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Teil 1  Der folgenschwere Schlaf der Menschheit

1  Eine Sankt-Nikolaus-Feier

 

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Es gibt viele Beispiele dafür, wie die Verdrängung des eigenen Leids unser Mitgefühl für das Leid anderer zerstört. Ich greife ein äußerlich harmloses Beispiel heraus und werde ausführlich darauf eingehen. Auf einem Waldspaziergang stieß ich zufällig auf ein Fest. Mehrere Familien waren mit ihren Kindern gekommen, hatten am Waldrand Lichter angezündet und den Sankt Nikolaus eingeladen.

Dieser Einladung geht traditionsgemäß voraus, daß die jungen Mütter den Nikolaus über das Verhalten und Benehmen ihrer Kinder informieren und er die Sünden in einem großen Buch registriert, damit er zu den Kindern so reden kann, als ob er allwissend wäre. Die Mütter erhoffen sich dadurch Unterstützung für ihre Erziehungs­maßnahmen, und sie bekommen sie auch. Denn das ganze Jahr hindurch können sie sich auf dieses Gespräch berufen und sagen: Der Sankt Nikolaus sieht alles, du hast es ja selber erfahren, schau, daß er nächstes Mal mit dir zufrieden ist!

Wie spielte sich die Feier ab, deren Zeugin ich zufällig wurde? Ungefähr zehn Kinder – eins nach dem anderen – wurden vom Sankt Nikolaus zuerst gerügt und dann gelobt. Nur ein einziges Mädchen wurde nicht getadelt, weil seine Mutter offenbar nicht das Bedürfnis gehabt hatte, die Vergehen ihres Kindes vorher schriftlich einem fremden Mann mitzuteilen. 

Die Reden des Nikolaus hörten sich ungefähr so an: »Wo ist die kleine Vera?« Es meldete sich ein kaum zweijähriges kleines Mädchen mit einem arglosen, erwartungsvollen Blick. Sie schaute offen und neugierig in das Gesicht des Sankt Nikolaus.

»Ja, Vera, das gefällt dem Nikolaus gar nicht, daß du deine Spielsachen nicht alleine aufräumen willst. Mutti hat keine Zeit dafür, du bist schon groß genug, um zu verstehen, daß du nach dem Spielen dein Spielzeug aufräumen mußt und daß du auch schön mit deinem Brüderchen teilen und nicht alles für dich alleine haben sollst. Das muß sich schon noch bessern im nächsten Jahr, das wollen wir hoffen. Der Sankt Nikolaus wird in dein Zimmer hineinschauen und sehen, ob du dich gebessert hast. Er hat aber auch gute Sachen festgestellt: du hilfst deiner Mutter beim Aufräumen nach dem Essen, und du kannst auch schön alleine spielen und manchmal auch zeichnen, ohne daß Mutti dabeisitzen muß. Das ist sehr gut, denn Mutti hat keine Zeit, immer bei dir zu sitzen, sie hat ja auch noch das Brüderchen und den Papa, und sie braucht eine Vera, die selber etwas machen kann. So, Vera, hast du auch ein Liedchen auswendig gelernt für den Nikolaus?«

Vera stand ganz verängstigt da, konnte kein Wort hervorbringen, so daß die Mutter an ihrer Stelle das Liedchen sang, das Vera vorbereitet hatte. Am Schluß bekam das Kind ein Päckchen aus dem Sack.

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Nun war das nächste Kind an der Reihe: »So, so, Stefan, du brauchst immer noch den Schnuller, da bist du ja viel zu groß dafür (Stefan ist kaum zweieinhalb Jahre alt). Hast du den Schnuller mitgebracht, dann kannst du ihn gleich dem Nikolaus geben (die anderen Kinder lachen). Nein, du hast ihn nicht mitgebracht? Dann legst du ihn heute abend auf deinen Nachttisch oder gibst ihn deinem kleinen Bruder. Du brauchst keinen Schnuller mehr, du bist viel zu groß dafür. Der Nikolaus hat auch beobachtet, daß du am Tisch nicht sehr artig bist, immer dreinredest, wenn die Erwachsenen miteinander sprechen, du mußt aber die Großen reden lassen, du bist noch viel zu klein, um ständig die anderen zu stören.«

Der kleine Stefan schien mir den Tränen nahe, er stand völlig verängstigt da, vor allen beschämt, und ich versuchte, ihm das Gefühl zu geben, daß er nicht völlig rechtlos ist. Ich sagte: »Vorher grad meinten Sie, er sei zu groß für den Schnuller, und jetzt sagen Sie, er sei zu klein, um am Tisch zu sprechen. Stefan wird selber ganz genau wissen, wann er den Schnuller nicht mehr braucht.« Da wurde ich von einigen Müttern unterbrochen, weil meine Worte nicht im geringsten in diese heilige Zeremonie paßten, und eine Mutter wies mich in die Schranken: »Hier sagt aber der Sankt Nikolaus, was Stefan machen muß.«

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So gab ich meine guten Absichten auf und beschränkte mich darauf, die Szene mit einem kleinen Gerät aufzunehmen, weil ich meinen Ohren kaum trauen konnte. Die Szene lief genau so weiter, wie sie begonnen hatte: Niemandem fiel die Grausamkeit auf, niemand sah die verstörten Gesichter (obwohl die Väter ständig mit Blitzlichtern fotografierten), niemandem fiel es auf, daß jedes der ausgeschimpften Kinder am Schluß seinen Text für das Gedichtchen oder die Lieder nicht mehr erinnern konnte, überhaupt seine Stimme nicht mehr fand, auch kaum danke sagen konnte, daß keines der Kinder frei lächelte, daß sie alle wie in Angst erstarrt wirkten. Niemand merkte, daß hier im Grunde ein übles Machtspiel mit den Kindern gespielt wurde.

So mußte sich zum Beispiel ein kaum zweijähriger Junge folgendes anhören: »So, so, Kaspar, ich habe gesehen, daß du dein Spielzeug herumwirfst. Das ist sehr gefährlich, du könntest deine Mutter am Kopf treffen, dann muß sie ins Bett gehen und kann nicht mehr für euch sorgen, kann nicht mehr kochen, und dann bekommst du nichts zu essen. Oder du kannst deinen Bruder treffen oder deinen Papa und dann müssen beide ins Bett gehen, Mutti ist mit ihnen beschäftigt und muß ihnen das Essen bringen. Dann kannst du nicht mehr spielen, du mußt Mutti helfen.« Und in diesem Stil ging es weiter.

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Ich war gar nicht sicher, ob dieser kleine Junge überhaupt etwas verstanden hatte, weil er sehr verwirrt dreinschaute. Wenn er aber etwas aufnehmen konnte, dann war es der unzufriedene Ton und die Information, daß er Unheil über seine .Familie bringen könnte und als Strafe dafür seine Mutter entbehren müßte. Ob er wirklich verstanden hat, was ihn zu dieser Familiengefahr machte, ist sehr zu bezweifeln. Doch sein Unbehagen war mehr als deutlich. Seine lächelnde Mutter schien das aber nicht wahrgenommen zu haben.

Jedes der Kinder wollte dem Nikolaus gefallen, wollte etwas Gutes hören, aber bevor es das »Gute« vernahm, hörte es, was es schlecht gemacht hatte. Damit waren seine Offenheit und Aufmerksamkeit bereits gestört. Denn die Rüge erzeugte Angst, und diese Angst mußte verdrängt werden, um die Feier in guter Erinnerung behalten zu können — ganz so, wie es die Eltern von diesen Kindern erwarteten. Das Unbewußte wird zwar nie von der Gewißheit loskommen, daß bereits das kleine Kind bösartig war, aber sein Bewußtsein wird an der schönen Version dieser Feier jahrzehntelang festhalten. Deshalb werden die späteren Eltern ihre Kinder genauso behandeln und von ihnen ebenfalls die große Freude an der schönen Feier erwarten, ohne sich die Frage zu stellen, weshalb man ein Kind einer solchen Prozedur überhaupt aussetzt.

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Die größte Tugend, die Sankt Nikolaus in seiner Eigenschaft als Sprachrohr der Eltern den einzelnen Kindern attestierte, war ihre Fähigkeit, alleine spielen zu können und ihre Mütter nicht zu brauchen. Bei einem Kind hieß es sogar wörtlich:

»Da hab ich etwas Gutes von dir zu berichten: Du hilfst deiner Mama beim Tischabräumen, das ist auch nötig, weil Mama nicht alles alleine machen kann; aber vergiß nicht, deine Spielsachen schön aufzuräumen, da kann Mama dir nicht helfen, das mußt du alleine machen.«

Auch diese Argumentation erschien dem Nikolaus logisch: Dem dreijährigen Kind muß die Mama nicht helfen, das Kind muß der Mama helfen. Die Hilfsbereitschaft war ebenfalls eine der wenigen positiven Leistungen der Kinder: Du kannst gut allein sein, du kannst schön dein Spielzeug aufräumen, du kannst mit deinem kleinen Brüderchen teilen, und du brauchst deine Mutter nicht. Gerügt wurden hingegen das Reden, das Sichwehren, das Noch-nicht-Erwachsen-Sein und die natürlichen Bedürfnisse des Kindes nach Hilfe, nach Zuwendung und nach Trost. Denn der Schnuller ist für den dreijährigen Jungen, der ein kleines Brüderchen hat und diesem beim Gestilltwerden zuschauen muß, häufig nichts anderes als ein Trost in seiner Einsamkeit. Er ist eine Hilfe bei seiner Anstrengung, seine Gefühle der Eifersucht, die er ja seiner Mutter ersparen möchte, zu unterdrücken.

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Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, daß hier keinem Erwachsenen die Angst der Kinder und die Bedrohlich­keit des Sankt Nikolaus aufgefallen ist. Die Mütter wirkten keineswegs lieblos; sie gaben sich Mühe, den Kindern zu helfen, ihr Lied zu singen oder das Gedichtchen aufzusagen. Sie waren sichtbar bemüht, ihren Kindern ein schönes Fest zu bereiten, ein Erlebnis, an das die Kinder mit Freude, Rührung und Dankbarkeit zurückblicken sollten. Vielleicht haben sie ihr Ziel sogar erreicht, wenn es all den Kindern gelungen ist, nur die schöne Erinnerung im Bewußtsein zu behalten. 

Doch zweifellos mußten sie dazu intensive Gefühle verdrängen: die Angst vor diesem fremden Mann, der alle ihre Vergehen so genau zu kennen schien wie der allwissende Gott, die ohnmächtige Wut, sich als Kind nirgends verstecken zu können, und die Scham wegen der öffentlichen Rüge. Das Schlimmste schien mir jedoch, daß die Kinder mit all diesen Gefühlen allein gelassen wurden; die lächelnden Mütter hatten ganz offensichtlich kein Verständnis dafür, denn sonst hätten sie ihre Kinder niemals dieser Situation ausgesetzt.

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Warum fehlte diesen Müttern das Verständnis? Warum haben sie alle bis auf eine Ausnahme ihr Kind einem Fremden ausgeliefert, ihre Verantwortung an ihn delegiert, ihr Kind denunziert und zugelassen, daß es öffentlich von einer ihm unbekannten Person gerügt wurde? Warum haben sie zugelassen, daß andere Kinder es auslachten? Warum haben sie ihrem Kind all diese Gefühle zugemutet und es nicht in Schutz genommen, sich nicht mit dem wehrlosen Kind identifiziert?

Die geläufigste Erklärung ist immer die Überforderung der Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. Man denkt vielleicht: Die Hilfe des Sankt Nikolaus ist nun einmal institutionalisiert, warum sollte man nicht davon Gebrauch machen und Nützliches mit einer schönen Tradition verbinden? Doch der Sankt Nikolaus, auf den dieser Brauch zurückgeht, war ein Bischof, der in der Weihnachtszeit an arme Menschen Nahrung verteilte, aber keine erzieherischen Ratschläge damit verband und nicht mit der Rute drohte. Erst die erzieherischen Bemühungen der Eltern machten aus ihm eine strafende und lobende Instanz. Das ging so weit, daß noch im Nachkriegsdeutschland der Sankt Nikolaus manchmal mit einem Sack erschien, aus dem ein Kinderbein herausragte, damit das gerügte Kind gar keinen Zweifel daran hatte, daß es für seine Untaten in den Sack gesteckt werden kann.

Diese Information half mir unter anderem, die Haltung der heutigen Eltern zu verstehen. Eltern, die ihre Kinder noch vor dreißig Jahren einer solchen massiven Bedrohung ausgesetzt haben, gaben dem Kind gewiß keine Gelegenheit, sich gegen diese Grausamkeit zu wehren. 

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Die Gefühle mußten verdrängt werden. Wenn diese ehemaligen Kinder heute Mütter oder Väter sind und ein Fest mit dem Sankt Nikolaus organisieren, dann muß man sich nicht wundern, daß ihr Mitgefühl für ihr Kind in diesem Moment blockiert ist, daß ihre panischen, vor dreißig Jahren verdrängten Ängste für sie heute eine Barriere bilden, die sie vom Gefühlsleben ihrer Kinder trennt. Was ich nicht sehen durfte, darfst auch du nicht sehen; was mir nicht geschadet hat, wird auch dir nicht schaden. Aber stimmt es denn, daß es ihnen nicht geschadet hat, daß jede Tradition, nur weil sie in schönen Farben und Lichtern daherkommt, etwas Schönes, Gutes und Harmloses ist? Mit solchen Veranstaltungen und durch ihre Haltung erzeugen die Eltern im Kind die angstvolle Gewißheit, böse zu sein; eine Gewißheit, die es immer im Unbewußten behalten wird. Zugleich verunmöglichen sie ihm die Wahrnehmung der ihm zugefügten Grausamkeiten und verursachen seine spätere Blindheit.

Wenn die Mütter vor dreißig Jahren nicht ähnliche Grausamkeiten hätten verdrängen müssen, hätten sie heute offene Augen und Ohren für die Situation ihrer Kinder und würden sicher nicht zulassen, daß diese bedroht, geängstigt, beschämt, öffentlich ausgelacht und allein gelassen werden. 

Sie würden sicher nicht das ganze Jahr die Hilfe des Sankt Nikolaus brauchen, um ihre Kinder damit zu erpressen und sie so wiederum zu Erpressern zu erziehen. Sie würden heute schon darum bemüht sein, daß ihre Kinder weniger verdrängen müssen und später als Erwachsene für das, was sie tun, mehr Verantwortung übernehmen können.

Es gibt Menschen, die mir Übertreibung vorwerfen, wenn ich von Kindesmißhandlungen spreche, wo es sich bloß um eine zwar strenge, aber »normale Erziehung« handelt, die »nichts Außergewöhnliches« aufweist. Doch gerade weil diese Art der Erziehung so verbreitet ist, muß unbedingt davor gewarnt werden.

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