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12  »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein ...«

 

 

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Wir wollen — wir müssen »Vergangenheit bewältigen«. Aber was darunter zu verstehen ist, bleibt oft sehr vage. Zu befürchten ist, daß viele damit nur einen Vorgang meinen, anderen wieder die Schuld zuzuschieben, um dann mit »neuem Optimismus voran«, selbst aber unverändert, die neue geschichtliche Chance wiederum zu Schanden zu reiten — ein Karussell der Schuldabwehr, das immer wieder neue Qualen schafft.

Vergangenheit zu bewältigen kann in Wirklichkeit nur heißen, meine Schuld zu erkennen, die Fehler des eigenen Lebens zu benennen, mit der festen Absicht, es fortan besser zu machen. Nur wenn ich es wage, mir selbst auf diese Weise weh zu tun, auch mit der bittersten aller Erkenntnisse, daß nichts ungeschehen, nichts wiedergutzumachen und nichts nachzuholen geht, dann reift neues Leben, das die alte Schuld nicht wiederholen muß, aber neue auch nicht vermeiden kann.

Die Wunden, die Schuld in unsere Seelen schlägt, die schließen sich nicht mehr, und wir werden mit dem ewig schmerzhaften Ausfluß andere zu verunreinigen suchen, sobald sich nur die geringste Möglichkeit bietet, oder wir werden uns immer wieder des eigenen Schmerzes erinnern müssen. Deshalb sind die Schuldigen so selten und die Sündenböcke so zahlreich. 

Luthers Wort vom Sündige tapfer! kann ich so verstehen: Wer sich unerschrocken vom Leben mitnehmen läßt, der wird unweigerlich auch sündigen müssen, doch das ist etwas völlig anderes als derjenige, der das Leben in Ordnungen zwängt, um die Sünde vermeiden zu wollen und dabei noch unver­meidlicher immer mehr Schuld verursacht.

Die Aufgabe, die uns heute zu verstehen aufgegeben wurde, betrifft das verhängnisvolle Zusammenspiel von sozialistischer Diktatur, willfährigem Volk und westlichem Größenwahn. Es ist die Trias von Repression, Unterwürfigkeit und Verführung. Ich denke, nur aus dieser Gesamtschau können wir uns dem umfassenden deutschen Problem halbwegs annähern: Die totalitäre Macht wurde durch die Unterwerfungsbereitschaft des Volkes aufgebläht, und die so ermutigte Gewalt wiederum folgte der Einladung und tat immer unbeherrschter, was man ihr so leicht machte.

Und zu dieser Aufschaukelung der sich ergänzenden Verhaltens­weisen, die aber aus der gemeinsamen Quelle einer ungestillten Bedürftigkeit entspringen, die einerseits durch Macht und andererseits durch Anpassung beruhigt werden soll, gesellt sich aus gleicher Herkunft der mit Fleiß herausgeputzte schöne Schein des Westens, der zur Flucht verlockt. Solange der Westen sich so darstellen und damit Zulauf provozieren konnte, war es leicht, Größe und Erfolg zu suggerieren, um den Preis der Entfremdung und Anpassung an diese Lebensart nicht voll erleiden zu müssen. Zweifel, schlechtes Gewissen und Schuld konnte so immer mit Blick auf den Osten beschwichtigt werden.

Es muß nicht verwundern, daß die verwandten dunklen Interessen beider Systeme sich bald zum schmutzigen Geschäft des Menschen­handels zusammenfanden: für beide gewinnbringend und macht­stabilisierend. Die Formel von den »menschlichen Erleichterungen«, die immer auch — zumindestens vordergründig — stimmt, muß endlich zurechtgerückt werden. Die Deutschland­politik über die Mauer hinweg sprach meist von »Familien­zusammen­führung«, »Reise­erleicht­erung«, »Haftent­lassung«, ohne jemals ernsthaft die tieferen Gründe für getrennte Familien, Reisewünsche und Inhaftierung verstehen oder gar benennen zu wollen.

Flucht und Ausbürgerung, Ausreise und »Freikauf« müssen eben auch als eine unbewußte »konzertierte Aktion« der Schuld­abwehr verstanden werden. Die Fliehenden wollten sich oft genug nicht der inneren Problematik ihres Lebens stellen und flohen nach außen; die sozialistische Macht hatte ein wirksames Überdruckventil und konnte sich jeder unliebsamen Konfrontation und Auseinander­setzung entziehen und dabei auch noch Devisen verdienen. Und der Westen konnte sich ständig moralische Selbstgerechtigkeit und Überlegenheit zusprechen.

Erst nachdem die üble SED-Propaganda ihre ekelerregende Wirkung, auf mich verloren hat, kann ich solche Begriffe wie »Abwerbung« in einem neuen Licht sehen: Die Flucht zu unterstützen und zuletzt als Kollektiv-Übersiedlung politisch zu vollziehen, was als Wandel und Auseinander­setzung hätte geschehen müssen, geht auch zu Lasten der West-Neurose, die vor allem durch die eigene Flucht in ein Größenideal unterhalten wird und zum aufgenötigten Minder­wertigkeits­komplex der Ost-Neurose so gut paßt es wie der Wind zum Segel. Flucht und Beitritt sind für beide Seiten der unglückliche und unheilvolle Versuch, durch symptomatische Maßnahmen eine schnelle »Schmerzbefreiung« zu erreichen, was aber nur durch ein tieferes Verstehen mit unvermeidbarem Schuldschmerz allmählich ausheilen könnte.

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Wir Ostler tragen vor allem Schuld an unserer Unterwerfungs­bereitschaft — sie vor allem muß unser Thema sein, mehr als die russischen Panzer und der Stasi-Terror, mehr als SED-Herrschaft und Existenzbedrohung: Das alles war leider auch bittere Realität, aber damit unser Verhalten erklären zu wollen, das bringt uns nicht wirklich weiter. Ihr Westdeutschen tragt vor allem Schuld an der Retter-und-Helfer-Mentalität, die viel mehr als der Auftrag des Grundgesetzes (der auch nicht einmal richtig erfüllt wird) mit Eifer das eigene Lebensarrangement verkaufen will, um sich selbst nicht befragen lassen zu müssen. 

Diese Scheu ist das Schmieröl für die heutige Schuld, die wir im Osten aus gleicher Furcht schon längst auf uns geladen haben. Allein durch unsere 99-prozentige Wählbeteiligung sollte uns jede Entschuldigung auf der Zunge vertrocknen. Für diese Schuld ist keine Erklärung erlaubt. Und ein Westdeutscher ist nur ohne Schuld, wenn er kommt zu sehen, zu verstehen, zu lassen und sich vielleicht sogar selbst zu verändern, statt dafür zu sorgen, daß wir in allem so werden müssen, wie er selbst. (Merkt ihr denn nicht mehr, wie ihr in der Orientierung eures Lebens längst den steuerbegünstigsten Weg eingeschlagen habt, wie abhängig und angstvoll ihr dem Willen der Arbeitgeber folgt, wie ihr verfallen an das Geld seid, wie ihr nur noch rechnet und alle Probleme in Kosten verwandelt, und wie der Erfolg und Gewinn fast alle Mittel heiligt, und wie eure Moral längst von Moden und Meinungen und Medien bestimmt wird!)

Der bisherige Vereinigungsprozeß, ungeachtet aller Beteuerungen, ist nichts anderes als die unbarmherzige Expansion des westlichen Lebensstiles auf Kosten der Ostdeutschen. Wir werden behandelt wie die Indianer, unser Gold sind vor allem Haus und Boden. Die rationalen Erklärungen notwendiger Realpolitik reichen nicht aus, um dieses zwanghafte Verhalten zu begründen. Die bürokratische Brutalität, mit der alles nach Recht und Gesetz abgewickelt wird, läßt einerseits eine Aggressivität und Gierigkeit erkennen und andererseits eine Unfähigkeit, Freiräume und Veränderungen zuzulassen, daß das Freiheitlich-Demokratische und Sozial-Markt­wirtschaftliche nur noch als eine Farce, als Bemäntelung einer in Wirklichkeit schon längst wieder erstarrten inneren Unfreiheit empfunden und erkannt werden kann.

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Es gibt eine Alternative zum westdeutschen Rechtsstaat und zur westdeutschen Verwaltung: einen gesamt­deutschen Rechtsstaat und eine gesamtdeutsche Verwaltung, die der geschichtlichen Entwicklung gerecht wird und nicht borniert und brutal westdeutsche Einseitigkeit zum Maßstab aller Dinge (... so wie im Westen, so auf Erden!) zwingen will. Welche Not muß darin liegen, welche Angst vor Erkenntnis und Veränderung? Eine Not, die durch Erfolg bisher gut abgewehrt werden konnte, sich nun aber zusehends in Schuld verwandelt.

Wie sehr kenne ich diesen Prozeß, der die Entwicklung verweigert und selbstgerecht-verzweifelt an den Erfolgen von gestern festhält. Der Neurotiker findet in seiner Not zunächst fast immer einen für sein Überleben erfolgreichen Platz und Weg, auf dem ihn alsbald Last und Behinderung einholen, bis er sich selbst zerstört oder den Lauf der Dinge aufhalten will. So habe ich den »lieben Jungen« später verzweifelt erschöpft gefunden, das »süße Mädchen« als traurige Suizidale, den »begabten Schüler« als ausgeflippten Süchtigen, das »brave Kind« als frommen Eiferer, die »große Leistungssportlerin« als unfähige Mutter, die »tapfere Tochter« der alleinerziehenden Mutter als beziehungsunfähige und männerfeindliche »Emanze«, den gewissenhaften und tüchtigen »Klassenprimus« als fanatischen Bonzen, gewissenlosen Grenzoffizier und ehrgeizigen Wissenschaftler mit IM-Karriere. Von den vielen Erkrankungen wollen wir gar nicht erst reden, die auf Kosten der Eigenschaften gehen, die mensch als Kind erwerben mußte und später nicht wieder aufgeben konnte, selbst wenn sie längst als unnötig, überflüssig, ja sogar schädlich erkannt waren.

Die deutsche Vereinigungspolitik erscheint mir ähnlich tragischen »Gesetzen« zu unterliegen. Wer und was hindert uns eigentlich, aus den praktischen Erfahrungen lernend, den Einigungsvertrag, längst als unzureichend erkannt, nachzubessern; ein gemeinsames Grundgesetz zu schaffen; die Treuhand zu kontrollieren und überhaupt mit sozialen Lebensformen zu experimentieren, die den grundlegend veränderten Bedingungen gerecht werden könnten. An Wissen und Vernunft dazu kann es nicht mangeln, sondern es ist vor allem die Angst der Veränderung, die schmerzliche Erkenntnisse über unsere Vergangenheit und Gegenwart vermeiden will und somit zur Schuld des Unterlassens und Duldens und gedankenlosen Geschehenlassens wird.

 

Ich schreibe dieses Buch, um der falschen Entrüstung, die der Schuldabwehr dient und Sündenböcke macht, ihre gefährliche Wirkung zu nehmen und um die notwendige Entrüstung, die von uns letztlich Lebens­veränderung erfordert und eigene Schmerzen nicht mehr vermeiden will, zu ermutigen.

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Im Schuldbegriff ist die komplexe menschliche Existenz enthalten und kann moralisch, theologisch, juristisch, psychologisch, soziologisch und politisch dekliniert werden. Die Perspektive, aus der ich denke und schreibe, sucht nach Hintergründen und Erklärungen für vermeidbare Schuld — einer Schuld, die aus schädigenden Erfahrungen und sozialen Defiziten in der Kindheit, aus unnatürlichen Normen und Geboten, aus autoritärer Erziehung und einer zerstörerischen Kultur erwächst und prinzipiell verminderbar ist. Diese psycho-sozialen Determinanten ermöglichen ein Verstehen, das auch zur Veränderung aufruft.

Und Psychotherapie ist zum Beispiel ein menschliches Arrangement, das einen solchen Prozeß der Veränderung befördern und erleichtern hilft. Die Verantwortlichkeit und die Freiheit des Menschen werden dadurch nicht aufgehoben. Der Mensch ist in einer nennbaren Größe frei, sich gesund oder krank, glücklich oder unglücklich zu machen, schuldig zu werden oder schuldfrei zu bleiben, auch frei, sich zu töten, oder im wörtlichsten Sinne frei, sich »das Leben zu nehmen«. Um dieser Verantwortung gerecht werden zu können, brauchen wir Wissen, Erkenntnis und Freiräume. Aber auch dafür müssen wir bereits einstehen. Zu unserer Verantwortung zählen also auch das Ringen um entsprechende Vorsorge, der Kampf gegen ungerechte soziale Verhältnisse und unser Bemühen um entsprechende Therapiemöglichkeiten. Allerdings wäre auch damit noch längst nicht das Problem menschlicher Schuld bewältigt — es ist überhaupt nicht zu »bewältigen«, und dennoch kann uns keiner die Pflicht um entsprechende Bemühungen abnehmen, ja nicht einmal das notwendige Maß der Verpflichtung ist festlegbar. Das nie endende Ringen und Bemühen bleibt uns für immer auferlegt.

Würde es uns gelingen, die soziale Deprivation als Schuldquelle zu verringern, so bliebe die Schuld des Menschen, die seiner Schwäche anzulasten ist, kein unfehlbares Leben gestalten zu können. Menschliches Leben wird immer mit den Gesetzen der Natur und der Vernunft, die selbst gegensätzlich sind, in Widerspruch geraten müssen. Allerdings ist ein Mensch, zu Ordnungen gepreßt und zu gradlinigem Verhalten genötigt, dem krummen Leben am schlechtesten gewachsen und wird mehr Schuld anhäufen als einer, der auf die veränderlichen Lebensbedingungen auch flexibel und dynamisch zu reagieren vermag. Dies aber hat mit Opportunismus nichts zu tun, der zur ewig gleichen Anpassung an den Willen der Mächtigen auffordert.

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Es bleibt auch die Schuld der verweigerten Liebe, die allerdings von den »gottesfürchtigen« Menschen immer wieder mißverstanden wird, die sich zur Liebe für den Nächsten zwingen wollen und damit ein Unheil nach dem anderen anrichten, obwohl geschrieben steht: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«, was ja die Selbstliebe zur Voraussetzung für die Nächstenliebe macht. Wir brauchen einen »Christen« nur zu fragen, ob er sagen kann: »Ich habe mich lieb«, »ich finde mich gut«, um zu wissen, was sein Dienst für den Nächsten wirklich wert ist. Die meisten aber brauchen die »Mühseligen und Beladenen«, um sich selber aufzuwerten.

Das können wir zur Zeit ständig hören wie fragwürdiges Verhalten im Nachhinein dadurch geadelt werden soll, daß es für andere getan worden sei. Nur Kinder, Hilflose und Schwerbehinderte brauchen eine schützende Vertretung ihrer Rechte und eine liebevolle Betreuung. Wer aber für »menschliche Erleichterungen« am durchschnittlichen Erwachsenen einstehen will, sollte sich klar sein darüber, daß er innerhalb autoritärer Strukturen handelt, wodurch seine »Hilfe« vor allem Abhängigkeiten und Unmündigkeiten verstärken wird und nur um diesen Preis die eigene »Großartigkeit« aufgebaut werden kann.

Es bleibt auch die Schuld der juristisch eindeutig einklagbaren Verbrechen, die durch Gerichte geahndet und bestraft werden können. Glücklich ein Volk, das sich ein gutes Rechtssystem schaffen konnte, aber damit kann politisches Unrecht, skrupelloses Mitläufertum, Vorteil erheischende Intrige und Bosheit, Vertrauensbruch und Verrat nicht gesühnt werden. Die Ohrfeigen, die wir »friedlichen Revolutionäre« auszuteilen zu feige waren, kann nun kein Gericht im Nachhinein verpassen.

Wenn wir das Auge um Auge und Zahn um Zahn tatsächlich nicht mehr wollen, werden wir uns auch abfinden müssen, daß Unmoral und Willkür ungesühnt bleiben, ja sogar wuchern und triumphieren können. Zugleich ist diese alttestamentarische Rache ein bedenklicher Pfad der Eskalation und stets eine Gefahr der Überfrachtung mit Affekten anderer Genese. Die Bereitschaft, Schuld durch Sühne aufwiegen zu wollen, bleibt dort eine Möglichkeit, wo justiziable Bestrafung nicht hinreicht, sie verbleibt dann aber auch in der persönlichen Verantwortung des Einzelnen. Das Risiko neuer Schuld ist dabei nicht auszuschließen, allerdings ist es aber auch von höchstem seelischen Wert für Täter und Opfer, erlittene Demütigung ganz konkret und personal mit Entrüstung und Verachtung zu sühnen.

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Freilich auch dadurch machen wir Schuld nicht ungeschehen, aber sie wird eben auch nicht einfach nur hingenommen und damit zur Ausdehnung eingeladen. Und trotz der Sühne bleibt die schmerzliche, nie endende Erinnerung an erlittene Schmach. Die erfahrene Kränkung und Demütigung, das verlorene Leben, die Qual und Pein, die Angst und Verzweiflung sind untilgbar, und es ist wohl das Allerschwierigste, damit umgehen zu lernen, wenn die Täter ihre Schuld nicht annehmen wollen. In solchen Verhältnissen leben wir. Und wir müssen weiterhin davon ausgehen, daß Schuldbewußtsein eher die Ausnahme bleibt. Eine Erklärung dafür habe ich gegeben: Schuld und Lebensart sind so eng miteinander verbunden, daß mit einer Schulderkenntnis das ganze gelebte Leben in Frage gestellt wird. Der Zusammenbruch wäre total, ja in vielen Fällen tödlich, was bei manchem Suizid, Herzinfarkt oder Krebsleiden ohne große Schwierigkeiten auch nachzuweisen ist.

Ein Prototyp dieser verzweifelten Abwehr ist Honecker, auch wohl deshalb bestens geeignet als Oberhaupt eines Staates, der zum Schuldbewußtsein unfähige Untertanen braucht. Als er unlängst mit der erhobenen geballten Faust, dem Rot-Front-Gruß der Kommunisten — unbeirrt aller historischen Tatsachen in dieser kämpferischen Pose die chilenische Botschaft in Moskau verließ, war diese Tragik für einen Augenblick von den Kameras eingefangen. Der arme Mann kann gar nicht mehr anders. Einsicht wäre sein sicherer Tod. Dabei geht es nicht nur um die wahrlich nicht geringe Schuld dieses Mannes, sondern vielmehr um die Einsicht in das bittere Leben, das er von früh auf führen mußte und später — durchaus verantwortlich dafür — auf seine Weise fortsetzte. Diese Einsicht würde ihn töten! Dieser Mann hat sich nicht nur seelisch und körperlich gepanzert, er hat um sich auch noch eine doktrinäre Partei, einen wuchernden Sicherheitsapparat, eine totalitäre Gesellschaft, ein eingemauertes Land und ein giftiges Weib gebraucht, um den Druck seiner inneren Not unter Kontrolle zu bringen. An ihm kann die schützende seelische Leistung, die schließlich zum Verhängnis wird, bestens studiert werden.

Wir können also Täter nicht zur Übernahme ihrer Schuld zwingen, wir müssen mit ihren albernen und beschämenden Entschuldigungen und ihren renitenten Behauptungen leben. Aber wir können verhindern, daß solche Menschen weiterhin Macht und Einfluß ausüben, das ist unsere Pflicht!

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Wir können Strukturen und Zusammenhänge erkennen und benennen, Erinnerungen wachhalten, Beschuldigungen und Beschwichtigungen im allgemeinen Verständnis des Geschehens nicht zulassen und ganze Lebenssysteme kritisieren, die es in ihrer umfassenden Abnormität schwermachen, die individuelle Schuld überhaupt noch wahrzunehmen, was dann schließlich das moralische Versagen zur durchschnittlichen Normalität macht.

 

Um in diesem ganzen undurchsichtigen Dilemma einen »Leitfaden« zu finden, der uns Orientierungshilfe sein kann, greife ich auf das »Buch der Bücher« zurück. So lesen wir bei Johannes 8, 3 bis 11:

»Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu Ihm, die beim Ehebruch ergriffen worden war, stellten sie in die Mitte und sagten zu Ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du dazu? Das sagten sie aber, um Ihm eine Falle zu stellen, damit sie einen Grund zur Anklage gegen Ihn hätten. 

Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun nicht aufhörten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Dann bückte er sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie das hörten, gingen sie weg, einer nach dem anderen, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die immer noch in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte die Frau: Wo sind sie geblieben? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand, Herr. Da sagte Jesus: Dann verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige nicht mehr.« 

Und bei Matthäus 7, 1 bis 5 können wir lesen: 

»Verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet. Denn mit dem Urteil, mit dem ihr verurteilt, werdet ihr verurteilt werden; und mit dem Maß, mit dem ihr meßt, werdet ihr gemessen werden. Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders und nimmst nicht den Balken in deinem Auge wahr? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen? Und siehe, ein Balken steckt in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst.«

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Ich übersetze dies in meine Sprache und Überlegungen:

1. Ich bin zuallererst aufgerufen, meine eigene Schuld zu erkennen und zu bekennen. Aber die Widerstände dagegen sind, wie wir ge-

sehen haben, erheblich. Erklärbare Widerstände, die einerseits Angst, Verunsicherung und Ratlosigkeit vermeiden und andererseits Wut, Schmerz und Trauer verbergen wollen. Denn was gilt, wenn, Vergangenes falsch war, wer sagt mir, wie ich weiterleben kann? Ich müßte es selbst herausfinden. 

Was werden aber die Eltern, der Partner, die Partnerin, die Kinder, die Freunde und Kollegen dazu sagen? Kann ich dann noch in meiner Partei oder Religionsgemeinschaft bleiben, kann ich meine Pflichten und Ämter noch versehen, meinen Beruf noch so weiterführen? Bleiben meine Verdienste und Erfolge dann überhaupt noch das, was sie einst verhießen, wofür ich mich unendlich abgemüht habe oder belasten sie jetzt sogar meine Ehre? Und wohin mit meinen Gefühlen? Wenn ich brülle, weine, schreie, erbreche und mich in Schmerzen winde, wird man dann nicht sogleich den Notarzt oder die Polizei rufen, um mich zu beruhigen? Und könnte ich das überhaupt noch: Weinen? Wie geht das? Ich weiß es nicht mehr, ich bin immer so tapfer und stark gewesen! Und überhaupt, was soll das helfen, sich auf seine Gefühle einzulassen? Immer und überall wird doch daraufhingewiesen, daß die Emotionen herauszuhalten seien, damit man vernünftig entscheiden und handeln könne. Ich glaube, es ist hoffnungslos! 

Wenn wir aber dennoch nicht aufgeben wollen, dann muß uns klar sein, daß wir Zeit brauchen, um uns zu befragen, mitzuteilen, befragen zu lassen und Mitteilungen zu bekommen, um uns zu informieren, auszutauschen und zu beraten. Und wir brauchen Räume, in denen Ungewohntes probiert und geübt werden kann und Unsicheres und Vorsichtiges beschützt bleibt. Wir brauchen auch Gelegenheit und Ermutigung, also das Zusammentreffen mit Gleich­gesinnten, die stützende Solidarität und hilfreiche Anregung durch andere Menschen, ihr kritisches Bedenken, ihre Erfahrungen, Geschichten und Gefühle, die die eigene Erinnerung und Erkenntnis fördern und die Emotionen aktivieren. 

Immer aber brauchen wir ein Gegenüber, einen Empfänger für unsere Gedanken und Gefühle, wenn wir in neue und uns noch fremde Bereiche vordringen. Auch Schulderkenntnis bleibt an emotionale Bewegtheit, an tiefe Erregung gebunden, zu der wir uns nur vorwagen, wenn uns eine Hand dabei hält. Und manchmal brauchen wir Anleitung, um die massiven »Verpanzerungen« wieder aufweichen zu lernen. Dafür gibt es hilfreiche Übungen und Regeln. Es kann und braucht nicht jeder Mensch alles neu zu erfinden, was der menschliche Geist bereits an Wissen angesammelt hat.

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2. Wir sind gefordert, keine Sündenböcke zu machen und uns an keiner Jagd auf sie zu beteiligen und solchen Tendenzen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Bonzen, inoffizielle Mitarbeiter der Stasi, Ausländer, Fremde, Asylanten, Besserwessi, Jammerossi, die Eltern, die Obrigkeit, die Verhältnisse, der andere — bei allen und allem lassen sich Makel, Fehler und Schuld finden, die auch benannt werden müssen, aber nichts davon entschuldigt das eigene Versagen.

Als Kinder taten wir gut daran, schnell zu lernen, was von uns erwartet wird, das hat unser Überleben gesichert. So können wir in der Regel hervorragend erkennen, was der andere will, was er wohl denkt und fühlt und haben im gleichen Zusammenhang verlernt, auf uns selbst zu achten. So sind wir auch bestens ausgestattet, im anderen zu sehen, was bei uns nicht sein durfte, und die Erregung über fremdes Unrecht und die Angst gegenüber einem anderen Verhalten sind die besten Hinweise auf die eigenen inneren konflikthaften Vorgänge. Nur was ich bei mir selbst nicht zulassen darf oder will, empört mich, wenn ich es beim anderen erkenne. Und die eigene Problematik zu erkennen, ist immer dann besonders schwierig, wenn das angeklagte und verfolgte Gegenüber wirklich schwere Schuld auf sich geladen hat. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die bei ihrer berechtigten Verbitterung über die Schuld, die ihnen angetan wurde, stehengeblieben sind und ihre dennoch vorhandenen und verbliebenen Lebens­möglichkeiten nun auch noch freiwillig dem tragischen Schicksal opferten.

Um die unsichere und fließende Grenze zwischen berechtigter Erregung über fremde Schuld und die Neigung zur eigenen Schuld­verschiebung halbwegs ziehen zu können, ist das klärende Gespräch vonnöten, das Kenntnisse über die fremde Geschichte wie auch kritische Reflexion des eigenen Verhaltens ermöglicht. Die Gespräche, an die ich dabei denke, enden meist nicht in »geklärten« Beziehungen, sie halten nur den Kontakt offen, den Austausch zu tieferem Verstehen, und nur ganz selten wird Klarheit, Abklärung erreichbar sein. Das Verurteilt nicht! kann für mich nicht heißen, Empörung, Entrüstung. Enttäuschung. Protest und Einspruch vorzuenthalten — also etwa meine Gefühle nicht zu zeigen und meine Position nicht klarzumachen. Es ist unerläßlich, daß ich dem anderen zeige, was ich empfinde und denke im Zusammenhang mit seinem Verhalten. Das fordert aber stets das Ich und nicht das Du. Der Nächste ist angewiesen auf mein ich empfinde ..., ich denke ..., ich will..., ich akzeptiere nicht ... — statt dessen bekommt er meist das du bist unmöglich ..., du bist schuld, du mußt..., du darfst nicht..., wie kannst du nur ...

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Sündenböcke macht man mit dem Du! Die Verschleierung der eigenen Schuld läßt uns gerne zuhören, einfühlen, fragen, raten, trösten, empfehlen und für den anderen einsetzen. Menschliche Beziehung beginnt und endet aber bei der offenen Mitteilung von mir über mich: »Ich« ist das Wort der Wahrheit!

 

3. Die Verfolgung von strafrechtlicher Schuld ist eine Aufgabe der Justiz. Über moralische und politische Schuld kann und muß in einem umfassenden, nie endenden gesellschaftlichen Dialog gestritten werden. Dem kann sich keiner entziehen, ohne zugleich schuldig zu werden. Wer die Gesetze der Moral den Eltern und Priestern und die Regeln für unser soziales Zusammenleben den Politikern überläßt und sich bequem zurücklehnt oder maulend sich nur ärgert, ist selber schuld. In der immer wieder zu führenden Auseinandersetzung verdienen die Minderheiten, die Außenseiter, die Querdenker, die Ver-rückten, die Visionäre und Utopisten besondere Beachtung; sie zeigen meistens an, was die Mehrheit nicht wahrhaben will, aber dringend zur Erkenntnis drängt.

Das ist auch die große Gefahr der Demokratie, daß sie Mehrheiten schafft und sich damit im Recht wähnt und in Sicherheit wiegt, aber die neuen Verhältnisse werden zuerst von den verhöhnten »Rufern in der Wüste« angezeigt. Nicht nur Diktaturen bringen diese Stimmen brutal zum Schweigen — sie können auch eleganter verhallen, aber praktisch mit den gleichen Folgen. Durch den belastenden Vereinigungs­prozeß in Deutschland geschieht dies umfassend — für die Stimmen des Ostens gibt es keine demokratischen Mehrheiten, also können sie rufen, wie sie wollen, und das Recht bleibt auf der anderen Seite. Den Umwelt­schützern geht es nicht viel besser. Unliebsame Wahrheiten finden keine Mehrheit, also geht es mit allen demokratischen Regeln sehend und ungezügelt in den Abgrund!

»Retten« kann uns davor nur eine Katastrophe, das heißt nur die wenigen, die vielleicht überleben werden, oder eine hilfreiche Diktatur — eins von beiden wird wohl passieren. Die Alternative dazu ist die Übernahme der persönlichen Verantwortung durch jeden einzelnen, der große gesellschaftliche Disput, die erforderlichen sozialen Experimente, die Bereitschaft zur Veränderung, und das heißt nichts anderes als Verzicht auf Konsum, Luxus, Tourismus und die Autogesellschaft — der Verzicht auf expansive Produktion und erweiterte Reproduktion und das Einlassen auf intensivere Beziehungsformen. 

Dies ist die wesentlich unwahrscheinlichere Variante.

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 E n d e 

  

 

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