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3  Das böse Kind - ein Lieblingsmärchen der Wissenschaftler 

    Alice Miller 1988

 

 

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Die angeborene Blindheit eines Menschen ist in den meisten Fällen ein irreversibles Schicksal. Doch die emotionale Blindheit, die ich hier beschreiben werde, ist nicht angeboren. Sie ist die Folge einer Verdrängung von Gefühlen und Erinnerungen, die den Menschen später für bestimmte Zusammenhänge blind macht. Diese Blindheit ist nicht irreversibel, denn jeder Mensch kann später die Entscheidung treffen, seine Verdrängung aufzuheben. Natürlich braucht er in einem solchen Moment Hilfe von anderen Menschen, die er aber finden kann, wenn er wirklich entschlossen ist, sich mit der Wahrheit zu konfrontieren. 

Ob der einzelne diese Chance ergreift, hängt in hohem Maße davon ab, wie seine Kindheit beschaffen war, ob diese einem totalitären Regime glich, in dem außer der Staatspolizei keine anderen Instanzen vorhanden sind, oder ob das ehemalige Kind einmal die Chance hatte, etwas anderes als Grausamkeit zu erleben, und daher als Erwachsener aus seiner heutigen Situation heraus auf diese gute Erfahrung zurückgreifen darf.

Die Begegnung mit der eigenen Geschichte hebt nicht nur die Blindheit auf, die bisher dem Kind in einem selbst galt, sondern sie reduziert auch die Blockierung im Denken und Fühlen überhaupt. 

Auf diesen Punkt werde ich später zurückkommen, doch jetzt möchte ich an Beispielen aufzeigen, wie diese Blindheit funktioniert und wie sie das Denken der Menschen beeinflußt. In einer amerikanischen Zeitung (Ann Jones, Mothers Who Kill, in: The Newsday Magazine, 19.10.1986) wird auf mehreren Seiten die Frage untersucht, was eine Frau dazu bringen kann, ihr Kind zu töten. Ein kürzlich verübter Mord an einem acht Monate alten Säugling dient als Ausgangspunkt für die Überlegungen allgemeiner Natur. 

Zuerst wird die Situation beschrieben: Eine junge Frau ist allein zu Hause mit ihrem dreijährigen Sohn und der acht Monate alten Tochter. Sie hatte gerade ein unangenehmes Telefongespräch mit ihrem Vater geführt und will nun ihrer Schwester darüber berichten, aber das Baby hindert sie dauernd am Gespräch, es schreit ununterbrochen. Sie kann die Stimme der Schwester nicht hören, gerät immer mehr in Verzweiflung, und plötzlich schlägt sie mit dem Hörer auf das Baby ein, bis es still wird. So wird sie zur Kindsmörderin, obwohl sie das Baby nicht absichtlich tötete. Sie wollte sich nur von diesem für sie unerträglichen Geschrei befreien.

Die Autorin des Artikels schildert die Not, die diese Frau schon in ihrer Kindheit erleiden mußte.

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Der Vater war Alkoholiker, lief oft durch die Wohnung mit einem Messer in der Hand und drohte, seine beiden Mädchen umzubringen. Er schlug sie regelmäßig und mißbrauchte sie sexuell, als sie noch klein waren. Einmal zerrte er das Mädchen aus dem Schlaf und hängte es mit Hilfe des Nachthemdes an einen Nagel an die Wand, für drei Stunden. Die Eltern hatten Streit miteinander, und die Mutter verließ den Vater, gerade als das Mädchen an der Wand hing.

Schon diese Beispiele zeigen, welchen Foltern die jetzige Kindsmörderin als Kind selbst ausgesetzt war. Auch in ihrem späteren Leben durfte dieses Mädchen nie das machen, was sie wirklich wollte, wie zum Beispiel studieren. Sie wurde immer wieder unerwünscht schwanger und bekam nicht die Erlaubnis abzutreiben. Die Rolle der Mutter wurde ihr aufgezwungen, sowohl von ihren unreifen Partnern als auch von den medizinischen Gutachtern, und schließlich brachte sie eines ihrer Kinder um. Bezeichnenderweise tat sie es, als sie erfolglos versuchte, ihre Not zu artikulieren. Sie wollte sich am Telefon Erleichterung verschaffen, vermutlich der Schwester erzählen, was ihr der Vater beim vorangegangenen Telefongespräch wieder einmal zugemutet hatte, aber das Geschrei des Babys hinderte sie daran. Es zwang ihr die Mutterrolle auf, für die sie im Moment am wenigsten bereit war, und brachte ihre Not wieder zum Schweigen, wie andere es schon immer getan hatten. Doch hier, beim Schwächsten, konnte sie sich »wehren«.

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Später, im Gefängnis, gebar sie wieder ein Kind, und immer noch fand sich in ihrer ganzen Umgebung niemand, der mit ihr nach den Wurzeln dieses sinnlosen Gebarens und Zerstörens gesucht hätte. Auch der Artikel leistet das nicht. Da wird die eingangs geschilderte Kindheit schnell vergessen und eine ganze Reihe von Umständen aus dem Erwachsenenleben als Ursachen dieses Mordes aufgezählt: die Partner, die Männer, die Armut — all diese Faktoren sind schuld, wenn eine Mutter ihr Baby umbringt, heißt es schließlich im Artikel. Verschiedene Fachleute werden zitiert, verschiedene Theorien herangezogen, verschiedene Vorschläge gemacht und Forschungsprojekte gefordert, die endlich die Frage untersuchen sollten, wie die Gesellschaft einzelne Frauen dazu bringt, ihre Kinder umzubringen.

Was am Anfang des Artikels offensichtlich war, ist nun beinahe unauffindbar. Weshalb? Aus einem ganz einfachen Grund, der vermutlich auch bei Sigmund Freuds Unterdrückung der Wahrheit im Jahre 1897 ausschlaggebend war (vgl. Kapitel 4). Versuchen wir uns vorzustellen, daß wir als Kind drei Stunden lang im Nachthemd an der Wand hängend von der Mutter verlassen werden, auf Gedeih und Verderb einem tobenden Vater ausgeliefert sind, und versuchen wir uns weiter vorzustellen, welche Gefühle dies bei uns bewirkt hätte. 

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Wir weigern uns, dies zu tun, denn ein solcher Versuch mahnt uns an ähnliche Situationen, an die wir aber um keinen Preis erinnert werden wollen. Was kann ein Kind machen, wenn es mit seiner panischen Angst, der ohnmächtigen Wut, der Verzweiflung und dem Schmerz so total allein gelassen wird? Es darf nicht einmal weinen, geschweige denn schreien, wenn es nicht umgebracht werden will. Die einzige Möglichkeit, diese Gefühle loszuwerden, ist, sie zu verdrängen. Doch die Verdrängung ist eine heimtückische Fee. Sie hilft im Moment, aber der Preis für diese Hilfe muß später bezahlt werden. Die ohnmächtige Wut lebt auf, wenn das eigene Kind zur Welt kommt, und dort darf sie sich endlich entladen, wiederum auf Kosten eines Wehrlosen.

Wenn ein Kind seine sämtlichen Fähigkeiten und Energien für die notwendige Verdrängungsarbeit aufbrauchen muß, wenn es dazu niemals erlebt hat, daß es von jemandem geliebt und in Schutz genommen wurde, wird dieses Kind auch später nicht fähig sein, sich zu schützen und sein Leben in einer sinnvollen produktiven Weise zu organisieren. Es wird sich wieder in destruktiven Beziehungen quälen, mit verantwortungslosen Partnern einlassen und an ihnen leiden, aber kaum wahrnehmen können, daß am Ursprung des ganzen Leidens seine eigenen Eltern und andere Erzieher standen.

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Die einst geleistete Verdrängungsarbeit im Dienste des Überlebens verunmöglicht diese Erkenntnis, diesmal gegen die Interessen des nun Erwachsenen. Was es als Kind nicht merken durfte, um überleben zu können, darf es unter Umständen sein Leben lang nicht mehr merken.

Die lebensrettende Funktion der Verdrängung in der Kindheit verwandelt sich später beim Erwachsenen in eine lebenszerstörende Macht. Denn hätte die Mutter, die schließlich zur Kindsmörderin wurde, den Haß auf ihren Vater bewußt erleben dürfen, hätte sie die Gefühle ihrer Kindheit nicht verdrängen müssen, wäre sie nicht zur Mörderin geworden. Sie hätte gewußt, wem ihr Haß galt, als sie am Telefon in Verzweiflung geriet, und hätte nicht ihr eigenes Kind den Preis dafür bezahlen lassen. Ihre einst notwendige Blindheit machte sie zur Mörderin, und die Blindheit der ganzen Gesellschaft trägt dazu bei, daß diese Frau keine Hilfe findet. Denn auch nach vielen Jahren im Gefängnis oder nach vielen Jahren einer erzieherisch gefärbten Therapie wird sie von ihrem latenten Haß auf ihren Vater und der Angst, ein schreiendes Kind zu sein, das bestraft werden muß, nicht frei. Sie ist in Gefahr, ihre Tat zu wiederholen und immer wieder das schreiende Kind, das sie selbst nie sein durfte, eliminieren zu müssen, solange die Gesellschaft, Therapeuten mit eingeschlossen, von der Angst, die Eltern in Frage zu stellen, beherrscht ist.

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Vieles, was wir von klein auf gelernt haben und später im Leben immer wieder hören, wird von dieser Angst aufrechterhalten. Dazu gehört auch die Meinung, das Kind sei an sich etwas Böses, etwas Wildes, das wir durch unsere Kultur zu etwas Besserem machen können. Es gibt eine ganze Reihe solcher Meinungen, denen die Wirklichkeit immer wieder spottet und die trotzdem nicht leicht zu ändern sind, weil sie das System unserer Erziehung rechtfertigen. Auf diesen Meinungen sind oft recht komplizierte Theorien aufgebaut, die die Studenten aller Universitäten lernen und später nach Jahrzehnten als Professoren lehren, obwohl sie erwiesenermaßen unwahr sind. Ich habe in meinem Buch Du sollst nicht merken aufgezeigt, wie genau sich Freuds Triebtheorie und die Theorie Melanie Kleins vom grausamen Säugling mit der traditionellen pädagogischen Meinung vom Kind decken. 

Was vor 400 Jahren von Martin Luther vertreten wurde (vgl. C. H. Mallet 1986), gilt auch heute noch; so heißt es etwa bei dem Psychoanalytiker Edward Glover:

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»Wenn wir diese Erkenntnisse vor dem Hintergrund der sozialen Umgebung betrachten, können wir sagen, daß das rundum normale kleine Kind nahezu durch und durch egozentrisch, gierig, schmutzig, von heftigem Temperament und zerstörerischen Gewohnheiten, zutiefst sexuell orientiert, großspurig in seinem Verhalten, bar jeden Realitätssinnes — es sei denn in primitiver Form —, ohne jedes moralische Empfinden und in seiner Einstellung gegenüber der Gesellschaft (vertreten durch seine Familie) opportunistisch, rücksichtslos, dominierend und sadistisch ist. 

Wenn wir uns dann der kriminellen Persönlichkeit zuwenden, die wir als Psychopathen bezeichnen, stellen wir fest, daß viele der soeben genannten Eigenschaften unter bestimmten Umständen durchaus bis ins Erwachsenenleben hinein bestehenbleiben können. Ja, gemessen an den sozialen Maßstäben des Erwachsenen ist das normale kleine Kind geradezu der geborene Verbrecher.«   E. Glover 1970

Wenn ich dieser These vom grausamen Kind widerspreche, wird mir häufig die angebliche Sexualität des Kindes entgegengehalten. Ohne die Moral der »Schwarzen Pädagogik« (vgl. A. Miller 1980, S. 17-112) wäre eine solche Argumentation nicht denkbar. Denn diese Moral setzt voraus, daß Sexualität etwas Böses und Schuldhaftes sei. Die Psychoanalyse scheint sich von solchen Wertungen bisher nicht befreit zu haben. Obwohl die Behauptung von der infantilen Sexualität zu ihrem Hauptdogma erklärt wurde, ist es nicht klar, welche Definition der Sexualität dieser Behauptung zugrunde liegt.1)

1)  Vgl. zum besseren Verständnis des Folgenden meine Ausführungen in Du sollst nicht merken, 1981, S. 138-203

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Es werden in der psychoanalytischen Literatur Beispiele angeführt, die sich auf sehr heterogene Erscheinungen beziehen, wie zum Beispiel auf die kindliche Neugier und Sinnlichkeit, auf das Bedürfnis nach körperlicher Nähe, nach Stimulierung durch Streicheln, nach Zärtlichkeit, sanften beruhigenden Berührungen, nach körperlicher Wärme des anderen und auf zahlreiche Lusterlebnisse am eigenen Körper, das Genitale mit einbezogen. 

Doch das alles ist noch nicht Sexualität, auch wenn die einst in Kälte, Strenge und körperlichen Entbehrungen erzogenen Erwachsenen dies so nennen mögen. Zur Zeit Sigmund Freuds wurde die Autoerotik des Kindes aufs schärfste bestraft und die Berührung des eigenen Genitales mit Kastrations­drohungen beantwortet, weil die Erwachsenen die Gefühle der eigenen »Unreinheit« auf das Kind projizierten und es für ihre eigenen verbotenen Phantasien bestraften. 

Aber deswegen sind die kindliche Autoerotik, Sinnlichkeit und Neugier noch lange nicht mit Sexualität identisch. Sexualität ist der Paarungsdrang des Menschen, der erst in der Pubertät seinen hormonellen Auftrag bekommt. Wenn ich von dieser biologischen Definition ausgehe, ist es folgerichtig, daß ich diese Sexualität bei Kindern nicht vorfinde. Selbstverständlich hinterläßt der sexuelle Mißbrauch von Kindern bei diesen Spuren. So kann das Kind ein »sexuelles« Verhalten simulieren, um die Zuwendung der Erwachsenen nicht zu verlieren. Daraus ergibt sich dann ein verzerrtes Bild. Mich hat die Frage lange beschäftigt, weshalb die Not dieser Kinder und ihr Verhalten immer wieder als Beweis

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für ihre Schuld angebracht werden. Das geschieht sowohl in den Gerichtssälen als auch in der psychoanalytischen Praxis. Man entledigt sich auch hier der »unreinen« Sexualität, indem man sie auf dem Projektionsweg dem Kind zuschreibt. Selbst wenn der Paarungsdrang bereits beim Neugeborenen aktiv vorhanden wäre, was ja völlig sinnlos ist, weshalb sollte das als schuldhaft bezeichnet werden? Sexualität ist ein natürlicher Drang, der nicht dafür verantwortlich zu machen ist, daß Menschen mit seiner Hilfe das Leben anderer beeinträchtigen oder zerstören. Wenn sie dies tun, machen sie sich schuldig, aber nicht, weil sie dem Paarungsdrang erliegen, sondern weil dieser in ihrer Geschichte mit anderen Faktoren wie Grausamkeit, Erniedrigung und Machtausübung gekoppelt war und sie auf Grund dieser Geschichte destruktiv handeln. Wenn sie die Sexualität in ihr destruktives Agieren einbeziehen, so ist dafür nicht die Sexualität zu beschuldigen. Ich habe am Beispiel von Jürgen Bartsch gezeigt, wie ein in der Kindheit gequälter Mensch ins Verschulden gerät und wie irreführend es ist, wenn man seine Sexualität und angebliche »Triebhaftigkeit« dafür verantwortlich macht (vgl. A. Miller 1980, S. Z32ff.). Ein kleines Kind ist schon deshalb nicht grausam, weil es wehrlos ist und sich noch nicht für die erlittenen Qualen an anderen rächen kann — außer vielleicht an kleinen Tieren; das Kind hat noch keine Macht, Menschenleben zu zerstören, auch wenn es in der Phantasie Mordgedanken und Rachewünsche selbstverständlich haben kann und haben können muß.

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Eine junge Kinderanalytikerin, die nach der Methode Melanie Kleins arbeitet, sagte einmal zu mir: »Sie haben sicher keine eigenen Kinder, sonst müßten Sie doch wissen, daß Kinder nicht, wie Sie X beschreiben, unschuldig sind, sondern grausame Phantasien haben. Das kann man schon bei einem kleinen Säugling beobachten, der die Mutter ohrfeigt.« Ich habe dieser Kollegin nicht sofort gesagt, daß ich Mutter von zwei Kindern bin, sondern nachgefragt, was sie denn mit »Ohrfeige« meine. Sie beschrieb mir ein Kind, das in der Raserei mit den Händen der Mutter ins Gesicht schlug, mit den Fäusten sogar, sagte sie. Sie selbst hätte zwar keine Kinder, doch hätte sie dieses Verhalten schon mehrmals beobachten können, und auch Mütter von Kindern, die sie in Behandlung habe, hätten davon berichtet. Ich versuchte, ihre Sicherheit in Frage zu stellen: Dieses Schlagen, so wandte ich ein, könne auch ein harmloses Spiel sein; es käme darauf an, wie die Mutter es auffaßt. Nur wenn sie sich dadurch gedemütigt und geschlagen fühlt, wenn sie das Kind mit ihren Eltern verwechselt und erzieherische Maßnahmen ergreift, dann kann das zunächst spielerische Verhalten des Kindes in Verzweiflung umschlagen und destruktive Züge annehmen. 

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Das Kind fühlt sich dann unverstanden und kann seiner Verzweiflung keinen anderen Aus- , druck geben, als mit den Fäusten in das Gesicht der Mutter zu schlagen. Wenn ich eine solche Situation einem Menschen beschreibe, der nicht zehn Jahre lang in der Kleinianischen Technik ausgebildet wurde, versteht er mich sofort. Diese Kollegin aber schaute mich mißtrauisch an und sagte: »Melanie Klein arbeitete ihr ganzes Leben mit Kindern, und ihre Theorien gründeten auf ihren Beobachtungen.«

Genau darum geht es. Mit welchen Augen wird da beobachtet? Eine Mutter sieht ihr tobendes schreiendes Kind und ist fest davon überzeugt, daß Kinder diszipliniert werden müssen. Schließlich hat sie das bereits bei ihrer Mutter gelernt, und diese frühen Lektionen sind überaus wirksam. Melanie Klein beobachtete ihr Kind und die anderen Kinder in ihrer Praxis auf dem Hintergrund ihrer eigenen Erziehung und konnte offenbar nichts anderes sehen als das, was sie ebenfalls von ihrer Mutter früh gelernt hatte. Gynäkologen, Krankenschwestern und Eltern beobachten seit jeher die schreienden Neugeborenen und bleiben ebenfalls blind für die Tatsache, daß diese Schreie Ausdruck von psychischen Schmerzen sind und durchaus vermeidbar.

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Meine Behauptung, daß das kleine Kind unschuldig ist, hat nichts mit romantischen Verklärungen zu tun und ist nicht aus irgendwelchen philosophischen Wertungen abgeleitet, sondern aus der realen Situation des Kindes: Es ist wehrlos, und es trägt noch keine Verantwortung für andere, es ist noch niemandem etwas schuldig. Doch diese Tatsache widerspricht nicht der häufig gemachten Beobachtung, daß sich Kinder sehr grausam verhalten können, genauso grausam, wie man mit ihnen umgegangen ist. Erin Pizzey, die Gründerin der Häuser für geschlagene Frauen und Kinder, berichtet, daß bereits Dreijährige nicht wie andere spielend balgen können, sondern wie Totschläger miteinander kämpfen. Diese Kinder spiegeln in ihrem Verhalten in allen Einzelheiten die zu Hause erfahrene Brutalität und zeigen unmißverständlich, wo sie das destruktive Verhalten gelernt haben. Oft fragen mich beunruhigte Eltern, ob Kinder nicht durch Fernsehsendungen Grausamkeit lernen. Ich meine, daß ein Kind, das keine aufgestaute Wut in sich trägt, kein Interesse an brutalen und sadistischen Fernsehsendungen zeigen wird. Die brutalen Filme werden aber gierig von Kindern aufgenommen, die sich gegen grobe oder subtile Quälereien zu Hause nie wehren durften oder die ihre Gefühle aus anderen Gründen nie artikulieren können, zum Beispiel, um einen gefährdeten Elternteil zu schonen. Ihre geheimen Rachewünsche können sie dann vor dem Bildschirm identifika-torisch befriedigen. 

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Diese Kinder tragen in sich bereits die Voraussetzungen zur späteren Destruk-tivität. Ob sie zum Ausbruch kommt, hängt weitgehend davon ab, ob ihnen das Leben andere Angebote macht als nur Gewalt, das heißt, ob rettende Zeugen ihren Weg kreuzen. Aber die Grausamkeit lernt das Kind nicht durch Zuschauen (wie zum Beispiel am Fernsehen), sondern immer durch Erleiden und Verdrängen.

Die Schule der Grausamkeit ist häufig mit dem sexuellen Mißbrauch gekoppelt. Wenn zum Beispiel ein 2ojähriger Mann einen fünfjährigen Knaben masturbiert, dann wird dem Kind vom Erwachsenen die destruktive Komponente der Bedürfnisbefriedigung aufgedrängt. Das Kind kommt von dieser Art der Bedürfnisbefriedigung nicht mehr los und wird als Erwachsener unter dem unbewußten Zwang stehen, die einst erfahrene Vergewaltigung in irgendeiner Form an einem anderen Kind zu rächen. So wird mit allen dazugehörenden Begründungen und Rationalisierungen Destruktivität gelehrt, gelernt und getarnt. Bei den Erwachsenen erst lernt das ungeliebte Kind zu hassen, zu quälen und dies mit Lügen und Heucheleien zu tarnen. Deshalb sagt es, wenn es erwachsen ist, Kinder würden Normen und Disziplinierung brauchen. Aber das ist bereits eine Lüge, die ihm den Einlaß zur Gesellschaft der Erwachsenen verschafft, eine Lüge, die die ganze Pädagogik und noch die Psychoanalyse durchzieht. 

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Das kleine Kind kennt keine Lügen, es ist bereit, Worte wie Wahrheit, Liebe und Erbarmen, die es im Religionsunterricht hört, voll und ganz ernst zu nehmen. Erst wenn es merkt, daß es sich durch seine Naivität lächerlich macht, lernt es sich zu verstellen. Durch die Erziehung lernt das Kind die Muster des destruktiven Verhaltens, das ihm später von Fachleuten als Folge eines angeborenen Destruktionstriebes gedeutet wird. Sollte es jemand wagen, diese Behauptung in Frage zu stellen, wird er als naiv belächelt, als ob er noch nie mit Kindern in Berührung gekommen wäre und nicht wüßte, »wie sie einen nerven können«. Denn spätestens seit Sigmund Freud sollte man in »progressiven« Kreisen wissen, daß Kinder mit dem Todestrieb auf die Welt kommen und uns alle umbringen könnten, wenn man nicht »den Anfängen wehren« würde. Eine Professorin bat mich für ihre Zeitschrift um ein Interview zu meiner Kritik an der Psychoanalyse. Es war mir nicht möglich, ihre Fragen, die ich schriftlich erhielt, zu beantworten, aber ich versprach, auf einige von ihnen in meinem nächsten Buch einzugehen. Ich will es hier tun, weil sie eine Haltung repräsentieren, der ich oft begegne: Man bemüht sich zwar, neue Erkenntnisse zu erwerben, will aber die alten Lehren, die man einst als Kind von den Eltern empfing und die später durch verschiedene Theorien an der Universität noch gefestigt wurden, auf keinen Fall aufgeben. 

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Eine der vielen mir gestellten Fragen lautete zum Beispiel: »Wenn Sie das Kind als unschuldig postulieren, ist es, als ob Sie leugnen würden, daß es Subjekt seiner Wünsche ist. Sie zeigen, wie ohnmächtig, entfremdet, abhängig, wie dem Willen der Erwachsenen es ausgeliefert ist. Das Kind ist doch nicht ohne Wunsch, ohne Phantasien, ohne Übertragung.« Wie kommt man dazu, das Kind als schuldig zu bezeichnen, nur weil es »Subjekt von Wünschen, Phantasien und Übertragungen« ist? Das Kind, schon das Neugeborene, ist selbstverständlich ein Bündel von Bedürfnissen, aber es würde einem niemals einfallen, dies als Schuld (!) zu bezeichnen, wenn unsere Eltern unsere Bedürfnisse und Wünsche nicht als lästige Ansprüche erlebt hätten. Wir haben gelernt, uns für unsere Wünsche und Bedürfnisse schuldig zu fühlen, und bringen diese grundlegende Erfahrung in unsere Theorien hinein. In der oben zitierten Frage kommt diese Verwirrung zum Ausdruck. Ein Kind darf eigentlich kein Subjekt sein, es bleibt das Objekt der Pädagogik. Daß es in dieser Rolle auch noch als schuldig bezeichnet wird, muß keineswegs erstaunen. Es gibt nichts, was man einem Kind nicht andichten kann, und tragischerweise können diese Etiketten lebenslänglich wirksam bleiben. Das ehemalige, beschuldigte Kind glaubt sein Leben lang an seine Schuld und Bosheit, weil es Wünsche und Phantasien hat. Und dieser Glaube hindert es später im Erwachsenenalter zu sehen, daß die schwierigen und bösen Kinder zu solchen gemacht worden sind. 

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Die meisten Menschen zeigen für die Frage, warum ein Kind so oder so geworden ist, nicht das geringste Interesse. Wenn man sie auf die Ursachen hinweist, die Brutalität des Vaters, die innere Absorbiertheit der Mutter, sagen sie: Das ist keine Entschuldigung für das Stehlen. Jeder hat in der Kindheit etwas Schweres durchgemacht und ist deswegen noch lange nicht zum Verbrecher geworden. Daß der Grund für diese unterschiedliche Entwicklung im Grad der erhaltenen Zuwendung liegt, interessiert sie nicht. So bleibt für sie nur die Frage: Wie kann ich mein Kind disziplinieren, wie muß ich es strafen, damit es zu einem anständigen Menschen wird, nicht lügt, nicht stiehlt, nicht von zu Hause wegläuft. Häufig hört man die Meinung: Kinder, die verwöhnt werden und zu Hause bekommen, was sie wünschen, werden stehlen, wenn man Arbeit von ihnen verlangt, man müsse sie daran gewöhnen, daß sie ohne Leistung nichts bekommen, man müsse sie früh an die Härte des Lebens gewöhnen, ihnen nicht alle Wünsche erfüllen, auch wenn man es an sich könnte, man müsse ihnen Grenzen setzen, man müsse, man müsse .... Wenn ich solche Meinungen in Frage stelle und zum Beispiel sage: Das Kind muß die Freiheit haben, uns Grenzen zu setzen, wenn wir es überfordern, schlecht behandeln, demütigen, dann stoße

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ich auf großes Erstaunen. Ich werde gefragt: Haben Sie selber Kinder? Wissen Sie nicht, wie böse Kinder sein können? Sie idealisieren Kinder, als ob Sie noch nie ein schwieriges Kind gesehen hätten.

Natürlich habe ich sie gesehen, auch in psychiatrischen Kliniken, wo sie den ausgeklügeltsten Methoden der Erziehung Widerstand leisteten, indem sie zum Beispiel nicht sprachen, das Essen verweigerten oder sich die Haare ausrissen, weil niemand da war, der sich wirklich für ihre Folter interessierte und ihren Schmerz begriff. Alle gaben sich Mühe, diese Kinder zu disziplinieren, ihnen etwas Positives beizubringen, das Lesen, Schreiben, Reden, Essen, aber niemand wollte die Tragik ihrer Existenz erfahren. Wenn ich in Besprechungen mit Ärzten und Krankenschwestern danach fragte, fiel mir auf, wie wenig das Pflegepersonal und die Ärzte über die Familiensituation des Kindes und seine Geschichte wußten. Aber schon aus dem, was sie mir sagten, ließ sich der seelische Terror erraten, den das Kind erlitten hatte, ohne daß die Menschen, die mir davon berichteten, dies realisiert hätten. Denn was ich »Hölle« nenne, ist für sie immer noch das Normalste der Welt, und sie sagen dazu: Da könnte doch jeder psychotisch, autistisch, mutistisch werden, denn viele haben ähnliches erlebt. Also kommt man zurück auf die angeborenen biologischen Faktoren, die man mit Erziehung und Medikamenten, so gut es geht, zu mildern versucht.

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Solche Versuche, so gut und ehrlich sie auch gemeint sein können, bergen in sich die Gefahr einer zusätzlichen Traumatisierung und Verwirrung des Kindes, das trotz der vielen Bemühungen unverstanden bleibt, solange die Grausamkeit gegen Kinder nicht voll erkannt wird. Es gibt Meinungen, die kritiklos von Generation zu Generation weitergegeben werden, und zwar mit einem solchen Nachdruck, daß niemand sich die Mühe gibt, sie zu hinterfragen. Nicht nur, weil man Sanktionen fürchtet. Sehr oft setzt man sich dieser Gefahr erst gar nicht aus, weil man die tradierten Meinungen tatsächlich für richtig hält. Ich will das an einem Beispiel illustrieren. Ich werde häufig von verschiedenen Kliniken um Vorträge gebeten. Da ich keine Monologe halten will, versuche ich mit dem Krankenhauspersonal ein Gespräch zu führen, in dem mir die Anwesenden ihre Fragen stellen können. In solchen Diskussionen erlebe ich immer wieder einzelne Vertreter der Psychoanalyse, deren Haltung mir typisch erscheint. Sie loben meine Arbeit, würdigen meine »Bemühungen um die mißhandelten Kinder«, aber die Folgerungen meiner Ausführungen für ihre Theorie entgehen ihnen in der Regel vollständig. Ohne es zu merken, zitieren sie am Schluß ihr Credo, aus dem hervorgeht, daß es den phantasier-

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ten Inzest gäbe, daß das Neugeborene nicht unschuldig, sondern mit destruktiven Trieben zur Welt komme und daß es beim Inzest keine Übertritte gäbe, sondern nur »Interaktionen« zwischen Kind und Erwachsenen.

Kürzlich erlebte ich ähnliches mit dem Chef einer Klinik, der bei seinen Mitarbeitern als einfühlsam gilt und der immerhin keine schädigenden Medikamente verschreibt. Die Krankenschwestern seiner Station erzählten mir von den furchtbaren Traumen, denen die hier betreuten psychotischen und autistischen Kinder ausgesetzt gewesen waren. Sie wußten also Bescheid. Ihrem Chef waren die Fakten auch bekannt. Trotzdem entgingen ihm die Zusammenhänge. Er hatte noch nicht realisiert, daß angesichts unseres heutigen Wissens von Kindesmißhandlungen die Freudschen Theorien unhaltbar geworden sind. Wie sollte er auch? Zeitungsberichte über Kindesmißhandlungen liest er aus Zeitmangel nicht, und sie interessieren ihn auch nicht. Was er vor 20 oder 30 Jahren gelernt hat, hält er immer noch für richtig, schreibt auch Bücher darüber, empfängt Patienten, leitet ein Arbeitsteam. Wie soll er das Gelernte in Frage stellen können, wenn er noch nie versucht hat, die gelernten Theorien, seine praktische Arbeit und die Berichte über Kindesmißhandlungen gedanklich miteinander zu verknüpfen? In den Reaktionen auf neue Erkenntnisse spiegelt

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sich nicht nur die Ausbildung, sondern auch die Tragik der ungleichen Chancen wider: Ein geliebtes Kind bekommt das Geschenk der Liebe und damit auch das des Wissens und der Unschuld. Es ist ein Geschenk, das ihm für sein ganzes Leben Orientierung gibt. Einem verletzten Kind fehlt alles, weil ihm die Liebe fehlt. Es weiß nicht, was Liebe ist, es verwechselt ständig Verbrechen mit Wohltat und Lüge mit Wahrheit. Daher wird es sich immer wieder neu verwirren lassen. Diese Verwirrung zeigte sich mir auch in der Diskussion eines konkreten Falles unter Fachleuten: Eine Frau, die in ihrer Kindheit nicht unter Leistungsdruck gestanden und viel Liebe erfahren hatte, nahm einen neunjährigen autistischen Jungen bei sich auf, den sie später adoptierte. Sie konnte ihm viel Wärme und Körperkontakt geben, ihn bejahen, seine Gefühle bestätigen, seine Bedürfnisse spüren, seine Signale wahrnehmen und sie schließlich auch verstehen. In ihren Armen lernte der Junge, Gefühle zu zeigen, die Wut auf das ihm bisher Widerfahrene zu erleben und die Liebe zu entdecken. Er entwickelte sich zu einem gesunden, intelligenten, sehr lebendigen und offenen Jugendlichen.

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Ich habe diese Geschichte in einer Gruppe von Fachleuten erzählt, die sich mit Autismus beschäftigen. Die Ärzte unter ihnen sagten, der Autismus sei eine unheilbare neurophysiologische Krankheit, und die Entwicklung in diesem Fall zeige, daß es sich hier nicht um Autismus gehandelt hätte, daß es also eine falsche Diagnose gewesen sei. Die Psychologen, Familientherapeuten und Analytiker meinten, diese Geschichte wäre wohl eine grobe Vereinfachung, denn sie würden viele Fälle kennen, in denen jahrelange Psychotherapie bei Autisten nichts geändert hätte — was ich übrigens ohne weiteres glaube. 

Dann sagten sie, eine solche Geschichte könne Eltern von autistischen Kindern nicht helfen, im Gegenteil, sie würde ihnen Schuldgefühle machen, weil nicht alle Eltern in der Lage seien, ihrem Kind so viel Liebe und Zeit zu widmen. Die Eltern hätten meistens noch weitere Kinder, müßten ihrer Arbeit nachgehen, und sie seien doch auch nur Menschen. Ich sagte, daß es mir unwichtig erscheint, ob jemand Schuldgefühle bekäme oder nicht, wenn es darum geht, eine so wichtige Wahrheit zu entdecken. Die Geschichte des neunjährigen Jungen bestätigte mir, was ich schon längst vermutete: Der Autismus eines Kindes ist eine Antwort auf seine Umgebung und manchmal die einzig mögliche Antwort, die einem Kind noch zur Verfügung steht. Ob Autismus heilbar ist oder nicht, hängt davon ab, wie weit die neue Umgebung des Kindes die Wahrheit über dessen Vergangenheit wahrnehmen kann. Die Reaktionen der Fachleute zeigten, wie schwer diese Umgebung zu finden ist. Ihre Widerstände hinderten sie zu begreifen, wie sehr diese Geschichte uns in unserem Umgang mit Kindern helfen könnte.

Später, nach Jahren, hörte ich von ähnlichen, wenn auch noch seltenen Fällen der Heilung von autistischen Kindern. Es wurde auch eine Technik entwickelt, die sogenannte Festhaltetechnik, die dem Bedürfnis des verlorenen, vereinsamten, sich entfremdeten Kindes nach Gehaltenwerden Rechnung tragen wollte. Leider ist diese Technik wieder mit Erziehung gekoppelt worden, und darin sehe ich ihre große Gefahr. Wenn die Mutter das Vertrauen des Kindes durch das Halten bekommen hat und dann erzieherische Forderungen an das Kind stellt, wird das Kind alles tun, was in seinen Möglichkeiten steht, um die Zuwendung der Mutter nicht mehr zu verlieren. 

Es hat sich tatsächlich herausgestellt, daß diese Kinder brillante Leistungen in der Schule vollbringen. Daß dies aber keine wirkliche Heilung sein muß, weiß ich, seit ich 1979 mein erstes Buch geschrieben habe. Die volle körperliche und seelische Zuwendung der Mutter für das autistische Kind kann sicher Wunder vollbringen, vorausgesetzt, daß sie auf erzieherische Forderungen verzichtet, sonst schafft sie das Drama des begabten Kindes, und gerade dagegen hat sich das Kind mit seinem Autismus gewehrt.

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