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11.  Besserwessi und Jammerossi  

 

 

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Die wechselseitigen Enttäuschungen und Beschimpfungen zwischen Ost- und Westdeutschen sind seit der Vereinigung ständig gewachsen. Heute herrschen mehr denn je Vorurteile, Klischees, Verdächtigungen und gegenseitige Schuldzuweisungen. Nicht umsonst ist »Besserwessi« zum Wort des Jahres avanciert. Solche Bezeichnungen transportieren vor allem Affekte, die nicht direkter ausgetragen werden können oder wollen, aber sie machen natürlich auf Kernpunkte der konflikthaften Beziehungen aufmerksam. 

Aus meiner Perspektive weisen solche Worte schlaglichtartig auf das deutsche Dilemma hin: Über 40 Jahre haben grund­verschiedene Sozialisationen auch unterschiedliche, nahezu konträre Charakter­eigenschaften und Verhaltens­weisen der Menschen in Ost und West gefördert bzw. unterdrückt. So weisen die aggressiven Schimpfworte auch auf Projektionen und Abspaltungen hin, die ein eingeschränktes, einseitiges und vor allem auch schuldhaftes Verhalten nicht wahrnehmen lassen wollen.

Im »Besserwessi« denunziert der Ossi seine eigene Ich-Schwäche, Einschüchterung und Gehemmtheit, wozu das »sozialistische« Leben ihn verbogen und genötigt hat. Am Wessi werden die Eigenschaften abgewertet, die man im Osten nicht leben durfte: Selbst­bewußtsein und Durchsetzungs­fähigkeit. Auf diese Weise findet also auch eine umfassende Schuld­verschiebung statt: Der »Besserwessi« bekommt den ganzen aufgestauten Unmut nicht gelebter individueller Souveränität ab. Freilich bietet der Sündenbock eigene Schuldanteile, die ihn eben auch so gut zum »Besserwessi« qualifizieren. Da ist vor allem das Unechte und Überzogene, die nicht gut gegründete Ich-Stärke, die meist nur aufgemotzte, durch Mode und Kosmetik hergemachte Pseudostärke, die deshalb nur allzu leicht als Arroganz und Überheblichkeit imponieren muß. 

Durch die Art und Weise des Beitrittes der ostdeutschen Länder mit der bloßen Übernahme aller westdeutschen Strukturen bekommt diese Überheblichkeit auch einen ganz real-existentiellen Drive, denn es geht eben wirklich um Macht und Einfluß, um Posten und Profit, um Immobilien und Grund und Boden. Wer die irrwitzige Formel »Rückgabe vor Entschädigung« zu Recht erklärt, schafft aus einer saudummen Borniertheit neues Unrecht — als wenn sich Geschichte, auch DDR-Geschichte, einfach ausradieren ließe.

Werden solche absurde, als Fehlentscheidung längst erkannte Bestimmungen nicht umgehend geändert, muß man entweder eine bewußt kolonialisierende Politik annehmen oder von irrationalen Mechanismen in der herrschenden Politik ausgehen.

Was hier für Recht erklärt wird, mißachtet ganz einfach nur das Leben der Menschen in der DDR. Dies ist ein eklatantes Beispiel für die Unmöglichkeit der bloßen Transformation fremder Entwicklungen auf dafür völlig andere Verhältnisse. Wer in der DDR ein Grundstück oder Haus erworben hat, sein Geld, riesige Mühen und einen zermürbenden Aufwand, praktisch alle verfügbaren seelischen und körperlichen Energien in seinen Grund und Boden gesteckt hat, um sich ein privates Refugium zu schaffen, der muß ein anderes Rechtsbewußtsein haben. Seine ganze Würde ist daran gebunden. Und jetzt einfach zu sagen: April, April, war alles ein Irrtum, das Grundstück gehört dir nicht mehr! — so viele menschliche Ungerechtigkeit kann nur mit Empörung beantwortet werden! Ein amerikanischer Farmer stünde wahrscheinlich eher mit einer Flinte vor seinem Haus, aber der ostdeutsche Eigentümer wird sich vermutlich leider eher auf dem Boden seines rechtlich erworbenen Hauses erhängen.

Solche Beispiele werfen nicht nur ein unmögliches Licht auf den sogenannten »Rechtsstaat«, dies ist auch kein rechter Staat mehr, wenn die westdeutschen Ansprüche so einseitig bevorzugt werden. Hier sind nur individuelle Lösungen und Klärungen angebracht, die die sehr verschiedenen Verhältnisse und Umstände berücksichtigen würden. Es ginge also um Entscheidungen, die mit den betroffenen Menschen zustande zu bringen wären. Das braucht Gespräche, Kontakte, gegenseitiges Einfühlen und Vergleiche — alles Dinge, die im vereinten Deutschland leider viel eher gemieden als gepflegt werden. Ein innerer Friede kann so nicht wachsen. Die DDR war eine historische Tatsache, ob uns das gefällt oder nicht — so zu tun, als sei alles aus unserem Leben hier Null und nichtig, ist eine unerträgliche Arroganz, die ihre destruktiven Wirkungen nicht verfehlen wird.

In Ostdeutschland findet im Moment ein umfassender Elitenaustausch derart statt, daß fast alle Führungs­funktionen in der Gesellschaft, die früher von SED-Mitgliedern besetzt waren, jetzt von Westdeutschen eingenommen werden. Plumper und alberner, aber leider auch gefährlicher, was den seelischen Frieden in Deutschland anbetrifft, kann sich die Fortsetzung der unveränderten autoritären Verhältnisse und Strukturen nicht ins Bild setzen.

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 Der »Besserwessi« als Sündenbock — immer unverblümter wird der Haß und die Enttäuschung gegen die Westdeutschen geschleudert — konzentriert auf sich das schuldhafte Verhalten vieler Ostdeutscher, die bisher nicht genügend bereit waren, eigene Fehlentwicklung einzugestehen, schuldiges Mitläufertum zu erkennen, die umfassenden schuldigen Strukturen zu benennen und aufzulösen und den Einfluß der ehemaligen wirklichen Täter zu beenden. Und natürlich gibt es Anlaß genug zur Schuldverschiebung, wenn die Westdeutschen so verblendet sind zu glauben, daß die deutsche Einheit vor allem ein Problem wäre, das mit Geld zu lösen sei. Die Reduzierung der Politik auf das, was sich rechnet, ist der Ausdruck einer »Kollektiv«-Neurose, die dem Geld all die Kraft zuschanzen will, die an Natürlichkeit und Lebendigkeit praktisch verloren oder buchstäblich verkauft wurde. Der Begriff »Besserwessi« prägt und verbirgt die Schuld von beiden Seiten.

Die Vereinigung beschert uns im Osten einen Kulturschock. Wir sind an Wissen und Erfahrung im Umgang mit westlicher Lebensart Anfänger, hinsichtlich Kapital und funktionsfähigen Strukturen sind wir ein armes Entwicklungsland, und selbst wenn es hier noch wirtschaftlich »blühen« sollte, was unverdrossen wider besseres Wissen, also lügend, weiter behauptet wird. blieben wir überwiegend die Abhängigen neuer Herren. Das würde uns auf keinen Fall von der problematischen Untertanen-Mentalität befreien helfen, zu der wir über Jahrzehnte gezwungen waren. Aber unsere Stärke liegt in der aus Verzweiflung geborenen Verweigerung, die Macht auflaufen und langsam ausbluten zu lassen. Das sollte keiner unterschätzen.

Es ist tragisch, mit ansehen zu müssen, wie durchaus auch diejenigen Westdeutschen, die guten Willens und mit bester Absicht hierher gekommen sind, nicht selten von den Ostdeutschen »verheizt« und »ausgehungert« werden. Andererseits haben sie sich schon so sehr hier engagiert, daß sie sich als »Wossis« auch zu Hause nicht mehr zurechtfinden oder dort in Distanz geraten, weil ihre Sorgen und Nöte im Westen keiner mehr hören will und sie selbst an den hohlen Schicki-Micki-Themen keinen Geschmack mehr finden können.

Ostdeutschland ist wie ein Kriegsschauplatz, über den nahezu generalstabsmäßig entschieden wird. Auch bestes Recht ist fremdes Recht, auch die erfahrensten West-Experten sind neue Herrscher und die Demokratie wird zur Diktatur des Westens über den Osten.

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Wer die Vereinigung so gewollt hat, ist schuldig, wer sie so zu verantworten hat, ist noch schuldiger, wer die Verhältnisse so lassen und weiter festschreiben will, ist am schuldigsten. Mittlerweile verfügen wir über jede Menge neuer Erfahrungen, die unsere Schuld vermehren, wenn wir die Erkenntnisse nicht nutzen. Vorerst auf den Punkt gebracht heißt das, wir müssen für ganz Deutschland neue gesellschaftliche Strukturen finden und aufhören, den Osten nur anpassen zu wollen, was nicht funktionieren kann. Dagegen stehen die erheblich unterschiedlichen Bedingungen, die entgegengesetzten einseitigen Sozialisationen und vor allem die globalen Probleme auf dieser Welt.

Und für die »Jammerossis« läßt sich Vergleichbares sagen. Damit bekämpft der Westdeutsche die Eigenschaften, die er selbst mühevoll verbergen und unterdrücken lernen mußte: Schwäche, Unsicherheit, Abhängigkeit und Ohnmacht. Diese menschlichen Eigenschaften taugen nicht für den »Markt«, sie schmälern nur den eigenen Marktwert und müssen deshalb unter einem Make-up verschwinden. Mit der abwertenden Beschimpfung soll die Sehnsucht nach einem entspannteren und passiveren Leben gebannt werden, die wir im Osten mit unserer größeren Hilflosigkeit und Larmoyanz provozieren. Verständnislos bis angewidert reagieren zunehmend die Westdeutschen auf ostdeutsches Gebaren, das sie aus eigenen Abwehrgründen nicht verstehen wollen: vor allem die Klagsamkeit. Sie ist unser angelerntes Verhalten, um die Obrigkeit zu bestrafen und um sie vielleicht doch noch erweichen zu können, sich besser um uns zu kümmern. Ein sinnloses Unterfangen, das nur durch Wut, Schmerz und Trauer aufgelöst werden kann!

Aber auch die Begehrlichkeit nach gleichem Lohn und gleicher Rente, letztlich nach gleichem Lebensstandard wie im Westen, ist ein infantiles Verhalten, das real nicht zu erfüllen ist, aber die Westler an ihrem empfindlichsten Punkt treffen und aufreizen muß, nämlich was sie sich so »hart erarbeiten« mußten auf Kosten ihrer Gesundheit, ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen und der natürlichen Bedürfnisse. Im »Jammerossi« wird also nicht nur östliche Fehlsozialisation denunziert, sondern darin spiegelt sich auch die Not westlichen Wohlstandslebens. In der ehemaligen DDR wird jetzt sozusagen die psychologische Urgeschichte der ehemaligen BRD noch einmal neu geschrieben. Leiden, leiden, leiden. Das will der Westdeutsche nicht sehen, und deshalb klammert er sich nur zu gern an alle negativen Eigenschaften, die wir aus der roten Diktatur mitbringen.

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Mit diesen gegenseitigen Schuldzuweisungen und Feindbildern steuern wir in Deutschland auf einen sozialen Krieg zu, der uns von jugoslawischen Verhältnissen nur noch durch den höheren Lebensstandard und die deutschen Untugenden von Gehorsam, Ordnung und Disziplin trennt. Aber wenn die Arbeitslosigkeit im Osten voll durchgeschlagen sein und ihren »Urlaubscharakter« verloren haben wird und die »sozialen Auffangnetze« durchlässiger geworden sind, wenn also immer mehr Menschen auch auf der Straße rumlungern müssen, weil sie ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen können, dann kann uns vermutlich nur noch eine neue destruktive Diktatur »retten«, die die jetzt unbewältigte und hin- und hergeschobene Schuld dann wieder auf einen gemeinsamen Außenfeind ablenken wird. Was wir jetzt nicht als Schuld begreifen und bei uns belassen, das wird uns erneut einholen, unsere Geschichte hat es uns wiederholt gelehrt.

Der »Besserwessi« ist ohne den »Jammerossi« nicht denkbar, wie auch andersherum, beide bedingen sich gegenseitig. Die Relation definiert die Charakteristika. Gegenüber einem Ostdeutschen weiß der »Besserwessi« eben alles besser, weil er nur etwas zu vermitteln hat, aber selbst nichts lernen will — er lehrt und belehrt, doziert und dominiert, er beherrscht die Szene, er spricht mehr, lauter und bestimmter, ist souveräner, selbstbewußter und zupackender — der »Jammerossi« ist bedächtiger, vorsichtiger, zurückhaltender, er ist eher scheu und unsicher, verlegen und linkisch oder plump und naiv, er nörgelt und klagt in sich hinein, bleibt nach außen aber lieber freundlich und zutraulich. Solche Eigenschaften provozieren sich immer wechselseitig, wenn sie aufeinandertreffen. Dies verursacht hunderttausendfach verstärkende Störungen: Der eine ist für den anderen praktisch der Kontrast, der die problematische Seite des Gegenüber erst richtig heraushebt. So muß das Unverständnis aneinander wachsen, die gegenseitige Bedrohlichkeit und Ablehnung zunehmen, und am Ende steht der Haß. Aber in Wirklichkeit erkennen und bekämpfen wir am anderen nur die Seiten, die wir selbst nicht leben durften, und deswegen sind wir zur Entrüstung durchaus berechtigt, nur sind die Adressaten dann ganz andere.

Uns verbindet eine gemeinsame Geschichte und Tradition, Sprache und Kultur, und wir stehen uns dennoch so verständnislos bis feindselig gegenüber.

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Diese Kluft zwischen uns kann nicht in 40 Jahren einfach so entstehen, sie entspricht eben nur einem psychischen Abwehrvorgang, den die Spaltung Deutschlands befördert hat. Statt Schulderkenntnis wurde die psychische Energie in Feindbilder und einseitige Entwicklungen investiert. Mit der Vereinigung Deutschlands werden die abgespaltenen und projizierten Energien wieder zurückgeführt. Schulderleben wäre nun wieder möglich, ja wird uns geradezu abverlangt, aber leider ebenso angstvoll gemieden und verhindert. Für die zusammengebrochenen politischen Feindbilder sollen jetzt ihre psycho­log­ischen Schatten den Schutz vor bitteren Wahrheiten ermöglichen. Durch keine Mauer mehr voreinander »geschützt«, kann dies verhängnisvoll werden, die wachsenden Vorurteile sind beredte Zeichen dafür. Wenn wir nur begreifen könnten, daß wir gleichwertige, nur andersartig ausgeprägte Probleme und Störungen in uns tragen, obwohl das sozialistische System so jämmerlich gegenüber dem glänzenden und »erfolgreichen« Kapitalismus versagt hat!

Wie wenig die auf Geld gestützte Macht in der Lage ist, die vorhandenen Schwierigkeiten wirklich zu bewältigen, kann nun inzwischen jeder sehen, und viele müssen es leider auch fühlen, und so müssen wir die siegesgewisse Überheblichkeit als typische Fehleinschätzung, als ein Symptom der West-Neurose erkennen. Nicht wir im Osten sind daran schuld, daß ihr im Westen euch so geirrt habt! Dagegen ist es ganz einfach anders: Die deutsche Einheit kostet nicht zuviel — sie ist nur durch Geld nicht herstellbar! Und wir im Osten sind durch das Grundgesetz, die verbrieften Menschenrechte und die DM nicht von unserer Schuld zu erlösen.

Der »Beitritt« befreit uns nicht von unseren Problemen, er bringt sie erst richtig ans Licht. Wir verharren in der Abhängigkeit. Wir sorgen sogar für eine verschärfte Abhängigkeit durch Verschuldung und Enteignung (wir verwandeln unsere Schuld in Schulden und sehen tatenlos zu, wie unser »Volkseigentum« an das Kapital verramscht wird). Diese treu-doofe Beschränktheit, ein Symptom der Ost-Neurose, führt nicht in die Freiheit, sondern geradewegs in die neue Unterwerfung. Die Übervorteilung der Ostdeutschen und die gnadenlose Ausnutzung ihrer Naivität ist die Rache der »Besserwessis« für die Demaskierung der westdeutschen Grandiosität; die verschlingende Gefügigkeit ist die Rache der »Jammerossis« für den blamablen Kinderglauben an ein besseres Leben durch VW und Coca Cola. Solange wir in Kategorien von Über- und Unter­legenheit denken und handeln, bleiben wir in der Gefahr der schuldverschiebenden Projektion und damit bei der zunehmenden Wahrschein­lichkeit destruktiver Eskalation.

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Wie erschreckend tief das Unverständnis reicht, sei an einem einzelnen Beispiel erzählt: Wolf Biermann hatte gerade »Sascha-Arschloch« geoutet, und die Medien stürzten sich auf diese Gelegenheit, Schuld­verschiebung zu befördern. Im Privat­fernsehen war Sascha Anderson zur Talkshow geladen. Die Moderatorin aus dem Fernsehen spielte in typischer Manier den Verfolger, und der bloßgestellte IM versuchte gar nicht mehr zu entkommen. Nur verstehen konnten sich die beiden dennoch nicht.

Die Wessi hatte ihren Plan, den Bösewicht aus dem Osten zu überführen: Das angebliche Doppelleben, der Freundes­verrat, die Unmoral sollten durch die bohrenden Fragen aufgedeckt werden. Bei dieser unerträglichen Vorführung schlug meine tiefe Abneigung gegen Denunziantentum sofort um, und ich geriet unweigerlich auf die Seite des Täters, der angesichts der vorurteilshaften, sensationsgeilen und zur Einfühlung unfähigen Moderatorin hoffnungslos zum Opfer wurde. Sie konnte ihre eigene Betroffenheit nicht spüren und schlug sie dem offenkundig Schuldigen um die Ohren. Gab es da noch einen Unterschied zwischen einem Führungsoffizier der Stasi und dieser westdeutschen Journalistin — der IM war nur noch ein hemmungslos für die eigenen dunklen Interessen instrumentalisiertes Menschen­objekt.

Anderson offenbarte etwas von seiner seelischen Not, einem Selbstmord­versuch, der ihm immerhin für einige Zeit die Stasi vom Halse gehalten hatte. Die Stasi war offensichtlich in der Lage, ihrem Handlanger nach der erlittenen Krise eine Pause zu gewähren, nicht aber die Westdeutsche, die völlig unbeeindruckt davon insistierte, daß der Spitzel doch moralisch versagt hätte. Die unverdrossen entrüstete Frage, ob er denn nicht gewußt habe, was er tat, und weshalb er sich nicht weigerte und ausstieg, konnte überhaupt nicht greifen, weil sie nichts von der gewöhnlichen Bedürftigkeit, der umfassenden Unsicherheit und sehnsüchtigen Abhängigkeit begreifen will, die autoritär entfremdete Menschen plagt. Sie könnte sich in ihm spiegeln, statt ihn zu jagen. In einem öffentlich zelebrierten Sündenbock-Sado-Masochismus wird der Ossi mit seiner nicht mehr zu verbergenden Schuld benutzt, um die clevere Selbstgerechtigkeit der Wessi nur umso heller erstrahlen zu lassen. Dabei wird aber mit der gespreizten Anklage nur die eigene Bedürftigkeit im anderen bekämpft.

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Der eine wurde zur dunklen Gestalt eines tragischen Spitzels gemacht, die andere zur strahlenden Heldin in einer Show für Einschaltquoten, aber beide sind von vergleichbaren Bedürfnissen getrieben, die in unterschiedlichen Systemen nur verschieden ausgetragen werden. An so einem Punkt stelle ich mich an die Seite des angeklagten IM und verfluche die Verhältnisse, die uns so jämmerlich entwürdigen, hier wie dort.

 

Wer einen offenen Blick für die »Übergangs­verhältnisse« in Ostdeutschland hat, dem kann die Groteske nicht verborgen bleiben. Es ist so, als wenn sich das ganze Land mit einem neuen, aber viel zu großen oder völlig unpassenden Anzug bekleidet hätte: Vor den finsteren Ruinen sozialistischer Schlamperei prangen nun die riesigen bunten Reklameschilder der weltbekannten Marken — endlich dürfen sie auch die armen Menschen im Osten beglücken mit Aprilfrische, porentiefer Reinheit, dem großen Duft der Freiheit, der quellklaren Erfrischung und der allergrößten Automarke, die geradezu das pure Glück bedeutet. Und gleich daneben stehen die ausgeschlachteten Autowracks, lieblos einfach stehengelassen oder wie vorwurfsvoll einfach »hingeschissen«, der Dreck, der bis vor kurzem noch besser gehegt und gepflegt wurde als die eigenen Kinder. Diese absurden Bilder sprechen für sich, es kopulieren die Symbole der Morbidität zu einem großen Stilleben der Zeit. Dahinter aber steckt die reine Not und die nackte Gewalt.

Welches Ausmaß diese Gewalt bereits angenommen hat, und wie sich unter den mannigfachen Schuld­ver­schiebungs­versuchen ein neues großes gesamtdeutsches Feinbild herauskristallisiert, dies ließ sich an den unerträglichen Gewaltexzessen von Rostock und ihrer Medienvermittlung studieren.

Ich sage es vorneweg, daß die Masse der Gaffer und Gewaltanheizer, die ihre fiesen Interessen von den gewalt­bereiten Jugendlichen austragen läßt, nur noch ekelerregend und beschämend ist. Und sie ist eine große Gefahr. Da ist sie wieder, die Masse der aufgebrachten Spießer, die begeistert in den Krieg und jubelnd an den Bonzen vorbeigezogen ist. Mich widert das an, auch wenn ich die psychosozialen Hintergründe und Ursachen verstehen kann. Meine moralische Entrüstung will ich dadurch aber nicht aussetzen.

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Zu den Gründen, die Rostock zu einem Fanal haben eskalieren lassen, gehört ganz sicher eine besondere ost­deutsche Vermengung von Alt- und Neulasten, von mörderisch aufgestauter Aggressivität, die die rote Gewalt­herrschaft massenhaft produziert hat, und einer sozialen und existentiellen Verunsicherung, die in ihrem Ausmaß nur den Ergebnissen eines Krieges gleichkommt, es gehört aber auch das bemerkenswerte Verhalten der Politiker und der Polizei dazu. Ich werde den Verdacht nicht los, daß gegen die Gewalt nicht entschlossen genug vorgegangen wurde, weil die Unruhen umfassend für dunkle Interessen instrumentalisierbar waren.

Worum es mir hier aber geht, das ist die Überlagerung der Schuldverschiebungen von Ost nach West und umgekehrt mit dem neuen Feindbild Asylant. Entgegen allem statistischen Wissen wurde in den Westmedien mindestens teilweise der Eindruck vermittelt, es handele sich hier um ein vor allem ostdeutsches Problem, daß von hier die Gefahr des Rechtsradikalismus in den Westen schwappe. 

Ich bin der letzte, der die Besonderheiten der ostdeutschen Gefühlslage wegdiskutieren möchte, aber wieso ist nach allen Umfragen die Neigung zum Rechtsradikalismus im Westen höher, wieso werden dort Asylantenheime genauso mit Molotowcocktails angegriffen wie hier? Die ganze Hektik um die Debatte der Grundgesetzänderung zeigt doch, daß wir hier ein gesamtdeutsches Problem haben und die Asylbewerber und Fremden gesamtdeutsch zu Sündenböcken gemacht werden. Dennoch aber wurde tagelang über die ostdeutsche Seelenlage philosophiert, während die dann doch und Gott sei Dank auftauchenden Berichte über eine vergleichbare Gewaltbereitschaft bei den Westdeutschen so merkwürdig blaß geblieben sind.

Es ist genau dieser Mechanismus, den ich anprangern will, wenn ich behaupte, die Westdeutschen reden nicht von sich. Was passiert denn im Wirtschaftswunderland, wenn kein Geld mehr da ist, was steigt denn da an ernsthaft gar nicht bewältigter Vergangenheit auf, wie stabil ist diese Demokratie? Die zunehmenden Wahlerfolge der Rechtsradikalen gab es dort schon vor der Wende und den »Einheitslasten«, jetzt aber weist der Versuch, das ganze Problem in den Osten zu verlagern, nur daraufhin, daß man die eigene Instabilität gerne woanders stellvertretend bekämpfen möchte.

Im superordentlichen Sicherheitsstaat DDR war auf dem explosiven Druckkessel des Gefühlsstaus ein zuverlässiger Deckel aus Angst und Einschüchterung gesetzt worden. Die Hoffnung, als neuer Deckel könne schnell der »Aufschwung Ost« gesetzt werden, damit der Bodensatz an Entfremdung wie im Westen durch Wohlstand verdrängt werden kann, geht nicht auf. Es macht eben keinen Sinn, wenn über diese Probleme ohne die persönliche Betroffenheit geredet wird, die allein es erlaubt, aus dem Diskurs herauszutreten, der aus dem anderen immer nur das Objekt macht, das den eigenen Defekt verschleiern helfen soll. Und der hat bei uns Deutschen eine gemeinsame Wurzel, auf die hinzuweisen ich nicht müde werden will.

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