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10.  Das Robin-Hood-Syndrom 

 

 

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Die Diskussion um Manfred Stolpes umstrittene Kontakte zu dem ehemaligen Machtapparat steht seit Monat­en unangefochten an der Spitze der medienwirksamen Erregungen und Verdächtigungen. Ein verwirrendes Hin und Her von immer wieder neuen verdächtigen Fakten, Zweifeln, nachgeschobenen Erklärungen und durchaus auch glaubhaften Begründungen schafft genau das Reizklima, das alle beschäftigt, aber nichts klärt und niemandem hilft.

»Verdrängungs­kultur« könnte man dafür sagen, eine Informations­lage, die zur Schuldver­schieb­ung nahezu einlädt.

Und schließlich geht es ja nicht nur um irgend jemanden oder irgend etwas, sondern mit Manfred Stolpe steht nicht nur ein Minister­präsident im vereinten Deutschland, sondern vor allem auch »der letzte Ostdeutsche« auf dem Prüfstand, der die Ehre der »Ossis« für eigene Kompetenzen gegen die unaufhaltsame Dominanz westdeutscher Macht in allen gesellschaftlichen Bereichen zu bewahren weiß, der auch gegen den peinlichen CDU-Erfolg wenigstens noch eine Partei vertritt, die sich nicht durch die unkritische Übernahme von »Blockflöten« desavouiert hat und zeigen kann, daß in seinem Land sozialere Prioritäten gesetzt werden, und es wird mit ihm vor allem der sensibelste wie fragwürdigste Komplex der vergangenen DDR-Geschichte berührt: die Rolle der evangelischen »Kirche im Sozialismus«.

Also Hintergründe genug, um Energien für ein Kesseltreiben in Gang zu bringen und zu halten, umfassende Schuldprobleme auf einen einzigen Mann zu konzentrieren, der in seiner machtverliebten Eitelkeit nicht die Größe hat, ja vermutlich mangelt es ihm bei allen heraus­ragenden Eigenschaften gerade an dieser Erkenntnis­fähigkeit, aus der Schußlinie zu gehen, um Schuld­projektionen vermeiden zu helfen und den so dringend gebotenen umfassenden Erkenntnis­prozeß in Gang zu bringen. Nein, er stürzt sich »heldenhaft« in den Kugelhagel, glaubt gerade darin Tapferkeit, Stärke und Redlichkeit beweisen zu können, was aber erst recht seine verwundbare Stelle anzeigt, wie bei Siegfried das Lindenblatt.

Und Stolpe, der Meister der diplomatischen Masken, des Versteckspieles, der zu sich selbst gerne in der dritten Person spricht — soweit kann er zu sich selbst auf Distanz gehen —, dieser Mann bringt eine einmalige Nummer zustande: Er, der Verdächtige und Belastete, der Gejagte, der Sündenbock der mächtigen Medien kann den Spieß sogar umdrehen und an seine Verfolger die Schuld zurückgeben.

Ich hörte Erich Loest in einem Interview sinngemäß zum Fall Stolpe sagen: Wenn ehemals in Österreich-Ungarn in der fernen Provinz ein Zug entgleiste, ist der Verkehrsminister in Wien zurückgetreten. Inzwischen haben wir tatsächlich eine völlig andere Welt. Die politische Moral wird an der Flexibilität der Anpassung an die jeweiligen Bedingungen der Macht gemessen: Wer sich am längsten hält ist Sieger. Im Kampf um die Macht wird offenbar die Fähigkeit zur beliebigen Anbiederung »herausgemendelt« — die Kontinuität der Verstellung und die Funktionalität der Beliebigkeit als die hohe Schule, die verlorene wirkliche Identität zu ersetzen. 

Selbst der sonst so klare Denker Friedrich Schorlemmer verliert mit seinem Votum, daß Stolpe als »verlängerter Arm des Widerstandes« zu verstehen sei, die sichere Basis seines Urteils. Ist es der Parteifreund oder die gemeinsame kirchliche Heimstatt, die in der Lage sind, solche Verwirrung zu stiften? Was für Kräfte sind da im Spiel, wenn eine riesige Last von Indizien nicht den Rückzug erzwingt, sondern den Angriff beflügelt. Da kämpft einer nachträglich um seine schon längst verlorene Ehre, da wird die elastische Gummi-Identität zur Überlebens­strategie eines schon längst entschiedenen Kampfes. Und den Leuten gefällt es: endlich einer, der bravourös vormacht, wie man Schuld lässig abschüttelt. Das möchten alle können, denn Schuld ist wahrlich genug. Es ist die Eleganz des Toreros, das einstudierte Geschick der waghalsigen Abwendung tödlicher Gefahr, die das Volk jubeln läßt. Es wird die verführerische Dramaturgie für die inszenierte Illusion gefeiert, wir könnten unser Schicksal wenden. Stolpe ist die Inkarnation der Schuldabwehr — der extreme Gegensatz zu Jesus Christus.

Mit meinen eigenen Projektionen sehe ich Stolpe als den Prototyp des »Karrieretäters«, für den Macht und Einfluß die innere Ohnmacht und Bedeutungs­losigkeit verdecken und Diplomatie sowie das Engagement für menschliche Erleichterungen die eigene Sehnsucht nach ebensolcher Behandlung zum Ausdruck bringen sollen. Kein Wunder also, daß er von allen Seiten mit Ehren­erklärungen geschützt werden soll, weil er in seiner Art verkörpert, was sich über Willy Brandt, Helmut Schmidt, Björn Engholm, Otto Graf Lambsdorff, Hans Dietrich Genscher und viele andere, die Dank und Anerkennung aussprechen, Vertrauen bekunden und Integrität bescheinigen, in ähnlicher Weise aussagen ließe.

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Diese Männer haben auch die westliche »deutsche Ostpolitik« zu verantworten, und sie haben in ähnlicher Weise wie Stolpe mit der SED-Macht gekungelt, dabei diplomatisch geheuchelt und insofern fragwürdige Entscheidungen und Absprachen getroffen, weil sie nach pragmatischer Tagespolitik und weniger nach moralischen Kriterien, weil sie auch aus persönlichen und parteipolitischen Machtinteressen, ohne die unbewußten Motive ihres Handelns zu erkennen und zu offenbaren, gehandelt haben.

Ich sagte schon: Einer wie Stolpe mußte gar nicht erst ein IM werden, um ein IM zu sein. Seine und damit auch der Kirche macht­erhaltende Interessenlage entspricht haargenau dem Hauptinteresse der Staatssicherheit: Ruhe und Ordnung im Land, Disziplin und Gehorsam, Anerkennung der Obrigkeit und schnelle Beruhigung von Spannungen und Konflikten. Unruhestifter müssen isoliert und unter Kontrolle gebracht werden, keine destabilisierende Macht von unten!

Der Streit um Manfred Stolpe ist zu einem narrenden Hin und Her, zu einem peinlichen Pro und Kontra, zu einem bloßen Entweder-Oder verkommen. Für die in den Vordergrund gestellten Fragen, hat er mehr geholfen oder geschadet, war er mehr ein Mann der Kirche oder der Stasi, ein Opportunist und Verräter oder ein Mann des raffinierten und geschickten Widerstandes, werden sich immer wieder solche und solche Argumente finden lassen, das Zünglein an der Waage wird nicht zur Ruhe kommen. Vor einer persönlichen Position zu diesem DDR-typischen Grenzfall zwischen Pragmatik und Moral sollte nicht gekniffen werden, und für mich ist die aus den Dokumenten erkennbare Verhandlungstaktik Stolpes, die Art und Weise pragmatischer Diplomatie und konspirativer Bereitschaft der Geist der berechnenden und gefühlsblockierten Macht, von der ich weder im Staate regiert noch in der Kirche verwaltet noch mit ihr persönlich befreundet sein möchte.

Von einer bestimmten Perspektive her läßt sich natürlich auch sagen, daß durch Stolpes Wirken die Kirche geschützt und menschliche Erleichterungen erreicht worden wären, aber was bleibt dabei noch von dieser Kirche und den Menschen übrig? Es ist eine Hilfe, die entwürdigt und entehrt, die konspirativ ausbaldowert und ausgeschachert wird, die Menschen in Not zu Objekten »höherer« Interessen und unveräußerliche Ideale zu Strategien kurzlebigen politischen Kalküls herabwürdigen. Es ist die Moral des Judas, die da wirkt.

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Im Grunde genommen hat aber das Zwielicht, in das Stolpe geraten ist, genau den Helligkeitsgrad, der für die Politik der DDR-Kirchen wie auch für die fragwürdige real existierende Demokratie kennzeichnend ist. Es verbirgt mehr als es ehrlich und deutlich zu erkennen gibt, es verdunkelt und verschleiert und kommt damit allen düsteren Interessen entgegen: der seelischen Not eines Mannes, der schmutzigen Verstrickung einer Kirche, der Schuld vieler Menschen, ihrer Irreführung und dem Betrug an ihnen und natürlich den Interessen derer, die Macht zur Droge als Ersatz für lebendiges Leben gemacht haben. Stolpe und der Streit um ihn bieten uns aber auch eine Chance, Mechanismen zu verstehen und Strukturen zu erkennen, die wir schon längst in uns tragen und die unser Leben bestimmt haben und weiterhin bestimmen werden, gegen die wir uns aber wehren und verweigern sollten, wenn wir wirklich leben und nicht nur gehorchen, konsumieren oder abwarten wollen, ob uns ein Stück von dem eh schon verdorbenen Kuchen zugeworfen wird oder eben auch nicht.

Stolpe verkörpert als Ministerpräsident auch die neue Macht, die mit Gies, Duchacz und Gomolka längst schon ihre Glaub­würdigkeit wieder verloren hat — und das ist gut so, um die allzu große Abhängigkeit und Autoritäts­gläubigkeit von uns Menschen im Osten nachhaltig zu erschüttern: So gesehen, kann es gar nicht genug Affären und Skandale geben, bis endlich deutlich wird, wie tief die »politische Klasse« herabgesunken ist, symptomatisch für eine »Endzeit« oder »Wendezeit«. Wir tun gut daran, den Politikern nicht mehr zuviel zu vertrauen, um für die kommenden globalen Konflikte, überhaupt noch eigene Verhaltens­strategien entwickeln zu können, die wir alle als völlig neue Möglichkeiten brauchen werden und die uns keine Regierung und keine Bürokratie mehr abnehmen oder anempfehlen kann. Wir verwickeln uns entweder geordnet in eine neue riesige Katastrophe oder wir akzeptieren eine notwendige Unordnung in unseren Seelen, die uns Zugang zu unserem schuldigen Verhalten und pervertierten Lebensstil ermöglicht.

 

Hier wird auch das umfassende Versagen der Kirchen erkennbar, die ihre moralische Führungskraft gerade dadurch verspielt, daß sie für die Fragen dieser Zeit keine glaubwürdigen Antworten, ja nicht einmal überzeugende Haltungen vorzuweisen hat.

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Ganz im Gegensatz wird die katholische Position mit der ablehnenden und verurteilenden Haltung gegenüber Schwanger­schafts­verhütung und Schwangerschaftsabbruch angesichts einer rasanten Bevölkerungs­explosion und Aids-Pandemie zur größten Gefahr für unser aller Leben und Überleben — wir müssen eine nahezu verbrecherische Manipulation von Millionen Menschen zur Kenntnis nehmen, die uns zwingend zur Entrüstung aufruft. Und die evangelischen Kirchen sind, wie im Osten Deutschlands leider erkannt werden muß, so sehr in den Sumpf der Macht verstrickt, daß sie unübersehbaren Schaden für die von ihr verwalteten höchsten Werte: Liebe, mitmenschliche Nähe und Solidarität, Wahrheit und Gerechtigkeit zu verantworten hat.

Stolpe, bezeichnenderweise kein Theologe, aber wohl ehemals der mächtigste unter den Kirchenleuten in der DDR, sollte wissen, daß er durch sich eben auch die gültigen Kirchenstrukturen bloßlegt. Entweder ist die Kirche einem »Wolf im Schafspelz« aufgesessen und muß auf Distanz gehen, oder aber sie stellt sich selber bloß, indem sie zu erkennen gibt, daß sie sowohl in »Drecksarbeit« verwickelt war, für die sie halt ihre geeigneten Leuten brauchte. Dann aber muß deutlich gemacht werden, daß IMs in der Kirche nach dem kirchlichen Selbstverständnis gewollte und notwendige, zumindestens aber still geduldete, auf jeden Fall aber eine normale Situation waren, die für die Aufteilung der Macht zwischen Staat und Kirche notwendig wurden. 

Es schmerzt mich, dies annehmen zu müssen, und mir bleibt nur der Trost, daß »Kirche« eben nur das dynamische Parallelogramm der in ihr versammelten Kräfte ist, um der Tatsache ins Auge sehen zu können, daß die »Kirche im Sozialismus« eine bedeutende Ordnungsfunktion innehatte, die alle denkbaren Varianten oppositionellen und alternativen Denkens und Handelns im wesentlichen unter ihre Dächer versammelt und dort der bestmöglichen Observation zugeführt und durch moralischen Einfluß diszipliniert und depotenziert hat.

Dies ist ein Teil von Kirchengeschichte, die sonst noch wesentlich schlimmere Schandtaten aufzuweisen hat, und dennoch muß die Frage gestellt werden, welche Motive und Kräfte in einer christlichen Kirche heute auch nach »weltlichem« Einfluß streben lassen, denn die größere Zahl derjenigen, die zu DDR-Zeiten kirchlichen Schutzraum nutzten, taten dies in keiner Weise aus religiösen und spirituellen Bedürfnissen. Auch sie trifft Schuld, weil sie zu bequem und gutgläubig angebotenen Freiraum einfach nur annahmen, statt sich diesen selber zu schaffen, was für psychische und politische Reife und Unabhängigkeit von immenser Bedeutung gewesen wäre. 

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In der Kirche aber sollte verlorengegangene spirituelle Kraft durch »alternative« Werte ersetzt werden und mit der Ideologisierung der christlichen Haltung, für alle Beladenen und Belasteten da zu sein, konnte die eigene Schwäche gut bemäntelt werden. Natürlich lebt Kirche vor allem von den Menschen, die sich in ihr versammeln und sie verwalten, und auf sie muß unser kritischer Blick zuerst fallen und die Gefahr erkennen, die ähnlich wie in der SED, durch autoritäre Strukturen genau das zunichte machen, was sie befördern wollten.

Lassen wir uns also nicht von Stolpe blenden, sondern schauen wir auf die Hintergründe und Zusammenhänge, die er immer weniger verdecken kann. Es bleibt in allem die beklemmende Erkenntnis, daß der ausgesprochen zwielichtige Hintergrund keine angemessenen politischen Konsequenzen zur Folge hat, sondern nahezu von allen Seiten Vertrauens- und Ehrenerklärungen provoziert. Dadurch aber wird das Zweifelhafte nicht geklärt und das Befleckte nicht rein gewaschen. Wir werden höchstens aufmerksam gemacht auf ein Interessengemenge, das in der Person Stolpes nur kulminiert. Wir können allmählich die dunklen Drähte der Machtinteressen von Kirchenpolitik, westdeutscher Ostpolitik und Parteienkampf erkennen und haben erneut einen umfassenden gesellschaftlichen Skandal vor Augen, wenn uns Wahrheit, Offenheit und Redlichkeit noch etwas gelten sollten.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß gerade diese Eigenschaften in den großen Parteien, bei den meisten Politikern und Kirchen­funktionären nicht mehr anzutreffen sind. Wir müssen auch erkennen, wie leichtfertig Metaphern angenommen werden, ohne nach der tiefen Dimension ihrer Bedeutung zu forschen, und daß wir uns meistens nicht mehr der mühevollen Überprüfung ganz persönlicher und konkreter Positionen unterziehen, sondern im blinden und schuldhaften Vertrauen, die Geschäfte denen da oben überlassen. 

Wir dürfen uns nicht mehr mit Verkürzungen wie »Kirche im Sozialismus«, »Wandel durch Annäherung« oder »Aufschwung Ost« zufrieden geben. Solche Schlagworte dienen eher den Verantwortlichen zur Selbstberuhigung, denn Machtpolitik wird aus subjektiver seelischer Bedürftigkeit gespeist, die aber unbedingt verdeckt bleiben soll, so daß positive Ziele und optimistische Benennungen das schlechte Gewissen und die latente Angst beschwichtigen sollen, und mit solchen Formulierungen soll natürlich auch die Volksmeinung manipuliert werden. Man wirft einen Knochen hin, an dem genagt werden kann, der aber nichts mehr wirklich hergibt.

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Im Grunde genommen ist immer wieder ganz genau zu fragen: Was ist damit konkret gemeint? Was bedeutet dies ganz persönlich für mein Leben, hier und jetzt? Welche sehr persönlichen Interessen und Motive hat ein Politiker oder Funktionär für seine Position? 

Wer für militärische Aufrüstung plädiert, soll sagen, wodurch er sich ganz persönlich bedroht fühlt; wer gegen Schwangerschaftsverhütung ist, soll sagen, wie er seine Sexualität gestaltet; wer wirtschaftliches Wachstum will, soll erklären, aufweiche Weise er sich klein und unbedeutend fühlt; wer mit der Stasi für menschliche Erleichterungen streitet, soll erklären, aufweiche Weise er sich selbst als »mühselig und beladen« empfindet. Die Antworten auf solche Fragen bringen uns den Menschen näher, und wir können viel besser entscheiden, ob wir ihm vertrauen wollen oder nicht — das wird uns durch kluges Gerede oder intellektuellen Expertenstreit kaum möglich, dabei werden wir höchstens meinungsgleiche Parteigänger oder abhängige Mitläufer. Expertentum stellt sich heute häufiger als sehr gefährliche Maskerade dar, weil durch Kenntnisse und Können nur allzu leicht moralische Schwächen und seelische Defizite verborgen werden können. Im Zweifelsfalle empfehle ich drei Fragen: Wieviel Zeit nimmst du dir, um mit deinen Kindern herumzualbern? Kannst du noch weinen? Wie lebst du deine Sexualität?

Für sehr bedenklich halte ich, daß die konspirative »Drecksarbeit« praktisch kritiklos als notwendiger Einsatz für menschliche Erleichterungen und kirchliche Freiräume gepriesen wird. Wir sollten aber bedenken, daß es dabei auch um fragwürdigen Geldtransfer von West nach Ost, um zweifelhafte Immobiliengeschäfte, um Menschenhandel, Reiseprivilegien für kirchliche Mitarbeiter und intrigantes Abwiegeln von Konflikten geht. Das alles waren keine glänzenden Heldentaten, sondern dunkle Geschäfte auf dem moralischen Niveau des SED-Stasi-Machtsystems.

Daß mit Geld und Privilegien auch Abhängigkeiten erzeugt, Bestechungen ermöglicht und die Solidarität untereinander erschwert werden können, wird dabei ausgeblendet; daß durch Ausreise und Freikauf wesentliche Energien für tiefere Erkenntnisse und Chancen für eine neue politische Kultur geschmälert werden und im Konflikt­management auch ganz wichtige Protestsignale vertuscht und die Formierung oppositionellen und alternativen Ideengutes erschwert werden, muß unbedingt mit bedacht sein, wenn vom »Helfer der Mühseligen und Beladenen« gesprochen wird.

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Daß das Kirchengeschäft A, die finanziellen und materiellen Zuwendungen der Westkirchen an die Ostkirchen — vom Dachziegel über Bücher und (West-) Geldzuwendungen bis hin zu Autos und medizinisch-technischen Großgeräten —, das kirchliche und diakonische Wirken nicht nur unterstützt, sondern auch die vorhandenen Abhängigkeiten und die Versorgungs­mentalität verstärkt und damit die eigenen Kräfte paralysiert und säkularisiert hat, muß heute sehr kritisch gewürdigt werden. Das menschliche Entgegenkommen, das sich nur allzu leicht den »heiligen Geist« abkaufen läßt, verdient allerhöchste Aufmerksamkeit, wenn uns christlicher Glaube heute noch etwas bedeuten soll.

Ich habe dies selbst an meinem diakonischen Arbeitsort miterleben müssen, wie das Ringen zwischen dem diakonischen Proprium und der medizinisch-technischen Erneuerung im Krankenhaus immer mehr zugunsten der technisch-apparativen Ausrüstung und Heilserwartung verschoben wurde: auf Kosten des psychosozialen Verstehens, mitmenschlicher Pflege und seelsorgerlicher Betreuung. Auch das Reiseprivileg für kirchliche Mitarbeiter hat eine Kluft zwischen kirchenleitenden Personen und Gemeinde­gliedern entstehen lassen, die die spirituelle Verbundenheit untergraben hat, ganz abgesehen von Rivalitäten, Neid und Korrumpierung zur staatsnahen Anpassung unter den potentiellen Reisekadern.

Aber das Kirchengeschäft B, in dem das Diakonische Werk verwickelt war, im Zuge des Häftlingsfrei­kaufes durch die Bundes­regierung Waren in die DDR zu liefern, läßt uns die Nähe der weltlichen und geistlichen Machtinteressen besonders deutlich werden. Menschenhandel als Geschäft war sowohl für westliche Firmen wie für kirchliche Hilfsorganisationen profitabel, ganz zu schweigen davon, daß mit großen Summen (es sollen nach Angaben der »Zeit« Nr. 36/92 etwa 3,4 Milliarden DM geflossen sein) die DDR wirtschaftlich stabilisiert und ermutigt wurde, immer mehr politische Gefangene zu machen

Hier arbeiteten Geldinteressen und Machtinteressen des politischen Unterdrückungs­apparates mit einer zweifelhaften Auslegung des kirchlichen Auftrages Hand in Hand. Es lohnte sich für den sozialistischen Machtapparat, Menschen zu verfolgen, zu ängstigen, Lebenswege von Menschen zu zerstören, ihre Moral zu brechen und sie zu inhaftieren, um sie dann schließlich gewinnbringend verkaufen zu können.

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Wer diesen anderen Aspekte die indirekte Aufforderung zu immer mehr Repression und ihre direkte Honorierung nicht sehen will, macht dadurch auf eine tiefe Seelenverwandtschaft zwischen vermeintlicher Caritas und brutalen Machtinteressen aufmerksam — die Überzeugung, im Dienste des Guten zu handeln, ist irrig. Und zur Entschuldigung werden dann die großen Begriffe benutzt, wie »Freiheit« von den Ausreise­willigen, »Menschenrechte« von den Geldgebern, »Caritas« von der Kirche, »Feinde des Sozialismus« von der Politbürokratie. Alle fühlen sich damit im Recht und können ihr Handeln glaubhaft und »schuldfrei« begründen und sind doch auch Opfer der eigenen abgewehrten Probleme: Flucht vor sich selbst, Geld statt Beziehung, Geschäft statt Glauben, Repression statt Sozialismus.

 

Daß sich aber solche unkritischen und einseitigen Einschätzungen so hartnäckig halten können, möchte ich ein »Robin-Hood-Syndrom« nennen. Die schöne Illusion vom gerechten Rächer der Armen und Frustrierten ist nicht aufzulösen, solange es Anlaß genug für enttäuschte Hoffnungen und ohnmächtigen Zorn gibt. Für die Ostdeutschen ist dies eine tiefsitzende alte wie neue Erfahrung. In diesem Zusammenhang ist für mich gerade die ungebrochene Zustimmung für Manfred Stolpe von »seinen Brandenburgern«, worauf er sich auch gerne beruft, ein sehr auffälliger Befund. Ich halte das für ein Zeichen bedenklicher politischer Schwäche der sozialen Gemeinschaft, weil nahezu trotzig an einem äußerst zweifelhaften und vor allem ungeklärten Verhältnis festgehalten wird, das aber Macht über das Leben der Menschen ausübt. 

Wenn ich alle pragmatischen Erklärungen weglasse (wenigstens noch ein originärer Ostdeutscher als Ministerpräsident, wenigstens ein SPD-regiertes Bundesland im Osten, wenigstens ein Ossi mit vorzeigbarer Kompetenz), die für manchen aber die wesentliche Grundlage seiner ungetrübten Stolpe-Gefolgschaft darstellen mag — da greifen eh keine moralischen Kategorien mehr — dann bleibt als psycho­logischer Hintergrund das Robin-Hood-Syndrom: Die ungetrübte Erlösungssehnsucht, die Hoffnung auf den großen Helden — also das fortgeschriebene autoritäre Prinzip, das Macht, Kraft und Verantwortung ewig nach oben delegiert und projiziert und sich selbst da unten als hilflos, machtlos und ausgeliefert phantasiert. Es ist dann derselbe Geist, der früher die Kirche benutzte, um sich zu politisch-oppositionellen Zwecken zu versammeln, den vermeintlichen »Schutzraum« gerne annehmend, ohne sich Gedanken zu machen, um welchen Preis die kleine »Freiheit« nur zu haben war.

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Dafür mußten andere (Stolpe&Co) die Kirche immer mehr in Staatsnähe bringen (»Kirche im Sozialismus«), eine von der politischen Führung der DDR gewollte Ablösung der ostdeutschen Kirchen von der EKD durchsetzen, die »progressiv-politischen« Kräfte in der Kirche stärken und fordern und zugleich die »feindlich-negativen« Kräfte schwächen, in den synodalen Beschlüssen den Wünschen des Staates entgegenkommen und vor allem für Ruhe und Ordnung innerhalb der Gruppierungen sorgen, die sich in den Räumen der Kirche versammelten.

Auch hier finden wir wieder das verhängnisvolle Zusammenspiel von unten und oben: die Abhängigkeit und Bequemlichkeit unten und oben die Anpassung um der eigenen Machtbedürfnisse Willen. Auch ein Stolpe wird die Robin-Hood-Projektionen »seines« Volkes nicht einlösen können, er am allerwenigsten, in ihm wird ja gerade die Verwandtschaft der alten und der neuen Macht vor dem psychologischen Hintergrund am deutlichsten. Und genau das wird so heftig abgewehrt, die eigene Täuschung täte so weh, daß lieber stur an einem Phantom festgehalten wird, als sich den beschämenden und enttäuschenden Fakten zu stellen. Dies ist kein hoffnungsvolles Zeichen für unsere Zukunft, weil die Irrationalität offenbar unerschrocken triumphiert.

Und so lange Stolpe unbeschadet an der Macht bleibt, können sich alle Täter und Mitläufer beruhigt zurücklehnen, Schuld ist dann nicht mehr von moralischer Bedeutung, unsere Vergangenheit ist dann nicht mehr sonderlich belastet, und ein Übergang in die neue Ordnung ist ohne wesentliche Einsicht und Veränderung möglich. Er macht es uns vor, daß ein »pathologisches Harmonie­bedürfnis«, eine »erfolgsorientierte Pragmatik«, daß »gutgläubiger« und »blauäugiger« Umgang mit einer verdorbenen Macht völlig in Ordnung und ganz normal sind. Er zeigt uns, daß man selbst als Verhandlungspartner, der »über den Tisch gezogen wird«, als Ordensträger dieser menschenfeindlichen und repressiven Interessen beste Führungseigenschaften für die neuen Machtverhältnisse mitbringt. Wir Ostdeutschen können uns wirklich freuen und erleichtert aufatmen: Wir hatten gar keine schlimmen Verhältnisse, es war alles nur ein böser Traum!

Wenn die Herrn Bischöfe und die namenhaften Politiker eilfertig das ganze Geschehen um IM »Sekretär« mit Ehrenerklärungen herunterspielen wollen, sollten sie sich nicht wundern, daß sie ihre eigene Ehre schneller verspielen, als ihnen lieb sein kann.

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Die Last der Fakten und die vielen Frag- und Merkwürdigkeiten in der Stasi-Kirche-Connection reichen aus, um zumindest feststellen zu müssen, daß die Unterwanderung der Kirchenleitungen auf allen Ebenen durch Stasi-Leute so umfassend war (und noch ist), daß vor allem diese Leitungsstrukturen angefragt sind, die solches möglich machen, dulden oder nicht verhindern können. Jede Partnerschaft, Freundschaft und kollegiale Zusammenarbeit muß sich bei Denunziation und verräterischen Informationen natürlich gewissenhaft nach dem Wert und Sinn der bestehenden persönlichen oder Arbeits-Beziehungen fragen. Wirklich aufrichtige Beziehungen schließen Spitzeldienste aus.

Bei »Unterwanderung« kann man ja noch davon ausgehen, daß die Stasi ihre Leute eingeschleust und langfristig aufgebaut hat, also daß die vermeintlichen Kirchenleute wirkliche Agenten sind. Wir werden abwarten müssen, wieviel Prozent zu dieser Kategorie zu zählen sind. Die andere Gruppe aber, die ich als die wesentlich größere vermute, sind angeworbene und erpreßte »Christenmenschen«. Das kann keinem ehrlichen Christen gleichgültig sein. Entweder man muß aus dieser Kirche austreten, oder es finden umfassende Klärungsprozesse statt, die vor allem zu neuen Strukturen des kirchlichen Zusammenlebens finden müssen.  

Bisher sieht es so aus, daß christliche Kirchen Verhaltensweisen fördern und stärken, die den Verrat leicht machen und offenbar Charaktereigenschaften für den Aufstieg in der Amtskirche brauchen, die mit moralischen Mängeln direkt korrelieren. Solang ein kirchliches Disziplinarrecht zum Beispiel einen Ehebruch schlimmer bewertet, als eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit, hat die Institution Kirche keinen Anspruch auf eine glaubwürdige Orientierungsfunktion in unserer Gesellschaft. Dies ist umso bedauerlicher, weil der andere Teil christlichen Lebens, der eben auch in der DDR so wichtig war, nämlich die Freiräume für ein ehrliches Engagement für lebensfördernde Wahrheit und Liebe, Mut und Tapferkeit und eine befreiende (nicht neurotische) Spiritualität zu schaffen und zu halten, nicht durch pervertierte Leitungs- und Verwaltungsstrukturen weiter erstickt werden sollte.

Auch die Christen müssen sich entscheiden, wem sie weiterhin dienen wollen, dem lebendigen  Gott oder einer verkommenen Herrschaftsstruktur. Und sie müssen zur Kenntnis nehmen, wie Religiosität als Machtmittel zur Entfremdung, Unterwerfung und Anpassung mit allen schlimmen Folgen, wie wir sehen mußten, mißbraucht werden kann.

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Und dies lastet schwer auf dieser Gesellschaft, zumal die Vereinigungspolitik vor allem auch von einer Partei verantwortet werden muß, die sich »christlich« nennt, aber wirkliche Christlichkeit heute natürlich an der Seite der Arbeitslosen und sozial Schwachen, an der Seite des Protestes gegen eine menschenfeindliche Vereinigungspolitik stehen muß. Das kann nicht von einer »Kirche im Kapitalismus«, sondern nur von einer Kirche geleistet werden, die menschliche Beziehungen stiften hilft, die als wirksame Antikörper gegen eine gnadenlose Herrschaft der Stärkeren Wirkung zeigen.

In diesem Zusammenhang dürfen wir der Stasi ruhig auch mal dankbar sein, sie hat uns auf zweierlei aufmerksam gemacht: die große Bedeutung, die sie den Kirchen als einer wesentlichen Kraft wider das totalitäre Unrecht beigemessen und also auch erkannt hat, und andererseits läßt uns der erfolgreiche Einfluß der Stasi das falsche Christentum erkennen.

 

Ich möchte die hier zutage tretende moralische Zwiespältigkeit und Schwierigkeit einmal an einem persönlichen Beispiel kommentieren: Ich habe aus einer moralischen Grundüberzeugung heraus niemals Mitglied der SED oder einer Blockpartei sein können, weil im Namen und der Verantwortung dieser Parteien das Recht gezielt gebeugt und auch bewußt gelogen wurde. Angesichts der Konsequenz solcher Haltung: Behinderung der beruflichen Entwicklung, Ausbildungserschwernisse für die Kinder, Reiseverbot — mehr war es aber auch nicht, und es hat mir und meiner Familie auch nicht sonderlich geschadet, aber zu Alternativen verholten — war es für mich und mein Verständnis von Würde eine Grundsatzentscheidung, daß ich diese Einschränkungen auszuhalten habe, um mich nicht auf Lebenszeit zu verstricken in einen Eiertanz von fragwürdigen Ausreden und einem ewigen Lavieren, was gerade noch mitgemacht werden darf und was nicht.

Diese persönliche Grenze habe ich immer gebraucht, vielleicht auch um mich nicht in die Untiefen latenter Verführbarkeit zu verlieren. Das größte Zugeständnis, das ich als Erwachsener gemacht hatte, war Mitglied des »Kulturbundes« der DDR zu werden, weil ich geglaubt habe, eine Position für die intellektuelle Auseinandersetzung damit besetzen und auf das geistige Niveau vor Ort Einfluß nehmen zu können. Meine erste »Amtshandlung« war dann auch, einen Besuch des psychiatrie-kritischen Filmes Einer flog über das Kuckucksnest zu organisieren mit anschließender Diskussion, die ich genutzt habe, um auf die eigenen unhaltbaren Zustände in der DDR-Psychiatrie aufmerksam zu machen.

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Natürlich wurde ich gerügt und »zur Ordnung« gerufen, was mich zwar gekränkt, aber sonst nicht sonderlich beeindruckt hat. Ich habe dies für »normal« gehalten unter den damaligen Bedingungen und war entschlossen, genauso weiterzumachen und habe die Möglichkeit, wieder ausgeschlossen zu werden, akzeptiert.

Dann gab es eine Feier mit den verantwortlichen »Oberen« des Kulturbundes. Wenige Tage zuvor war meiner Tochter die Aufnahme zur erweiterten Oberschule verwehrt worden. Zuständiger Schulrat und Kulturbundvorsitzender waren eine Personalunion. Nun sollten Toasts zu Ehren des Kulturbundes ausgesprochen werden. Da war meine Grenze erreicht: Wie konnte ich mit einem Menschen freundlich anstoßen und ein diplomatisches Verstehen heucheln, wo grundsätzliche Unterschiede, ja ein konkret feindseliges Gegenüber zwischen uns bestanden? Ich verweigerte also den Toast mit einem knappen Hinweis auf die bestehenden Diskrepanzen und damit war meine Kulturbund-»Karriere« beendet. So war das für mich. Der Gedanke, daß ich nur von einer bestimmten Position im Beruf oder der Gesellschaft etwas bewirken könne, hat mich zwar permanent begleitet und mich immer dann wie ein Stachel im Fleisch gejuckt, wenn gleichrangige Bekannte und Kollegen scheinbar mühelos solche Skrupel abzulegen imstande waren und an mir vorbei aufstiegen oder in den Westen reisen durften. Das tat weh, war aber unvermeidbar!

Jetzt holt mich dieses Problem wieder ein. Wie kann ich noch Mitglied einer Kirche sein, die so tief in die faulen Machenschaften einer menschenfeindlichen Macht verstrickt ist, daß meine moralische Grenze bereits wieder weit überschritten ist. Soll ich aus Dankbarkeit dafür, daß ich unter ihrem Dach ein für mein Leben sinnvolles, lebendiges und kreatives Feld gestalten und bestellen konnte — was mich im Grunde genommen auch gegen alle Kränkungen der Roten Macht halbwegs immun gemacht hat —, heute meine moralische Haltung verraten? Soll ich jetzt sagen, nur innerhalb der Kirche kann ich meinen Anteil geben, daß Strukturen entstehen, die ich akzeptieren kann? Oder soll ich mich heute aus Angst um meinen Arbeitsplatz bei der Diakonie unter »freiheitlich-demokratischen« Verhältnissen mehr korrumpieren als mich das totalitäre System hätte beugen können? Das überfordert meinen ethischen Spielraum.

Parodie des Schicksals: Das ehemals »tapfere« Widerstehen hat mich unversehens in eine Entscheidungsnot gebracht, nicht etwa bestärkt und bestätigt. Meine jetzigen Ausreden wären dieselben, die die Genossen für sich in Anspruch nahmen, wo ist da der Unterschied? Ich höre es schon empört dröhnen: Aber SED-Regime und Kirchenverwaltung sind doch ebensowenig zu vergleichen wie »real existierender Sozialismus« und »freiheitlich-rechtliche Demokratie«. Wirklich nicht? Für mich schon, eben aus jenem psychologischen Blickwinkel und der persönlich erlebten Betroffenheit.

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