern, Lehrer, Juristen, haben noch andere Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht, und sie glauben, daß diese richtig waren. Sie können sich selten in Kinder einfühlen und können auch kein Gefühl für ihr eigenes Schicksal aufbringen. 

Erst durch das Auftauchen bewußter Zeugen und Anwälte der Kinder verschwindet ihre Sicherheit. Mit der Zeit müssen sie die falschen Theorien aufgeben und aus Erfahrungen lernen, wenn sie nicht von anderen Zeitgenossen überholt werden möchten. Ich meine, daß wir auf dem Wege sind, dieses Ziel zu erreichen, weil es in der Zukunft, dank der neuen Erkenntnisse, mehr Menschen mit einer humanen Kindheit geben wird. Daniels Geschichte, von der ich im nächsten Kapitel berichte, zeigt, worauf sich meine Hoffnung stützt (vgl. auch A. Miller 1988 a, Kap. 6 und 7).  

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