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2. Morden für die Unschuld der Eltern

 (Alice Miller 1988)

 

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Je eindeutiger ich in meinen Äußerungen werde, um so mehr lerne ich von den Reaktionen anderer. Manche Reaktionen fordern mich heraus und regen mich zum Weiterdenken und Präzisieren an. So erging es mir auch mit den häufig geäußerten Fragen nach der Unschuld der Eltern, die sich etwa so zusammen­fassen lassen: 

»Aber Sie meinen doch nicht, die Eltern seien schuldig, wenn sie ihr Kind aus Verzweiflung mißbrauchen? Sie haben doch selbst geschrieben, daß die Eltern unter dem Zwang stehen, die unbewußten Traumen ihrer Kindheit auf ihre eigenen Kinder zu übertragen, und deshalb ihre Kinder mißhandeln, vernachlässigen, sexuell mißbrauchen.«

Solche Argumente machten mir klar, daß ich jetzt einen Schritt tun muß, den ich in meinen ersten, Büchern noch nicht zu tun wagte. Ich gehe dabei von der ganz einfachen Erkenntnis aus, die eigentlich von niemandem bezweifelt werden kann und die lautet: Jeder, der menschliches Leben zerstört, macht sich schuldig. Diese Erkenntnis steht im Einklang mit unserer Gesetz­gebung, nach diesem Prinzip werden Menschen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, und niemand wird mir wider­sprechen, wenn ich dies als allgemeinen ethischen Grundsatz unserer Gesellschaft bezeichne. 

Auch wenn ich für »jeder« verschiedene berufliche Bezeichnungen einsetze, verliert dieser Satz nicht an Gültigkeit, außer vielleicht für die Berufe »General« und »Politiker«. Denn diesen Berufsgruppen wird es ohne weiteres zugebilligt, daß sie Menschen in den Tod schicken, ohne dafür die Verantwortung tragen zu müssen. Aber in Zeiten des Friedens ist es nicht erlaubt, Menschenleben zu zerstören, und dieses Verbrechen wird geahndet. Mit einer Ausnahme: Eltern dürfen das Leben ihrer Kinder straflos zerstören. Obwohl es sich um eine Zerstörung handelt, die sich in den meisten Fällen in der nächsten Generation wiederholt, ist sie durchaus nicht verboten, es ist nur verboten, dies als einen Skandal zu bezeichnen. 

Dieses Tabu hat mich lange daran gehindert, die Schuld der Eltern klar zu sehen und zu formulieren. Doch vor allem hatte ich Angst davor, auch meine Eltern in Frage stellen zu müssen, weil ich offenbar mein Leben lang das Gefühl fürchtete, das das Erlebnis meiner früheren Situation wecken würde: das Gefühl, von Eltern abhängig gewesen zu sein, die keine Ahnung von den Bedürfnissen des Kindes und von ihrer eigenen Verantwortung hatten. 

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Für alles, was sie taten und an mir versäumten, fand ich immer unzählige Erklärungen, um nicht fragen zu müssen: »Warum habt ihr mir das angetan? Warum hast du, Mutter, mich nicht beschützt, dich nicht um mich gekümmert, warum hast du meine Äußerungen ignoriert, warum waren dir deine Versionen von mir wichtiger als die Wahrheit, warum hast du dich nie bei mir entschuldigt, nie meine Wahrnehmungen bestätigt? Warum hast du mich für das beschuldigt und bestraft, was eindeutig du verursacht hast?«

 

All diese Fragen habe ich als Kind nie stellen können. Und später, im Erwachsenenleben, kannte ich ja die Antworten oder meinte sie zu kennen. Ich sagte mir: Meine Mutter hatte es als Kind schwer, hat alles verdrängt und ihre Eltern idealisiert, meine Mutter glaubte an die Erziehung, wie jeder damals an sie glaubte. Sie wußte nicht, wie ich litt, weil sie aus der eigenen Geschichte heraus gar keine Antennen für die kindliche Seele haben konnte und weil sie von der Gesellschaft in ihrer Meinung bestätigt wurde, das Kind müsse zum fügsamen Roboter erzogen werden, auf Kosten der Vernichtung seiner Seele. Kann man eine Frau beschuldigen, die nichts Besseres wußte? 

Heute würde ich sagen, daß man es nicht nur tun kann, sondern sogar muß, damit deutlich wird, was Kindern stündlich passiert, und damit auch die unglücklichen Mütter endlich einmal wahrnehmen dürfen, was ihnen in ihrer Kindheit zugefügt wurde. Denn die Angst, Eltern zu beschuldigen, verstärkt den Status quo: es bleibt bei der Ahnungslosigkeit und der Weitergabe kinderfeindlicher Haltungen. Dieser gefährliche Teufelskreis muß durchbrochen werden. Es sind ja gerade die unwissenden Eltern, die sich verschulden — den bewußten Eltern »passiert« es nicht.

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Ein Kind, das nicht verletzt, nicht mißbraucht wird, kann seiner Mutter sagen oder zeigen, wenn sie es wütend macht und ihm weh tut. Diese Möglichkeit hatte ich nicht. Ich hätte beim leisesten Widerstand die schlimmsten Strafen befürchten müssen, und ich mußte nicht nur schweigen, ich mußte die Erinnerungen verdrängen und meine Gefühle abtöten. 

All das bemerkte meine Mutter nicht, sie konnte ruhig weiter ihre Methoden anwenden, deren »Wirksamkeit« feststellen und sie daher für richtig und harmlos halten. Sie mußte meine Reaktionen nie fürchten. Von mir erwartete sie, daß ich ihr jede Ungerechtigkeit verzeihe und ihr nichts nachtrage. Ich fügte mich wie jedes Kind sich in meiner Situation gefügt hätte, es blieb mir nichts anderes übrig. 

Mein Vater wich der Auseinandersetzung mit meiner Mutter aus und hatte keinen Blick für das, was vor seinen Augen geschah. Er hat mich zwar nicht, wie es meine Mutter tat, leidenschaftlich erzogen, er gab mir in den seltenen Momenten seiner Gegenwart sogar etwas Wärme und Zärtlichkeit, aber er hat sich niemals für meine Rechte eingesetzt. Er hat mir nie das Gefühl gegeben, daß ich überhaupt irgendwelche Rechte hatte, er hat niemals meine Wahrnehmungen bestätigt und die Grausamkeit meiner Mutter zugegeben. 

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Das alles hätte ich meinem Vater als Kind nie sagen können, weil ich es gar nicht bewußt wahrgenommen habe. Wie hätte ich es mir leisten können zu merken, daß er seine Verant­wortung als Vater gar nicht wahrgenommen hat? Ich hatte ja nichts anderes als meine tröstliche Vorstellung, daß seine warme Hand mich vor allen Gefahren des Lebens beschützen würde; daß mir nichts geschehen könnte, solange ich an seiner Seite gehe und seine Hand die meine hält.

An dieser Vorstellung hielt ich jahrzehntelang fest, um nicht erkennen zu müssen, daß auch diese Hand nur eine Hand war, die mir zwar die gute Erinnerung einer Verbindung mit einem anderen Menschen, mit meinem Vater, der früh gestorben ist, hinterließ, aber mehr auch nicht. Denn hätte mein Vater den Mut gehabt, zu sehen, was mir geschah, und mich zu verteidigen, wäre mein ganzes Leben anders verlaufen. Ich hätte es dann gewagt, meinen Wahrnehmungen zu trauen, mich besser zu schützen und mich nicht, ähnlich wie von meiner Mutter, von ignoranten Menschen schädigen zu lassen. Ich hätte gewagt, auf die Sprache meiner neugeborenen Kinder mit meinem Instinkt zu reagieren, statt mich von »besserwissenden« Krankenschwestern einschüchtern zu lassen, wenn ich als Kind die Chance gehabt hätte, meine Gefühle zu leben, sie nicht zu unterdrücken, sie auszusprechen und meine Rechte wahrzunehmen.

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Es gibt Menschen, die auf solche Erkenntnisse mit dem Satz reagieren: Jeder Mensch hat seinen eigenen Charakter, man kann den Eltern ihre Eigenarten nicht vorwerfen und sie für alles verantwortlich machen, was dem Kind versagt blieb. 

Was ich geschildert habe, hat jedoch nichts mit individuellen Charakter­zügen zu tun. Es handelt sich hier vielmehr um eine allgemeine Haltung dem Kind gegenüber, die sich einzig und allein aus der Verdrängung des eigenen Kindheitsleidens erklärt und die durchaus veränderbar ist. Denn jeder Mensch hat die Freiheit, die eigene Verdrängung aufzuheben und Informationen aufzunehmen: Informationen über die Bedürfnisse des kleinen Kindes, über dessen Gefühlsleben und über die Gefahren, die die Abtötung der kindlichen Gefühle in sich birgt.

Die Frage der Schuld ist also nicht zu umgehen, und ich möchte mich dieser Frage ausdrücklich stellen, der Klärung nicht länger ausweichen. Diese Klärung ist zwar längst fällig, aber möglicherweise heute erst möglich, weil es erst heute junge Menschen gibt, deren Kindheit positiver verlaufen ist und die infolge­dessen keine Angst zu haben brauchen, ihre Eltern in Frage zu stellen.

Wenn ich jetzt in meinen ersten Büchern blättere, fällt mir auf, wie ich dort immer wieder dem Vorwurf entgehen wollte, ich würde Eltern beschuldigen. Immer wieder wies ich darauf hin, daß man dem Patienten das volle Recht einräumen müsse, seine Gefühle von Empörung, Zorn und Wut gegen seine Eltern zu erleben und auszudrücken.

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Aber ich fügte gleichzeitig hinzu, daß ich diesen Eltern keine Vorwürfe machen kann, weil sie nicht mich erzogen, manipuliert und am Leben gehindert haben. Sie taten es ja nur mit ihrem eigenen Kind. Das sehe ich heute anders. Auch heute geht es mir nicht darum, fremden Eltern Vorwürfe zu machen, aber ich scheue mich nicht mehr, den Gedanken zu haben und ihn auch auszusprechen, daß die Eltern sich an ihren Kindern verschulden, obwohl sie aus einem inneren Zwang und aus ihrer tragischen Vergangenheit heraus handeln.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Mörder und Verbrecher gibt, die nicht aus einem inneren Zwang heraus handeln. Trotzdem sind sie schuldig, wenn sie Menschenleben zerstören oder verstümmeln. Die Rechtsprechung kennt zwar sogenannte mildernde Umstände, wenn dem Täter Unzurechnungsfähigkeit zugebilligt werden kann. Aber die Motivation des Täters und seine persönliche Not ändern nichts an der Tatsache, daß ein Menschenleben oder mehrere für seine Situation geopfert werden mußten. Im Unterschied zu der Gerichtspraxis bin ich der Meinung, daß jeder Mord, der nicht unmittelbar aus Notwehr, sondern an unschuldigen Ersatzobjekten verübt wird, der Ausdruck eines inneren Zwanges ist, eines Zwanges, schwere Mißhandlungen, Verwahrlosungen und Verwirrungen der Kindheit zu rächen und die dazugehörenden Gefühle in der Verdrängung zu belassen.

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Auch hinter der kalten Berechnung eines Mörders stehen solche Zwänge. Das läßt sich an einem Beispiel illustrieren:

Im Jahre 1984 wurde ich vom National Public Radio in Washington um ein Interview gebeten. Die Journalistin las vorher meine Bücher, kam gut vorbereitet und schien alles, was ich sagte, gut verstanden zu haben. Schwierigkeiten hatte sie nur mit meiner Aussage, daß niemand einen Mord begehen wird, wenn er fühlen darf, was ihm in der Kindheit zugefügt wurde. Doch gerade die Menschen, die in Gefängnissen sitzen, sagte ich, durften ihre Geschichte der Kindheit niemals erleben, weil sie so bedrohlich war und weil sie niemanden fanden, der ihnen dabei hätte beistehen können. 

Der Lebensbericht von Jürgen Bartsch, aus dem ich in Am Anfang war Erziehung zitierte, war ja nur möglich, weil der Journalist Paul Moor sich Bartsch näherte, sein Vertrauen gewann und in ihm die Gefühle des verletzten Kindes zum Aufleben brachte. In allen ähnlichen Fällen kann der Mörder zwar die Fakten erinnern, kann sie sogar beschreiben und Bücher über die Mißhandlungen seiner Kindheit publizieren, aber er tut es ohne Gefühle, ohne innere Beteiligung, als ob es sich um einen anderen, fremden Menschen handeln würde.

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Gerade deshalb steht er weiter unter dem Zwang, ein neues Opfer für seine unterdrückte, latente und unverändert gebliebene Wut zu suchen. Auch die längste Gefängnisstrafe ändert nichts an dieser inneren Dynamik, weil der Zwang aus der Kindheit stammt und sogar 60 Jahre ohne weiteres überdauern kann, wenn nicht eine Begegnung mit einem Menschen stattfindet, der die eingefrorenen Gefühle zum Leben erweckt und damit hilft, den langdauernden Zwang zumindest teilweise aufzulösen.

Ich habe dieser amerikanischen Journalistin gesagt, man könne meine These nachprüfen, indem man mit Gefangenen spricht und sich nach ihrer Kindheit erkundigt. Vermutlich werden sie ausnahmslos berichten, daß der Vater zwar streng war und sie oft bestrafen mußte, selbstverständlich mit Schlägen, aber nur, weil sie böse waren und es verdient hätten. Die Mutter dagegen werden sie meistens als liebevoll schildern und äußere Umstände wie zum Beispiel Armut als Gründe für die erfahrene Grausamkeit anführen.

Obwohl die Journalistin Mühe hatte, den Mechanismus der Verleugnung als Erklärung für Verbrechen zu akzeptieren, berichtete sie, daß die Statistiken meine Ausführungen bereits bestätigen. Danach sind 90 % der Insassen von amerikanischen Gefängnissen als Kind mißhandelt worden. Ich sagte ihr, ich sei davon überzeugt, daß es nicht 90, sondern volle 100 % sind. 

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Die restlichen 10 % können es nur noch nicht wahrhaben, sie verdrängen nicht nur die Gefühle, sondern leugnen auch, die Fakten. Es kann natürlich sein, daß die ersten Mißhandlungen gar nicht durch die Eltern, sondern durch die inhumane Geburtspraxis in unseren Kranken­häusern stattfanden. Das läßt sich in einzelnen Fällen schwer ausmachen, und ein bei der Geburt schwer traumatisiertes oder im Brutkasten von menschlichen Kontakten isoliertes Kind kann sehr früh Symptome entwickeln, die es ihm noch mehr erschweren, die Liebe seiner Eltern zu bekommen. Aber es ist absolut undenkbar, daß ein Mensch, der von Anfang an Liebe, Zärtlichkeit, Nähe, Orientierung, Respekt, Ehrlichkeit und Schutz von Erwachsenen erhält, später zum Mörder wird.

»Kann es sein, daß die Erklärung wirklich so einfach ist?« fragte meine Gesprächspartnerin. Sie ist sehr einfach, und doch tun sich die meisten Menschen schwer damit, weil der Zugang zu dieser einfachen Wahrheit durch Schmerzen, die man in der eigenen Kindheit erlitten hat, versperrt bleibt. So zieht man es vor, an Theorien zu glauben, die sehr kompliziert klingen, aber den Vorteil haben, daß sie uns Schmerzen ersparen. Dafür bleiben Millionen von Gefangenen ohne Hilfe. Sie sitzen ihre Strafe sinnlos ab, ohne daß sich etwas in ihnen ändert, und so wird eine Maschinerie in Gang gehalten, die unter anderem dazu dient, daß die Schuld, die die Eltern dieser Gefangenen auf sich geladen haben, unentdeckt bleibt.

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»Wie ist es aber«, wollte die Journalistin wissen, »wenn ein Mensch in der Therapie entdeckt, was ihm seine Eltern angetan haben? Kann es nicht sein, daß er seine Eltern dann umbringen möchte? Daß ihn also das erwachte Gefühl nicht gegen den Mord schützt?« Nein, meinte ich, es kann sein, daß dieser Mensch es tun möchte, aber er wird es nicht tun. Zunächst einmal weil er durch die erwachten Gefühle auch das Erwachen des Lebens in sich spürt und dieses nicht aufs Spiel setzen möchte. 

Aber es gibt auch noch einen anderen Grund: Gefühle, die mit Erlebnissen in der Kindheit in Zusammenhang gebracht werden können, unterliegen dem Gesetz der Verwandlung. Sie verändern sich mit der Zeit und machen neuen Gefühlen Platz. Der Zorn auf die Eltern bleibt unverändert, solange man ihn nicht fühlen kann, weil man sich vor diesem Zorn fürchtet, sich dafür beschuldigt und Angst vor der Rache der Eltern hat. Ist diese Angst einmal mit allen Begleitumständen erlebt und sind die Verknüpfungen verstanden worden, ist man nicht mehr länger bereit, sich für etwas schuldig zu fühlen, was andere getan haben. Diese Befreiung reduziert den Haß.

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Es war mir bei unserem Abschied nicht ganz klar, ob meine Zuhörerin in meinen Ausführungen die Antwort gefunden hatte, die sie suchte, aber die fertige Kassette, die sie mir schickte, zeigte, daß sie mich richtig verstanden hatte (vgl. Wendy Blair, Children at Risk, National Public Radio, Washington 1985). In das Gespräch, das wir geführt hatten, hatte sie Interviews mit Opfern von Mißhandlungen und ein Interview mit einem Mörder, das sich seit Jahren in den Archiven ihrer Radiostation befand, eingeschoben. Es handelte sich um einen Mann, der 560 Frauen umgebracht hatte. Es war schon damals dem Journalisten, der ihn interviewte, aufgefallen, daß dieser Mann ohne Gefühlsbeteiligung von seinen Morden erzählte, aber die Bedeutung dieser Gefühllosigkeit ist ihm erst durch meine Ausführungen verständlich geworden. 

In seinen Antworten auf die Fragen berichtete der Mörder, daß seine Mutter eine Prostituierte gewesen war und ihn schlug, »sobald er ihren Weg kreuzte«. Einige Male hätte sie ihn fast umgebracht. Sie wollte keinen Jungen haben, sondern ein Mädchen, und er mußte bis zu seinem siebten Lebensjahr Mädchenkleider und lange Haare tragen. Als die Lehrerin ihm die Haare abschnitt, hätte seine Mutter sie fast totgeschlagen vor Wut. Was er bei den Morden empfunden hätte? Gar nichts, sagte der Gefangene. Er ging jeden Morgen aus dem Haus, um eine Frau umzubringen, ganz so, wie ein anderer zur Arbeit geht. Könnte es sein, daß die schwere Kindheit mit diesen Morden etwas zu tun hat, wollte der Journalist wissen: »O nein«, antwortete der Gefangene aus voller Überzeugung und zum ersten Mal mit einer Spur von Gefühl, »ich kann nicht meine Mutter für das anklagen, was ich getan habe.«

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Dieser Mann hatte seine Vergangenheit so gründlich verdrängt, daß er sogar nie in seinem Leben einen Traum gehabt hat. Mit 14 Jahren tötete er zum ersten Mal ein gleichaltriges Mädchen. Vermutlich wollte er das Mädchen vernichten, das seine Mutter sich an seiner Stelle gewünscht hatte. Er mordete aus der einfachen und begreiflichen Verzweiflung heraus, daß er unter keinen Umständen die Liebe seiner Mutter gewinnen konnte, weil er ein Junge und kein Mädchen war. Hätte sie etwas anderes von ihm erwartet, vielleicht hätte er es fertiggebracht, ihren Wünschen zu entsprechen, aber diese Chance hat ihm sein Leben nicht gegeben. 

Ein Kind tut alles, um die Liebe der Mutter zu gewinnen, weil es ohne diese Liebe nicht leben kann. Auch dieses Kind, das nur Haß erntete von einer Mutter, die vielleicht seiner Meinung nach so viel Liebe zu verkaufen hatte, suchte einen Weg, um diese zu bekommen. Vielleicht fühlte sich der Junge gedrängt, die Mädchen umzubringen, um überhaupt bemerkt zu werden. Das wissen wir alles nicht. Nur er hätte es uns sagen können, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, zu fühlen, zu weinen, zu träumen. Das hatte er nicht. Seine Seele ist eingemauert. Das Morden war ihre einzige Sprache.

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Wer ist nun schuld am Tod dieser 560 Frauen? Selbstverständlich der erwachsene Mörder. Aber nicht nur er allein. Wir können nicht sagen, daß seine Mutter keine Schuld daran trägt, sobald wir bereit sind, die Zusammenhänge zu sehen. Der Mörder sagt: »Meine Mutter trägt doch keine Schuld an dem, was ich getan habe«, und die Gesellschaft stimmt ihm zu. Ich bin der Meinung, daß diese Mutter ihren Sohn zum Mörder gemacht hat, auch wenn der Sohn es nicht weiß, auch wenn die Gesellschaft und sie selbst es nicht wissen oder nicht wissen wollen. Gerade diese Ahnungslosigkeit ist gefährlich. Um in Zukunft fahrlässiges Handeln zu verhindern, muß man auch diese Gefahr klar erkennen.

Diese Überlegung ist so selbstverständlich, so banal, daß man kaum einen ernsthaften Widerstand gegen eine entsprechende Aufklärungsarbeit erwarten würde. Und doch ist er, gerade bei Eltern, die diese Aufklärung am dringendsten brauchen, sehr groß. Weshalb? Es könnte doch, müßte man meinen, für Eltern hilfreich sein, mehr darüber zu erfahren, wie sie ihre Kinder unbewußt verletzen, um dies in Zukunft zu vermeiden. Von korrekten Informationen über das Gefühlsleben des Kindes können jedoch in erster Linie Eltern profitieren, die als Kinder nicht schwer verletzt wurden. Sie bilden leider eine Minderheit. 

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Denn die meisten Eltern befinden sich seit ihrer Kindheit in einer emotionalen Falle und warten nur darauf, ihrem alten, unbewußten, aufgespeicherten Zorn endlich Luft verschaffen zu können. Sie finden keine andere Türe aus dieser Falle als die eigenen Kinder. Denn nur diese dürfen unter dem Deckmantel der Erziehung so geschlagen, beschimpft und gedemütigt werden, wie es den Eltern einst selbst widerfahren ist. 

Tragischerweise kann ein Mensch, der in der Falle sitzt und nur eine Türe sieht, nicht darauf verzichten, diese Türe zu benutzen. Er wird jeder vernünftigen Information gegenüber blind und taub bleiben, solange diese Türe nicht durch eine entsprechende Gesetzgebung endgültig verschlossen wird. Wenn es gesetzlich verboten wäre, die Wut auf die eigenen Eltern bei den eigenen Kindern auszuagieren, müßte man nach anderen Wegen aus der Falle suchen und würde sie auch finden. Sicher ist dann der Schmerz über das, was einem selbst geschehen ist, nicht zu vermeiden, aber dieser Schmerz ist nachweisbar heilsam und nicht destruktiv.

Könnte eine Mutter fühlen, wie sie ihr Kind verletzt, müßte sie auch entdecken, wie sie selbst einst verletzt wurde, und könnte sich so von ihrem Zwang zur Wiederholung befreien. Doch Erziehung und Religion verbieten ihr zu fühlen, was ihr widerfahren ist, und treiben sie so in ein neues Verschulden. Die Weigerung, die Folgen von frühen Schädigungen und Verletzungen am Kind einzusehen. durchzieht die ganze Gesellschaft. 

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Alle religiösen Institutionen predigen ihren Gläubigen seit Jahrtausenden den Respekt vor den Eltern. Dieses Predigen wäre überhaupt nicht nötig, wenn Menschen in Liebe und Respekt aufgewachsen wären, denn dann würden sie auf das Empfangene mit natürlichem Respekt reagieren. Nur wenn der Mensch keinen Grund hat, seine Eltern zu respektieren, muß er offenbar dazu gezwungen werden. Ein solcher Zwang hat die gefährliche Wirkung, daß jede Kritik an den Eltern als Sünde bezeichnet wird und daher starke Schuldgefühle verursacht. 

Da die Eltern, auch wenn sie schon gestorben sind, auf jeden Fall geschont werden müssen, geschieht diese Schonung auf Kosten der eigenen Kinder. Daß diese Lösung zudem als moralisch bezeichnet wird, vergrößert den Skandal. Es wird zukünftiges Leben geopfert, um einen erzwungenen Respekt für Menschen zu sichern, die diesen Respekt nicht verdient haben, weil sie ihre Macht schwer mißbrauchten, als ihre Kinder klein waren und ihnen vertrauten. Trotzdem halten sich die Menschen in fast allen Kulturen an dieses Gebot, Inder, Vietnamesen, Chinesen, Araber, Schwarze aus Afrika erzählen mir immer wieder die gleichen Geschichten: »Wir mußten geschlagen werden, um den Respekt vor unseren Eltern zu lernen. Was diese sagten und taten, war immer heilig.« Einige fügen hinzu: »Wir müssen unsere Kinder auch zum Respekt uns gegenüber erziehen, sonst werden sie zu Vandalen.« 

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Daß sie mit ihren Schlägen, genau wie die Weißen, Dynamit legen und Vandalismus produzieren, sehen sie nur in seltenen Fällen. Ein schwarzer Psychologie­student sagte mir einmal in einer Gruppe in London: »Ich wurde von Anfang an physisch, psychisch und sexuell mißbraucht.«»Wie kommt es, daß Sie es wissen dürfen?« fragte ich ihn. »Durch Ihre Bücher habe ich es begriffen, und jetzt sehe ich es überall in meiner Umgebung. Aber alle, Schwarze und Weiße, sagen, es stimme nicht, was ich sehe. Unsere Eltern meinen, sie hätten die Grausamkeit bei den Weißen gelernt und leugnen den Anteil ihrer eigenen Eltern.«

»Wer sein Kind nicht kasteit, nicht züchtigt, liebt es nicht«, heißt es in den Büchern Salomons. Diese sogenannte Weisheit ist heute noch so verbreitet, daß man oft den Satz hören kann: Eine Ohrfeige in Liebe schadet dem Kind nicht. Sogar Kafka, der für verlogene Töne ein sehr feines Ohr hatte, soll laut einem Zeugen gesagt haben: »Liebe hat oft das Gesicht der Gewalt.« Ich halte es für unwahrscheinlich, daß der Zeuge Kafka genau zitierte, aber auch Kafka zwang sich doch, wie wir alle, Grausamkeit als Liebe anzusehen.

Kann es überhaupt Grausamkeit aus Liebe geben? Wenn Menschen nicht an diese Unwahrheit von Kind auf gewöhnt wären, würde sie ihnen schnell auffallen. Grausamkeit ist das Gegenteil der Liebe, und ihre traumatische Wirkung wird nicht vermindert, sondern sogar verstärkt, wenn man sie als ein Zeichen der Liebe ausgibt.  

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In einem 1985 von dem amerikanischen Journalisten Phil Donahue geschriebenen Buch befindet sich folgende Stelle:

»Was sollen Eltern also tun? Bedeutet all das, daß man seinen Kindern niemals den Hintern versohlen darf? Man will sie gewiß nicht durch allzu strenge Zucht zu Dieben machen; andererseits will man sie aber auch nicht undiszipliniert heranwachsen lassen. Gibt es irgendeinen Weg, ein Kind zu strafen, ohne emotionale Schäden zu hinterlassen? Reagieren Kinder wirklich so empfindlich auf körperliche Strafen, daß sogar der leichteste Klaps eine traumatische <Mißhandlung> bedeutet und dazu führt, daß das Kind delinquent oder hoffnungslos neurotisch wird? Ist es möglich, ein Kind körperlich zu disziplinieren, ohne schreckliche Schuldgefühle deswegen haben zu müssen?

Nicht alle Verhaltenswissenschaftler stimmen mit Miller überein, daß Strafen, auch wenn sie vor dem Hintergrund einer liebevollen Beziehung gegeben werden, unvermeidlich destruktiv sind. Jerome Kagan von der Harvard Universität meint zum Beispiel, daß Kinder durchaus Strafen akzeptieren können, ohne später als Erwachsene eine Neigung zu Gewalttätigkeit zu entwickeln. 

Er glaubt, daß — abgesehen von extremem Mißbrauch — viel wichtiger als das Verhalten der Eltern die Interpretation des Verhaltens durch das Kind sei. Nur wenn das Kind die körperliche Strafe als unfair interpretiert und weniger als Ausdruck des Wunsches der Eltern, ihm zu helfen, ein produktiver Erwachsener zu werden, sagt Kagan, kann das zu Delinquenz, Kriminalität, Drogenmißbrauch und so weiter führen. Tatsächlich, so meint Kagan, würden viele Wissenschaftler die Rolle der Eltern übertreiben, was die Verursachung von gewalttätigem Verhalten bei ihren Kindern angeht. 

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Obwohl er deutlich gegen elterliche Züchtigung und sexuellen Mißbrauch Stellung nimmt, hat er viel Vertrauen in die Fähigkeit des menschlichen Tieres, eine traumatische Kindheit zu überleben und ein verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. 

Die typische Reaktion von Eltern, die bei ihrem Kind antisoziales Verhalten entdecken, ist Schuld. Sie fragen sich: Was habe ich falsch gemacht? Nach Kagan lautet die Antwort: vermutlich nichts. Seiner Meinung nach ist die Annahme zu einfach, daß jeder Jugendliche, der einer alten Frau die Handtasche raubt, von seiner Mutter nicht genug geliebt worden ist.«      (S. 211, Übersetzung d. Lekt.)

 

Obwohl dieser Text angeblich von der Frage ausgeht, welches Verhalten der Eltern eine traumatisierende und nachhaltige Wirkung auf das Kind haben könnte, und angeblich die Sorge um das Kind in den Vordergrund stellt, zeigt seine Sequenz, daß es im Grunde nur darum geht, die Eltern von berechtigten Schuldgefühlen zu befreien. Es wird ihnen versichert, daß alles, was sie tun, ungefährlich sei. Das Kind würde keinen Schaden nehmen, wenn es weiß, daß es aus »Liebe« und »zu seinem Besten« gequält wurde. Diese Art von Beschwichtigung mit Hilfe von Unwahrheiten beruht auf den Äußerungen von »Experten«, die hier zitiert werden, und entspricht selbstverständlich den Wünschen aller Eltern, die nicht bereit sind, ihr Verhalten in Frage zu stellen.

Aber gäbe es nicht einen anderen Weg als Beschwichtigungen? Könnte man nicht den Eltern ehrlich und offen erklären, warum sie die Kinder traumatisieren? Sicher würden nicht alle, aber einige dann damit aufhören. 

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Sie würden jedoch mit Sicherheit nicht aufhören, ihre Kinder zu quälen, wenn man ihnen, wie schon ihren Eltern vor 30 Jahren, sagt, eine Ohrfeige mehr oder weniger schade nicht, wenn man das Kind liebe. Obwohl dieser Satz einen Widerspruch enthält, kann er weiter tradiert werden, weil wir an ihn gewöhnt sind. Liebe und Grausamkeit schließen sich gegenseitig aus. Man ohrfeigt niemals aus Liebe, sondern weil man in ähnlichen Situationen, als man wehrlos war, geohrfeigt wurde und gezwungen war, dies als Zeichen der Liebe zu verstehen. In dieser Konfusion blieb man 50, 40 Jahre lang und überträgt sie auf das eigene Kind. Das ist alles. Diese Konfusion dem Kind als Wahrheit zu verkaufen, führt zu neuen Konfusionen, die zwar bei Experten ihren Niederschlag finden, aber trotzdem Konfusionen bleiben. Wenn man hingegen dem Kind gegenüber seine Fehler eingestehen kann und sich für die Unbeherrschtheit bei ihm entschuldigt, schafft man keine Konfusionen.

Wenn eine Mutter es dem Kind klarmachen kann, daß in diesem bestimmten Moment ihre Liebe zu ihm sie verlassen hat und sie von anderen Gefühlen, die gar nichts mit ihm zu tun haben, beherrscht wurde, kann das Kind seinen klaren Kopf behalten, fühlt sich respektiert und kann sich in seiner Beziehung zur Mutter orientieren.

Die Liebe zum Kind läßt sich gewiß nicht erzwingen, aber die Entscheidung, auf Heuchelei zu verzichten, steht jedem frei. Ich weiß nicht, ob es in der Tierwelt Heuchelei gibt. Zumindest hörte ich noch nie, daß ein kleines Tier mit der Vorstellung aufwachse, es müsse fast zu Tode gequält werden, damit es später ein »anständiges und diszipliniertes Tier« werde.

Kagans gutgemeintes, aber naives Vertrauen in die Fähigkeit des »menschlichen Tieres«, eine traumatische Kindheit schadlos zu überleben, geht an der folgenschweren, zerstörerischen und verhängnisvollen Art dieser Traumen völlig vorbei. Viele Vergleiche der menschlichen mit der tierischen Aggression gehen auch an der Tatsache vorbei, daß im Hinblick auf die atomare Zerstörungs­macht des Menschen und auf seine Zerstörungs­bereitschaft, die Hitler und Stalin dokumentierten, alle gefletschten Tierzähne der Welt geradezu harmlos erscheinen müssen.

Kann es sein, daß Harvard-Professoren dies nicht wissen? Durchaus. Wenn sie ihr Vertrauen in die Unschäd­lichkeit der Kindheits­traumen von den Meinungen ihrer Großmütter beziehen, lernen sie später nichts aus den Tatsachen, weil dieses Vertrauen offenbar lebenslang unumstößlich bleibt. Doch angesichts der schweren Konfusionen, die sie anrichten, angesichts der gefährlichen Heuchelei, die sie unterstützen, ist es auf keinen Fall harmlos. Es sind ja gerade die Folgen der allgemein ignorierten Kindheits­traumen, die heute die Welt bedrohen. (vgl. Miller 1988a, Kap. 5,6,7).

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