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4.  Realpolitik und menschliche Bedürfnisse

 

 

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Seit der Wende beschäftigt mich der Konflikt zwischen realpolitischen Zwängen und den menschlichen Be­dürf­nissen — dieses Problem ist ungelöst. Ich erlebe diesen Konflikt auch besonders deutlich im Spannungs­feld zwischen meiner publizistischen und therapeutischen Tätigkeit. Mit der »Wende« ist dieses Thema zumind­estens für uns Ostdeutsche unabwendbar. 

Das Leiden an einer unglücklichen bis zutiefst verdorbenen und kriminellen Politik hat über den (zumeist nur inneren) Protest hinaus einen starken moralischen Anspruch in vielen von uns genährt, vielleicht auch besonders wegen der fehlenden politischen Gestaltungs­möglichkeit.

In diesem Zusammenhang kann ich bis heute für die Mitgliedschaft in der SED keinen entschuldbaren Grund erkennen. Versteh­bare Gründe gibt es viele; ehemalige Genossen gehören zu meinen besten Freunden, aber von dem moralischen Rigorismus mag ich dennoch nicht ablassen. 

Es widert mich einfach an, wenn nach feigem, verlogenem, dummem und schwer schädigendem Verhalten, das vielen Menschen Leid und Not gebracht und Kultur und Natur unwiederbringlich zerstört hat, einfach in dem Augenblick zur Tagesordnung übergegangen wird, wo die Grundlage der Macht entzogen wird, so als wäre nichts geschehen, mit einigen lapidaren Worten der Entschuldigung, der Einsicht und des Bedauerns, und am häufigsten ja nicht einmal dies.

Und sofort sind dann auch die Sachverwalter der Vernunft bei der Hand, man könne auf die vorhandene Kompetenz nicht verzichten, Vergessen und Vergeben seien überlebenswichtige Strategien und höchste Tugenden — um sich, so sehe ich das, das mühsame Geschäft der Auseinandersetzung und vor allem den bitteren Schmerz der Wahrheit, von dem ja keiner von uns ausgenommen bleibt, zu ersparen.

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Ich trage in mir die verzweifelte Bitterkeit und den ohnmächtigen Zorn gegenüber der unechten Macht, die sich durchsetzt und sogar das Recht für sich in Anspruch nimmt und auch bekommt, obwohl es dabei in wesentlichen Dingen um subjektive Wahr­nehmungen und Empfindungen geht, die nicht veräußerbar sind. Es ist für mich kein Zweifel, daß solche Verhältnisse ein wesentlicher Antrieb für mich waren, Psychotherapeut zu werden, nicht alleine um mich und diese Zusammenhänge besser zu verstehen, sondern um wirkliche Möglichkeiten zu gewinnen, authentischer leben zu können.

Und in den Lebensgeschichten vieler Menschen finde ich immer wieder vergleichbare Erfahrungen erlebten Unrechts unter der Fahne des moralischen, politischen oder religiösen höchsten Rechts, woran die Menschen schließlich zu Leidenden und Kranken wurden. Ich fand auch die Bestätigung, daß Psychotherapie dieses Leiden wirksam mildern kann; Voraussetzung dafür sind Raum und Zeit und eine vertrauensvolle, wohlwollende und gewährende Atmosphäre, die es ermöglichen, die ganz frühen und tiefen Verletzungen wirklich wieder an die Oberfläche zu bringen und in einer günstigeren mitmenschlichen Neuerfahrung ausheilen oder zumindestens vernarben zu lassen.

Die Gesellschaften, in denen ich bisher zu leben genötigt war, die faschistische und die stalinistische, waren beide schwere kollektive Fehlentwicklungen, also praktisch kranke Gesellschaften, und die neue, in der ich jetzt lebe, zeigt beträchtliche Züge von destruktiver Abnormität. Ich bin gerade dabei, die Verhältnisse in dieser Gesellschaft besser zu verstehen, und begegne dabei immer wieder einer positiven und hoffnungsvollen Einstellung, nämlich daß es in einer pluralistischen Demokratie hinreichend regulierende Kräfte gäbe, die auch schlimmsten Entartungen wirksam gegensteuern könnten. Zumindestens hat der deutsche Faschismus da Zweifel in mir gesät.

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Im Moment sehe ich uns gerade in ein großes historisches Experiment gestellt, inwieweit die »gewendeten« DDR-Bürger durch die demokratischen Kräfte gesunden können.

Wie groß meine Zweifel sind, brauche ich nicht mehr zu verhehlen, zumal ich in den Menschen der »sozialen Marktwirtschaft« vergleichbare psychosoziale Schädigungen erkennen muß wie bei uns. Wenn darauf höhnisch angefragt wird, ob denn nun zu den 16 Millionen jetzt auch noch die »alten Bundesbürger« auf die Couch des Psychotherapeuten kämen, dann ist eine solche Frage für mich vor allem ein Abwehrmechanismus, der etwas lächerlich machen will, was sonst unerträglich ist. Ich bin in der Tat der Meinung, daß millionenfache umfassende Störungen vorliegen, aber mir ist auch völlig klar, daß es nicht Aufgabe der Psychotherapie sein kann, dieses umfassende Problem zu lösen. 

Und natürlich spreche ich bei den massenhaften Störungen nicht von medizinisch-klinischen Diagnosen, und ich sehe zwischen einem  »normalen« Durchschnittsbürger und einem seelisch erkrankten Menschen, der dringend einer Behandlung bedarf, benennbare Unterschiede. Aber die Fragwürdigkeit dieser Grenzziehung will ich schon aufweisen mit dem Hinweis, daß gerade das, was sich als »Normalität« ausgibt, schwere Störung bedeuten kann, die sich nur allzugerne einer medizinischen Diagnostik und Therapie entzieht. Zugespitzt kann ich auch formulieren: »Krankheit« ist die gesunde Reaktion, die in der durchschnittlichen »Gesundheit« das Krankhafte aufdeckt.

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Daß Psychotherapie für einzelne Menschen eine entscheidende Hilfe sein kann, wieder zu gesunden, und das heißt vor allem, wieder ins Gleichgewicht, in den lebendigen Fluß, in unverstellte Beziehungen zu sich, zu anderen, zur Natur und zu Gott zu kommen, ist für mich keine Frage mehr. Dazu gehören vor allem Freiwilligkeit, Leidensdruck und die wirkliche Bereitschaft, sich selbst zu verändern — die Beziehung zwischen Patient und Therapeut sollte genau dies befördern und ermutigen.

Wo Leiden, Veränderungs­bereitschaft und Freiwilligkeit nicht ausreichend vorhanden sind, ist Psycho­therapie nicht möglich. Der Psychotherapeut macht es sich einfach, wenn kein Leidensdruck vorhanden ist, braucht er nicht zu therapieren, wenn die Freiwilligkeit fehlt, ist er nicht in die Pflicht genommen, wenn keine Wille zur Veränderung erkennbar ist, kann er immer noch »Psychospiele« veranstalten, was die Zeit vertreibt, Spannungen erzeugt und auch noch Geld einbringt. Was soll aber geschehen, wenn Störungen ohne akutes subjektives Leiden und ohne Veränderungswilligkeit massenhaft vorkommen, wie im faschistischen und sozialistischen Deutschland ohne große Schwierigkeiten zu belegen ist. Tragen Therapeuten dabei auch noch Verantwortung?

Zumindest wissen sie, daß Leiden auch verborgen und abgekapselt sein kann, daß es erst viel später ausbrechen kann oder auch, daß es auf andere weitergeben wird. Ich bin der Überzeugung, daß Psychotherapeuten, die über ein solches Wissen verfügen, verpflichtet sind, ihr Verständnis solcher Zusammenhänge öffentlich zu machen, weil Belange aller davon berührt sind. Und wenn sie es tun, wird immer wieder eilfertig daraufhingewiesen, daß durch Psychotherapie keine Gesellschaft zu heilen oder die Welt zu verbessern wäre. Das ist richtig. Dabei verwundert mich eher die Heftigkeit und Verbissenheit, wie psychologisches, vor allem tiefenpsychologisches Wissen abgewehrt und abgewertet wird.

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Macht entspringt häufig neurotischen Bedürfnissen, und die wollen dann natürlich nicht aufgedeckt sein. Aber wenn deutlich wird, daß Politik und Wirtschaft die menschlichen Bedürfnisse verfehlen oder in eine kollektive Katastrophe oder Sackgasse führen, wie es jetzt zweimal hintereinander auf deutschem Boden geschehen ist, dann sind kollektiv-irrationale Mechanismen wirksam, die vor allem auch sozialpsychologisch zu erklären und eventuell auch zu lösen sind. In einer solchen Situation dürfen wir uns nicht auf eine unpolitische Beschaulichkeit zurückziehen. Es ist auch nicht die Psychotherapie in ihrer institutionalisierten Form gemeint, sondern es geht um wissenschaftliche Erkenntnisweisen, Erfahrungen und Methoden dieser Disziplin, die bei der Organisation einer Gesellschaft wesentliche Hilfe leisten könnten, wobei aber entsprechende Strukturen noch gefunden und entwickelt werden müßten.

Die demokratischen Spielregeln basieren darauf, daß man für politikfähige Meinungen und Entscheidungen Mehrheiten braucht und Machtpositionen suchen und einnehmen muß. Gerade diese Erfahrung hat uns im Osten nach der »Wende« einigermaßen ernüchtert. Zumindestens haben es die Träger der »Revolution« nicht verstanden, sich da zu behaupten. Sie waren weder fähig, die Macht zu ergreifen, noch Mehrheiten zu organisieren. Nun kann man einwenden, daß der mehrheitliche Wille des Volkes halt einfach anders war. Das stimmt (leider) auch. Ich gebe hier allerdings nicht die allgemein übliche Erklärung ab, daß solche Art demokratische Entscheidung zu respektieren sei. Ich bedaure das Wahlergebnis im Osten außerordentlich und sehe darin viel mehr ein Indiz für die Fragwürdigkeit demokratischer Regeln. Ich komme noch darauf zurück.

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Worauf ich im Moment hinaus will, ist die Vermutung, daß die meisten Aktiven unserer Bürgerbewegungen für politische Macht und Ämter nicht geeignet sind oder solche Funktionen auch aus ihrem Selbstverständnis heraus ablehnen. Ich kenne einige davon ganz gut und weiß um ihre inneren Kämpfe, die letztlich stets um den Konflikt zwischen Realpolitik und menschlichen Bedürfnissen geht. Es ist schon ein ernstes Zeichen, wenn diese beiden wichtigen Sachen offenbar nicht mehr befriedigend zusammenzubringen sind.

Für mich selbst war es auch ein langes Ringen, ob ich ein politisches Amt anstreben sollte oder nicht. Ich habe mich entschieden und bin Therapeut geblieben. Mir ist bei den Auseinandersetzungen klar geworden, daß ich vor allem Angst vor Macht, vor Machtausübung habe. Ich habe Angst, ungerechte Entscheidungen treffen zu müssen. Ich weiß nur ganz selten, was wirklich richtig und wahr ist, und dies dann auch nur für Augenblicke. Ich befürchte, mich in Sachzwängen wiederzufinden, die ich weder überschauen noch verstehen noch akzeptieren kann und die ich doch entscheiden und verantworten muß. Ich kämpfe ein Leben lang um meine Authentizität, die ich am ehesten (hin und wieder und viel zu selten) auf der »Therapiematte« finde oder zulasse und wieder verliere und verschließe, je intensiver ich mich in den öffentlichen Angelegenheiten unseres gesellschaftlichen und kulturellen Lebens bewege.

Es gibt eine Reihe guter Erklärungen dafür, von notwendiger Sublimierung über das aufgabenbezogene »Erwachsenen-Ich« bis zur Handlungspflicht im Interesse »höherer« Zusammenhänge. Das beruhigt mich nicht, mein Konflikt wird dadurch nicht geringer. Ich kann zwar meine neurotischen Skrupel hinsichtlich der Macht weiter verringern und entgehe doch nicht der zwangsläufigen Neurotisierung, die ich mir oder anderen zufüge, wenn ich Macht unter den heutigen Bedingungen ausübe.

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Ich trage aber auch Verantwortung, wenn ich eine mögliche Machtposition ablehne und muß mich dann mit der möglichen Schuld des Unterlassens oder Überlassens oder Duldens auseinandersetzen. Diesem Dilemma ist nicht zu entgehen, rechtfertigt aber auch keinen Fatalismus. Was bleibt, ist die ewige Auseinander­setzung mit jeder Entscheidung und Haltung, die niemals für immer oder vollständig war.

Für mich war es stets eine Last, wenn ich etwas wußte und es nicht aussprechen durfte, wenn ich eine Überzeugung gewonnen hatte, die ich dann aber für mich behielt, weil sie der jeweiligen Obrigkeit nicht gefiel. Dies hoffte ich mit der »Wende« ein für alle Mal abschütteln zu können. Das war naiv! Auch wenn man jetzt alles sagen kann, schlägt es unweigerlich auf die Position zurück, die man einnehmen will. Und darauf Rücksicht zu nehmen, ist mir zuwider. Ich will keine Position, wo ich nicht so sprechen kann, wie ich denke. Ich habe mich an den verlogenen Phrasen, die in der DDR fast überall anzuhören waren, wund gerieben — die diplomatische Sprache, die nichtssagenden Floskeln, die externale Sprechweise der Krawatten­menschen und Make-up-Damen sind mir auch ein Greuel.

Ich suche nach einer Versöhnung zwischen authentischer Sprache und äußerer Funktion, letztlich also zwischen den äußeren Zwängen und den inneren Bedürfnissen. Mir ist dabei klar, daß diese beiden Seiten nicht immer zur Deckung zu bringen sind und daß eine Diskrepanz zum normalen Leben dazugehört und auch ausgehalten werden kann. Gerade dafür haben wir Menschen ja auch unsere Gefühle, mit denen wir unabwendbare Spannungen auch verarbeiten können. Wenn diese Kluft aber zu Spaltungen führt, die den Strom des eigenen Lebens stark behindern und überhaupt Gefahren für das Leben bedeuten, werden Bemühungen um Integration sehr dringend.

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Eine solche Situation sehe ich für Deutschland gegeben. Meine Gedanken zu einer möglichen Versöhnung will ich mit Hilfe der Erfahrungen als Gruppendynamiker erläutern.

In jeder Gruppe gibt es die bekannten Phänomene von Rivalität und Geltungsstreit und Dominanz­gerangel, es gibt stets Führer und Sündenböcke, Mitläufer und Experten. Es gibt vordergründige Sach- und hinter­gründige, im Verborgenen wirkende Beziehungsprobleme. Es gibt bewußte Aufgaben und Themen und unbewußte Motive und Bedürfnisse. Der größte Teil der gruppendynamischen Verwicklungen und Streitigkeiten ist den unbewußten Motiven und Bedürfnissen und den daraus erwachsenden Beziehungs­problemen geschuldet. Diese werden meistens autoritär oder mittels demokratischer Mehrheits­entscheidungen zu bewältigen versucht. Das führt in der Regel zu rigiden und relativ starren Strukturen oder Spielregeln, was stets auf Kosten der wirklichen Bedürfnisse geht, die sich dann auch gar nicht erst entfalten können, aber im Verborgenen weiter wirken und Konflikte und Symptome schüren.

Für den Reifeprozeß einer Gruppe ist es entscheidend, ob diese unterschwelligen Tendenzen sich entfalten und ans Tageslicht kommen können. Bei einer Minimalstrukturierung der Gruppe entsteht zunächst viel Angst und Verunsicherung, und es wird der Ruf nach straffen und klaren Strukturen immer lauter. Wird jetzt auf »demokratische Regeln« zurückgegriffen und Mehrheitsentscheidungen herbeigeführt, werden stets Minder­heiten ausgeschlossen, bzw. das, was sie vertreten, wird nicht aufgenommen.

Nun bleibt es einem Gruppentherapeuten nicht verschlossen, daß gerade diese Minderheiten oder Außen­seiter etwas verkörpern, was die anderen Gruppenmitglieder nicht wahrhaben wollen, was sie insgeheim bekämpfen und ablehnen, was aber zum tieferen Verständnis, zur Annäherung an die Wahrheit, zum gesunden sozialen Leben unbedingt verstanden und integriert sein müßte.

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Dafür sind also Abstimmungen ein unbrauchbares Mittel. Dagegen steht als Möglichkeit die häufig sehr belastende und unerträgliche Aufgabe, den Streit, die Auseinandersetzung, die Klärung so lange und so weit zu betreiben, bis wie von selbst ein Konsens entsteht, weil alle untergründigen Behinderungen aufgedeckt sind und damit, die für die momentane Situation und die anstehende Aufgabe günstigste Entscheidung allen verständlich und akzeptabel wird.

Eine solche Gruppe arbeitet nach anfänglich oft chaotischen Zuständen dann zuverlässig kooperativ und kreativ, und das macht in der Regel auch noch Spaß. Und wenn es schmerzliche Dinge gibt, besteht kein Zweifeln und kein Zaudern, der Trauer und dem Schmerz genügend Raum zu geben. Die individuellen Möglichkeiten und Grenzen der einzelnen Gruppenmitglieder werden beachtet und genutzt, die persönlichen Bedürfnisse können sich mit den Bedürfnissen der anderen treffen, abstimmen und ausgleichen, der Bezug zu den Realitäten und Sachzwängen bleibt angemessen erhalten. Dies ist möglich und zählt zu den angenehmsten Erfahrungen einer oft sehr anstrengenden Therapie — allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: Dies ist möglich im Schutzraum einer psychotherapeutischen Klinik. Es sind also ganz entscheidende Faktoren: Familie, Arbeit, Geld im wesentlichen ausgeklammert.

Nun gibt es allerdings auch Familientherapien oder Kommunen, die sich genau diesen wesentlichen Beziehungen stellen und auch Lösungen finden. Es liegen damit also auch schon gute wie schlechte Erfahrungen vor, die die Möglichkeiten einer psycho­therapeutischen Klinik weit übersteigen. Über solche Möglichkeiten weiter ernsthaft nachzudenken, zu diskutieren und zu experimentieren, halte ich für zwingend geboten. 

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Denn die Fragwürdigkeit der demokratischen Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit wird bei der deutschen Vereinigung sehr deutlich: Ein ganzes Teilvolk wird als Minderheit mit demokratischen (als höchst edlen!) Mitteln »abgewickelt«, »evaluiert« und schließlich dem Reglement der Mehrheit unterworfen. Wenn Demokratie keine akzeptable Form der Integration von Minderheiten mehr zustande bringt, hat sie ihre Begrenztheit und die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung gezeigt.

Bereits die außerparlamentarische Opposition, die Bürgerbewegungen, die gerade im Osten eine bedeutende Rolle bei der in Gang gekommenen Demokratisierung gespielt haben, und die immer größer werdende Zahl der Nicht-Wähler machen den Wandel der Zeiten deutlich: Die bisherige parlamentarische Demokratie hält den Herausforderungen der Zeit nicht mehr stand, jedenfalls wird sie bisher den Prozessen der deutschen Vereinigung nicht ausreichend gerecht.

An unseren bisherigen Wahlen kann man das noch einmal verdeutlichen: Wir hatten dafür weder hinreichend integere und »saubere« Kandidaten — es war also möglich, ehemalige Stasi-Mitarbeiter nach demokratischen Regeln zu wählen, also Menschen, die das Gegenteil einer demokratischen Gesinnung verkörpern dürften. Auch wir Wähler hatten weder Erfahrungen mit einem demokratischen Procedere noch mit in uns gereiften und überprüften politischen Haltungen, so daß mehr aus Affekten und kurzschlüssigen Wünschen heraus entschieden wurde — ein Beispiel mehr, wie politische Kultur an mit ihr gereifte psychische Strukturen gebunden ist —, noch hatten wir im Vereinigungsprozeß gleiche Chancen für Mehrheitsbildungen wie die Westdeutschen und ihre Parteien.

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Schon die Tatsache, daß einige Blockparteien mit den westdeutschen Schwesterparteien ohne große Schwierig­keiten verschmolzen sind, hat für uns einen Verlust an eigenen Positionen und Auseinander­setzungen bedeutet und spricht auch nicht für die westlichen Parteien, die es mit ihren christdemokratischen oder liberalen Positionen so ernst nicht meinen können, wenn sie die von der SED gekauften Parteifreunde ohne Schwierigkeiten in ihre Reihen aufnehmen. Die SPD ist da ein wenig besser dran, doch »geschluckt« hat sie auch sofort. Für eine sinnvolle Anwendung und Ausgestaltung der demokratischen Regeln gab es für die Menschen im Osten keine Chancengleichheit.

Die Vereinigung Deutschlands nach den Regeln westlicher Demokratie gestalten zu wollen, gibt nur ein trauriges Feigenblatt für einen Prozeß der Kolonialisierung und Unterwerfung ab, die auch nicht mehr mit der vorwurfsvoll-schuldbewußten Formel: Ihr habt es ja schließlich so gewollt! gemildert werden kann. Die unterschiedlichen Sozialisationen können nicht »demokratisch« an- oder ausgeglichen werden, sondern sie brauchen einen Prozeß, der eine Konsensbildung ermöglicht. Hier stehen wir wieder vor dem Problem: Sachzwänge und menschliche Bedürfnisse.

Erinnern wir uns an die gruppendynamischen Erfahrungen: Minimale Strukturierung mit verweigerter Führung (oder paradoxer Führung: der Gruppenleiter führt, indem er nicht führt) löst Unsicherheit und Angst aus, dann Streit, Kampf und Flucht, wobei Sündenböcke gesucht und auch gemacht werden. Es kommt also zu einer ziemlich chaotischen Übergangszeit mit unendlich vielen Versuchen, sich äußere Führung und Erlösung zu organisieren, und wenn dies schließlich ausbleibt, das eigene Leben nun doch, zunächst mühsam und schmerzend, so weit wie möglich in die eigenen Hände genommen und gemeinsam mit den anderen ausgestaltet werden muß, wird schließlich auch, nachdem Empörung und Wut und Schmerz sich entladen durften, auch eine ganze Menge Lust möglich.

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Dies auf gesellschaftliche Prozesse zu übertragen ist schier undenkbar. Das große Chaos, Mord und Totschlag wären unvermeidbar. Und außerdem leben in der Demokratie die Parteien und in der Marktwirt­schaft die Banken, Versicherungen, Unternehmer, aber auch die großen Tröster (die Therapeuten, Berater und Seelsorger) und vor allem die Pharmaindustrie davon, sich als Retter und Führer aus der Not anzubieten — das ist im wesentlichen ihr Selbstverständnis und der erklärte Sinn ihrer Tätigkeit. Hier stoßen also die menschlichen Bedürfnisse an realpolitische Grenzen.

Wie wäre es aber, wenn wir die Idee des »Runden Tisches« aufgreifen und weiterentwickeln würden. Zugegeben, der »Runde Tisch« ist erfunden worden, um in einem bereits entmachteten und handlungs­unfähigen System noch Entscheidungen herbei­zuführen, die auch zwischen den verfeindeten Gruppierungen konsensfähig sind, um vor allen Dingen mögliche Gewalt zu vermeiden. Die »Runden Tische« verkörperten aber auch die neue Idee und Notwendigkeit, verschiedene, entgegengesetzte und auch scheinbar unversöhnliche Positionen zum Ausgleich und zur Versöhnung zu bringen. Auch sollte ein bloßer Machtwechsel, der im neuen Regime unter einer frischen Fahne die alten autoritär-repressiven Verhältnisse fortsetzt, verhindert werden. Die Not und Gefahr in den Ostblockstaaten hatte diese neue Form der Konfliktbewältigung ermöglicht. Die parlamentarische deutsche Demokratie rümpft bisher die Nase gegenüber dieser Erfahrung: Wir haben das nicht nötig, ganz im Gegenteil, wir haben die Stärke und Überlegenheit unseres Systems eben erst bewiesen! Wozu also »Runde Tische«?!

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Die Einsicht dazu könnte vielleicht aus den wachsenden Konflikten und Krisen im vereinten Deutschland kommen, aus der Unzufriedenheit der Menschen. Ich habe die Vorstellung, daß parlamentarische Ausschüsse oder Arbeits­gruppen und Menschen aller Art: Vertreter der Parteien, Verhandlungsgegner, Tarifpartner, die verschiedenen Interessen­lobbyisten, also oben und unten, Ost und West, links und rechts, Mächtige und Machtlose, Männer und Frauen sich an »Runden Tischen« erfahren und ausprobieren, praktisch stellvertretend für alle, und die Ergebnisse ihrer Arbeit bekannt machen.

 Dabei dürfte den Erfahrungen der Beziehungsarbeit und -klärung zunächst mehr Bedeutung zukommen als den Sach­entscheidungen. Denn: ein Konsens verschiedener Auffassungen wird immer dann möglich, wenn die Beziehungsprobleme und die unbewußten Motive hinter den vordergründigen Argumenten aufgedeckt und ausgetragen werden. Ohne solche Beziehungs­arbeit wird für andere auch die Klärung in Sachfragen wenig verständlich und auch nicht ohne weiteres annehmbar, dann beginnt aufs neue wieder der Streit. Aber immerhin, dies wäre schon ein bedeutender Anfang, er würde auf jeden Fall die öffentliche Auseinander­setzung befördern und ein neues Problembewußtsein schaffen. Es wären erste Schritte die bisherige Entweder-Oder-Macht zwischen Regierung und Opposition zu einer Sowohl-als-auch-Entscheidung zu bringen.

Ich will dies am Beispiel des Streites um den Paragraph 218 verdeutlichen, der ja im Moment die Ost-West-Differenzen noch am ehesten verkörpert. Statt einer Mehrheitsentscheidung darüber könnte eine Sowohl-als-auch-Entscheidung zum Beispiel darin bestehen, daß es weder ein einklagbares Recht auf Abtreibung noch ein Verbot gibt, auch weder eine Fristen- noch Indikations­lösung, sondern einen »Runden Tisch«, an dem zum Beispiel die schwangere Frau, der dazugehörige Partner, ein Psychotherapeut, ein Theologe, ein Politiker, ein Philosoph, eine kinderreiche Mutter, eine Nonne und andere mehr sitzen und zu einer für alle akzeptablen Entscheidung finden, die dann sowohl eine Abtreibung als auch das Austragen der Schwangerschaft bedeuten könnte.

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Wohlgemerkt, ich denke nicht an eine Talk-Show oder eine Pro-und-Kontra-Runde, in der eine Entscheidung durch Argumentation gefunden werden soll, sondern es geht um das Auffinden und Klären aller hintergründigen und affektiv besetzten Motive der Für-und-wider-Argumente.

Ich kann mir auch Runden mit den unterschiedlichsten Frauen und Müttern vorstellen: der glücklichen, mit gesunden Kindern gesegneten Mutter, der kinderlosen, der alleinerziehenden, der Hausfrau und der berufstätigen, der in glücklicher und unglücklicher Ehe lebenden, mit kranken und behinderten Kindern und so weiter; oder auch Runden mit Menschen, die als Kind nicht gewollt oder auch ein Wunschkind waren, ein Kind mit dem Fluch: Sei nicht! oder mit dem Auftrag: Mach mich glücklich! Binde unsere Partnerschaft! Sei erfolgreich! 

Oder ein Kind aus einer strengen Erziehung mit seelischer, körperlicher Mißhandlung und sexuellen Mißbrauch oder aus einer »antiautoritären« Erziehung, aus einer wohlhabenden Familie oder aus einer, die von Sozialhilfe lebt und so weiter und so fort. Die Zusammensetzung ist dabei nicht das Entscheidende, sondern die Bereitschaft, nicht durch die besten Argumente siegen zu wollen, sondern die Beweggründe und Erlebensweisen bei sich selbst und den anderen umfassend verstehen und einfühlen zu können. So ließen sich optimale Lösungen für den jeweils einmaligen Einzelfall erreichen.

Gibt es aber ein gesetzliches Abtreibungsverbot, werden unzählige Frauen am Rumpfuschen sterben und nicht gewollte Kinder schwerste seelische Verletzungen und körperliche Mißhandlungen erleiden müssen.

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Gibt es die gesetzliche Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch, wird viel Leben bedenkenlos getötet und Eingriffe mit seelischen und körperlichen Folgen vollzogen, ohne daß den Beteiligten eine wirkliche Chance gegeben ist, die Zusammenhänge und Hintergründe von Schwangerschaft und ihrem Abbruch wirklich zu verstehen und künftig besser gestalten zu können. Beide Entscheidungen, die nach redlichstem Bemühen zur demokratischen Abstimmung anstehen, bringen viel Unheil und gehen an den wirklichen Bedürfnissen der Menschen vorbei. Die Demokratie ist überfordert. Im Falle der Klärung auf Beziehungs­ebene werden die menschlichen Bedürfnisse optimal berücksichtigt und dennoch Entscheidungen möglich, die alle mehr oder weniger tragen können.

Es gibt inzwischen eine Reihe von anstehenden Problemen, wo bereits ein deutlicher Dissens zwischen Staat und Gesellschaft, auch in einer Demokratie, vorhanden ist: die Umwelt, die Atomkraftwerke, die Rüstung, die Arbeitslosigkeit, die Sozialpolitik und anderes mehr.

Die »Wende« in der DDR und der nachfolgende Vereinigungsprozeß machen immer wieder den Widerspruch zwischen Realpolitik und menschlichen Bedürfnissen deutlich. In Deutschland sind wesentliche »menschliche Bedürfnisse« unerfüllt, vor allem massenhaft die Wünsche nach natürlich-unverstelltem Sein, dem So-Angenommensein, ohne bestimmte Erwartungen erfüllen oder Leistungen erbringen zu müssen. Es geht um authentische Nähe mit dem Mut zum Fühlen, und es geht um wirkliche Freude am Leben, um offene und ehrliche Kontakte und Lust, auch und vor allem in sexuellen Beziehungen. Diese Bedürfnisse waren in der DDR weitestgehend unterdrückt und eingeengt, in der BRD werden sie verfälscht und abgelenkt, so daß statt wirklicher Befriedigung Ersatzbefriedigungen den Markt beherrschen, der das ganze System in einen Kreislauf der Sucht zwingt.

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Wir im Osten haben die äußere Unterdrückung und Einengung verloren, nur ein klein wenig hatten wir sie auch aktiv abgestreift, damit sind aber bereits die unerfüllten Sehnsüchte provoziert worden, die auch die schmerzliche Erinnerung wieder wachgerufen haben an die bitteren Erfahrungen des Mangels und des Defizits, der Trennung und Ablehnung, der Nötigung zur Unterwerfung unter den Willen der Mächtigen. Vor diesen Erinnerungen sind wir kollektiv in den Westen geflohen, haben um »Asyl« gebeten mit der Hoffnung, in den Ersatzbefriedigungen Trost und Erleichterung zu finden. Dabei zählen äußerer Wohlstand und äußere Freiheit für die meisten Menschen zu den wichtigsten »Bedürfnissen«, weil sie nicht mehr daran erinnert sein möchten, was ihnen wirklich fehlt.

Die Hilfe, die wir vom Westen tatsächlich erfahren, soll uns aus der Grauzone in die Glitzerwelt schleudern, aus der Not­gemein­schaft des Mangels in die Terrorwelt der Fülle und Vielfalt, aus der »Depression« in die »Manie«. Wir werden von einem Betrug an unserem Leben in den nächsten gestürzt. Wir haben das heilend-reinigende Leiden an unserer gepreßten und verbogenen Vergangenheit mit so viel verlorenem Leben noch nicht einmal begonnen, und unsere tiefsten Sehnsüchte sind gerade erst aufgebrochen — und schon werden wir wieder in eine grandiose Enttäuschung entlassen. Ich sehe den Vereinigungsprozeß als einen großen Akt sozialer Gewalt, den wir bisher hinnehmen, um unsere Schuldgefühle zu beschwichtigen. Eine Gewalt, die von beiden Seiten ausgeht und uns etwas von der gestauten Aggressivität aus der entfremdeten Lebensweise deutlich macht.

Die Vereinigung Deutschlands beschert uns ein Dilemma, dessen Ausgang noch ungewiß, jedoch in seinen möglichen gefährlichen Folgen immer wahrscheinlicher wird. Die ständig wachsende Gewalt ist Tatsache, soziale Unruhen sind absehbar, von existentiellen Bedrohungen und Verunsicherungen in nicht geahntem Ausmaß sind die meisten ehemaligen DDR-Bürger betroffen.

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Das schöne und wahlkampfträchtige Versprechen: Keinem solle es schlechter ergehen! hat sich als fauler Zauber entpuppt: Fast allen geht es ganz real schlechter, wobei die seelischen Folgen an erneuter Demütigung, Kränkung, Einschüchterung, Verunsicherung und Ängstigung noch gar nicht abzusehen sind. Ebenso bedenklich sind die massen­haften Kompensationsversuche, die als Wendehalssyndrom, als Flucht nach vorn oder als neue Unterwerfung und pflichtbewußte Anpassung zu benennen sind. Die Hoffnung auf einen schnellen Erfolg im Sinne eines besseren Lebens ist zwar tief erschüttert; Enttäuschung, Ernüchterung und Verbitterung greifen um sich, doch führen sie noch nicht zu einem Umdenken oder zur Neubesinnung, aus der Krise sinnvolle innere Konsequenzen zu ziehen. Man läßt sich mit dem Wort Geduld vertrösten und hofft weiter auf das große Wundermittel Geld.

Viele fühlen sich wie nach einem verlorenen Krieg, von einer Siegermacht besetzt, die in einem umfass­enden Diktat das Volk unter einen neuen schmerzlichen Gehorsam zwingen möchte. Dieser Vergleich ist jedenfalls häufig zu hören, und in der Tat erleben wir so etwas wie »frühkapitalistische« Mechanismen. Keine »soziale Marktwirtschaft«, sondern eine »brutale Markt­wirtschaft«. Das Schreckbild, das die SED jahrzehntelang vom Kapitalismus gezeichnet hat, bestätigt sich in vielen Bereichen. Man kann sich ausphantasieren, daß Erich Honecker, als er noch allabendlich die Tagesschau in Deutschland sehen konnte, verbittert und selbstgerecht stöhnte: »Na, was habe ich euch gesagt, genau davor wollten wir euch immer bewahren, aber ihr wolltet ja nicht hören!« Und man kann allerorten die Antwort des resignierten Volkes hören: »Das wollten wir ja nun wirklich nicht! Das haben wir uns ganz anders vorgestellt!«

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Was hat uns denn die Vereinigung bisher gebracht? Zuerst kamen die Straßenhändler, dann die Autohändler im Wettrennen mit den Banken und Versicherungen, und die Begehrlichkeit und Unerfahrenheit der Ostdeutschen ist für alle zu einem Riesengeschäft geworden. Wir sind im Moment die große Umwälzpumpe des Profits. Der Vereinigungsprozeß entlarvt auf beiden Seiten die Masken. Die Karikatur ost-westlicher Verhältnisse wird zur bitteren Realität: die Tölpel und die profithungrigen Halsabschneider.

Wir benehmen uns wie die Idioten, wenn wir Autos kaufen und weder Straßen noch Parkplätze dafür haben, wenn wir Versicherungen abschließen, die wir nicht brauchen, wenn wir Kredite aufnehmen, die wir nicht abzahlen können, wenn wir spottbillige Kaffeefahrten in die schönsten Gegenden Deutschlands mitmachen und mit einem Kaufvertrag über vielleicht 1000 DM in der Tasche zurückkommen mit Dingen, die wir nicht wirklich brauchen, wenn wir unsere Eier und unsere Milch nicht mehr kaufen wollen, es sei denn, sie werden überteuert von einem Westhändler angeboten.

Wir lassen uns »abwickeln« und »evaluieren«, wir lassen uns belehren, in Seminare stecken, wir lernen die Vokabeln der Demokratie, wie wir einst als Junge Pioniere die zehn Gebote der sozialistischen Moral lernen mußten, wir rätseln hilflos über Steuerfragen und stehen immer noch stundenlang an den Banken an, um aus unserem kleinen Geld möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Wir kaufen jetzt alles bei »Quelle«, verlieren dadurch die Arbeitsplätze, finden dann neue Arbeit bei »Quelle« und müssen die Freizeit dem Arbeitsweg opfern, um uns die bestellten Pakete selbst zu packen und zuzuschicken.

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Ein ganzes Dorf verschleudert seinen Grundbesitz, im Geld ein nie erlebtes Glück erhoffend, aber nicht einmal das Geld fließt, weil der gierige Blick das »Kleingedruckte« nicht mehr erfassen wollte, das besagt, daß nur bezahlt wird, wenn auch die Baugenehmigungen kommen, und die lassen auf sich warten. So ist das Land weg, kein Pfennig Geld da, und möglicherweise muß auch die notwendige Sanierung des Bodens noch aus eigener Tasche gezahlt werden. Eine deutsch-deutsche Tragik-Groteske, die den makaberen Gesetzen der Ersatzbedürfnisse folgt, denen beide Seiten frönen, die einen nur als dilettantische Anfänger und die anderen als skrupellose Großmeister.

Wir zeigen uns als neue Untertanen bemüht, gelehrig und beflissen, im Kampf um die Existenz­sicherung lernen wir die Ellbogen­mentalität und konkurrieren die Reste unserer Solidar­gemeinschaft vollends auseinander, und in der abgenötigten Wendekür verkaufen wir schon wieder unsere Würde, jetzt nur an neue Herren und Gesetze.

Und wie sieht das westliche Gegenstück dazu aus? Unseriöse Händler auf den Straßen, die Kriminellen mit leichter Beute, die Dummenfänger an den Haustüren, zweitklassige Experten auf neuen Lehrstühlen, fragwürdige »Berater« in den Amtsstuben und Betrieben, eine Treuhandgesellschaft, die mehr zerstören als sanieren hilft. Wir sind der willkommene Absatzmarkt, der die Konjunktur im Westen ankurbelt, und sehen uns einer verlogenen Politik gegenüber mit mangelndem Mut zum Bekenntnis von Fehleinschätzung und Steuerlüge, mit dem krampfhaften Festhalten am Glauben an die Wunderdroge Geld.

Und Geld wird wahrlich in riesigen Mengen zur Verfügung gestellt. Und schon hört man die altbekannten Töne: Wir müßten doch dankbar sein, kein anderes Land in Osteuropa hätte es so gut wie wir! Die »Teilung durch Teilen« überwinden zu wollen, ist die auf die Spitze getriebene Illusion, daß sich mit materiellen Mitteln alle Probleme lösen ließen.

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Die DDR wird auf West getrimmt: Die Banken — dein Freund und Helfer (nicht mehr die Polizei!) — als Containerpack in jeder Baulücke, der Verfall durch Reklame zugedeckt, eine Imbißbude an jeder Straßenecke und Hunderte von Taxis vor den Bahnhöfen. Als wäre unser Leben auf Pumpen, Fressen und Reisen reduziert.

Unsere gestaute Aggressivität (Ost), die bisher die verdorbenen und starrsinnigen Politbürokraten auf sich gelenkt und mit ihrer repressiven Politik immer weiter verschärft hatten — aber sie waren nicht die wirklichen Verursacher unserer ohnmächtigen Empörung — wird jetzt auf neue Ziele und Objekte gelenkt. Das DDR-Verlust-Syndrom, in dem sich eigentlich ein Lebens-Verlust-Syndrom ausdrückt, soll jetzt in ewiger Anstrengung und Existenzangst seine Erschöpfung finden. Der Sturz unserer Oberen hat Erleichterung und Reue ausgelöst, eine tiefe Genugtuung und Schuldgefühle. Die Bilder vom toten Ceaucescu hatten dieses lüsterne Gefühlsgemisch vielfach aufscheinen lassen, zugleich aber das schlechte Gewissen verstärkt. So sind wir bestens vorbereitet zu neuer Unterwerfung, um unsere vermeintliche Schuld zu tilgen.

Und die gestaute Aggressivität (West) als Folge eines durch gnadenloses Konkurrieren und zwanghaftes Leistenmüssen entfremdeten Lebens hat jetzt endlich eine großartige Chance, sich nach Osten abgelenkt zu erleichtern. Wir werden gnadenlos unter die neuen Gesetze gezwungen, wir werden entmündigt und gedemütigt, viele werden in existentielle Krisen gestürzt und ausgegrenzt. Dies geschieht unter dem Primat von Sachzwängen und Realpolitik, die uns zunehmend als Legenden umranken.

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So wird der Machtwechsel als »erste erfolgreiche Revolution auf deutschem Boden« gefeiert, die übereilte Vereinigung als von »den Deutschen mehrheitlich so gewollt« erklärt, die wachsenden menschlichen und sozialen Probleme mit »wir haben ja keine Zeit gehabt« entschuldigt, der Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus« als Sieg des Westens empfunden und als Beweis für die richtige Lebensart genommen, und die Vereinigungspolitik als ungetrübt richtig und erfolgreich behauptet mit der Beteuerung, es gehe unaufhaltsam voran und der Wirtschaftsaufschwung sei schon spürbar. So wird die unglückliche Einheit verklärt und ein Optimismus verbreitet, der an den menschlichen Bedürfnissen vorbeigeht.

Es ist richtig, daß gehandelt werden muß, daß Entscheidungen drängen, daß ein Geschehen verwaltet werden muß, das in seinem Umfang bisherige Strukturen überfordert, und eine neue Verwaltung dafür erst noch aufgebaut werden muß, da sind Reibungen und Störungen unvermeidbar. Doch die Sachzwänge eignen sich auch sehr gut zur Ablenkung von menschlichen Bedürfnissen. Die rasanten Umstellungs­schwierigkeiten und die wachsenden existentiellen Bedrohungen, wie auch die Fülle neuer Aufgaben und Pflichten bei erfolgreicher Anpassung, lassen gar keinen Raum für Besinnung und Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben. Sowohl die unkritische Hoffnung auf schnellen äußeren Aufschwung wie auch die Enttäuschung, daß alles nicht so läuft, wie gedacht, eignen sich als »Gefühlsschlucker« für die aufkeimenden tiefen Wünsche nach innerer Befreiung, nach einem natürlicherem und ehrlicherem Leben.

Diese Sehnsucht ist – wie wir bereits wissen – mit Angst verbunden, weil sie uns an sehr frühe Enttäuschungen erinnert, die für das kleine Kind von lebensbedrohlichem Erleben sind. Deshalb dürfen wirkliche Nähe und Verständigung, wirkliche Befreiung und Freiheit nicht zugelassen werden.

Da läßt sich schon die Hypothese wagen, ob nicht die menschenfeindlichen Züge der Vereinigung genau diesen Dienst erfüllen, uns vor den tieferen Schmerzen zu bewahren. Denn jetzt haben wir ja wieder jede Menge äußerer Anlässe zum Ärgern und Fürchten.

Wir sind im Osten von der inneren Unfreiheit in die äußere Freiheit geflohen, jetzt erleben wir auch die Ketten dieser »äußeren Freiheit« und reiben uns an ihnen. Wir haben unseren Aufbruch nach Westen gelenkt statt nach innen. Unsere großartige Befreiungs­stimmung hatte für kurze Zeit ganz Deutschland erfaßt und die »Zufriedenheit« auch der Westdeutschen bedroht. Mit der bedingungslosen Unterordnung unter ihr System werden wir jetzt für die verursachte Beunruhigung bestraft. Wir hatten die Westdeutschen animiert, sie waren fasziniert von unserer »Revolution« — doch wir haben sie nicht vollendet. Die geweckten Erwartungen sind erbärmlich wieder zusammengebrochen. 

Auch für diese enttäuschte Hoffnung werden wir jetzt bestraft. Und auch dafür, daß wir den Westlern mit unserer Gier und dem Verfallensein an das Geld einen Spiegel vorhalten, der das kunstvoll geschminkte »schöne Angesicht« verzerrt. Die Kultur des Betruges gerät in Frage. Die gegenseitigen Enttäuschungen sind da, und die gegenseitigen Vorurteile und der Haß wachsen. Unsere Arbeitslosigkeit ist nicht nur Altlast und notwendige Gesund­schrumpfung auf wirtschaftliche Effizienz, sie ist auch Ausdruck sozialer Gewalt, die das westliche Leben schon längst bestimmt und die jetzt in der Vereinigung eine Ablenkung auf uns ermöglicht.

Wir stehen vor der großen wie schwierigen Aufgabe, die Sachzwänge nicht allein zum Maßstab für die Realpolitik zu machen, sondern ihren Abwehrcharakter zu entlarven und allmählich eine Annäherung zwischen Realpolitik und menschlichen Bedürfnissen zu ermöglichen.

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